Читать книгу Bettina Fahrenbach Staffel 1 – Liebesroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Während der Notar mit monoton klingender Stimme die zum Testament gehörenden Formalitäten vorlas, beobachtete Bettina fasziniert eine Wespe, die mit lautem Gesumme gegen die Fensterscheibe flog, taumelnd auf die Fensterbank fiel, um immer wieder Versuche zu starten, die ins Freie führen sollten.

Auch sie wäre gern überall, nur nicht hier. Sie fand es schrecklich, den letzten Willen ihres Vaters verlesen zu bekommen, weil das so abschließend war, so deutlich machte, daß es einen Menschen unwiederbringlich nicht mehr gab.

Wann wohl hatte er dieses Testament verfaßt? Schon vor langer Zeit – vorsorgend? Oder weil er ahnte, daß er bald schon sterben würde, erst kürzlich?

Ihr Blick glitt zu ihren Geschwistern, denen die Anspannung und Erwartung deutlich anzusehen war, nicht nur ihnen, eigentlich noch mehr ihren Ehepartnern.

Die Stimme des Notars riß sie aus ihren Betrachtungen.

»Bitte, entschuldigen Sie.«

Er stand auf, öffnete das Fenster und wartete, bis die Wespe hinausgeflogen war.

Bettina lächelte. Sie hatte nicht erwartet, daß ihn das Gesumme stören würde.

Er setzte ich und las weiter.

Es ging zunächst um Zuwendungen an Angestellte, Freunde, caritative Einrichtungen und Vereine, die ihr Vater großzügig bedachte.

Ehe er zu den Familienmitgliedern kam, machte Dr. Limmer eine bedeutsame Pause und schaute alle nacheinander an.

Es war so still, daß man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können.

Mona, die Frau ihres ältesten Bruders Frieder, seufzte abgrundtief auf. Ihr war deutlich anzusehen, daß sie es kaum erwarten konnte, endlich zu erfahren, was es zu erben gab.

Der Notar räusperte sich, sein Blick glitt auf das vor ihm liegende Dokument.

Mein Sohn Frieder soll das Weinkontor bekommen. Ich wünsche ihm, daß er die Umsicht hat, es wenigstens auf dem derzeitigen Niveau weiterzuführen und daß er bei seinen Entscheidungen im Auge behält, daß es ein hervorragendes, ausgezeichnet florierendes Unternehmen ist.

Frieder war die Freude deutlich anzusehen, Mona war außer sich. »Wir haben es geschafft. Wir haben es geschafft«, jubelte sie. »Die Firma gehört uns.«

»Darf ich weiterlesen?« Die Stimme des Notars klang ungehalten, und Mona verstummte.

»Jörg vererbe ich Chateau Dorleac. Das Schloß ist renoviert, die Weinberge sind ertragreich.

Die Auftragsbücher voll. Seinen Wunsch, immer in Frankreich leben zu wollen, kann er sich erfüllen.«

Jörg und seine Frau Doris fielen sich in die Arme, die beiden hatte ihr Vater auch glücklich gemacht.

»Grit soll die Stadtvilla haben, weil es ihr größter Wunsch ist, diese Immobilie zu besitzen.«

Grit und ihr Mann Holger sahen sich bedeutungsvoll an. Und Bettina fragte sich, warum sie unbedingt die Villa haben wollten. Sie hatten doch gerade erst gebaut.

»Meine geliebte Tochter Bettina soll den Fahrenbach-Hof bekommen, weil sie für mich die Einzige ist, die unserem Namen und der Tradition verbunden ist.«

Es folgten einige weitere Details, die an Bettina allerdings irgendwie vorbeirauschten. Sie vernahm das glucksende Lachen ihrer Schwägerin Mona, die es auch war, die

die Frage stellte: »Und was ist mit dem sonstigen Vermögen? Dem Geld?«

Unangenehm berührt schaute Dr. Limmer sie an, ehe er das verlesene Testament beiseite legte.

»In zwei Jahren wird es eine weitere Zusammenkunft hier geben. Haben Sie noch Fragen?«

Wieder war es Mona, die sich erkundigte: »Wieso in zwei Jahren?«

»Der verstorbene Erblasser möchte seine Kinder«, die Betonung lag auf dem letzten Wort, »in zwei Jahren hier versammelt wissen. Sie erhalten dazu rechtzeitig eine Einladung von mir.«

Dr. Limmer verabschiedete sich von ihnen.

»Tja, liebe Schwägerin«, sagte Mona im Hinausgehen, »dafür, daß du seine Lieblingstochter warst, bist du nicht gerade gut weggekommen mit dem vergammelten Bauernhof irgendwo in der Pampa.«

»Papa wird sich etwas dabei gedacht haben«, versuchte Bettina ihren Vater zu verteidigen. Aber eigentlich verstand sie nicht, warum sie den Fahrenbach-Hof geerbt hatte. Gewiß, es war der Ursprung von allem, aber außer ihrem Vater war niemand von der Familie in den letzten Jahren dort gewesen.

Und ihr Besuch lag mehr als zehn Jahre zurück und war noch immer mit schmerzhaften Erinnerungen behaftet.

Ihren Vorschlag, gemeinsam noch irgendwo einen Kaffee zu trinken, nahm niemand an.

Aber vielleicht war das verständlich, und wenn sie einen Partner gehabt hätte, wäre sie bestimmt mit ihm auch am liebsten allein gewesen, um über das erhaltene Erbe zu sprechen.

Bettina sah ihnen nach, wie sie hocherfreut in ihre Autos stiegen und davonfuhren – Frieder, der neue Firmenchef, Jörg, der Schloßherr und Grit, die Villenbesitzerin.

Und ihr gehörte nun der Fahrenbach-Hof.

Sie dachte nicht eine Sekunde darüber nach, daß oder ob sie durch dieses Erbe vielleicht übervorteilt worden war. Nein, sie fragte sich nur, warum ihr Vater ihr den Hof vererbt hatte. Sie hatte durch nichts zum Ausdruck gebracht, daß ihr der Hof am Herzen lag, und sie hatten auch niemals darüber geredet, auch nicht, wenn ihr Vater von einem seiner Aufenthalte auf dem Fahrenbach-Hof zurückgekommen war.

Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals, das sie zwingen wollte, sich mit etwas aus ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, was sie sorgsam so viele Jahre lang verdrängt hatte.

Irgendwann würde sie auf den Hof fahren, und bis dahin wollte sie sich Gedanken darüber machen, was damit geschehen sollte.

Verkaufen kam sicherlich nicht in Frage, aber vergammeln lassen konnte sie den Hof auch nicht.

Warum nur hatte ihr Vater ihr den Fahrenbach-Hof hinterlassen? Diese Frage quälte sie noch lange.

*

Nach einer unruhig verbrachten Nacht war Bettina die erste, die am nächsten Morgen in die Firma kam, aber das war nichts Ungewöhnliches. Sie war eine Frühaufsteherin und liebte es, zeitig mit ihrer Arbeit zu beginnen, darin ähnelte sie als einzige ihrem Vater, der schon vor ihr in seinem Büro gewesen war.

Wie sehr hatte sie es genossen, mit ihm noch einen Kaffee oder Tee zu trinken, in Ruhe mit ihm über die anstehenden Projekte zu reden.

Doch das war vorbei, vorbei für immer. Sie vermißte ihren Vater so sehr.

Sie holte sich aus dem Kaffeeautomaten einen Espresso, der sie munter machen sollte, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Arbeit gab es genug. Sie vertiefte sich in die Unterlagen über eine Kampagne für ein Produkt, das europaweit über das Weinkontor Fahrenbach vertrieben werden sollte – ein ganz spezieller roter Champagner aus Australien, von dem Bettina sicher war, daß er einschlagen würde wie eine Bombe, wenn man ihn nur geschickt genug vermarktete. Genau das konnte Fahrenbach. Deswegen wurden ihnen ja auch immer zuerst alle neuen interessanten Produkte angeboten. Und ihr Vater hatte das sichere Gespür gehabt, sich stets die Rosinen herauszupicken.

Bettina war so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Erst als die Tür sich öffnete und ihr Bruder Frieder hereinkam, blickte sie auf.

»Gut, daß du schon da bist«, sagte er nach einer kurzen Begrüßung. »Ich muß mit dir reden.«

Das klang so wichtig, daß Bettina insgeheim lächeln mußte. Wollte Frieder sofort am ersten Tag den Chef herauskehren?

»Setz dich doch.« Sie lächelte ihn an. »Willst du einen Kaffee oder Tee?«

Frieder winkte ab, setzte sich, ergriff einen der Stifte, die auf ihrem Schreibtisch herumlagen und begann damit zu spielen.

»Ich will mich nicht lange mit der Vorrede aufhalten, Bettina. Dein Job ist hier überflüssig.«

Sie glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben.

»Was sagst du da?«

»Ich konnte Papa nie verstehen, daß er diese aufwendige Werbung gemacht hat. Vielleicht war es ja auch nur deinetwegen, damit du eine Beschäftigung hattest. Nun, wie es auch sei, jetzt bin ich der Chef, und ich finde, Fahrenbach hat einen so guten Namen, daß wir uns diese teuren Werbekosten ersparen können und auch dein Gehalt, was ja auch nicht gerade klein ist.«

»Frieder, wohin verrennst du dich da?« Bettina war entsetzt. »Wie willst du denn neue Produkte vermarkten, beispielsweise diesen Champagner hier?« Sie deutete auf die vor ihr liegenden Unterlagen.

»Liebe Schwester, ehrlich gesagt, ich bin an diesem Produkt überhaupt nicht interessiert. Diese Leute haben nicht mehr als ihren Champagner anzubieten.«

»Papa hat sich aber viel davon versprochen«, wandte sie ein.

»Papa ist tot, und ich werde ganz gewiß alles anders machen als er. Wir haben so viele etablierte Marken im Programm, die praktisch Selbstläufer sind. Die Erträge daraus reichen mir.«

»Das ist kurzsichtig. Auch für die Etablierten mußt du Werbung machen, sonst bist du die Lizenzen schneller los als du gucken kannst.«

Er legte den Bleistift hin, stand auf.

»Das laß bitte meine Sorge sein. Ich denke, daß wir unsere Zusammenarbeit sofort beenden sollten, du bist einfach so sehr Papas Arbeitsstil verhaftet und seinen Ideen. Wir bekämen nur Krach. Selbstverständlich bekommst du noch für drei Monate Gehalt, es soll ja korrekt ablaufen. Du kannst deine Zeit auch bestimmt viel besser nutzen, wenn du dich gleich um den Fahrenbach-Hof, dein Erbe«, seine Stimme klang fast spöttisch, »kümmerst.«

»Frieder…«

Er ließ sie nicht ausreden.

»Bettina, keine weiteren Diskussionen. Ich weiß schon, was ich mache. Bitte, pack deine Sachen zusammen. Dein Büro brauche ich nämlich für Mona.«

»Kannst du mir verraten, was Mona hier machen soll?«

Ihre Schwägerin hatte in all den Jahren, in denen sie mit Frieder verheiratet war, die Firma vielleicht fünfmal betreten. Sie war immer nur Hausfrau gewesen, allerdings eine, deren Hauptbeschäftigung es war, das Geld ihres Mannes auszugeben.

»Mona wird wichtigen Besuchern gegenüber die Firma repräsentieren, wird Geschäftsessen organisieren.«

»Also eine Frühstücksdirektorin. Hat sie sich das ausgedacht?«

An seinem Gesichtsausdruck merkte sie, daß sie ins Schwarze getroffen hatte.

»Linus ist jetzt alt genug. Er muß nicht immer am Rockzipfel seiner Mutter hängen. Mona braucht eine Aufgabe.«

»Frieder, deine Frau hat von geschäftlichen Dingen überhaupt keine Ahnung, und der Posten, den du für sie schaffen willst, der ist für Fahrenbach überflüssig.« Traurig schaute sie ihn an. »Werbung, ein wichtiger Bestandteil unseres Erfolges, willst du abschaffen und dafür etwas einrichten, das für die Firma so überflüssig ist wie der Hagel für ein Kornfeld.«

»Nun, bist du fertig?« wollte er wissen.

»Ach, Frieder, du kannst dich doch in einem Tag nicht so verändert haben. Wenn Papa das wüßte…«

»Noch einmal, Papa ist tot, und dich bitte ich nochmals, dein Büro zu räumen.«

»Und alle laufenden Kampagnen?«

»Die kann Frau Schmitz zu Ende bringen, sie war doch immer deine rechte Hand und ist in das ganze Geschehen involviert.«

Es war unglaublich, wie schnell er sie loswerden wollte. Insgeheim wußte sie, daß es nicht Frieder war, sondern daß Mona dahintersteckte.

»Okay, ich packe meine Sachen und persönlichen Dinge zusammen.«

»Bettina, es ist nicht gegen dich gerichtet. Aber jetzt, da die Firma mir gehört, möchte ich auch sofort anfangen, alles so zu gestalten, wie ich es richtig finde, nicht wie unser Vater, der war alt, und seine Ansichten waren überholt.«

»Aber mit diesen Ansichten hat er ein sehr gut florierendes Unternehmen über Jahrzehnte hinweg geführt.«

»Jetzt spricht Papas Liebling. Du warst halt in ihn so vernarrt, daß du nicht sehen wolltest, was er alles falsch gemacht hat und wie sehr sein Denken überholt war. Aber, na ja, du warst ja auch bloß für die Werbung zuständig und hast das, was er so erzählt hat, kritiklos hingenommen. Ich will ihm seine Erfolge ja gar nicht absprechen, aber seine Zeit war vorbei – so oder so.«

Bettina stand auf, begann, ihre Papiere aufeinanderzustapeln.

»Das hier ist die Kampagne der Australier.«

»Kannst du in den Papierkorb werfen. Mit solchem Kleinkram halte ich mich wirklich nicht auf.«

»Papa hat aber Verträge abgeschlossen«, gab sie zu bedenken.

»Na gut, dann erfüll ich sie eben, aber ohne mir dabei ein Bein auszureißen oder irgendwelche Werbung zu machen.«

Frieder ging zur Tür.

»Jetzt muß ich aber an die Arbeit. Danke übrigens, daß du keine Schwierigkeiten machst.«

Er ging hinaus, und Bettina strich sich über die Stirn, als gelte es, einen bösen Spuk zu vertreiben. Daß sie soeben durch ihren Bruder ihre Kündigung erhalten hatte, betrübte sie nicht so sehr wie der Gedanke daran, was er aus der Firma machen würde. Aber es war wohl müßig, sich darüber Gedanken zu machen, das ging sie nichts mehr an.

Das Weinkontor Fahrenbach gehörte ihrem Bruder Frieder. So hatte ihr Vater es gewollt, und er mußte sich etwas dabei gedacht haben.

*

Nachdem sie nun ohne Job war – ein sehr irritierender Gedanke –, begann Bettina sich nach einigen Tagen des Nichtstuns zu langweilen, zumal auch Jörg und Doris bereits nach Frankreich abgereist waren und Grit sich ständig in der Villa aufhielt und sehr geheimnisvoll tat.

Sie und ihre Geschwister hatten leider nie eine sehr enge Beziehung zueinander gehabt, aber sie hatten sich doch zumindest immer gut verstanden. Seit dem Tod ihres Vaters, eigentlich mehr noch seit der Testamentseröffnung, war alles anders geworden.

Es schien, als wolle jeder nur sein eigenes Süppchen kochen.

Ob ihr Vater das wohl geahnt und vorausgesehen hatte? Zumindest hatte er genau gewußt, was Frieder, Jörg und Grit wollten und hatte ihre Wünsche erfüllt.

Sie und der Fahrenbach-Hof war noch immer etwas, was sie so recht nicht verstehen konnte, aber andererseits hätte sie weder das Weinkontor, noch das Chateau, noch die Villa gewollt. Also war doch der Fahrenbach-Hof keine so schlechte Alternative.

Nachdem sie sich vergebens bemüht hatte, Frieder und Grit zu treffen, packte sie kurzentschlossen ein paar Sachen zusammen, kündigte ihre Ankunft auf dem Hof an und fuhr los.

Am besten ließen sich die Schatten der Vergangenheit vertreiben, wenn man sich ihnen stellte.

Ihr Blick fiel auf die Innenseite ihres linken Handgelenks, wo unschwer, auch nach so vielen Jahren, die inzwischen vergangen waren, ein in die Haut geritztes T zu erkennen war.

Thomas…

Es war das erste Mal, daß sie ganz bewußt an ihn dachte, an Thomas, ihre erste große Liebe, vielleicht sogar an die einzige Liebe ihres Lebens.

Wen immer sie auch kennengelernt hatte, keiner der Männer hatte es geschafft, in ihrem Leben zu bleiben, weil sie sie alle wohl insgeheim oder unbewußt mit Thomas verglichen hatte.

Irgendwann war Thomas Sebelius mit seinen Eltern, sehr bekannten Künstlern, nach Fahrenbach gezogen. Und immer, wenn sie mit ihren Eltern und Geschwistern auf den Fahrenbach-Hof gekommen war, hatte sie sich wahnsinnig gefreut, Thomas zu sehen.

Sie hatten sich vom ersten Moment an verstanden, hatten sich geschrieben, stundenlang miteinander telefoniert, und irgendwann hatten sie sich unsterblich ineinander verliebt. Sie hatten Zukunftspläne geschmiedet, hatten gemeinsam studieren wollen. Von da an stand für Bettina fest, daß sie ihr Leben mit Thomas verbringen wollte und keinem anderen.

Sie hatte geglaubt, ihr Herz müsse stehenbleiben, als sie erfuhr, daß Thomas mit seinen Eltern nach Amerika gehen würde, weil sein Vater aus Kalifornien ein interessantes Angebot bekommen hatte.

Bei ihrem letzten Treffen hatten sie sich ewige Liebe geschworen und ewige Treue. Und zum Zeichen ihrer Liebe hatten sie sich gegenseitig die Anfangsbuchstaben ihrer Namen ins linke Handgelenk geritzt.

Ihr hatte es eine Entzündung und spätere Vernarbung eingebracht und Ärger mit ihrer Mutter.

Von Thomas hatte sie niemals mehr etwas gehört!

Die darauffolgenden Monate waren wohl die furchtbarsten ihres Lebens. Ihr Herz wollte es nicht wahrhaben, aber ihr Verstand mußte es akzeptieren. Sie verdrängte alle Erinnerungen an Thomas und war seither niemals mehr auf dem Fahrenbach-Hof gewesen. Auch als ihr Vater es sich so sehr wünschte, brachte sie es nicht übers Herz, ihn zu begleiten.

Und nun war sie auf dem Weg dorthin.

Es war zwangsläufig, daß sie unentwegt an Thomas denken mußte, und auch jetzt, seit mehr als zehn Jahren, klopfte ihr Herz wie wild bei der Erinnerung an ihn.

Alles, was sie sorgsam weggeschlossen hatte, kam hoch, und sie konnte sich all der Gedanken nicht erwehren, die sie anfielen wie wilde Tiere.

Aber vielleicht war es gut, daß sie anfing, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie mußte endlich frei werden von dieser idealisierten Liebe, die es ihr bislang unmöglich gemacht hatte, sich einem anderen Mann zuzuwenden.

Ihre Gedanken wanderten weiter zu dem Hof, den sie geerbt hatte. Hof war eigentlich untertrieben. Es war ein stattliches Anwesen, nach dem sogar der ganze Ort benannt worden war… Fahrenbach.

Daß sie den Hof gemieden hatte, war verständlich. Aber warum hatten ihre Geschwister sich eigentlich nicht dafür interessiert? Sie hatten doch viele wundervolle Ferien dort verbracht.

Vermutlich lag es an ihrer Mutter, die Fahrenbach gehaßt hatte und aus ihren Kindern Städter gemacht hatte.

Viele Gedanken überkamen sie, und Bettina merkte, wie aufgeregt sie auf einmal war.

Was würde sie vorfinden?

Arno und Leni Dunkel würden da sein, die sich, soweit Bettina zurückdenken konnte, um den Hof kümmerten.

Und da war auch noch Toni Greiner. Er war als junger Bursche zufällig auf den Hof gekommen und lebte noch immer dort, um sich um den Garten, die wenigen, noch verbleibenden Tiere zu kümmern und um kleine Reparaturarbeiten auszuführen.

Ihr Vater hatte alle drei in seinem Testament großzügig bedacht und ihnen neben einem Geldbetrag auch lebenslanges Wohnrecht zugesichert.

Bettina fand das absolut in Ordnung.

Sie mochte alle drei und freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihnen.

Ob sie sich sehr verändert hatten?

Bestimmt, denn auch an ihr war die Zeit nicht spurlos vorüber gegangen. Sie war nicht mehr das junge, schwärmerische Mädchen von damals, sondern eine nachdenkliche Frau geworden, die in diesem Sommer ihren achtundzwanzigsten Geburtstag feiern würde.

Eigentlich hatte sie in diesem Alter schon mehrere Kinder haben wollen, und jetzt war noch nicht einmal ein Ehemann in Sicht, weil ihr Herz noch immer an dem Phantom Thomas hing, der sich wahrscheinlich an sie überhaupt nicht mehr erinnern konnte.

Bettina seufzte und fuhr ein Rasthaus an. Sie wollte einen Kaffee trinken und sich wenigstens etwas frisch machen, denn wenn es gutging, würde sie in einer knappen Stunde den Fahrenbach-Hof erreicht haben.

Als sie im grellen Neonlicht des Waschraums in den Spiegel schaute, hätte sie am liebsten die Augen geschlossen.

Bettina haßte diese grellerleuchteten, weiß gefliesten Räume, in denen man nur krank und verhärmt aussah, wenn man sich im Spiegel betrachtete.

Sie legte etwas Rouge auf, zog ihre Lippen nach und tuschte sich die Wimpern.

Zumindest sah sie jetzt etwas frischer aus. Jetzt noch etwas von ihrem Lieblingsparfüm, dann kämmte sie ihr halblanges dunkelblondes Haar.

Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die allesamt braunhaarig waren und braune Augen hatten, glich sie ihrem Vater. Sie hatte seine blonden Haare, auch seine blauen Augen sowie sein schmales Gesicht geerbt.

»Schrecklich, so typisch Fahrenbach«, hatte ihre Mutter immer gesagt, und das hatte nicht unbedingt freundlich geklungen.

Ihre Eltern hatten sich nicht besonders gut verstanden. Ihr Vater war bodenständig, ihre Mutter lebenslustig und gern gesehener Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft.

Eigentlich war es vorauszusehen gewesen, daß sie ihren Mann irgendwann verlassen würde. Daß es dann auf beinahe tragische Weise geschah, war für ihren Vater sehr bitter gewesen.

Als ihm ein Weingut in Argentinien angeboten worden war, hatte er sich zwar dagegen entschieden, aber ihre Mutter hatte bei der Gelegenheit einen steinreichen Geschäftsmann kennengelernt und für ihn ohne zu zögern, ihre Familie verlassen. Als Carla Aranchez de Moreira lebte sie nun ein Leben in Saus und Braus in Buenos Aires, wenn sie sich nicht an Plätzen aufhielt, an denen sich der internationale Jet Set tummelte.

Den Kontakt zu ihren Kindern hatte sie abgebrochen.

Sie erfuhren etwas über sie eigentlich nur aus Klatschblättern und Hochglanzmagazinen.

Glücklicherweise hatte Bettina sich von jeher immer besser mit ihrem Vater als mit ihrer Mutter verstanden, vielleicht, weil sie ihm in vielem so ähnlich war.

Für ihre Geschwister war es schon schwerer gewesen, insbesondere für Frieder, der der auserkorene Liebling seiner Mutter gewesen war.

Es war schon merkwürdig, daß er sich eine Frau gesucht hatte, die sich auch nur für Mode, Schönheit, Oberflächlichkeit interessierte.

Bettina warf einen letzten Blick in den Spiegel, ehe sie sich abwandte, um ihre Fahrt fortzusetzen.

*

Fahrenbach lag eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft mit saftigen Wiesen, die am Horizont in einen Mischwald mündeten. Es

gab wie willkürlich dahingestreute Bauernhöfe und einen kleinen Ortskern mit einer Bäckerei, einem Gemischtwarenladen, einem Gasthof und einer Tierarztpraxis. Am Ortsrand befand sich ein großes Sägewerk, und auf einem der Hügel lag der Fahrenbach-Hof.

Bettina glaubte, ihr Herz müsse stehenbleiben, als sie den Hof mit seinen zahlreichen Nebengebäuden erblickte, der geradezu majestätisch sich seinen Betrachtern präsentierte.

Noch nie zuvor, bei keinem ihrer Aufenthalte, waren Bettina die Schönheit der Landschaft, die Beschaulichkeit des Dorfes und die Würde des Fahrenbach-Hofes aufgefallen.

Mußte sie erst richtig erwachsen werden, um all das zu begreifen und zu schätzen?

Wie war es nur möglich gewesen, daß sie sich dieser Idylle dieser Welt, die scheinbar noch in Ordnung war, so lange entzogen hatte? Was war ihr nicht alles entgangen.

Eine tiefe Dankbarkeit ihrem Vater gegenüber überkam sie, der ihr dieses Kleinod zum Geschenk gemacht hatte.

Bettina gab Gas, weil sie es auf einmal nicht erwarten konnte, anzukommen. Ja, ankommen war das richtige Wort, denn auf einmal fühlte sie tief in ihrem Herzen, daß sie ihren Platz gefunden hatte, genau an dem Ort, an dem die Geschichte der Fahrenbachs begonnen hatte, die seit fünf Generationen hier zu Hause waren.

Sie nahm eine Abkürzung, die ein Stück entlang am Fluß führte, dann bog sie in einen ausgefahrenen Wiesenweg ein, der direkt auf den Hügel führte, auf dem das Anwesen lag.

Das Haupthaus sah ohne die sonst auf den Balkonen gepflanzten Blumen ein wenig nackt und traurig aus. Aber vielleicht waren die Dunkels und Toni sich nicht klar darüber gewesen, ob nach dem Tod des Hausherrn alles weiter bepflanzt werden sollte. Außerdem kosteten die vielen Blumen ja auch Geld, aber das war etwas, was sich sehr leicht ändern ließ.

Als sie aus dem Auto stieg, erhob sich von den Stufen zur Eingangstür träge ein schwarzer Labrador, dessen Fell in der Sonne glänzte. Abwartend blickte er Bettina an, und es schien, als ob er nicht wisse, wie sie zu begrüßen war – bellend, als Feind oder schweifwedelnd als Freund.

Bettina kannte den Hund nicht, aber von ihrem Vater wußte sie, daß er »Hektor« hieß.

»Hallo, Hektor«, rief sie fröhlich, was den Hund veranlaßte, sich für die freundliche Variante zu entscheiden und es auch gnädig über sich ergehen ließ, daß Bettina ihn streichelte. Er gefiel ihr, es war ein schönes Tier.

Jemand kam eilig über den Hof gelaufen. Es war Toni, er hatte sich überhaupt nicht verändert.

»Die Bettina«, rief er, und seiner Stimme war die Freude über das Wiedersehen deutlich anzuhören. »Oder soll ich jetzt Frau Fahrenbach sagen?«

»Untersteh dich«, rief sie, ehe sie ihn umarmte. »Wenn du das machst, rede ich kein Wort mehr mit dir… ach, Toni, wie schön, dich zu sehen und wieder hier zu sein.«

Er nickte.

»Warst lange nicht hier, so viele Jahre.«

»Das war sehr dumm von mir«, gab sie zu.

Dann öffnete sich die Haustür, Leni kam herausgelaufen, auch sie hatte sich kaum verändert, abgesehen davon, daß sie deutlich rundlicher geworden war. Aber das paßte zu ihr.

Bettina warf sich spontan in ihre Arme. Leni war ihr so vertraut, sie war es, die sie getröstet hatte, wenn sie sich das Knie aufgeschlagen oder wenn sie unglücklich gewesen war.

»Da bin ich endlich«, sagte sie.

Leni strich ihr übers Haar, wie damals, als sie noch ein Teenager gewesen war.

»Es wurde aber auch Zeit«, verstohlen wischte Leni sich eine Träne weg. »Komm rein, ich habe extra für dich den Apfelkuchen gebacken, den du so gern magst.«

Bettina war gerührt. Daß Leni nach so vielen Jahren noch daran gedacht hatte, wie sie über deren Apfelkuchen geradezu hergefallen war.

Als schließlich auch noch Arno, Lenis Mann, sich zu ihnen gesellte und sie – für sein zurückhaltendes Naturell geradezu überschwenglich – begrüßte, hatte Bettina das Gefühl, niemals weggewesen zu sein.

An diesen drei Menschen war alles echt – ihre aufrichtige Freude, sie zu sehen, ihre Herzlichkeit, ihre Selbstverständlichkeit, mit der man sie wieder aufgenommen hatte.

Bettina konnte verstehen, daß ihr Vater, so oft er es nur einrichten konnte, hierher gekommen war. Es war wie in ein anderes Leben eintauchen.

»Hektor hat dich schon in sein Herz geschlossen«, lachte Arno. »Darauf kannst du dir wirklich etwas einbilden.«

Und tatsächlich, dicht an ihrer Seite folgte der Hund ihr ins Haus.

Bettina beugte sich zu ihm herunter und tätschelte ihn liebevoll.

»Ich glaube, wir zwei werden gute Freunde, Hektor«, lachte sie.

»Wie mit deinem Vater, den hatte er auch so gern«, sagte Toni, und als er sich trollen wollte, hielt Bettina ihn zurück.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir trinken alle zusammen Kaffee.«

Toni wurde rot vor lauter Freude. Schließlich war Bettina jetzt seine Chefin.

Als sie ins Haus kamen, bemerkte Bettina sofort, daß alles tip-top gepflegt war, aber fürchterlich zugestopft mit Möbeln, deren Schönheit und Besonderheit so überhaupt nicht zur Geltung kam. Doch das ließ sich sehr schnell ändern.

In der gemütlichen Wohnküche hatte Leni bereits den Tisch gedeckt und stellte nun rasch ein Gedeck für Toni dazu. Sie hatte eine altrosa-farbene Leinendecke aufgelegt und das handbemalte Keramikgeschirr eingedeckt, das Bettina besonders liebte. Mitten auf dem Tisch stand Lenis berühmter Apfelkuchen, bei dessen Anblick Bettina das Wasser im Mund zusammenlief.

»Die Blumen habe ich für dich gepflückt«, sagte Toni voller Stolz, als er bemerkte, wie Bettinas Blick auf einen Wiesenblumenstrauß fiel, der üppig in einen Tonkrug drapiert war.

»Danke, Toni, der Strauß ist wunderschön.«

Bettina war überwältigt und ließ sich auf die mit bunten Kissen drapierte Weichholzbank fallen, auf der schon ihre Urgroßeltern gesessen hatten.

Das war ihr absoluter Lieblingsplatz, den sie auch stets gegen ihre Geschwister verteidigt hatte.

Bettina versuchte krampfhaft, ihre Tränen der Rührung zu unterdrücken. Es war alles so unglaublich emotional, dazu dieser gemütliche Raum, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Erinnerungen stiegen in ihr auf, die ihr sagten, daß sie hier die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, in jeder Hinsicht. Aber Thomas hatte sie verloren, ihr Vater war gestorben, ohne sie auf das hier vorzubereiten. Und in diesem Augenblick hatte sie keine Ahnung, was sie tun würde.

Sie wollte sich jetzt nicht von sentimentalen Gefühlen überwältigen lassen, zumal die sich ihr bietende Szenerie geradezu filmreif war. Die Sonne malte goldene Kringel auf den Tisch. Es duftete köstlich nach dem Kaffee, den Leni gerade servierte.

Hektor blickte sie unentwegt an, von der Hoffnung beseelt, vielleicht einen guten Bissen zu ergattern.

»So, und nun erzählt«, bat sie, nachdem sie ihr großes Stück Kuchen mit einer gehörigen Portion Schlagsahne gekrönt hatte, »was hat sich so alles ereignet…«

*

In der Nacht hatte Bettina wirre Träume, ihr Vater stand am anderen Ufer des Flusses, und sie fand keine Möglichkeit, zu ihm hinüberzukommen. Er wollte ihr etwas sagen, aber sie konnte ihn nicht verstehen, und als sie endlich einen morschen Kahn entdeckt hatte und verzweifelt versuchte, ihn flottzumachen, war ihr Vater verschwunden.

Mit einem Aufschrei fuhr sie hoch und hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Mit zitternden Fingern knipste sie ihre Nachttischlampe an, um sich aufseufzend in die Kissen zurückfallen zu lassen. Sie lag im Bett ihres Jungmädchenzimmers, das sie heute ganz furchtbar fand, aber sie hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis ihr Vater ihr diese Möbel gekauft hatte.

Einer ihrer ersten Aktionen würde auf jeden Fall sein, das Zimmer anders zu möblieren, Auswahl an wunderschönen Möbeln hatte sie ja genug. Ob sie nun den Fahrenbach-Hof nur sporadisch besuchen oder sich zum dauerhaften Bleiben entscheiden würde, sie wollte sich in ihrem Zimmer wohl fühlen.

Bettina versuchte, wieder einzuschlafen, aber es wollte ihr nicht gelingen, sie war zu aufgewühlt. Also stand sie auf, um sich unten in der Küche eine heiße Milch mit Honig zuzubereiten.

Mit dem Becher in der Hand ging sie wieder nach oben, und einer spontanen Idee folgend, ging sie in das Zimmer ihres Vaters.

Sanftes Mondlicht schien in den Raum. Sie mußte nicht einmal Licht machen. Fast automatisch nahm sie in dem Ohrensessel Platz, auf den sie sich immer gesetzt hatte, wenn sie mit ihrem Vater hatte sprechen wollen.

Was waren es doch für törichte kleine Beschwerden gewesen, die sie vorzubringen hatte. Aber ihr Vater hatte ihr aufmerksam zugehört und ihr immer einen Ratschlag gegeben.

Mit kleinen Schlucken trank sie von ihrer Milch.

Wie wichtig wäre es jetzt für sie, mit ihm zu sprechen, ihn zu fragen, was sie tun sollte.

Sie war ja kaum angekommen und merkte schon, daß etwas in ihr geschah und das hatte nichts mit Sentimentalität zu tun.

»Ach, Papa«, flüsterte sie, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen, »warum bin ich nur allen Gesprächen ausgewichen, die du auf den Fahrenbach-Hof bringen wolltest. Wie egoistisch ich doch war, nur mich zu sehen und mein kleines verletztes Ego. Und nun stehe ich da und weiß nicht, was zu tun ist.«

Sie stellte den Becher ab und kuschelte sich tief in ihren Sessel. Sie fühlte sich ihrem Vater auf einmal so nah, fast hatte sie das Gefühl, sein Rasierwasser riechen zu können, das scheinbar noch im Raum hing – diesen herben Duft nach Sandelholz und Gräsern.

Ein solcher Gedanke war natürlich töricht, aber sie wollte ihn nicht gehenlassen, weil er sie beruhigte. Ob ihr Vater oft in diesem Sessel gesessen und nachgedacht hatte? Worüber? Gewiß nicht über die Firma.

Während sie so dasaß, wurde Bettina erst einmal so richtig bewußt, daß sie eigentlich über die wahren Gefühle und Gedanken ihres Vaters überhaupt nichts wußte. Es schien, als habe er, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, sein Ich, den inneren Kern seines Wesens, sorgsam verschlossen, und sie hatte sich, obschon sie sich so nahe waren, niemals bemüht, dorthin vorzudringen.

Bettina begann haltlos zu weinen. Es schien, als könne sie erst hier, an diesem Ort, die wirkliche Trauer um ihren Vater zulassen.

Das Weinen erschöpfte sie so sehr, daß sie irgendwann einschlief und erst am nächsten Morgen fröstelnd und mit schweren Gliedern wach wurde und sich ächzend aus ihrem Sessel erhob.

Sie brauchte jetzt dringend eine heiße Dusche und danach einen Kaffee.

Aber vorher schaute sie sich im Raum noch einmal um. Leni schien nichts verändert zu haben. Über einer Stuhllehne hing eine grobgestrickte Weste ihres Vaters, an die sie sich noch sehr gut erinnern konnte. Sie nahm sie in die Hand und preßte ihr Gesicht hinein. Dann zog sie die Weste an.

So sah Leni sie, die gerade die Treppe hochgekommen war, beladen mit einem Tablett, auf dem eine Tasse verführerisch duftender Kaffee stand und ein Teller mit Rührei sowie Toast.

»Leni, du rettest mir das Leben«, rief Bettina und griff fast gierig nach dem Kaffee. »Das ist genau das, was ich mir gewünscht habe.«

»Hast du nicht gut geschlafen?«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Nein, und dummerweise bin ich in Papas Zimmer gegangen und dort eingeschlafen – leider nicht im Bett, sondern im Ohrensessel.«

»Hast weinen müssen, nicht wahr? Aber das ist zu verstehen. Er war ein besonderer Mensch, und er fehlt uns auch, das mußt du mir glauben.«

»Er fehlt mir auch, und ich hätte an ihn noch so viele Fragen…«

»Weil du nicht weißt, wie es hier weitergehen soll, nicht wahr?« schien Leni ihre Gedanken erraten zu haben. »Aber weißt du, dein Vater hat dir den Hof nicht umsonst vermacht. Versuche nicht, eine Lösung zu erzwingen. Es wird sich finden. Genieße den Aufenthalt hier und betrachte es einfach als Urlaub, so wie es früher auch war.«

Ganz verblüfft schaute Bettina die Haushälterin an, so viel Weisheit und Menschenverstand hätte sie ihr gar nicht zugetraut. Aber das war wohl wieder auch so ein Vorurteil eines Städters, der glaubte, den Menschen auf dem Lande überlegen zu sein. Welch fataler Irrtum. Ganz gewiß waren Entscheidungen des Herzens aufrichtiger als die des Verstandes.

»Ich bin wirklich sehr gern hier, aber ihr drei bedeutet mir mehr, als du glaubst, aber ich…«

»Iß dein Rührei, ehe es kalt wird«, Lenis Stimme klang resolut, »und um einen klaren Kopf zu bekommen, solltest du einen langen Spaziergang machen.«

Dieser Gedanke begeisterte Bettina.

»Gibt es mein Fahrrad noch?« wollte sie wissen.

»Aber ja.«

»Dann mache ich gleich eine Radtour, so wie früher. Vielleicht kann der Toni ja nachsehen, ob die Reifen noch genug Luft haben.«

»Ich will es ihm sofort sagen, aber nun iß endlich dein Ei und gehe dann den Tag langsam an, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«

Bettina mußte lachen, denn das war so typisch Leni.

Sie ging in ihr Zimmer. Rasch aß sie ihr Rührei und spülte es mit dem Rest ihres Kaffees hinunter. Das war ganz köstlich gewesen.

Aber nun hatte sie es eilig. Sie konnte es kaum erwarten, an die Plätze zu kommen, an denen sie sich früher so gern aufgehalten hatte. Und sie wollte auch ins Dorf radeln, um zu sehen, was sich dort verändert hatte.

Den Gedanken, auch die Orte aufzusuchen, an denen sie mit Thomas gewesen war, verwarf sie so schnell, wie er ihr gekommen war.

Nein, Thomas war ein extra Kapitel…

Obschon Bettina es hatte vermeiden wollen, die Erinnerungen an Thomas wachzurufen, tat sie genau das Gegenteil. Sie saß kaum auf ihrem Fahrrad, als sie es auch schon, wie magnetisch angezogen, in Richtung See lenkte.

Der See gehörte auch zum Fahrenbach-Hof, aber schon ihr Großvater hatte ihn der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Im See durfte gebadet werden, geangelt. Es war eine Anzahl von Segelbooten zugelassen, Motorboote waren verboten.

Weil alles so streng reglementiert war, hatte der See seinen ursprünglichen Charme erhalten, ganz im Gegenteil zu den Seen in den umliegenden Orten, die mit Hotels und Bootshafen zugepflastert waren.

Auch die Fahrenbachs hatten ein kleines Bootshaus an der schönsten Stelle des Sees. Und das war Bettinas absoluter Lieblingsplatz. Hier hatte sie Stunden mit Thomas verbracht, sie hatten sich Gedichte vorgelesen, sich ihre gemeinsame Zukunft in den rosigsten Farben ausgemalt, hier hatten sie sich zum ersten Mal geküßt, und hier hatten sie sich auch ihre Liebe gestanden.

Aber unabhängig von Thomas hatte sie im See das Schwimmen gelernt, ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man mit einer Angel umging, und er hatte aus ihr eine ganz ordentliche Seglerin gemacht.

Als Bettina zwischen hohen Bäumen das Dach des Bootshauses durchschimmern sah, trat sie noch fester in die Pedalen. Sie konnte es kaum erwarten, dorthin zu kommen.

Als sie das Haus endlich erreicht hatte, lehnte sie ihr Fahrrad achtlos gegen einen Strauch, rannte um das Haus herum und drückte die Türklinke hinunter. Natürlich war abgeschlossen. Rasch kippte sie das hölzerne Namensschild nach oben und langte in die dahinterliegende Nische, in der der Schlüssel sich befand.

Sie schloß auf. Abgestandene Luft kam ihr entgegen. Hier mußte Jahre niemand gewesen sein. Etwas, was ihre Vermutung bestätigte, waren die Spinnweben, die es überall an den Wänden gab.

Bettina öffnete die Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Als sie sich im Raum umsah, glaubte sie, ihr Herz müsse stehenbleiben. Auf einem der Stühle entdeckte sie den dunkelblauen Pullover, den Thomas bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte.

Sie floh fast nach draußen und lief den Bootssteg entlang, unter dem das Boot verankert war.

Als sie sich auf die Bank setzen wollte, die einen grandiosen Blick auf den See bot, entdeckte sie das in das Holz geritzte Herz. T + B. Bettina konnte sich noch ganz genau erinnern, wann es entstanden war.

Sonne, Wind und Wetter hatten es verwittern lassen.

Behutsam malte Bettina mit ihrem rechten Zeigefinger die Konturen nach, ehe sie sich hinsetzte und auf das Wasser blickte.

Enten kamen schnatternd an den Steg geschwommen, um dann beizeiten abzudrehen, als sie merkten, daß es hier nichts zu holen gab. Weiter draußen entdeckte Bettina ein Boot, das langsam über das Wasser glitt. In den Bäumen zwitscherten die Vögel, und ganz in der Nähe hämmerte ein Specht sein gleichmäßiges tak-tak-tak in einen Baum.

Als sie jung gewesen war, hatte sie sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht, was die Fahrenbachs hier besaßen. Aber jetzt allmählich dämmerte ihr, was ihr Vater ihr hinterlassen hatte, nicht nur den Hof mit all seinen Nebengebäuden und dem Land, das teilweise verpachtet war. Auch der See gehörte dazu mit dem darangrenzenden Wald.

Offensichtlich war es auch ihren Geschwistern und deren Partnern nicht bewußt, was sie geerbt hatte, denn sonst hätten sie sie ja nicht bedauert, weil es »bloß« der Fahrenbach-Hof war.

Irgendwie kam Bettina sich wie ein Kind vor, das wußte, was es zu Weihnachten bekommen würde, weil es sich ja gewünscht hatte

und dann nach dem Auspacken dennoch vollkommen überwältigt war.

Sie hatte sich den Fahrenbach-Hof zwar nicht gewünscht, aber sie kannte ihn, und erst jetzt, ganz allmählich, begann sie zu begreifen, was ihr jetzt gehörte.

Sie wußte nicht, wie lange sie dagesessen hatte. Erst als ein leichter Wind aufkam und eine dunkle Wolke sich vorübergehend vor die Sonne schob, stand sie auf.

Im Haus roch es jetzt schon viel besser. Ihrem Impuls, den dunkelblauen Pullover an sich zu nehmen, widerstand sie. Sie war emotional genug bewegt.

Rasch schloß sie die Fenster, die Haustür, deponierte den Schlüssel an sein Versteck, dann lief sie, nach einem letzten Blick auf den See, zu ihrem Fahrrad.

Inzwischen war es fast Mittag geworden, aber sie wollte doch noch einen kleinen Abstecher ins Dorf machen.

Ihr fielen sofort einige kleine, sehr hübsche Einfamilienhäuser auf, die sie noch nicht kannte. Das verwunderte sie sehr, denn solange sie zurückdenken konnte, hatte sich in Fahrenbach nichts verändert.

Zumindest der Gasthof ZUR LINDE schien unverändert. Es war ein weißgetünchtes behäbig wirkendes großes Gebäude, das wohl gerade einen frischen Anstrich erhalten hatte, genauso wie das Holzwerk, das in frischem Glanz erstrahlte. Das Haus machte einen sehr gepflegten Eindruck. Es wurde eingerahmt von zwei riesigen Linden, die dem Gasthof auch den Namen gegeben hatten. Neu war der Biergarten seitlich vom Haus. Offenbar ging man auch in Fahrenbach mit der Zeit mit.

Bettina erinnerte sich an das köstliche, selbstgemachte Eis, das es im Sommer in der LINDE immer zu kaufen gab. Und sie erinnerte sich an Linde, die Tochter des Wirts, mit der sie sich angefreundet und die so unglücklich darüber gewesen war, daß man sie so einfallslos nach dem Gasthof benannt hatte. Was wohl aus ihr geworden war?

Irgendwie hatte die Neugier sie gepackt. Sie wollte es jetzt wissen. Also stellte sie ihr Fahrrad ab und ging in den Gasthof hinein.

Drinnen war alles fast unverändert geblieben, und das war auch gut so. Es wäre unverzeihlich gewesen, diese anheimelnde Atmosphäre durch Neuerungen zu zerstören.

Auf den blanken Holztischen standen Blumen.

Ihr Blick glitt in die Ecke mit dem Kachelofen, der zwar keinerlei Funktion mehr hatte, aber dem Raum sehr viel Gemütlichkeit verlieh. An dem vor dem Ofen stehenden Tisch hatten sie immer gesessen. Voller Wehmut dachte sie an die Zeit zurück, als sie scheinbar noch eine glückliche Familie gewesen waren.

»Ich komme sofort, einen Augenblick«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund, die sie sofort als die von Linde erkannte.

Gespannt blickte Bettina in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

»Entschuldigung, ich mußte nur…«

Die junge Frau, die zum Vorschein gekommen war, stellte die Flaschen ab, die sie auf dem Arm trug. Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck blickte sie zu Bettina.

»Ich glaube es nicht… ich glaube es nicht… die Bettina Fahrenbach.«

Dann kam sie um die Theke herumgelaufen und nahm Bettina resolut in den Arm. »Wenn das keine Überraschung ist. Wie lange haben wir uns nicht gesehen.«

»Mehr als zehn Jahre.«

»Unglaublich, komm, jetzt setz dich erst mal. Willst du einen Kaffee… oder einen Schnaps… ich könnte dir ein Fahrenbach Kräutergold anbieten.«

»Kaffee wäre gut, Schnaps nein. Außerdem, willst du mich vergiften? Unser Kräutergold gibt es seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr. Und es spricht nicht unbedingt dafür, daß Ihr noch immer Bestände davon habt nach so langer Zeit, fragt wohl keiner danach.«

»Ganz im Gegenteil, da irrst du dich aber gewaltig. Es ist der Renner, aber warte, ich hol nur schnell den Kaffee. Was nimmst du? Milch und Zucker?«

»Nur schwarz.«

Bettina blickte ihrer Jugendfreundin nach. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, nur daß sie natürlich älter geworden war, und etwas zugenommen hatte sie auch, aber das paßte zu ihr.

Linde kam mit dem Kaffee zurück und setzte sich.

»Was hast du mit dem Kräutergold gemeint?« wollte Bettina wissen.

»Ganz einfach, daß es hier in unserer Gegend der absolute Renner ist, nicht nur hier im Dorf, sondern auch drüben in den mondänen Restaurants.«

»Aber Kräutergold wird nicht mehr produziert.«

»Doch, mein Vater hat die Produktion auf dem Fahrenbach-Hof niemals eingestellt. Es wundert mich, daß du das nicht weißt.«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Ich habe es nicht gewußt, niemand von uns.«

»Es war ja auch keiner von euch hier. Ich glaube, dein Vater war sehr unglücklich darüber. Er hat hier alles sehr geliebt und hätte es bestimmt gern mit euch geteilt… es tut uns allen so leid, daß er so plötzlich gestorben ist. Er war ein wunderbarer Mensch.«

Bettina hätte am liebsten angefangen zu weinen. Es war furchtbar, daß Fremde mehr über ihren Vater wußten als sie selbst. Und auch, daß er die Produktion einfach fortgeführt hatte, nachdem ihre Brüder der Meinung gewesen waren, dieses Relikt aus alter Zeit passe nicht mehr in das Programm des Weinkontors.

»Ich habe meinen Vater sehr geliebt, und ich bedaure sehr, daß ich so viele Jahre nicht hier war.«

»Ja, das ist wirklich schade, ich hätte dich auch gern öfter gesehen. Warum bist du eigentlich nicht mehr gekommen. Ich hatte immer das Gefühl, daß du dich hier sehr wohl fühlst.«

Bettina seufzte.

»Das ist eine lange Geschichte, die ich dir irgendwann einmal erzählen werde.«

»Hat dein Vater verfügt, wie es mit dem Hof weitergehen soll?«

»Er hat mir hier alles vererbt, und ich bin seit gestern da, um mir ein Bild zu machen und zu überlegen, wie es weitergehen soll.«

Linde schaute ihre Freundin aus Kindertagen ernst an.

»Es ist schön, daß du den Hof geerbt hast. Dein Vater wußte, daß du – nichts gegen deine Geschwister – die einzige bist, die schätzen kann, was das hier bedeutet.«

»Wie meinst du das?«

»Etwas zu erben, was seit Generationen in der Familie ist, ist eine Verpflichtung es weiter zu erhalten, auch wenn es manchmal bedeutet, seine Lebensziele zu verändern. Ich hätte auch gern ein anderes Leben geführt, aber ich wurde mein Leben lang darauf vorbereitet, eines Tages das hier alles zu übernehmen, und als mein Vater krank wurde und meine Mutter nicht mehr wollte, bin ich nach Fahrenbach zurückgekommen, um alles zu übernehmen.«

»Hast du es bereut?«

»Nein. Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn es etwas später geschehen wäre. Aber es ist, wie es ist.«

»Bist du verheiratet?« wollte Bettina wissen.

»Noch nicht. Aber nächstes Jahr werde ich wahrscheinlich heiraten. Kannst du dich an den Martin Gruber erinnern?«

Bettina nickte.

»Und der wird dein Mann?«

»Ja, es hat sich so ergeben. Wir hatten uns jahrelang aus den Augen verloren, aber vor zwei Jahren ist er nach Fahrenbach zurückgekommen und hat die Tierarztpraxis von dem alten Hessland übernommen, und so hat es sich zwischen uns ergeben.«

»Liebst du ihn?«

Ohne zu zögern sagte Linde: »Ja… es ist vielleicht nicht die überschäumende Liebe, aber wir verstehen uns, unsere Auffassung vom Leben stimmt überein. Wir sind gern zusammen und wissen, daß wir uns aufeinander verlassen können. Wir lieben das Leben auf dem Land… wenn Martin mich küßt und im Arm hält, habe ich kein wildes Herzklopfen, aber ein tiefes Gefühl von Zärtlichkeit und Geborgenheit… ja, alles, was ich für ihn empfinde ist für mich Liebe, und ich bin sehr dankbar, daß wir uns gefunden haben«, sie lachte, »ein Glückstreffer, die Auswahl an Männern hier ist nicht besonders groß, und ob ein Fremder hier wirklich heimisch werden kann ist auch fraglich. Aber wie ist es bei dir? Hast du deinen Prinzen schon gefunden?«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Schon merkwürdig. Wir haben eigentlich alle geglaubt, aus Thomas Sebilius und dir würde ein Paar. Ihr ward doch ein Herz und eine Seele.«

Bettina schluckte.

»Nein, es hat sich nicht ergeben.«

»Eigentlich sehr schade, ihr habt wunderbar zusammengepaßt.«

Bettina wechselte rasch das Thema.

»Ich hab’ mehrere neue Häuser gesehen, als ich ins Dorf fuhr.«

»Ja, und vermutlich wird noch einiges geschehen. Fahrenbach wird aufgewertet, fast alles ist Bauland geworden, weil man hinter den anderen Gemeinden nicht zurückstehen wollte. Aber das wird dein Vater dir ja erzählt haben, hinter seinen Seegrundstücken waren sie ja auch schon her, all diese Grundstücksspekulanten. Aber da haben sie auf Granit gebissen, dein Vater und verkaufen.«

Wieder etwas, über das ihr Vater mit Fremden, aber nicht mit seiner eigenen Familie gesprochen hatte. Bettina konnte jetzt nicht auch noch zugeben, daß sie davon ebenfalls keine Ahnung hatte.

Bettina schaute auf die Uhr.

»Du liebe Güte, ich muß zurück auf den Hof, sonst bekomme ich Ärger mit Leni, die wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich.«

»Ja, grüß sie schön. Die drei sind richtige Goldschätze. Und du komm bald wieder vorbei. Schön, daß du gleich zu mir gekommen bist… ich hoffe, du entscheidest dich dafür, den Hof ganz zu übernehmen. Aber davon bin ich eigentlich überzeugt.«

Bettina verabschiedete sich, an der Tür blieb sie zögernd stehen.

»Linde, war Thomas eigentlich mal hier?«

»Nein, seit damals auch nicht mehr. Aber ich glaube, der Markus steht noch in Verbindung mit ihm, du weißt schon, der vom Sägewerk.«

Bettina winkte Linde nochmals zu, dann lief sie zu ihrem Fahrrad.

Es war schön gewesen, Linde zu treffen. Aber es hatte sie unglaublich erschüttert, von ihr Dinge über ihren Vater zu erfahren, von denen sie keine Ahnung hatte.

Bitterkeit stieg in ihr hoch.

Sie war sich so sicher gewesen, mit ihrem Vater über alles sprechen zu können, dabei wußte sie nichts, zumindest nichts über das, was ihn wirklich bewegte, was er getan hatte – und es war ihre Schuld, weil sie sich geweigert hatte, auch nur ein Wort über den Fahrenbach-Hof zu verlieren und über alles, was damit zusammenhing.

*

Bettina kam völlig atemlos auf dem Hof an. Sie war ziemlich schnell gefahren, und es war anstrengend, bergauf zu radeln, außerdem war sie vollkommen ungeübt, denn ihre letzte Radtour lag auch mehr als zehn Jahre zurück. Aber es hatte Spaß gemacht, und es war schön gewesen, Linde zu treffen, auch wenn sie dabei ein paar Wahrheiten erfahren hatten, die sie umgeworfen hatten.

Leni wartete schon auf sie, aber es war nur für eine Person gedeckt.

»Eßt ihr nicht mit?«

»Nein, wir haben schon gegessen, drüben bei uns, und es ist besser so, wenn wir es so beibehalten.«

»Aber ich…«

»Bettina, dein Vater hat es auch so gehalten, und das ist richtig.« Leni wandte sich dem Herd zu. »Wir müssen besprechen, was du essen möchtest. Heute gibt es für dich Tafelspitz mit Meerettich-Sauce. Dafür bist du früher fast gestorben. Und ich weiß nicht, was du trinken möchtest – Wasser, Saft oder eine Schorle. Ich habe dir alles hingestellt.«

»Ach, Leni, du bist ein Schatz. Und Tafelspitz mag ich auch heute noch am liebsten.«

Nachdem Bettina die ersten Bissen geradezu verschlungen hatte, legte sie ihr Besteck beiseite.

»Leni, wo wurde das Kräutergold hergestellt?«

»Na hier, in unserer Likörfabrik«, sagte Leni voller Stolz. »Dort haben die Männer alles, was sie brauchen.«

»Du willst damit sagen, daß Papa, Arno und Toni…«

»Ja, die drei, und es hat ihnen immer viel Spaß gemacht.«

»Ja, und wieviel… ich meine, nach welchen Kriterien haben sie produziert… Kräutergold war doch eigentlich überhaupt nicht mehr auf dem Markt.«

»Deine Brüder wollten es nicht, und dein Vater hat nachgegeben, aber sein Herz hing daran, also hat er nach Bestellung produziert, und glaub mir mal, das war nicht wenig. Die Männer hatten ordentlich zu tun.«

»Aber er konnte doch nicht so einfach… ich meine, es mußten doch Rechnungen geschrieben werden, es konnte doch nicht am Finanzamt vorbei verkauft werden.«

Leni richtete sich auf.

»Es ist alles korrekt gelaufen. Das Steuerbüro Fischer in Steinfeld hat die Rechnungen geschrieben und auch die Steuerangelegenheiten für deinen Vater erledigt. Du weißt doch, wie dein Vater war, er hätte niemals etwas Illegales gemacht, dazu war er viel zu korrekt. Nein, er hatte hier seine kleine, feine Firma und hat sich diebisch gefreut, wenn die Aufträge ordentlich hereinkamen.«

Bettina konnte nichts mehr sagen. Es war unglaublich. Es schien, als habe ihr Vater hier ein ganz anderes Leben geführt, von dem sie aber leider überhaupt keine Ahnung hatte.

Bettina aß weiter, das, was sie gehört hatte, mußte sie erst einmal verkraften. Wenn es ihrem Vater so wichtig gewesen war, das Kräutergold weiter zu produzieren, warum hatte er sich dann den Wünschen ihrer Brüder gebeugt?

»Weißt du, Bettina, im Grunde seines Herzens war dein Vater jemand, der ein einfaches Leben in der Natur liebte. Der Erfolg hat ihn irgendwann überrannt, aber das Leben im Reichtum hat ihm doch nichts gebracht. All das Geld, all der Erfolg… was hat es ihm genützt? Er konnte sein Herz nicht damit wärmen, aber er konnte ohne weiteres die Maschinerie nicht stoppen. Er fühlte sich für das, was er aufgebaut hatte, das Weinkontor Fahrenbach, verantwortlich, und ich glaube, er hat darauf gehofft, daß deine Brüder verantwortungsvoll den Betrieb übernehmen… ich glaube, wirklich getraut hat er ihnen nicht. Er hält sie für zu verschwenderisch. Er hat sich große Sorgen um den Fortbestand der Firma gemacht.« Sie seufzte. »Hoffentlich geht alles gut.«

Wieder war es eine Fremde, die mehr über ihren Vater, seine Wünsche, seine Bedenken, über sein Leben wußte als sie, die eigene Tochter.

Welche Meinung hatte er sich wohl über sie gebildet oder über Grit, ihre Schwester.

Hatte er sich bei Leni auch über seine Töchter beklagt und Bedenken geäußert?

Bettina schob ihren Teller beiseite.

»Möchtest du nicht noch einen kleinen Nachschlag haben?«

Bettina schüttelte den Kopf. Der Appetit war ihr vergangen, und sie fühlte eine unendliche Traurigkeit in sich aufsteigen, weil ihr Vater offensichtlich zu keinem seiner Kinder so viel Vertrauen gehabt hatte, um mit ihnen über das zu sprechen, was ihn wirklich bewegte. Gut, Frieder und Jörg hätten es nicht verstanden, Grit auch nicht, die war eine richtige Stadtpflanze, aber sie, Bettina, sie liebte Fahrenbach, den Hof… aber sie hatte sich dem allem wegen Thomas verweigert. Und vermutlich hatte ihr Vater aus lauter Liebe zu ihr geschwiegen, um ihr das Herz nicht schwer zu machen.

»Leni, bekomm ich noch einen Kaffee? Den trink ich aber draußen… danke übrigens für das leckere Essen.«

»Du hast ja kaum etwas zu dir genommen«, grummelte Leni, »aber geh nur schon raus, ich bring dir den Kaffee.«

Das ließ Bettina sich nicht zweimal sagen. So gern sie Leni auch hatte, sie mußte jetzt allein sein, und sie mußte versuchen, alles, was sie an diesem Vormittag gehört hatte, zu verarbeiten. Ihr Vater erschien ihr auf einmal in einem ganz anderen Licht.

*

In den nächsten Tagen war Bettina sehr viel unterwegs, entweder mit dem Fahrrad, oder sie machte lange Spaziergänge, dann immer begleitet von Hektor. Oder sie fuhr mit dem Auto in die Nachbarorte, die sich streckenweise rasant zu mondänen Urlaubsorten entwickelt hatten, mit schicken Restaurants und exklusiven Geschäften.

Nach solchen Ausflügen war sie allerdings froh, wieder in das beschauliche Fahrenbach zu kommen.

Das war eher ihre Welt. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl, ja, eigentlich konnte sie sogar sagen, sie war hier glücklich. Dennoch war sie sich noch immer nicht sicher, wie alles weitergehen sollte.

Sie beneidete Linde, die sich so klar für die Übernahme des Gasthofs entschieden hatte, als der Zeitpunkt für sie gekommen war, die Verantwortung dafür zu übernehmen, auch wenn das ihre Pläne durchkreuzt hatte. Vermutlich lag das aber auch daran, daß Linde fast ihr ganzes Leben in Fahrenbach verbracht hatte und allem noch viel mehr verbunden war als sie, die nur ihre Ferien hier verbracht hatte und seit mehr als zehn Jahren diesen Ort sogar gemieden hatte wie die Pest.

Wenn sie nicht verkaufen würde, und das stand außer Frage, könnte sie den Hof als Feriendomizil betrachten, eine kostspielige Angelegenheit, die sie sich nicht leisten konnte, oder sie mußte ihr bisheriges Leben aufgeben und auf den Fahrenbach-Hof ziehen.

Aber… ach, die vielen abers…

Sie mußte von etwas leben und einer Beschäftigung nachgehen.

In Steinfeld, im Steuerbüro Fischer, hatte sie erfahren, daß ihr Vater mit seiner kleinen geheimen Produktion einen ganz ordentlichen Gewinn gemacht hatte. Nun ja, vom ökologischen Prinzip her betrachtet, war es eine phantastische Sache gewesen – er hatte unter Einsatz geringer Mittel einen großen Nutzen erzielt. Jedoch kannten weder Arno noch Toni die Rezeptur für das Kräutergold. Sie wußten nur, daß mehr als hundert Kräuter, Früchte und Gewürze darin enthalten waren. Das war auch ihr bekannt, aber wie es gemixt werden mußte, davon hatten die beiden keine Ahnung, und sie leider auch nicht.

Ob ihr Vater ihre Brüder eingeweiht hatte? Sie mußte mit ihnen reden. Oder vielleicht hatte er bei Dr. Limmer etwas hinterlegt.

Auf jeden Fall wäre die Produktion von Kräutergold ein Standbein. Es gab auch die Pachteinnahmen für die Wiesen und Felder und den Bootshafen. Das war nicht schlecht, aber nicht genug, um davon alles zu unterhalten und um davon zu leben.

Was also sollte sie tun?

Die Remise, die Tenne und die Nebengebäude boten sich an, Ferienappartements zu bauen. Da die Orte ringsum sich auf Gäste der gehobenen Einkommensklassen eingestellt hatten, könnte sie sich auf Familien mit Kindern, junge Gäste, die noch nicht soviel verdienten oder Gäste mittleren Einkommens konzentrieren. Damit würde sie bestimmt eine gute Auslastung erreichen. Die Lage war ebenso hervorragend wie in den teuren Orten, und einen See hatten sie auch, sogar ihren eigenen.

Aber wollte sie das?

Was wohl hatte ihr Vater sich dabei gedacht, als er sich entschieden hatte, ihr den Fahrenbach-Hof zu vererben. Er kannte ihre finanzielle Situation, und er kannte sie auch gut genug, zu wissen, daß sie nicht verkaufen würde. Doch wie sollte sie alles finanzieren? Welch ein Glück, daß ihr Vater wenigstens Leni, Arno und Toni versorgt hatte. Die standen ihr als Arbeitskräfte zur Verfügung, ohne daß es sie etwas kostete. Aber womit sollte sie sie beschäftigen?

Bettina schob eine Entscheidung erstmal auf. Vielleicht sollte sie auch mal mit Linde darüber reden. Sie hatten sich mittlerweile einige Male getroffen und verstanden sich so gut wie früher. Von Linde erfuhr sie auch alles mögliche über Fahrenbach und seine Bewohner, und sie traf auf Leute, die sie von früher kannten, an die sie sich aber nicht erinnern konnte. Alle waren sehr freundlich zu ihr, aber vielleicht lag das auch daran, daß ihr Vater eine unglaubliche Wertschätzung erfahren hatte.

Bettina holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen, winkte Toni zu, der gerade über den Hof gelaufen kam, dann radelte sie davon.

Zu ihrer Enttäuschung war Linde nicht da.

Sollte sie die Gelegenheit nutzen, um endlich am Sägewerk vorbeizufahren und sich bei Markus Herzog nach Thomas erkundigen?

Sie wollte es doch eigentlich, seit Linde ihr gesagt hatte, daß Markus noch Verbindung zu Thomas hatte. Warum also zögerte sie jetzt. Wahrscheinlich, weil sie feige war und Angst davor hatte, über Thomas etwas zu erfahren, was sie unglücklich machen würde. Aber noch unglücklicher, was ihn betraf, ging eigentlich nicht. Also schwang Bettina sich wieder auf ihr Rad und fuhr los.

Das Sägewerk, ein ganz beachtlicher Betrieb, lag am entgegengesetzten Ortsausgang. Auch hier hatte ein Generationswechsel stattgefunden. Markus hatte den Betrieb von seinem Vater übernommen und seine Schwester ausgezahlt, die in die Stadt gezogen war.

Je näher Bettina dem Sägewerk kam, um so langsamer radelte sie, und als sie fast dort angekommen war, bremste sie und stieg von ihrem Rad ab.

Ihr Herz klopfte dumpf, sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.

Was hatte sie eigentlich davon, wenn sie etwas über Thomas erfuhr?

Außerdem, vielleicht wußte Markus auch nichts mehr. Es war schließlich nur eine Vermutung von Linde gewesen.

Andererseits interessierte es sie brennend, etwas zu erfahren. Vielleicht konnte sie dann dieses Kapitel Thomas endlich beenden.

Sie sah, wie jemand die Treppe vom Büro herunterkam. Das mußte Markus sein…

Er blickte in ihre Richtung, um dann weiterzugehen. Sie war sich sicher, daß er sie nicht erkannt hatte. Panik kam in ihr hoch, und ehe sie es sich versah, drehte sie ihr Rad um, schwang sich darauf und radelte zurück.

Sie mußte Thomas vergessen.

Für immer.

Deswegen gab es überhaupt keine Veranlassung, etwas über ihn zu erfahren.

Sie wischte sich über die Augen und war zornig über sich selbst, daß sie jetzt auch noch anfing, seinetwegen zu weinen. Als hätte sie nicht schon genug Tränen vergossen…

*

In den nächsten beiden Wochen gestaltete Bettina das Haus um, insbesondere ihr Zimmer. Alle Möbel, die zuviel waren, räumten die Männer in die Remise.

Und dann kaufte sie für die Balkone rote Geranien, die sie zusammen mit Leni einpflanzte.

Und es war schon sehr komisch, als sie die letzte Blume eingepflanzt hatte, wußte sie, daß sie auf den Fahrenbach-Hof ziehen würde.

»Morgen fahre ich zurück«, sagte sie entschlossen.

»Und deswegen hast du hier alles so schön gemacht. Aber warum?«

Bettina lachte und umfaßte Leni.

»Ganz einfach, weil ich es schön haben möchte, wenn ich wiederkomme.«

Da ging ein Strahlen über Lenis Gesicht.

»Das heißt, du hast dich entschlossen, ganz hierher zu ziehen?«

Bettina nickte.

»Aber vorher muß ich mich um verschiedene Dinge kümmern, vor allem um Geld.«

»Dein Vater hat uns ja auch etwas hinterlassen, wenn du es brauchst…«

Fassungslos starrte Bettina sie an. Es war unglaublich, mit welcher Selbstverständlichkeit Leni ihr das Geld angeboten hatte.

»Danke, Leni, ich danke dir von ganzem Herzen. Aber das ist nicht nötig. Ich bin ja froh, daß ihr hier seid, und was immer ich auch tun werde, daß ich eure volle Unterstützung habe, und das ist mehr wert als alles Geld der Welt.«

»Auf uns kannst du immer bauen, aber wie gesagt, wenn du Geld brauchst…«

Bettina atmete tief durch. Lenis Worte bestärkten sie nur noch darin, ihr Leben zu verändern und hierher zu ziehen. Sie wußte zwar noch nicht genau, was sie machen würde, aber das würde sich finden.

Sie hatte ja verschiedene Optionen, und wenn sie von der Bank, und daran zweifelte sie eigentlich nicht, einen Kredit bekam, würde sie die Ferienwohnungen und Appartements bauen.

Hoffentlich hatte Frieder die Rezeptur für das KRÄUTERGOLD, dann war das auch eine Option. Sie mußte sich unbedingt die alte Destillerie ansehen. Sie hatte es sich so oft vorgenommen und dann immer wieder vergessen. Aber das hatte auch noch etwas Zeit.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?« drang Lenis Stimme in ihre Gedanken. »Ich finde, den haben wir uns jetzt verdient. Ich könnte uns auch schnell ein paar Waffeln backen – so mit heißen Kirschen und Sahne, was hältst du davon?«

Bettina lachte.

»Sehr viel… aber wenn ich wiederkomme, muß das aufhören, denn sonst werde ich kugelrund.«

»Du doch nicht, du hast die Statur deines Vaters geerbt, der war auch so schlank und hat meine Waffeln niemals verschmäht.«

»Na, wenn das kein Argument ist. Ich freue mich, aber laß uns draußen Kaffee trinken, dann können wir unser Werk bewundern. Ich finde, das Haus sieht jetzt doppelt so schön aus.«

»Das Haus ist immer schön, mit und ohne Blumen«, sagte Leni, ehe sie in der Küche verschwand.

*

Obwohl Bettina nur einige Wochen weggewesen war, hatte sie das Gefühl, in ein anderes Leben zurückzukehren, das nicht mehr ihres war.

Die Stadt war ihr zu laut, und ihre großzügig geschnittene Eigentumswohnung war ihr zu eng und gefiel ihr nicht mehr, dabei hatte sie alles getan, um sie zu bekommen und auch einen viel zu hohen Preis dafür bezahlt.

Sie öffnete alle Fenster und Terrassentüren, um durchzulüften. Bis auf eine Flasche Mineralwasser war ihr Kühlschrank leer. Sie würde also erst einmal einkaufen müssen. Sie griff zum Telefon, um sich bei ihren Geschwistern zurückzumelden.

Frieder war in einer wichtigen Besprechung.

Grit war auf dem Weg in die Stadt, aber wenigstens bereit, sich mit ihr zum Essen zu treffen, weil ihr Mann und ihre Kinder zusammen auf einem Segelturn waren.

Bettina freute sich auf ihre Schwester. Rasch machte sie sich etwas frisch und fuhr in die Stadt. Sie hätte sich mit Grit lieber woanders getroffen, aber diese hatte auf einem angesagten italienischen Restaurant bestanden, in dem »man« sich jetzt traf.

Bettina mochte den Laden nicht – sie fand die Preise überteuert und das Publikum gefiel ihr auch nicht, denn dort trafen sich wirklich die Schicki-Mickis. Zu denen paßten weder sie noch Grit, die eigentlich schon gar nicht, denn ihre Schwester war eher konservativ. Aber, na ja, ihr sollte es recht sein.

Grit hatte einen Tisch reserviert und so wie sie von dem Kellner behandelt wurde, nachdem sie Grits Namen genannt hatte, deutete alles darauf hin, daß ihre Schwester öfters ins »Grande Italia« ging. Das verwunderte Bettina etwas, denn irgendwie paßte Grit nicht hierhin. Aber das sollte ihr egal sein. Sie wurde von dem Kellner in dem vollen Restaurant zu einem Tisch geführt, von dem man den ganzen Raum überblicken konnte und er in einer kleinen Nische stand.

Bettina hatte gerade Platz genommen, als sie ihre Schwester entdeckte. Der Wirt eilte auf sie zu, gab ihr Küßchen links und rechts.

Und wie sah Grit aus?

In ihr braunes Haar hatte sie sich rote Strähnen machen lassen, sie trug ein kurzes, enges schwarzes Kostüm, hochhackige Schuhe und trug auch eine von diesen Louis-Vuitton-Taschen, die eine monatelange Lieferzeit hatten.

Was war aus ihrer Schwester geworden? Manchmal sprach man ja von einem häßlichen Entlein, das sich in eine stolzen Schwan verwandelte. Aber bei Grit konnte man das nicht behaupten. Vielleicht sah sie es nur so, weil sie ihre Schwester war, aber auf sie wirkte Grit, als habe sie sich verkleidet und dabei bei der Wahl ihres Kostüms eine unglückliche Hand gehabt.

Sie scherzte mit dem Wirt, wohl ein besonderes Privileg, es gab noch mal Küßchen, dann winkte sie ihr zu und kam auf sie zugestöckelt.

»Schön, daß du schon da bist«, rief Grit, und dann bekam auch Bettina die drei obligatorischen Wangenküßchen.

Grit ließ sich auf einen Stuhl fallen, knöpfte ihre Jacke auf. Sie war schlanker geworden, aber sie hatte ihr Gesicht, das sah Bettina erst jetzt, einer Botox-Behandlung unterzogen.

Grit und Botox?

»Gut, daß Luigi diesen Tisch für uns freigehalten hat, ach, er ist wirklich ein Schatz.«

»Luigi?«

»Ja, der Wirt… trinkst du auch einen Prosecco?«

Bettina glaubte, sich verhört zu haben.

Grit und Prosecco, und das bereits mittags?

»Aber du trinkst doch tagsüber nie Alkohol.«

Grit lachte.

»Man soll nie nie sagen, mittlerweile finde ich es schön… ich brauche auch keine Karte, hinterher esse ich die Scampis vom Grill mit etwas Salat. Ich kann sie dir übrigens sehr empfehlen, sie sind köstlich.«

Was war nur aus Grit geworden? In einer solch kurzen Zeit konnte man sich doch nicht so verändern.

Sie plapperte, winkte dahin und dorthin, wobei ihre dicken Brillantringe blitzten, auch die waren neu, ebenso wie die goldene Rolex und das brillantbesetzte Armband. Grit trug Schmuck, den sie früher als unfein abgetan hatte.

Grit unterschied sich kaum von den übrigen weiblichen Gästen. Ob Grit sich irgendwann auch, wie die meisten von ihnen es hatten, die Lippen aufpolstern lassen würde?

Nachdem für Grit der Prosecco serviert worden war, für sie Mineralwasser, blickte Grit sie an. »Ach, Liebes, bist du nicht froh, wieder hier zu sein? Auf dem Hof muß es für dich doch gewesen sein wie in Einzelhaft?«

Was sollte Bettina ihr antworten. Daß das Leben in Fahrenbach echt war und sie sich hier, an diesem Ort, in einer Art Kunstwelt befanden mit Kunstgebilden, die an den Tischen saßen und das zur Schau trugen, was man jetzt haben mußte, um dazu zu gehören? Und das Schlimmste war – ihre Schwester Grit war mittendrin.

»Es war schön… ich habe mich übrigens entschlossen, nach Fahrenbach zu ziehen und den Hof zu übernehmen.«

Grit verdrehte die Augen.

»Um Gottes willen, das ist ja grauenvoll. Überleg dir das genau. Du kannst doch nicht auf dem Dorf versauern. Dort lernst du niemals einen Mann kennen, und irgendwann solltest auch du heiraten. Wenn du von mir einen Ratschlag annehmen willst, dann verkaufe den ganzen Klumpatsch, ein bißchen was wirst du schon dafür bekommen… es gibt ja genug Öko-Leute, die aufs Land ziehen wollen, um sich dort zu verwirklichen. Du gehörst für meine Begriffe nicht dorthin.«

»Grit, der Hof ist seit Generationen im Familienbesitz, wenn es dein Erbteil gewesen wäre, würdest du ihn dann verkaufen?«

Grit lachte.

»Glücklicherweise habe ich ihn nicht geerbt. Aber wenn es der Fall gewesen wäre – ja, ich würde den Hof verkaufen ohne zu zögern.«

»Aber fünf Generationen…«

Grit unterbrach sie.

»Hör bitte auf damit. Wir leben heute und nicht in der Vergangenheit.«

»Und warum wolltest du dann um jeden Preis die Villa haben?« Bettina blickte ihre Schwester an. »Das ist auch ein Stück Vergangenheit, und du bist sogar bereit, dein neuerbautes Haus zu verlassen, um in die alte Villa zurückzukehren, in der du deine Kindheit und Jugend verbracht hast.«

Die Scampis wurden serviert.

Grit begann zu essen. Trank einen Schluck ihres Weißweins hinterher, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.

»Wie kommst du denn bloß darauf zu glauben, ich würde aus meinem schönen Haus gehen, um in diesen Riesenkasten zu ziehen. Denk doch bloß mal an die enorm hohen Heiz- und Stromkosten.«

»Ja, aber…«, Bettina war irritiert, »warum wolltest du dann unbedingt die Villa haben?«

Wieder trank Grit einen kleinen Schluck Wein. Dann stellte sie mit einem zufriedenen Grinsen das Gas wieder ab.

»Ganz einfach, um sie zu verkaufen.«

»Bitte… um was…«

»Krieg dich ein, du hast schon richtig gehört. Ich wußte schon seit langem, daß die Holberg-Stiftung in der Stadt ein neues Domizil sucht. Die Villa paßt genau in ihr Konzept und ist ihnen satte fünf Millionen wert. Der Vorvertrag ist unterschrieben, nächste Woche erfolgt die Beurkundung beim Notar. Für die Einrichtung bekomme ich übrigens zusätzlich eine halbe Million, die Bilder, das alte Silber und Porzellan und die übrigen Kunstgegenstände werden auf einer Auktion auch noch satte zwei Millionen bringen, mindestens. Wenn ich Glück habe, und alles spricht dafür, sogar noch mehr. Du siehst, round about bringt es mir wenigstens siebeneinhalb Millionen. Ganz schön clever von mir, oder?«

Und auf so etwas war Grit stolz? Im Grunde genommen auf einen Betrag.

Bettina war der Appetit vergangen. Sie schob ihren Teller beiseite.

»Grit, ich kann es nicht fassen. Du hast Papa etwas vorgegaukelt, obschon du eigentlich von Anfang an wußtest, daß du die Villa verkaufen würdest.«

Grit zuckte die Achseln.

»Na und? Was ist denn verwerflich daran. Ich habe mir nur mein Erbe gesichert. Frieder hat die Firma bekommen, Jörg das Chateau. Ich bin sehr froh, daß ich meinen Anteil vom Kuchen beizeiten gesichert habe. Du siehst doch, was für dich übrig geblieben ist…«

»Ich bin sehr glücklich mit meinem Erbteil, und wahrscheinlich hättest du die Villa ohnehin bekommen…«

»Eben, deswegen ist es auch absolut unerheblich, auf welche Weise ich sie mir verschafft habe.«

Der Wirt war an den Tisch getreten. Grit strahlte ihn an.

»Luigi, mein Herz, es war köstlich wie immer.«

Sein Blick glitt auf Bettinas kaum berührten Teller.

»Hat es Ihnen nicht geschmeckt, Signora?« erkundigte er sich besorgt.

»Meine Schwester ist etwas indisponiert. Mach dir keine Sorgen.«

»Einen kleinen Grappa zum Abschluß?«

»Das wäre wunderbar«, flötete Grit, als habe er ihr gerade ein Königreich versprochen.

»Für mich bitte einen Espresso«, sagte Bettina, die allmählich das Gefühl hatte, in einem Film mitzuspielen, in dem ihre Schwester allerdings eine Fehlbesetzung war.

»Grit, ich verstehe dich nicht mehr. Du kannst dich doch nicht in so kurzer Zeit so verändert haben. Alles, was du stets abgelehnt hast, sehe ich jetzt an dir. Und war es nötig, dein Gesicht mit Botox behandeln zu lassen?«

Grit errötete leicht.

»Das war die Idee von Mona… eigentlich hat sie mir zu einem kleinen Lifting geraten, aber das habe ich doch nicht gemacht.«

»Mona? Ihr habt euch doch nie verstanden, und nun nimmst du solch hirnverbrannte Vorschläge von ihr an?«

Der Grappa und der Espresso wurden serviert.

»Weißt du«, sagte Grit schließlich, nachdem sie einen kleinen Schluck getrunken hatte. »Inzwischen verstehe ich mich mit Mona sehr gut. Wir unternehmen sehr viel miteinander.«

»Wahrscheinlich berät sie dich auch beim Kauf deiner Kleidung, deines Schmuckes…« Bettina blickte ihre Schwester traurig an. »Grit, du hast dich nicht zum Vorteil verändert. Ich wünsche dir nur, daß die Zeit der Verblendung bald vorbei ist. Das bist doch nicht mehr du.«

»Oder ich bin es jetzt und habe früher ein angepaßtes Leben geführt. Warum baut Frieder die Firma um, warum richtet Jörg auf dem Chateau Events und Festivals aus? Ich kann es dir sagen – wir sind aus dem Schatten eines übermächtigen Vaters herausgetreten.«

Bettina begann zu lachen.

»Papa und übermächtig? Er war der gütigste Mensch der Welt.«

»Das sagst du, weil du so bist wie er. Wir sind auf jeden Fall froh, endlich so leben zu können, wie wir wollen. Und ich finde es wunderbar, reich zu sein. Reich ist anders als wohlhabend, was ich vorher war.«

»Geld ist nicht alles…«

Grit lachte.

»Aber es beruhigt…«

Bettina ging nicht weiter darauf ein, etwas anderes beschäftigte sie mehr.

»Was hast du da über Frieder und Jörg gesagt?«

Grit begann zu strahlen.

»Stell dir vor, Frieder modernisiert das ganze Bürogebäude. Da bleibt wirklich kein Stein auf dem anderen. Und die Inneneinrichtung macht dann Ferroni, das ist der derzeit angesagteste Innenarchitekt… Frieder und Mona haben irre italienische Designermöbel ausgesucht.«

Bettina konnte dazu nichts sagen. Bei den Worten ihrer Schwester drehte sich ihr der Magen um. Frieder tat etwas, was völlig unsinnig war. Fahrenbach war seriös und gediegen. Das, was Frieder vorhatte, würde die Kunden verschrecken.

»Ja, und zu Jörg fahren wir alle nächsten Monat. Hat er dich noch nicht eingeladen? Da findet das erste Festival statt… alles, was in der Opernszene Rang und Namen hat, hat zugesagt… ist das nicht irre?«

»Es ist irre«, konnte Bettina sich nicht enthalten zu sagen, »Chateau Dorleac ist ein Weingut, kein Veranstaltungsort. Habt ihr eigentlich alle den Verstand verloren?«

»Du redest wie Papa… nein, wir haben nicht den Verstand verloren, sondern uns emanzipiert. Und Frieder, Jörg und ich haben uns noch nie so gut verstanden wie jetzt.«

Bettina antwortete nicht. Sie trank den letzten Schluck ihres Espressos.

»Grit, sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt gehen.«

»Bist du sauer?«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Nein, nur entsetzt und unendlich traurig. Papa würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was ihr da veranstaltet.«

»Glücklicherweise kann er das nicht«, trotzte Grit. »Und du spiel jetzt nicht den Moralapostel oder bist du insgeheim wütend, weil wir bei der Erbschaft die besseren Karten hatten?«

»Sei unbesorgt, ich bin mit dem Fahrenbach-Hof sehr, sehr glücklich, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.«

Bettina stand auf, griff nach ihrer Tasche, zog ihre Jacke an.

»Mach’s gut«, sie beugte sich zu ihrer Schwester hinunter und drückte ihr einen leichten Kuß auf die geglättete Stirn.

»Sehen wir uns noch?«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht. Aber wenn ich wieder in der Stadt bin, melde ich mich. Du kannst mich aber auch in Fahrenbach anrufen, die Nummer kennst du ja.«

Bettina wartete keine Antwort ab, sondern stürmte hinaus. Das Luigi ihr irritiert hinterhersah, interessierte sie überhaupt nicht.

Ihren Plan, jetzt noch ihren Bruder zu besuchen, ließ sie fallen, nachdem sie gehört hatte, was der plante.

Sie fuhr zum Friedhof.

Das Grab ihres Vaters war von einem Gärtner bepflanzt worden.

Bettina stellte ihre Vase mit den weißen Rosen zwischen Efeuranken, dann zündete sie eine Kerze an.

»Ach, Papa, gut, daß du nicht weißt, was deine drei Ältesten jetzt veranstalten. Oder hast du es vorausgesehen?«

Tränen flossen ihr über das Gesicht.

Sie weinte um ihren Vater, um ihre Geschwister, die sie nicht mehr verstand, und irgendwie weinte sie auch um sich, weil sie sich auf einmal so grenzenlos allein und auch ausgeschlossen fühlte.

*

In der Nacht fand Bettina kaum Schlaf. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.

Die Veränderung, die mit Grit vor sich gegangen war, tat ihr fast körperlich weh, und das, was sie über ihre Brüder erfahren hatte, löste Entsetzen in ihr aus.

Das alles konnte doch nicht wahr sein – Grit mit ihrer Gier nach Geld, Frieder, der alles, was Fahrenbach ausmachte, wissentlich vernichtete und Jörg, der das Weingut vernachlässigte, weil er sich plötzlich zu Höherem berufen fühlte.

Merkten die drei eigentlich nicht, was sie machten?

Welch ein Glück, daß ihr Vater das nicht miterlebte.

Aber sie machte sich auch Gedanken darüber, was aus ihr werden sollte.

Vielleicht hatte sie am Abend zu lange gerechnet, überlegt, so daß ihre Gedanken sie bis in den Schlaf verfolgten.

Sie war froh, daß der Morgen heraufdämmerte und sie aufstehen konnte.

Eine heiße Dusche, zwei Tassen starken Kaffees, und schon fühlte sie sich etwas munterer.

Aber ihre Nervosität blieb, was auch kein Wunder war, stand ihr doch das Gespräch mit dem Direktor der Regionalbank bevor, den sie um einen Kredit bitten wollte. Sie kannte Dr. Fleischer schon lange und war sich eigentlich auch sicher, das Geld zu bekommen. Aber außer einer Hypothek für ihre Eigentumswohnung hatte sie keine Schulden, und jetzt welche zu machen, war etwas ganz Neues für sie.

Als sie jedoch eine Stunde später in das Büro des Bankchefs geführt wurde, hatte sie sich wieder gefangen.

»Wie schön, Sie zu sehen, Frau Fahrenbach«, begrüßte er sie freundlich und kam hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hervor, um sie fast überschwenglich zu begrüßen. Aber das war sie von ihm gewohnt. Sie hatte ihren Vater

oft zu Besprechungen begleitet. »Kommen Sie, wir setzen uns dort drüben in die Sessel. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Als Bettina verneinte, blickte er sie fragend an. »Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?«

Rasch erzählte Bettina ihm von ihrem Erbe und was sie geplant hatte.

»Überhaupt kein Problem. An welche Summe dachten Sie denn dabei?«

»Ich denke, 200.000 Euro werde ich schon brauchen.«

»Natürlich läßt sich das einrichten. Ich brauche dann ein paar Unterlagen, also als erstes Ihre Gehaltsbescheinigung und…«

»Ich arbeite nicht mehr in der Firma«, unterbrach sie ihn, »und demzufolge beziehe ich auch kein Gehalt mehr.«

Dr. Fleischer überlegte kurz.

»Auch nicht so schlimm, dann nehmen wir Ihre Wertpapiere als Sicherheit.«

»Das geht nicht, mein Depot muß ich auch auflösen.«

Irritiert blickte er sie an.

»Tja, aber dann weiß ich nicht…«

»Ich habe den Fahrenbach-Hof als Sicherheit. Sie können eine Hypothek eintragen lassen oder eine Grundschuld. Das ganze Anwesen ist unbelastet und mehr wert als der Betrag, den ich von Ihnen haben möchte.«

»Alles gut und schön, meine Liebe… jetzt bringen Sie mich wirklich in eine fatale Lage… aber wenn Sie kein festes monatliches Einkommen haben, wovon wollen Sie den Kredit denn dann zurückzahlen?«

»Wenn der Umbau fertig ist, dann habe ich Einnahmen, davon bin ich fest überzeugt.«

»Liebe Frau Fahrenbach, das glaub ich Ihnen ja alles. Aber ich bin an Vorschriften gebunden. So bekomme ich den Kredit niemals durch. Reden Sie doch mal mit Ihrem Bruder, vielleicht kann der Ihnen aushelfen, oder wenn er für Sie bürgt, sieht alles schon wieder anders aus. Ihr Bruder ist ja wirklich dabei, ordentlich Gas zu geben, und er hat bei allem, was er tut, unsere volle Unterstützung.«

Bettina griff nach ihrer Tasche, sie konnte dem Mann nicht länger zuhören.

»Herr Dr. Fleischer, bitte veranlassen Sie, daß mein Depot aufgelöst wird, und ich möchte auch mein Konto bei Ihnen aufgeben. Wenn Sie dazu Unterschriften von mir benötigen, daß alles veranlaßt werden kann, dann erledige ich das jetzt.«

»Frau Fahrenbach, um Gottes willen…«

Bettina ließ ihn nicht weitersprechen.

»Ich werde meinen Wohnsitz hier aufgeben und ganz nach Fahrenbach ziehen, dazu brauche ich auch eine Bank vor Ort. Ich werde Ihnen meine neue Bank und Kontonummer bekanntgeben, damit Sie alles Weitere veranlassen können.«

»Verkaufen Sie doch einfach ein Grundstück«, schlug er vor.

Bettina schaute ihn an.

»Sie haben meinen Vater doch über viele Jahre hinweg gekannt«, ihre Stimme klang ganz ruhig. »Was glauben Sie, hätte er verkauft?«

»Nun ja, Ihr Vater wohl nicht«, gab er zu.

»Sehen Sie, und ich bin wie mein Vater. Ich möchte jetzt Ihre Zeit wirklich nicht länger in Anspruch nehmen. Geben Sie mir das Formular, mit dem ich Sie bevollmächtige, mein Konto und mein Depot aufzulösen.«

So sehr er sich auch bemühte, Bettina ließ kein weiteres Gespräch mehr zu. Sie hatte nur noch den Wunsch zu gehen.

Sie war nicht nur enttäuscht, sondern fühlte sich auch nicht ernst genommen, denn Dr. Fleischer hatte sich für ihre mitgebrachten Unterlagen überhaupt nicht interessiert. Er hielt sich an einer Gehaltsbescheinigung fest.

Ob er bei Frieder auch seine Bedenken hatte? Gewiß nicht. Das, was Frieder machte, fand er toll, dabei gab dieser erst mal nur Geld aus, und ob sich das im Umsatz niederschlagen würde, stand in den Sternen.

Sie unterschrieb die ihr gereichten Vordrucke.

»Und ich bitte Sie, dieses Gespräch vertraulich zu behandeln. Zu niemandem ein Wort, auch nicht zu meinen Geschwistern.«

Sie reichte ihm die Hand, um sich zu verabschieden, dann ging sie hocherhobenen Hauptes aus dem Büro. Dieser Banker sollte ihr keine Niederlage ansehen.

*

Es schien, als sollte es nicht ihr Tag sein – zuerst die Niederlage bei der Bank, dann hatte auch Dr. Limmer keine Informationen für sie, die sie in Sachen Kräutergold weiterbrachten.

Wenn sie nicht gehofft hätte, von ihrem Bruder etwas zu erfahren, wäre sie am liebsten überhaupt nicht zu ihm in die Firma gefahren.

Sie steuerte ziemlich lustlos ihr Auto auf den Firmenparkplatz. Der dunkelgraue Porsche gehörte sicher Frieder. Er hatte schon immer für ein solches Auto geschwärmt, es wegen ihres Vaters, der überhaupt nichts von solchen Luxuswagen gehalten hatte, nicht gekauft. Na ja, Zeit verloren hatte er auf jeden Fall nicht.

Bettina stieg aus, als ihr ihre ehemalige Mitarbeiterin entgegenkam.

»Hallo, Frau Schmitz, wie schön, Sie zu sehen. Haben Sie schon Feierabend?«

Sie begrüßten einander, und Bettina merkte, daß Frau Schmitz irgendwie bedrückt war.

»Geht es Ihnen nicht gut?« erkundigte sie sich.

Frau Schmitz konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Heute war mein letzter Arbeitstag.«

Bettina starrte ihr Gegenüber an. »Haben Sie gekündigt?«

»Ihr Bruder hat mich entlassen.«

»Das kann doch nicht wahr sein, ich werde gleich mit Frieder reden.«

»Tun Sie das nicht, es ist zwecklos. Ich bin die letzte vom alten Mitarbeiterstab. Er hat alle ausgewechselt und durch neues, junges Personal ersetzt… er will durch nichts und niemanden an Ihren Vater erinnert werden, deswegen auch der Umbau.«

»Das kann er doch nicht machen.«

»Doch, er kann. Er ist im Recht, und man kann ihm noch nicht einmal etwas vorwerfen. Er hat allen eine Abfindung gezahlt und zahlt auch das Gehalt nach der Freistellung weiter bis zum Ende der Kündigungsfrist. Reden Sie mit ihm nicht darüber, es hat wirklich gar keinen Sinn. Aber schön, daß ich Sie noch sehe. Geht es Ihnen denn gut?«

Bettina plauderte noch etwas mit Frau Schmitz, dann betrat sie das Haus, das im Inneren einer Großbaustelle glich.

Frieder kam die Treppe herunter, mit Plänen unter dem Arm.

»Schwesterlein, das ist aber eine Überraschung«, rief er und schien sich wirklich zu freuen, sie zu sehen. »Komm, ich zeig dir, was ich plane. Du wirst hingerissen sein.«

Er freute sich wie ein Kind an Weihnachten, und Bettina ließ alles über sich ergehen. Zu der Welt, in der er sich jetzt bewegte, hatte sie keinen Zugang, wollte auch keinen haben.

Er redete nur über sich, fragte mit keiner Silbe nach ihr.

»Frieder, hast du eigentlich die Rezeptur für unser Kräutergold?«

Er begann schallend zu lachen.

»Nein, natürlich nicht, selbst wenn ich es gehabt hätte, hätte ich sie entsorgt. Kräutergold ist mega-out. Was willst du denn damit?«

Sollte sie es ihm sagen? Es interessierte ihn ohnehin nicht.

»Ach, nur so… Jörg hat sie vermutlich auch nicht?«

»Ganz gewiß nicht. Nun vergiß es, kein Mensch will mehr dieses gräßliche Zeug trinken. Am Wochenende geben Mona und ich eine Party, du bist herzlich eingeladen.«

»Ich fahre morgen wieder nach Fahrenbach.«

»Sicherlich um zu verkaufen.«

»Nein, um dort zu leben.«

Eine hochgewachsene Blondine kam auf sie zugestöckelt. Bettina kannte sie nicht, vermutlich jemand von dem neuen Personal.

»Chef, ich sollte Sie an den Termin mit dem Architekten erinnern. Er und Ihre Frau warten bereits.«

»Ach ja, danke, Sandy, ich fahre gleich los.«

Er wandte sich Bettina zu.

»Tut mir leid, Schwesterlein…«

»Laß dich nicht aufhalten, Frieder. Alles Gute für deinen Umbau, und grüße Mona und die Kinder.«

»Ich geh gleich mit raus«, er hielt ihr die Tür auf, »schade, daß du nicht zu der Party kommen kannst. Melde dich, und überleg es dir mit Fahrenbach. Du bist zu jung, um dich in der Provinz zu vergraben, verkauf alles, ein bißchen was wirst du für den Krempel schon bekommen.«

Er winkte ihr zu, lief zu dem Porsche, sie hatte sich also doch nicht geirrt, stieg ein und fuhr mit laut aufquietschenden Reifen davon.

Bettina sah ihm wie einem bösen Geist hinterher.

Zuerst Grit, jetzt Frieder…

Um beide konnte man nur Angst haben. Sie mußte ihren Bruder Jörg überhaupt nicht anrufen, das, was sie über ihn gehört hatte, seit er auf Chateau Dorleac lebte, reichte, um sich klar darüber zu sein, daß er in bezug auf Größenwahn der Dritte im Bunde war.

Ihre Hand zitterte, als sie ihr Auto startete und langsam vom Parkplatz fuhr.

In ihr war die dumpfe Ahnung, daß es mit dem, was das WEINKONTOR FAHRENBACH ausmachte, endgültig vorbei war.

Sie hoffte von ganzem Herzen, daß Frieder sich besinnen würde, wie sie es sich ebenso für Grit wünschte, aber wirklich glaubte sie nicht daran.

*

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung mußte Bettina an einer Ampel stehenbleiben. Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann, der – wie es schien – ein wenig gelangweilt vor seinem Computer saß, aber irgendwie sehr sympathisch wirkte.

IMMOBILIEN STEIN

las sie auf der Scheibe. Das Schild wirkte noch sehr neu.

Als die Ampel grün wurde, suchte Bettina sich einen Parkplatz und ging in das Büro.

Der junge Mann blickte überrascht auf, nachdem Bettina eingetreten war.

»Sind Sie Herr Stein?« wollte sie wissen, und als er das bestätigte, sagte sie: »Schön, dann habe ich einen Auftrag für Sie, Sie können meine Wohnung verkaufen.«

Er starrte sie an, als habe sie gerade Suaheli gesprochen.

»Haben Sie verstanden, Herr Stein?« Bettina konnte sich aus seinem Verhalten keinen Reim machen.

»Ja, ja, bitte, nehmen Sie Platz… ich bin so durcheinander, weil ich gerade heute mein Büro eröffnet habe, Sie sind meine erste Kundin… welch ein Glücksfall, damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

Bettina war nahe daran, ihre spontane Handlung zu bereuen. Ein Anfänger?

Er schien ihre Gedanken erraten zu haben.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe zwar mein Büro heute erst eröffnet, aber ich bin kein Neuling in der Branche. Ich habe einige Jahre bei Immobilien Sänger gearbeitet. Aber leider ist mein Chef gestorben, und mit dem Junior kam ich nicht klar. Er wollte auf einmal alles anders machen, dabei waren wir erfolgreich.«

Das kannte Bettina aus eigener Erfahrung, der junge Mann wurde ihr immer sympathischer, und rasch erklärte sie ihm, worum es sich handelte und erteilte ihm schriftlich einen Verkaufsauftrag.

»Sie müssen sich allerdings heute noch die Schlüssel holen, denn morgen fahre ich weg.«

»Kein Problem, und vielen Dank. Ich werde alles tun, um Ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen.«

Sie verabschiedeten sich und verabredeten sich für den Abend. Sichtlich zufrieden verließ Bettina das Büro.

Sie gratulierte sich zu ihrem spontanen Entschluß und war überzeugt davon, daß dieser junge Herr Stein alles tun würde, um ihre Wohnung rasch zu verkaufen.

Und wenn sie es so recht bedachte, war das das einzige positive Erlebnis, seit sie wieder in der Stadt war.

Ehe sie in ihre Wohnung fuhr, kaufte sie noch für Linde und ihre drei Champagnertrüffel, weil es die nirgendwo so gut gab wie in der Hofkonditorei.

Dann packte sie die Sachen ein, die sie in den nächsten Wochen brauchen würde.

Vor dem Verkauf der Wohnung würde sie noch einmal herkommen müssen, um alles aufzulösen.

Einen Teil der Wohnung würde sie auf dem Hof bei sich unterbringen, den Rest in den Ferienwohnungen. Und was sie nicht mehr benötigte, würde sie entsorgen.

Bettina wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, Abschied von ihrem bisherigen Leben zu nehmen. Aber vielleicht hatte das mit den Horrorbildern zu tun, die sie leider von ihren Geschwistern bekommen hatte.

Fahrenbach erschien ihr als ein Paradies, aber dennoch war sie nicht töricht genug zu glauben, daß sie dort eitel Sonnenschein erwarten würde. Schließlich gab es auch im Paradies Schlangen.

*

Da sie zügig vorangekommen war, wählte sie nicht die Abkürzung durch die Wiesen, sondern fuhr durch das Dorf, weil sie Linde die Champagnertrüffel überreichen wollte.

Die Gaststube war brechend voll – eine Reisegesellschaft nahm ihr Mittagessen in der LINDE ein, und die junge Frau Linde wirbelte munter umher und gab dem Servierpersonal Anweisungen.

Man merkte ihr die Freude an, Bettina zu sehen.

»Schön, daß du wieder da bist. Du, setz dich doch drüben an den Tisch zu Markus, der war zum Essen hier. Du kannst dich mit ihm unterhalten, bis ich Zeit habe, mich zu euch zu gesellen.«

Bettina hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, daß es im Lokal so voll sein würde, aber schon gar nicht damit, daß sie ausgerechnet Markus Herzog hier treffen würde. Aber sie konnte jetzt keinen Rückzieher machen.

Sie fühlte sich schon ein bißchen unsicher, und ihr Herz klopfte wie wild, als sie zum Stammtisch ging, an dem Markus war. Schließlich war er das einzige Bindeglied zu Thomas, und alles, selbst die kleinste Kleinigkeit, die mit Thomas zu tun hatte, warf sie aus der Bahn.

Sie sah, wie Markus gerade seinen Teller beiseite schob, er war mit dem Essen fertig.

Als er Bettina entdeckte, stand er auf.

»Na, wenn das keine Überraschung ist – die Bettina Fahrenbach. Grüß dich, schön, dich zu sehen«, sein Händedruck war kraftvoll und warm. Er musterte sie. »Gut schaust du aus, aber komm, setz dich doch.«

Linde kam vorbeigelaufen.

»Wollt ihr einen Kaffee?«

Und als beide nickten, rief sie fröhlich: »Wird gemacht, bring ich euch gleich.«

»Linde hat mir erzählt, daß du vielleicht hierher ziehen willst, auf den Fahrenbach-Hof«, begann er das Gespräch, nachdem Bettina sich hingesetzt hatte.

»Nicht vielleicht«, korrigierte sie ihn, »sondern ganz sicher.«

»Das ist schön, du bist ganz gewiß eine große Bereicherung für uns, aber… kommst du allein oder mit einem Ehemann?«

Sie hielt ihm ihre Hände entgegen.

»Siehst du einen Ring? Nein, ich bin nicht verheiratet und auch nicht verlobt. Es gibt keinen Mann in meinem Leben.«

»Weil du vermutlich zu wählerisch bist.«

Irritiert blickte sie ihn an.

»Wie kommst du denn darauf?«

Er zögerte.

»Nun, wir alle waren eigentlich der Meinung, daß du und Thomas das ideale Paar seid, so verliebt, wie ihr damals ward…«

»Vielleicht erinnerst du dich daran, daß Thomas mit seinen Eltern nach Amerika gegangen ist. Es hat sich deswegen nicht ergeben. Wie sagt man doch so schön – aus den Augen, aus dem Sinn.«

»Jetzt mal langsam, mach mal einen Punkt, Bettina«, ereiferte er sich. »Das kannst du Thomas wirklich nicht anlasten, du warst es schließlich, die den Kontakt abgebrochen hat. Thomas hat sehr darunter gelitten und konnte dein Verhalten überhaupt nicht begreifen.«

»Was redest du denn da für einen Unsinn, Markus. Thomas ist auf und davon und hat niemals mehr etwas von sich hören lassen.«

»Bettina, jetzt hör aber auf, dich herauszureden. Was ist mit all seinen Briefen, die unbeantwortet blieben? Und war es vielleicht fair, deine Mutter vorzuschieben, ihm zu sagen, daß du mit ihm nichts mehr zu tun haben willst, als er versuchte, dich telefonisch zu erreichen?«

Bettina war bei seinen Worten kreidebleich geworden. Sie war nicht in der Lage, ihm zu antworten. Vielmehr hatte sie das Gefühl, in eine Lawine geraten zu sein, die mit rasender Geschwindigkeit ins Tal stürzte.

Thomas, dessentwegen sie mehr als zehn Jahre gelitten hatte, dessentwegen sie niemals mehr nach Fahrenbach gekommen war, hatte sich nicht einfach aus ihrem Leben geschlichen…

»Hier ist euer Kaffee«, sagte Linde. »Es dauert nicht mehr lange, dann komme ich zu euch, und dann können wir von alten Zeiten reden.«

Sie wirbelte davon. Mit energischer Stimme gab sie ihrem Personal Anweisungen. Man merkte ihr an, daß sie in ihrem Element war.

Markus süßte seinen Kaffee, goß etwas Sahne dazu, dann wandte er sich Bettina wieder zu.

»Du hast Thomas sehr verletzt, denn er hat an eure Liebe geglaubt und konnte nicht begreifen, daß du ihn ohne eine Erklärung einfach aus deinem Leben gestrichen hast. Das war ihm gegenüber nicht fair, Bettina. Und eigentlich hätte ich auch ein derartiges Verhalten nicht von dir erwartet. Ich dachte immer, du bist wie dein Vater.«

Bettina schluckte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr langsam über das Gesicht rannen, ohne daß es ihr bewußt wurde.

»Ich habe keinen einzigen Brief von Thomas bekommen.« Ihre Stimme klang vor innerer Erregung ganz heiser. »Und ich habe meine Mutter auch nicht beauftragt, ihm zu sagen, daß Schluß ist… Thomas ist meine große Liebe. Ich habe immer nur ihn geliebt und keinen anderen. Weil ich es nicht ertragen konnte, bin ich auch niemals mehr hierher gekommen, und wenn mein Vater nicht gestorben wäre und mir den Hof vererbt hätte, wäre ich auch heute nicht hier, weil mich alles an Thomas erinnert und die glücklichste Zeit meines Lebens.«

»Bettina, Moment mal…«

»Markus, bei meinem Leben. Ich sage die Wahrheit.«

»Aber die Briefe und deine Mutter…«

»Sie konnte Thomas nie leiden. Wahrscheinlich hat sie die Briefe unterschlagen.«

»Dann mußt du sofort mit ihr reden«, ereiferte er sich. »So etwas geht doch nicht.«

Traurig blickte sie ihn an.

»Meine Mutter hat uns schon vor vielen Jahren verlassen und einen reichen Argentinier geheiratet. Wir haben keinen Kontakt mehr.«

Eine Weile war es still zwischen ihnen.

»Bettina, es tut mir leid.«

Sie nickte.

»Es tut mir auch leid, Markus. Aber weißt du, ich bin froh, daß wir miteinander geredet haben… auch wenn eine Intrige uns getrennt hat, so bin ich doch froh, daß Thomas unsere Liebe nicht verraten hat.«

Sie rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee herum, ohne daß ihr bewußt wurde, was sie da eigentlich tat.

»Lebt Thomas noch in Amerika?«

Er nickte.

»Und ist er…«, die nächste Frage fiel ihr sichtlich schwer, »ist er… verheiratet?«

Er zögerte.

»Also ist er.«

»Bettina, ich weiß es nicht. So eng ist unser Kontakt auch nicht mehr, schließlich sind inzwischen viele Jahre vergangen, er lebt in einer pulsierenden Großstadt, ich hier auf dem Lande. Wir hören vielleicht ein-, zweimal im Jahr voneinander.«

Sein Zögern, so wie er sich jetzt herausredete. Bettina war sich sicher, daß Markus ihr nicht die Wahrheit sagen wollte, um sie nicht zu verletzen.

Bettina hielt es hier nicht mehr aus, sie mußte allein sein. Sie stand auf.

»Bitte, Markus, sei mir nicht böse. Ich möchte jetzt gehen.«

»Bettina, es tut mir wirklich so leid, ich hätte…«

Sie winkte ab.

»Ich danke dir für deine Worte. Aber ich möchte jetzt einfach nur allein sein.«

Sie winkte ihm zu.

»Auf bald.«

Linde kam herübergelaufen.

»Was ist los, warum gehst du?«

»Das erzähl ich dir ein andermal.«

»Hast du mit Markus gestritten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, alles okay. Ach, übrigens«, sie griff in ihre Tasche und holte das hübsch verpackte Päckchen mit den Champagnertrüffeln hervor. »Das hier habe ich dir mitgebracht. Laß es dir gut schmecken.«

Sie drückte Linde das Päckchen in die Hand, dann verließ sie eilig das Lokal.

Linde blickte zu Markus hinüber.

»Laß sie gehen. Sie muß jetzt allein sein. Offensichtlich ist zwischen ihr und Thomas etwas ziemlich schief gelaufen. Wenn du gleich Zeit hast, erzähle ich es dir.«

Bekümmert blickte Linde ihr hinterher. Sie hatte gleich vermutet, daß Bettina ihre große Jugendliebe nicht vergessen hatte, denn warum hätte sie sich gleich bei ihrem ersten Besuch nach Thomas erkundigt.

Sie wurde gerufen.

»Aber du wartest auf mich und läufst mir nicht auch weg«, sagte sie, ehe sie davonwirbelte.

*

Wie in Trance war Bettina zu ihrem Auto gegangen. Sie hatte Mühe, das Fahrzeug zu starten.

Thomas hatte sie nicht verlassen. Ihre Mutter war es gewesen, die eigenmächtig in ihr Leben eingegriffen und bestimmt hatte, daß es Thomas darin nicht mehr geben durfte.

Und dann war sie selbst gegangen und hatte nichts als Scherben hinterlassen.

Sollte sie ihre Mutter dafür hassen?

Nein, das konnte sie trotz allem nicht. Außerdem würde es ihr nichts mehr bringen. Ihre Mutter war unerreichbar und Thomas, das hatte sie aus Markus’ Verhalten geschlossen, verheiratet.

Es war ihm auch nicht zu verdenken. Er hatte an den Verrat ihrer Liebe geglaubt, und wenn es da eine Frau gegeben hatte…

Sie wollte diesen Gedanken nicht zu Ende bringen. Das würde sie an den Rand des Wahnsinns bringen.

Bettina war so sehr durcheinander, daß sie überhaupt nicht merkte, wie sie den Weg zum See einschlug.

Sie überholte eine Gruppe junger Mädchen, die lachend auf ihren Fahrrädern saßen und ihr übermütig zuwinkten. Sie zwang sich, zurückzuwinken.

So fröhlich und so unbeschwert war sie damals auch gewesen, als für sie der Himmel voller Geigen hing und sie sich der Liebe von Thomas absolut sicher gewesen war.

Neben dem Bootshaus hielt sie ihren Wagen an, dann lief sie den Steg entlang und ließ sich auf die Bank fallen. Sie preßte ihr Gesicht an das harte Holz der Lehne und begann hemmungslos zu weinen.

Sie hätte später nicht zu sagen vermocht, wie lange sie sich ihrem Leid hingegeben hatte. Aber irgendwo war es wohl auch die verkrümmte, unbequeme Haltung, die sie zwang, sich aufzurichten.

Sie trocknete ihre Tränen und starrte hinaus auf das klarblaue Wasser, das im monotonen Gleichklang an das Ufer und gegen den Steg schwappte.

Warum hatte sie eigentlich von sich aus nichts unternommen, Thomas zu finden? Warum hatte sie sich darauf verlassen, daß er sich melden mußte. Aus verletztem Stolz? Warum war sie nicht einfach nach Fahrenbach gefahren, um sich nach ihm zu erkundigen, so wie sie es jetzt auch getan hatte. Sie hatte doch gewußt, daß Thomas und Markus Freunde gewesen waren. Warum hatte sie nichts anderes getan, als sich nur ihrem Leid hinzugeben?

Warum… warum… warum…

Sie kannte die Antwort nicht.

Aber vielleicht war es ja auch ihr Schicksal, die große, die einzige Liebe zu erfahren, um sie dann für immer zu verlieren.

»Thomas, Thomas, ich hätte wissen müssen, daß du dein Wort nicht brichst«, wimmerte sie. »Bitte, verzeih mir.«

Enten flatterten schnatternd vorüber, um sich ganz in der Nähe auf das Wasser fallen zu lassen.

Doch das alles nahm Bettina nicht wahr, sie weinte und trauerte um sich und ihre verlorene Liebe.

Es war schon später Nachmittag, als sie sich endlich erhob, um zu ihrem Auto zu gehen. Sie mußte dringend nach Haus, Leni würde sich schon Sorgen machen.

Sie war schon eingestiegen, als sie es sich anders überlegte.

Sie lief ins Bootshaus und holte dort den blauen Pullover heraus, den Thomas vergessen hatte. Sie preßte ihr Gesicht hinein – er roch nur leicht muffig, weil er so viele Jahre in einem Raum gelegen hatte, der nur selten, wenn überhaupt, gelüftet worden war.

Sie würde Leni bitten, den Pullover zu waschen, und dann würde sie ihn tragen, auch wenn er eigentlich zu groß für sie war.

Ehe sie den Pulli auf den Beifahrersitz legte, preßte sie ihn nochmals an sich und zwang sich, nicht schon wieder zu weinen. Sie hatte wahrlich genug Tränen vergossen.

*

Die nächsten Tage waren für Bettina ganz schrecklich. Sie mußte immer an Thomas denken. Sollte sie Markus um seine Adresse und Telefonnummer bitten? Einen solchen Gedanken verwarf sie so schnell, wie er ihr gekommen war. Wenn Thomas verheiratet war, und daran zweifelte sie nicht, würde sie ihn nur in Verlegenheit bringen. Und wenn er es nicht war, wer sagte ihr, daß er nach so vielen Jahren noch daran interessiert war, von ihr zu hören.

Die Bitterkeit war aus ihrem Herzen verschwunden, aber der Schmerz würde bleiben. Damit mußte sie sich ganz einfach abfinden.

Aber das Leben ging weiter. Und sie mußte ihres endlich ordnen.

Bettina hatte bereits die umliegenden Gebäude inspiziert. Jetzt mußte sie sich nur noch die »Likörfabrik« anschauen. Jetzt, da es die Rezeptur für das KRÄUTERGOLD nicht mehr gab, konnte sie das Gebäude durchaus anderweitig nutzen. Und da das Haus etwas abgelegen war und mehrere Räume besaß, war es vielleicht sinnvoll, dort mit den Ferienwohnungen und Appartements zu beginnen.

»Arno, gehst du mit mir rüber in die Destille?« fragte sie. »Du kennst dich dort ja am besten aus.«

Er bekam glänzende Augen.

»Hast du die Rezeptur bekommen?«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Leider nicht, KRÄUTERGOLD wird es wohl nicht mehr geben, deswegen müssen wir das Haus anderweitig nutzen.«

»Aber das geht nicht.«

»Alles geht«, widersprach sie.

Das Haus war ungefähr zweihundert Meter von dem eigentlichen Hauptgebäude entfernt. Von außen wirkte es sehr gepflegt. Der Anstrich war vor nicht allzulanger Zeit erneuert worden, auch die Holzrahmen und die Türen waren frisch gestrichen. Das verwunderte Bettina ein wenig, denn soweit sie sich erinnern konnte, hatte das Haus früher in einer Art Dornröschenschlaf verharrt. Es war nicht mehr gewesen als ein Relikt aus alter Zeit, von ihrem Vater allerdings gehütet. Sie hätte mit ihren Geschwistern dort schrecklich gern gespielt, aber davon wollte ihr Vater nichts wissen. Und es hatte zwischen ihm und ihrer Mutter deswegen Streit gegeben, weil sie nicht begreifen konnte, daß er an diesem alten Krempel so hing.

Und nun würde sie wohl keine andere Wahl haben, als Container aufzustellen und alles zu entsorgen, denn was sollte sie damit tun?

»So, da sind wir«, sagte Arno und schloß das Haupttor auf.

Bettina trat ein und prallte fast zurück.

Der Flur war ebenfalls renoviert, die Wände erstrahlten in Weiß und der Boden war wechselseitig mit schwarzen und weißen Fliesen belegt.

»Was ist denn hier passiert?«

»Da staunst du, was?« strahlte er, »dein Vater hat alles renovieren lassen, aber jetzt zeig ich dir mal was…«

Er ging vor und öffnete die Tür zur eigentlichen Destillation.

Bettina glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Von wegen alte Geräte, es war ein hochtechnisierter Raum mit den modernsten Maschinen und Kesseln.

»Ich glaube es nicht«, ächzte sie. »Warum hat Papa das denn gemacht?«

»Na ja, als dein Vater sich entschlossen hat, unser gutes Kräutergold wieder herzustellen, mußte hier etwas geschehen. Die alte Destille war hoffnungslos veraltet, und bei der Herstellung von Schnaps unterliegt man strengen Nahrungsmittelgesetzen und ebenso strengen Hygienevorschriften. Deswegen hat dein Vater diese moderne Anlage hier gebaut und bei der Gelegenheit auch alle Räume entsprechend modernisiert und herrichten lassen.«

»Und wir wissen nicht, nach welcher Rezeptur hier gearbeitet wurde.«

»Da war dein Vater wirklich sehr eigen.«

»Aber er hätte es weitergeben müssen, an Frieder oder an Jörg oder an mich… was mach ich denn jetzt hier mit diesem Haus? Ich kann doch nicht alles herausreißen und Appartements daraus machen.«

»Bettina, du hast doch genug andere Möglichkeiten. Laß es hier so, wie es ist.«

»Damit es verrottet?«

»So schnell verrottet nichts. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß du das alles hier noch mal brauchen wirst.«

»Das glaube ich nicht«, Bettina war wütend, nicht, weil ihr Vater in den Umbau so viel investiert hatte, sondern weil er – und das entsprach eigentlich so gar nicht seinem Naturell – nicht umsichtig genug gewesen war, die Rezeptur aufzuschreiben und wenn schon nicht ihren Brüdern, so doch ihr, zu hinterlassen. Schließlich hatte er ihr auch den Fahrenbach-Hof vererbt mit allem, was dazu gehörte.

»Komm, reg dich nicht auf. Irgendwann und irgendwie reiht sich alles. Dein Vater hat die Rezeptur für unser Kräutergold nicht einfach weggeworfen.«

»Aber er hat sie niemandem gegeben, auch der Notar wußte von nichts. Und aus dem Jenseits kann Papa sie mir unmöglich schicken.«

»Bettina.«

»Ist schon gut, entschuldige bitte, Arno. Gehen wir also wieder. Das Haus hier kann ich auf jeden Fall von der Liste streichen.«

»Am besten fängst du mit dem alten Gesindehaus an. Das können wir selber herrichten, das sind acht Zimmer.«

»Aber nur ein altes, unmodernes Bad, die Heizung muß auch erneuert werden.«

»Bettina, du solltest jetzt nicht weiter darüber reden, du bist schlecht gelaunt und zerredest alles. Geh einfach spazieren. Aber zum Gesindehaus möchte ich dir noch sagen, daß der Flur weder unten noch oben so breit sein muß, da ließen sich beispielsweise Bäder einbauen. Schau dir die Pläne genau an, wir können es auch gemeinsam tun, aber nicht heute.«

Bettina lachte.

»Du hast recht, Arno… morgen ist auch noch ein Tag, ich fahr mal ins Dorf, Linde besuchen.«

»Wir bekommen Besuch«, sagte Arno und deutete auf den großen Geländewagen, der in ziemlichem Tempo den Hügel heraufgerast kam.

»Sicher jemand aus der Stadt. Jemand von hier würde nicht so rasen.«

»Jemand von hier«, sagte Arno, »würde auch nicht so ein Angeber-Auto fahren.«

Damit hatte er allerdings recht.

»Ich seh mal nach, was ich noch an Unterlagen habe. Dein Vater hat mir mal einen ganzen Packen gegeben.«

Mit diesen Worten trollte er sich, und Bettina sah erwartungsvoll dem Auto entgegen.

Der Fahrer machte eine Vollbremsung. Staub wirbelte auf, dann stieg ein junger Mann aus. Er mochte ungefähr in ihrem Alter sein und tat unwahrscheinlich cool. Bettina konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Der Mann kam auf sie zu.

»Hi, können Sie mir sagen, wo ich Frau Fahrenbach finde?«

Daß sie es sein könnte, darauf kam er wohl nicht. Na ja, sie hatte auch nur eine Jeans und ein T-Shirt an, war ungeschminkt und hatte ihre Haare lässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Worum geht es denn?«

Er schnippte ein imaginäres Stäubchen von seiner gewiß immens teuren Designerjacke.

»Das werde ich ihr schon selbst sagen. Also, wo finde ich Frau Fahrenbach?«

Was bildete er sich eigentlich ein.

»Ich bin Bettina Fahrenbach.«

Offensichtlich konnte er es kaum glauben.

»Die Besitzerin von allem hier«, er machte eine umfassende Handbewegung, »und von dem See?«

Sie nickte.

»Ganz recht.«

Er griff in seine Jackentasche, holte eine Visitenkarte hervor, die er ihr herüberreichte.

Feinstes Bütten und Stahlstich.

»Ingo Gerstendorf von Gerstendorf Immobilien und Grundbesitz.«

»Und was kann ich für Sie tun, Herr… Gerstendorf?«

»Ich möchte Grundstücke von Ihnen kaufen, ganz speziell Seegrundstücke – genauer gesagt, die Westseite.«

»Ich verkaufe nicht.«

»Tja, meine Liebe, inzwischen haben wir die Zusage von sehr solventen Investoren. Wir planen ein Luxushotel mit angegliedertem Golfplatz und großem Spa-Bereich. Das macht es mir möglich, Ihnen ein noch besseres Angebot zu machen.«

»Was heißt das? Noch besser? Sie haben mir noch kein Angebot gemacht.«

Er räusperte sich.

»Nein, Ihnen nicht, aber dem verstorbenen Herrn Fahrenbach. Ihr Vater, vermutlich?«

»Ganz recht. Und mein Vater hat Ihr Angebot abgelehnt, nicht wahr?«

»Ja, aber…«

Bettina unterbrach ihn.

»Tut mir leid, Herr Gerstendorf. Ich verkaufe nicht. Fahrenbach ist in der fünften Generation im Familienbesitz, und es ist noch niemals etwas verkauft worden. So wie meine Vorfahren, so wie mein Vater werde auch ich es handhaben. Ich fühle mich verpflichtet, es zu erhalten.«

»Meine Liebe, alles schön und gut. Aber die Situation ist doch jetzt eine andere. Was früher Wiesen und Äcker waren oder nichtsnutziges Seeufer ist jetzt Bauland oder wird es in Kürze. Da wäre es doch töricht, sich einen dicken Batzen Geld entgehen zu lassen. Außerdem wertet ein solches Luxusobjekt Ihren übrigen Besitz nur noch weiter auf.«

»Sparen Sie sich alle weiteren Worte. Ich verkaufe nicht.«

»Wenn Sie sich das erlauben können.«

Wenn du wüßtest, dachte Bettina insgeheim, laut aber sagte sie: »Ich kann es mir erlauben.«

Sie wollte ihm die Visitenkarte zurückgeben.

»Nein, nein, behalten Sie die bloß. Falls Sie es sich doch noch überlegen.«

»Da gibt es nichts zu überlegen. Schade um Ihre Karte, die bestimmt teuer war, feinster Stahlstich, feinstes Bütten.«

»Man tut, was man kann«, lächelte er geschmeichelt. »Ach, was ich Sie noch fragen wollte, sind Sie zufällig mit Herrn Fahrenbach vom Weinkontor Fahrenbach verwandt?«

»Er ist mein Bruder.«

»Ein reizender Mensch, ich habe ihn zufällig in New York kennengelernt, wir wohnten beide im Waldorf… kleiner Wochenendtrip mit unseren Frauen, übrigens auch eine sehr nette Person, Ihre Schwägerin. Hm, ja, Ihr Bruder und ich planen auch ein Projekt. Vielleicht kann er Sie dazu überreden, zu verkaufen. Ich denke, Anteile an unserem Projekt hier könnten auch für ihn interessant sein.«

»Herr Gerstendorf, mein Bruder hat mit alldem hier nichts zu tun, so wie ich nicht mit dem Weinkontor. Es hat deshalb überhaupt keinen Zweck, mit ihm darüber zu reden, im Gegenteil, ich würde es als eine Indiskretion betrachten.«

»O nein, ich will es mir doch mit Ihnen nicht verderben. Nichts für ungut, und, wie gesagt, ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie Ihre Meinung ändern würden.«

»Sicher nicht, aber bitte entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe noch zu tun.«

Er reichte ihr seine Rechte, und im Gegensatz zu seiner vorgespielten Dynamik war sein Händedruck ausgesprochen schlaff.

Er winkte ihr nochmals zu.

»Nicht vergessen, ein Anruf genügt«, mit diesen Worten stieg er in sein Auto und raste mit quietschenden Reifen davon.

Kopfschüttelnd wandte Bettina sich ab.

»Was war das denn für ein Spinner?« wollte Leni wissen, die über den Hof kam.

»Er wollte Grundstücke von mir kaufen, um an unserem See ein Luxushotel mit Golfplatz zu bauen.«

»Ach, jetzt erinnere ich mich. Er war schon mal hier, als dein Vater noch lebte. Ich verstehe nicht, wieso der noch mal wiedergekommen ist, dein Vater hat ihm doch gesagt, daß er nicht verkauft.«

Bettina zuckte die Achseln.

»Vielleicht hat er geglaubt, mit mir einfacheres Spiel zu haben.«

»Na, da hat er sich aber sehr getäuscht in dir, du verkaufst doch nicht. Du bist eine echte Fahrenbach.«

Bettina antwortete nicht.

»Oder doch?« ächzte Leni.

»Was meinst du?«

»Oder verkaufst du doch?«

»Nein, natürlich nicht. Aber für einen Moment mußte ich gerade schon daran denken, daß uns Geld weiterhelfen würde. Ich weiß wirklich noch nicht, wie ich alles finanzieren soll.«

Leni nahm die junge Frau liebevoll in die Arme.

»Du wirst einen Weg finden. Weißt du, Bettina, es gibt einen wunderschönen Spruch – wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«

Bettina seufzte.

»Dein Wort in Gottes Ohr, aber weißt du, ich habe jetzt keine Lust mehr, ins Dorf zu fahren. Ich schau mir lieber das Gesindehaus noch mal an, und wenn Arno die Pläne gefunden hat, dann kann er sie mir bringen.«

»Geh schon mal vor, ich schick Arno zu dir.« Sie tätschelte Bettinas Arm. »Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.«

»Hoffentlich«, sagte Bettina.

Sie wünschte es sich auch von ganzem Herzen, einen Weg zu finden, um das alles hier zu erhalten.

Und wenn sie so das Gemeindehaus betrachtete, das von der Nachmittagssonne sanft beschienen wurde, ging es ihr schon ein wenig besser. Dieses kleine Haus, für sich allein betrachtet, war schon ein Kleinod. Es mit frischer Farbe zu versehen und modernisiert, würde es eine große Wertsteigerung erfahren. Und sie war sich auch sicher, daß Gäste kommen würden. Die gesamte Hofanlage war idyllisch gelegen, zum Dorf und See war es nicht weit.

Sie mußte alles wohl als ein langfristiges Projekt betrachten, denn ihre finanziellen Mittel waren leider begrenzt.

Sie ging ins Gesindehaus hinein.

Arno hatte recht. Die breiten Flure mußten nicht sein, da ließen sich wirklich Bäder integrieren. Und wenn man auch noch Wände versetzte, ließen sich zumindest die Eckzimmer vergrößern, die Nebenräume konnten wegfallen, und der ehemalige große Eßraum und die ebenso große Küche mußten auch nicht mehr sein. Das brachte zusätzlichen Platz, aber das bedeutete auch, daß ohne die Hilfe eines Architekten hier nichts zu machen war. Und das bedeutete zusätzliche Kosten.

Seufzend setzte Bettina sich auf die Fensterbank in der Küche.

Aus diesem alten Haus ließe sich wirklich etwas machen. Vor allem hatte es Charme, etwas, was heute durchaus gefragt war. Sie hatte auch viele Ideen.

»Hier bist du«, Arno kam, mit Plänen bewaffnet, in die Küche. »Ich habe alle Unterlagen, komm, sehen wir sie uns an.«

Sie setzten sich an den großen alten blankgescheuerten Tisch und vertieften sich in die Pläne.

Arno hatte, ganz zu Bettinas Erstaunen, sehr gute Ideen und war auch schon Feuer und Flamme, daß interessante Arbeit auf ihn und Toni zukam.

»Aber ohne einen Architekten können wir es nicht machen. Und die haben auch ganz schöne Gebühren.«

Arno grinste.

»Kannst du dich an Klaus erinnern, den Sohn meiner Schwester?«

»Na klar, die haben euch ja oft besucht.«

»Und dieser Klaus hat zufälligerweise Architektur studiert. Er wird uns helfen, ohne daß es viel kostet.«

»Er kann auch nicht umsonst arbeiten.«

»Das nicht, aber zum Sonderpreis, schließlich hat er hier viele Ferien verbracht, ohne daß es etwas gekostet hat. Nein, ich bin überzeugt davon, daß er uns helfen wird. Ich ruf ihn gleich an.«

»Das ist super, Arno, danke.«

Er winkte ab.

»Soll ich die Pläne hier lassen oder wieder mitnehmen?«

»Nimm sie mit, vielleicht mußt du Klaus schon etwas erklären.«

Nachdem Arno gegangen war, hockte Bettina sich wieder auf die Fensterbank.

Langfristig gesehen bot der Fahrenbach-Hof viele Möglichkeiten, aber kurzfristig war es schwierig.

Es waren zwar für dieses Jahr schon alle Steuern und Versicherungen bezahlt, das hatte sie festgestellt. Aber die laufenden Kosten blieben. Von Frieder würde sie noch etwas mehr als fünfzehntausend Euro bekommen, auf ihrem Konto hatte sie noch fünftausend Euro. Ihr Depot war langfristig angelegt, und wenn sie es jetzt auflöste, mußte sie finanzielle Einbußen hinnehmen, aber das ließ sich nicht ändern.

Es wäre zu schön gewesen, das Kräutergold wieder produzieren zu können. Da Frieder nicht interessiert war, hätte sie damit etwas aufbauen können. Hier im Umkreis gab es einen Markt, und sie war überzeugt, mit geschickter Werbung hätte sich ein neuer Markt auftun können. Doch darüber nachzudenken war müßig.

Sie hatte schon daran gedacht, einige Galloway-Rinder zu kaufen, eine kleine Zucht aufzubauen und eine Vermarktung beispielsweise dahingehend vorzunehmen, indem sie Galloway-Rindersalami anbieten würde. Diese Art von Rindern war anspruchslos, sie hatte saftige Wiesen, gute Luft. Eine exquisite Wurst für einen exquisiten Kundenkreis war vorstellbar.

Oder Senf war beispielsweise auch etwas, wofür es einen Markt gab, wenn er nur eine Besonderheit war.

Das bedeutete aber auch herumzuexperimentieren, und im Grunde genommen waren sowohl die Salami als auch der Senf ein mühseliger Weg, um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.

Als ihr Vater ihr das Anwesen hier vererbt hatte, mußte er sich doch auch seine Gedanken gemacht haben, wie sie es führen würde und wie sie es erhalten könnte, ohne etwas verkaufen zu müssen.

Oder hatte er damit gerechnet, daß sie verkaufen würde? Nein, daran war nicht zu denken, und im Testament hatte er ja auch zum Ausdruck gebracht, daß sie der Tradition verbunden war.

Sie sprang von der Fensterbank herunter und verließ das Gesindehaus.

»Hektor, Hektor, komm, wir gehen spazieren«, rief sie draußen. Wie ein Blitz kam der schwarze Labrador angeschossen und sprang schweifwedelnd an Bettina hoch.

Die gemeinsamen Spaziergänge liebten beide über alles.

Sie rannten die Wiesen hinunter bis zum Fluß. Dort ließ Bettina sich atemlos auf eine Bank fallen, während Hektor mit einem kühnen Sprung ins Wasser schoß, dort flußabwärts paddelte und wild kläffend versuchte, ein paar Enten zu vertreiben, die schließlich, je näher er kam, schnatternd davonstoben.

Da am anderen Flußufer ein Angler saß, der unwillig zu ihr herüberblickte, rief sie den Hund zurück.

»He, laß das«, rief sie lachend, weil er sich ausgerechnet vor ihr wild schüttelte. Dann stand sie auf, bückte sich nach einem Stöckchen, warf es, Hektor hechelte hinterher, schnappte es, um es ihr zurückzubringen, wobei er sie erwartungsvoll anschaute.

»Brav, Hektor. Das hast du gut gemacht.«

Sie hatte eigentlich keine Lust, das Spiel fortzusetzen, aber bellend machte er ihr klar, daß es für ihn noch lange nicht zu Ende war.

*

In den nächsten Tagen wechselte bei Bettina die Stimmung ständig. Einesteils lebte sie sich immer mehr ein und war glücklich, auf dem Fahrenbach-Hof zu leben, auf der anderen Seite nahm ihre Panik zu, wie sie alles bewältigen sollte, um den Hof erhalten zu können.

Der Verkauf ihres Depots war leider noch geringer ausgefallen, als sie geglaubt hatte, und so waren es nur knapp dreißigtausend Euro, die auf ihr neues Konto geflossen waren.

Sicherlich hatte sie jetzt fünfzigtausend Euro zur Verfügung, aber davon mußte sie leben und den Umbau finanzieren, denn mit dem Geld aus dem Verkauf ihrer Wohnung konnte sie noch nicht rechnen. Der Markt für Eigentumswohnungen in der Stadt war im Moment nicht so gut, auch wenn sie überzeugt war, daß ihr Makler sich sehr bemühte. Er rief sie, und das war ganz rührend, dauernd an, um sie über jede Besichtigung zu informieren. Aber dem einen war die Wohnung zu groß, dem anderen zu klein, dem dritten zu teuer. Außerdem gab es auch viele Immobilientouristen, die überhaupt nicht kaufen wollten, sondern nur Spaß daran hatten, sich Wohnungen und Häuser anzusehen.

An diesem Morgen war sie ausgesprochen schlecht gelaunt. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen, in wirren Träumen war sie von den Fangarmen einer gewaltigen Krake umschlungen gewesen, die sie gewaltsam in brackige Abgründe herunterziehen wollte. Und so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, sich zu befreien. Sie bekam immer weniger Luft, drohte zu ersticken…

Schweißgebadet war sie aufgewacht. Und man mußte eigentlich kein Psychologe sein, um diesen Traum, auf ihre Realität bezogen, zu deuten – sie hatte Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und ihr Blick war, was ihre Zukunft anbelangte, getrübt. Und Angst nahm ihr die Luft zum Atmen.

Vielleicht war sie auch so mutlos, weil inzwischen der Architekt auf dem Hof gewesen war. Von der Idee war er total begeistert, aber er war auch realistisch genug, ihr zu sagen, daß der Umbau weitaus teurer würde als von ihr angenommen. Auch wenn Toni und Arno viel selbst machen konnten.

Vielleicht sollte sie vorübergehend einige Zimmer in ihrem Haus für Touristen herrichten. Sie brauchte doch die ganzen Zimmer nicht. Und daß Fremde im Haus sein würden, daran mußte sie sich eben gewöhnen.

Irgend etwas mußte sie tun, und das vordringlichste war, das Gesindehaus erst einmal komplett leerzuräumen und zu entrümpeln.

Bettina wollte gerade hinüber gehen, um damit anzufangen, als sie sah, daß Linde auf den Hof gefahren kam. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich bei ihr nicht mehr blicken lassen, weil immer etwas dazwischen gekommen war.

»Hast du etwas gegen mich?« rief Linde ihr lachend zu. »Oder habe ich in deinen Augen die Beulenpest oder eine andere ansteckende Krankheit?«

»Bitte, entschuldige… ich freue mich, dich zu sehen, aber bei mir kam immer irgend etwas dazwischen. Außerdem bin ich im Augenblick wirklich nicht gut drauf.«

»Wegen Thomas?« erkundigte Linde sich behutsam. »Markus hat mir erzählt, was da gelaufen ist.«

Bettina seufzte.

»Ach, weißt du, Linde. Ich werde mich zwingen, Thomas endgültig zu vergessen. Aber nachdem ich weiß, was wirklich geschehen ist, kann ich es ohne Bitterkeit im Herzen tun.«

»Du liebst ihn also noch immer.«

»Er war die große Liebe meines Lebens, aber laß uns bitte nicht mehr über Thomas reden. Wenn du etwas Zeit hast, möchte ich gern mit dir über meine Probleme, aber auch über meine Ideen sprechen.«

Nachdem sie es sich auf der neben dem Eingang zum Haupthaus stehenden Bank gemütlich gemacht hatten, erzählte Bettina ihr von der Idee mit den Feriengästen, Rindersalami herzustellen oder Senf der besonderen Art.

»Am besten wäre es natürlich, wieder die Produktion unseres Kräutergoldes aufzunehmen. Wußtest du, daß mein Vater einen hochmodernen Betrieb errichtet hat?«

Linda nickte.

»Klar. Meine Eltern und ich haben ihn auch besichtigt. Er war ja so stolz darauf und hat sich so sehr gewünscht, daß Kräutergold wieder ein wichtiger Bestandteil in eurer Firma wird.«

»Aber er hat niemandem von uns die Rezeptur hinterlassen. Kannst du das verstehen?«

»Das glaube ich nicht, du mußt nachforschen.«

Bettina erzählte ihr, was sie alles unternommen hatte.

»Dieser Punkt kann gestrichen werden. Aber wie findest du meine anderen Ideen? Ich muß unbedingt etwas unternehmen. Ich habe zwar einen stattlichen Besitz geerbt, aber leider kein Geld. Und verkaufen werde ich nicht.«

»Nein, das solltest du wirklich nicht tun. Ja, weißt du, die Idee mit den Appartements und Ferienwohnungen finde ich gut. Möglichkeiten hast du hier oben genug, die Lage ist bilderbuchreif, die Hofanlage auch, und der Ort Fahrenbach wird aufgewertet. Ich denke, daß der eine oder andere verkaufen wird, und dann entsteht hier viel Neues. Ob es zum besten sein wird, wird sich zeigen. Aber, ehrlich gesagt, das mit der Salami und dem Senf, ich weiß nicht. Ich glaube, damit würdest du dich nur verzetteln, und es dauert lange, da etwas aufzubauen. Und Galloway-Rinder. Stell dir doch mal vor, was unsere Bauern sagen würden, wenn zwischen unseren braungescheckten Kühen auf einmal diese Exoten herumlaufen würden.«

»Na ja, jetzt übertreibst du aber, Galloway-Rinder sind doch keine Exoten.«

»Für uns hier schon.«

»Normale Rindersalami hat keinen Charme und läßt sich nicht als Spezialität vermarkten.«

Linde lachte.

»Hier spricht die Werbefachfrau. Aber Spaß beiseite. Warum baust du nicht beispielsweise eine Reithalle? Platz genug hast du, und Pferdeboxen gibt es bereits.«

»Linde, ich kann die Wohnungen kaum bauen. Wie, bitte, soll ich das finanzieren?«

»Indem du Markus beispielsweise ein paar von deinen Bäumen verkaufst. Du hast doch genug davon.«

Irritiert blickte Bettina zur Seite.

»Wie meinst du das?«

»Ganz einfach. Ich habe es so gemacht, dein Vater auch, und eigentlich jeder Waldbesitzer hier in der Gegend. Es muß doch immer wieder aufgeforstet werden. Markus ist da sehr gewissenhaft. Er kennzeichnet die Bäume, zeigt sie dir, fällt sie und… bezahlt, sogar sehr ordentlich.«

Lindes Handy klingelte.

Sie meldete sich, hörte kurz zu.

»Schade, ich muß zurück. Ein Bus mit Ausflüglern ist gerade angekommen, und die wollen zum Mittagessen bleiben.«

»Dann freu dich, ist doch gut, wenn das Geschäft blüht. Aber danke, du hast mir sehr geholfen.«

Linde umarmte ihre Jugendfreundin.

»Mach dir keine Sorgen, du schaffst das schon. Und wenn dein Vater nicht davon überzeugt gewesen wäre, hätte er dir diesen Hof mit allem, was dazugehört, nicht hinterlassen. Neben dir war das, glaub ich, das Wichtigste in seinem Leben.«

Sie winkte ihr nochmals zu.

»Und laß dich unten wieder mal blicken.«

Bettina versprach es und blickte Linde nach, bis sie das Auto nicht mehr sehen konnte.

Eine Reithalle?

Nun, zumindest gab es im weiteren Umkreis keine.

Und Boxen hatte sie auch, um wenigstens acht Pferde unterzustellen.

Und Pferde liebte sie über alles. Sie war selbst eine begeisterte Reiterin, hatte aber in den letzten Jahren den Sport nicht mehr ausgeübt.

Hier gab es viele wunderbare Möglichkeiten, auszureiten. Und wenn sie den Gedanken mit der Reithalle auch noch hintenanschieben mußte, obgleich er nicht schlecht war. Vielleicht konnte sie sich ein Pferd kaufen? Platz, es unterzustellen, hatte sie ja.

»Jetzt hör auf zu spinnen, altes Mädchen«, wies sie sich selbst zurecht. »Dazu hast du weder Zeit noch Geld.«

Leni kam aus der Tür.

»Mit wem redest du da? Ist doch niemand hier.«

»Ach, weißt du, ich habe mich bloß zurechtgewiesen, weil ich einen spinnerten Gedanken hatte… sag mal, weißt du, wo Arno ist?«

»Ach, der ist mit Toni unterwegs. Sie wollen irgendwelche Geräte holen, die sie brauchen, um das Gesindehaus zu entkernen.«

»Na ja, ich geh schon mal rüber und fange an, einen Container zu beladen.«

»Aber das kannst du doch nicht. Warte doch, bis die Männer wieder da sind.«

»Du glaubst gar nicht, was ich alles kann, Leni. Und wie sagt man so schön – selbst ist die Frau.«

»Ach, Bettina, wenn das dein Vater sehen und hören könnte, ich glaube, er hätte seine helle Freude an dir.«

*

Bettina konnte Arno und Toni nicht dankbar genug sein. Sie arbeiteten unermüdlich und kannten keinen Feierabend. Und auch Leni ließ es sich nicht nehmen, mitzuhelfen.

Es war wirklich erstaunlich, was sie alles schon geschafft hatten.

Jetzt hatten sie alle Türen ausgehängt. Es wäre zu schade gewesen, sie zu entsorgen, denn sie waren wunderschön gearbeitet und aus massivem Holz. Leider hatte sie irgendwann jemand mit weißer Farbe übergestrichen. Es war zwar mühselig, sie abzuschmirgeln, aber es lohnte sich auf jeden Fall, weil man Türen dieser Art überhaupt nicht kaufen konnte.

Auch Bettina war eifrig dabei. Gerade hatte sie wieder eine Tür auf zwei Holzböcke gelegt und angefangen, wild zu schmirgeln. Ihre Hände hatten bei der ungewohnten Arbeit bereits Schaden genommen, ihre Fingernägel waren abgebrochen, aber alles machte ihr nichts aus.

Die Arbeit ging ihr schon ganz gut von der Hand, nachdem die Männer ihr gezeigt hatten, wie man diese Arbeit am besten verrichtete. Und immerhin war das bereits ihre dritte Tür.

Eine Haarsträhne löste sich und fiel in ihr Gesicht. Mit nicht ganz sauberen Fingern versuchte sie, diese wieder unter ihr Haarband zu stecken, als sie mitten in ihrer Bewegung innehielt.

Sie fuhr sich über die Augen, wie um einen Spuk zu verwischen. Aber das Bild blieb.

Mit leicht schlaksigem Gang kam ein Mann auf den Hof zugelaufen.

So gehen konnte nur einer!

Das konnte doch nicht wahr sein… aber natürlich war er das, daran gab es keinen Zweifel.

Bettina hielt den Atem an. Sie hörte den dumpfen Schlag ihres Herzens, ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie begann am ganzen Körper zu zittern, aber dann atmete sie tief durch und rannte los.

Thomas…

Es war Thomas, der da angelaufen kam.

Sie dachte nicht darüber nach, daß ihr Gesicht schmutzig war, ihre Hände schmutzig und aufgerissen, ihre Kleidung nicht besonders vorteilhaft, aber praktisch.

So etwas zählte doch überhaupt nicht angesichts der Tatsache, daß Thomas Sebelius auf dem Weg zu ihr war.

Auch er hatte sie erkannt und seinen Schritt beschleunigt.

Und dann standen sie sich einen Augenblick stumm gegenüber, ehe sie sich in die Arme fielen.

»Tini«, murmelte er – nur er hatte sie so genannt –, ehe seine Arme sie umschlossen.

Bettina lehnte sich an ihn, hörte den Schlag seines Herzens. Sie schloß die Augen und wünschte sich, aus diesem Traum, denn konnte es etwas anderes als ein Traum sein, niemals mehr zu erwachen.

Er war ihr so vertraut, als hätte es die vielen Jahre der Trennung nicht gegeben.

Ja, so fühlte sich Liebe an.

Sie blickte zu ihm hoch, wollte etwas sagen, aber da verschloß er ihre Lippen mit einem langen, sanften, zärtlichen Kuß.

Ja, so fühlte sich Liebe an!

Irgendwann lösten sie sich voneinander.

»Tom, ich kann es nicht glauben, daß du es bist, der vor mir steht… Wo kommst du her?«

Er lachte.

»Direkt aus Amerika.«

»Aber woher, ich meine, wieso…«

»Tini, halt die Luft an. Es gibt eine ganz einfache Erklärung. Markus hat mich angerufen, und ich habe den nächsten Flieger genommen.«

»Hat er dir auch gesagt, daß meine Mutter…«

Er wurde wieder ernst.

»Das hat er mir auch gesagt. Aber weißt du, das alles ist nicht mehr zu ändern, und alles Klagen und Jammern bringt uns die verlorenen Jahre nicht zurück. Findest du nicht auch, daß es ein Segen ist, daß wir uns wieder gefunden haben und daß wir uns noch… lieben?«

Bettina war überglücklich, daß er offensichtlich noch genauso empfand wie sie.

»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben«, sagte sie. »Es ist für mich wie ein Wunder, daß du jetzt hier bist. Ich habe jetzt das Gefühl, als hätten wir uns gestern zum letzten Mal gesehen, dabei ist in unser beider Leben in den vielen Jahren doch so viel geschehen. Und wir sind älter geworden.«

»Ja, geschehen ist viel. Wir werden uns viel zu erzählen haben. Aber du bist wunderschön, Tini, viel schöner, als ich es mir in meinen Träumen ausmalen konnte.«

Bettina sah ihn an. Auch er hatte sich verändert, sein Gesicht war männlicher und markanter geworden, aber die blauen Augen waren wie eh und je, und genau wie früher wurde sie schwach, wenn sie da hineinschaute.

»Tom, wann bist du angekommen?«

»Heute morgen mit dem ersten Flieger.«

»O Gott, dann mußt du jetzt schrecklich müde sein.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wie kann man in deiner Nähe müde sein.«

»Und wo sind deine Sachen? Dein Gepäck?«

»Oh, das habe ich erst mal bei Markus gelassen, der mich auch abgeholt hat. Ich mußte doch hier die Lage erst einmal sondieren. Ich mußte doch erst einmal sehen, ob du mich überhaupt noch willst.«

Sie blickte ihn ernst an.

»Das hast du nicht ernsthaft geglaubt, oder?«

»Nun, am Anfang vielleicht, jetzt aber nicht mehr.«

Wieder zog er sie an sich, um sie zu küssen, und ehe sie seinen Kuß erwiderte, mußte sie daran denken, daß sie ganz schrecklich aussah. Aber ihn schien es nicht zu stören, und so sollte es ihr auch recht sein.

Glücklich erwiderte sie seinen Kuß und fühlte sich unbeschreiblich wohl in seinen Armen – wie auf Wolke sieben, nein, um das zu beschreiben, was sie jetzt empfand, dafür gab es keine Worte.

*

Da Leni, Arno und Toni Thomas auch von früher kannten, gab es eine mehr als freundliche Begrüßung, da sie Thomas auch sehr gern mochten.

Man merkte ihnen an, wie sehr sie sich freuten, daß die beiden offensichtlich wieder zueinander gefunden hatten. Denn natürlich hatten sie von Bettinas großer Jugendliebe gewußt, aber nicht weiter darüber gesprochen, um sie nicht noch unglücklicher zu machen.

»Du bleibst doch zum Essen?« erkundigte Leni sich.

»Oh, ich denke sogar noch etwas länger.«

»Nun, dann will ich etwas Schönes kochen zur Feier des Tages. Hast du einen besonderen Wunsch?«

»Oh, am liebsten Ochsenbrust mit Meerrettich-Soße.«

Leni strahlte.

»Wie unsere Bettina. Dann will ich mal sehen, was ich machen kann.«

Als sie sah, daß Arno und Toni einfach stehenblieben, sagte sie: »Und ihr zwei, habt ihr nichts zu tun?«

»Ja, ja…«, endlich begriffen sie, daß es an der Zeit war, zu gehen, damit Bettina und Thomas wieder allein waren.

»Möchtet ihr einen Kaffee haben?«

»Oh, das wäre wunderbar.«

»Und wo wollt ihr ihn trinken?«

»Wir gehen ins Haus, ins Wohnzimmer«, sagte Bettina. »Dort ist es gemütlicher.«

Leni eilte davon, und Bettina führte Thomas ins Haus.

»Hier hat sich aber einiges verändert.«

»Ja, ich habe damit angefangen, es nach meinen Wünschen zu gestalten, aber ich bin längst noch nicht damit fertig.«

»Markus hat gesagt, daß du den Fahrenbach-Hof von deinem Vater geerbt hast… schade, daß er so früh gestorben ist. Er war ein sehr netter Mann.«

Sie nickte.

»Ja, ihn mochten wirklich alle Menschen gern, weil sie wohl auch gespürt haben, daß er authentisch ist. Er fehlt mir sehr, vor allem würde ich ihn hier brauchen. Ich fühle mich manchmal stark überfordert, weil das hier doch ein ganz anderes Leben ist als das, das ich bisher geführt habe.«

»Markus hat mir erzählt, daß du in all den Jahren nicht mehr hiergewesen bist.«

»Das stimmt. Ich fühlte mich von dir so im Stich gelassen, daß ich es einfach nicht ertragen konnte, an den Ort zurückzukommen, an dem ich mit dir so glücklich war. Ach, Tom, es ist so vieles schief gelaufen in meinem Leben, und ich habe so vieles falsch gemacht.«

»Tini, das kann ich über mein Leben auch sagen.«

Das hatte er so ernst gesagt, daß sie ihn überrascht anblickte.

»Willst du darüber reden?«

Er winkte ab.

»Ein andermal. Es ist eine lange Geschichte. Aber sag, was ist in deinem Leben passiert?«

Sie erzählte ihm von der Trennung ihrer Eltern, ihrem Job, dem Tod ihres Vaters, von seinem Testament, von der Veränderung, die mit ihren Geschwistern vor sich gegangen war und ihrem Entschluß, hier auf dem Fahrenbach-Hof zu leben.

»Weißt du, es ist eine Herausforderung, aber ich will mich ihr stellen.«

Leni kam herein und balancierte vorsichtig ein Tablett vor sich her.

»Ich habe rasch noch ein paar Waffeln gebacken, weil ich mich erinnert habe, daß du sie auch so gern mochtest, Thomas. Und bis zum Mittagessen dauert es ja noch.«

Thomas war ganz gerührt und bedankte sich. Nachdem Leni strahlend wieder gegangen war, sagte er:

»Du kannst von Glück reden, daß du die drei hier hast.«

»Ja, sonst wäre es schwierig… aber jetzt zu dir, bist du glücklich in Amerika?«

»Es lebt sich dort nicht schlecht, aber ein Amerikaner werde ich nie. Außerdem, jetzt, wo ich dich wiederhabe.«

Er rückte zu ihr herüber, ergriff ihre Hände, entdeckte das vernarbte T, fuhr sanft und zärtlich über die Konturen des Buchstabens, dann drehte er seine Handfläche nach außen, so daß sie das B deutlich erkennen konnte.

»Du hast ganz offensichtlich sanfter gearbeitet«, sagte er, »sorry, daß ich dich so entstellt habe.«

»Ach, Tom, du konntest doch nicht wissen, daß es sich entzünden würde. Du glaubst ja gar nicht, wie oft ich auf dieses T gestarrt habe, zuerst voller Hoffnung und Erwartung, dann voller Verzweiflung, dann voller Wut und schließlich voller Resignation.«

Er nahm ihre linke Hand, führte sie an seine Lippen und küßte ihr Handgelenk.

Sie hielt ganz still.

Irgendwann ließ er ihre Hand los, trank einen kleinen Schluck seines Kaffees.

»Ich war genauso unglücklich wie du. Ich war mir deiner Liebe so sicher gewesen, daß ich nicht begreifen konnte, warum du meine Briefe nicht beantwortet hast. Und als deine Mutter mir schließlich sagte, du wolltest mit mir nichts mehr zu tun haben, verstand ich die Welt nicht mehr. Die Verbindung zu dir war von da ab abgebrochen, weil ich ja auch über Markus nichts mehr erfuhr.«

Er schaute sie an.

»Warum hat sie das getan?«

»Tom, ich weiß es nicht. Das Makabre daran ist, daß sie uns kurze Zeit später verlassen hat, um sich zu verwirklichen. Über sie erfahren wir nur etwas aus den Hochglanzzeitschriften.«

»Wie schrecklich.«

»Weißt du, so traurig es klingt, sie war niemals eine wirklich liebevolle Mutter, dafür war sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich habe es überwunden, meine Geschwister, insbesondere Frieder, schon schwerer. Aber meinem Vater hat sie das Herz gebrochen.«

»Und uns um zehn gemeinsame Jahre unseres Lebens gebracht. Oh, ich weiß nicht, ob ich ihr das jemals verzeihen kann.«

Bettina lehnte sich an ihn.

»Es ist vorbei und nicht zurückzuholen. Ich bin unendlich froh, daß du jetzt hier bei mir bist, ich deine Nähe spüre und daß kein Gefühl der Fremdheit da ist. Oh, Tom, du glaubst nicht, wie sehr ich dich vermißt habe…«

Eigentlich hätte sie ihm auch noch sagen wollen, wie sehr sie ihn liebte, aber das ging nicht mehr, denn seine Lippen hatten alle weiteren Worte im Keim erstickt.

*

Sie hatten sich so viel zu erzählen, und nach dem Mittagessen, das sie alle gemeinsam eingenommen hatten, das war sowohl der Wunsch von Bettina als auch Thomas gewesen, wollte Thomas seine Sachen von Markus holen, um auf dem Fahrenbach-Hof zu bleiben.

Er wollte Bettinas Auto nehmen, und sie begleitete ihn dorthin.

»Komm bald zurück«, bat sie, »ich kann es kaum erwarten, dich wieder hier zu haben… wie lange bleibst du in Deutschland?«

»Zwei, drei Wochen…«

»Und dann?«

»Dann müssen wir uns entscheiden. Ich glaube nicht, daß du nach Amerika kommen möchtest. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, wieder in Deutschland zu leben. Tini, wir müssen nichts überstürzen und müssen nicht in ein paar Wochen die Welt auf den Kopf stellen. Es wird sich zeigen, wie alles weitergeht. Eines jedoch weiß ich ganz gewiß – ich möchte dich niemals mehr verlieren, weil ich dich liebe.«

Endlich konnte sie es ihm auch sagen.

»Ich liebe dich auch, Tom, und ich werde dich immer lieben.«

Er drückte ihr einen zärtlichen Kuß auf die Stirn.

»Für immer, das haben wir uns auch versprochen. Findest du nicht, daß es wirklich an der Zeit ist, dieses Versprechen einzulösen?«

Sie nickte, und er stieg ins Auto.

»So, jetzt fahr ich los, um meine Sachen zu holen, sonst komme ich hier nie weg.«

Bettina blickte dem Auto solange nach, bis es hinter einer Wegbiegung verschwunden war, dann wandte sie sich um, um zurück zum Haus zu gehen.

Sie konnte es noch immer nicht begreifen, daß Tom da war, daß zwischen ihnen alles so selbstverständlich war wie früher, ganz so, als hätte es die Jahre der Trennung nicht gegeben.

Sie ging ins Haus zurück und wollte die Zeit seiner Abwesenheit nutzen, sich ein wenig herzurichten, zu duschen, die Haare zu waschen und sich etwas Hübsches anzuziehen. Doch als sie das Klappern von Geschirr aus der Küche hörte, ging sie zu Leni.

»Er ist wieder da«, sagte sie glücklich und warf sich Leni in die Arme.

Die strich ihr übers Haar.

»Und das ist gut so. Hat ja lange genug gedauert, bis er endlich gekommen ist. Aber habe ich nicht gesagt, es reiht sich alles. Nun bist du nicht mehr allein, und es ist auch besser, wenn ein Mann auf dem Hof ist. Außerdem solltest du ja auch Kinder bekommen.«

Jetzt mußte Bettina wirklich lachen.

»Leni, Thomas lebt in Amerika, er ist gerade erst angekommen, und du siehst ihn schon hier auf dem Hof und planst gar schon Kinder, ist das nicht ein bißchen voreilig?«

Sie schüttelte den Kopf.

»So, wie er dich angesehen hat, wird er dich nie mehr loslassen. Du gehörst hier auf den Fahrenbach-Hof, also hat er doch überhaupt keine andere Möglichkeit, als hierher zu ziehen. Und hierher paßt er auch.«

Das fand Bettina zwar auch, aber so weit wollte sie noch nicht denken.

»Ich geh mich jetzt erst mal duschen und mache mich hübsch für Thomas.«

»Du bist immer hübsch… aber zieh das dunkelblaue Kleid mit den weißen Tupfen an, in dem siehst du besonders hübsch aus.«

Bettina wandte sich zur Tür.

»Leni, ich bin sehr, sehr glücklich.«

»Das hast du auch verdient, aber nun geh.«

Bettina sollte schließlich nicht sehen, daß sie vor lauter Rührung weinen mußte.

Noch an diesem Nachmittag würde sie in die Kirche gehen und ein Kerzchen anzünden und für Bettinas Glück beten.

Nur so zur Sicherheit, denn eigentlich hatte sie überhaupt keinen Zweifel, daß es diesmal ein Happy End geben würde mit den beiden.

Bettina eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

Sie fühlte sich frei, jung und unbeschwert und hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. Aber das sollte sie sich am besten für Thomas aufbewahren, der bald wieder bei ihr sein würde.

Sie schaute in den Badezimmerspiegel und war entsetzt. Ihr Gesicht war noch immer schmutzig von den abgeschmirgelten Spänen, sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, es zu waschen, und ihm schien es offensichtlich auch nichts ausgemacht zu haben.

Nun wurde es aber Zeit, daß sie sich ihm in ihrer ganzen Schönheit präsentierte. Aber eigentlich kam es darauf nicht an.

Bettina schlüpfte aus ihren verschmutzten Sachen und ging unter die Dusche.

Während sie sich einseifte, begann sie lauthals zu singen.

Vergessen waren all ihre Probleme. Sie dachte nicht mehr daran, wie sie alles finanzieren, wovon sie leben würde. Das alles war so unwichtig, zumindest in diesem Augenblick.

Das einzige, was jetzt zählte, war Thomas, Thomas Sebelius, der Mann, den sie liebte, der ihre Gefühle erwiderte.

Was immer auch geschehen würde, wo immer sie auch leben würden, das war alles ungewiß.

Gewiß war, daß sie sich niemals mehr verlieren würden, und das war eine wundervolle Gewißheit.

Bettina Fahrenbach Staffel 1 – Liebesroman

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