Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 2 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6

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Das Wetter hatte sich über Nacht gedreht, und nun wurde wohl auch dem größten Optimisten bewusst, dass nicht ewig Sommer sein konnte. Es regnete seit Tagen, und der Wind zerrte an den Bäumen, und die Blätter fielen haufenweise, um letztlich in unansehnlichen Klumpen auf den Wegen zu liegen.

Der Sommer war ja längst schon vorbei, doch es hatte noch so viele schöne und warme Tage gegeben, dass man alle Gedanken an den Herbst verdrängt hatte.

Herbst …

Ja, der war kalendarisch da, aber in ihrem Herzen, in ihrem Inneren gab es ihn schon länger, und Inge fürchtete, da würde es niemals mehr den beschwingten Sommer geben oder den Frühling, der freudige Erwartungen weckte.

Inge Auerbach konnte sich noch nicht mit dem abfinden, was geschehen war, und wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie sich vermutlich mitten in einer tiefen Depression befand, seit ihr geliebtes jüngstes Kind sich in Australien befand. Weiter ging es ja wohl nicht.

Inge stand am Fenster und schaute hinaus in den Regen, der unaufhörlich gegen die Scheiben klatschte.

Im Garten gab es jetzt nichts mehr zu tun, aber im Haus, da wartete eine Menge Arbeit auf sie, zu der sie sich einfach nicht aufraffen konnte.

In der Waschküche stapelte sich die ungewaschene Wäsche, auf den Möbeln sah man dicke Staubschichten, und in ihrer Küche, da tat sich nicht mehr viel. Von wegen ausgefallene Gerichte, für die sie berühmt war. Sie schusterte da einfach etwas zusammen, was schnell ging und wenig Arbeit machte, und wenn Werner nicht daheim war, begnügte sie sich mit einem Butterbrot, oder sie aß überhaupt nichts und starrte stundenlang trübsinnig vor sich hin, oder sie weinte.

Sie hatte einige Kilo abgenommen, doch der Preis, den sie dafür zahlte, war viel zu hoch. Außerdem gefiel sie sich so abgemagert nicht.

Sie konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war, dass ein Tsunami, so kam es ihr vor, ihre schöne, heile Welt vernichtet hatte. Und sie saß nun vor den Trümmern, unfähig, daraus wieder etwas aufzubauen.

Das Schlimmste war, dass Werner und sie sich seit diesem Zwischenfall so fremd geworden waren. So etwas hätte Inge niemals für möglich gehalten. Sie waren doch immer durch dick und dünn gegangen, hatten gemeinsam an einem Strang gezogen.

Es waren die Schuldgefühle, die sie beide hatten, durch die sie sprachlos geworden waren.

Wie sollte es mit ihnen weitergehen?

Wie sollte es überhaupt weitergehen?

Würden sie in ihrem Chaos der Gefühle, das sich allmählich auch außen abzeichnete, versinken?

Am liebsten hätte Inge sich jetzt einen Kaffee gekocht, doch das verkniff sie sich, seit sie festgestellt hatte, dass ihr Ruhepuls meist höher als neunzig war. Das war bedenklich, und deswegen schränkte sie wenigstens ihren übermäßigen Kaffeekonsum ein, der auch dazu beitrug. Ihren Blutdruck wollte sie gar nicht erst messen. Aber sie spürte es, dass auch er weit über dem Normbereich lag. Schlafen konnte sie auch nur sehr schlecht, und es gab nächtliche Unterbrechungen, bei denen ihre Gedanken anfielen wie eine Horde wilder Tiere.

Es musste etwas geschehen.

Und am besten würde sie sich gründlich von Frau Dr. Steinfeld untersuchen lassen, und die konnte ihr auch etwas für die Nacht geben. Sie schätzte die Ärztin sehr und war von deren Qualitäten überzeugt. Aber sie hatte eine Scheu, zu ihr zu gehen, seit sie Bambi, die nur noch Pam genannt werden wollte, bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie ihr vorher frierend in der Nacht vor einer Bushaltestelle aufgefallen war.

Da hatte ihr Unglück seinen Anfang genommen, und seither war ihr Leben nur noch Grau in Grau.

Werner befand sich auf einem Kongress im Ausland. Streiten konnten sie sich heute nicht, und kochen musste sie auch nicht. Aber wie sollte sie den Tag herumbringen? Nach draußen gehen konnte sie nicht. Dazu war das Wetter zu schlecht. Sonst wäre sie um den See gelaufen.

Und mit Luna herausgehen musste sie auch nicht, seit Pam weg war, zog die kleine Labradorhündin es vor, lieber nebenan zu sein, bei ihren Eltern. Und das lag ganz gewiss nicht nur an den Leckerli, die sie dort bekam, sondern weil sie die depressive Stimmung hier im Haus nicht aushalten konnte. Hunde waren feinfühlige Wesen, die die Stimmung ihres Herrchens oder Frauchens gut erkannten. Und seit Bambi, ach nein, Pamela weg war, war auch etwas mit Luna geschehen. Sie war sehr viel ruhiger geworden und rannte, wenn sie im Haus hier war, immer wieder zur Tür, in der Hoffnung, ihre Freundin könne jeden Augenblick hereinkommen. Auch der Hund litt. Klar, Luna war auf Bambi fixiert. Inge seufzte, sie würde sich nie daran gewöhnen, dass sie nicht Bambi heißen wollte. Schließlich hatte sie den weißen Labrador nach dem Tod ihres geliebten Jonny aus dem Tierheim geholt. Am Anfang war es nicht so einfach gewesen, weil die Kleine den Spielgefährten, den treuen Freund ihrer Kindheit, nicht vergessen konnte. Aber dann waren sie die allerbesten Freunde geworden, bis …

Bis das geschehen war, was alles durcheinandergebracht hatte.

Inges Augen füllten sich mit Tränen, und sie wirbelte herum, als eine Frauenstimme ungehalten sagte: »Sitzt du auf deinen Ohren? Ich habe beinahe die Klingel abgerissen, so oft habe ich geschellt. Ich musste wieder nach nebenan gehen, um meinen Schlüssel zu holen, sonst stünde ich noch immer vor der Haustür. Inge, so geht es nicht weiter.«

Inge drehte sich um. Ihre Mutter war gekommen. Ihre Eltern wohnten direkt nebenan. Eigentlich war das ein Segen, und sie waren darüber alle sehr glücklich gewesen. Aber seit Pamela weg war, gab es auch mit ihren Eltern Differenzen.

Magnus und Teresa von Roth liebten ihre einzige Tochter über alles, aber sie konnten nicht begreifen, dass sie sich jetzt so hängen ließ.

Teresa setzte sich, Inge erkundigte sich, ob sie etwas trinken wolle. Das verneinte Teresa.

»Inge, ich bin nicht auf einen Plausch rübergekommen, sondern weil dein Vater und ich uns ernsthafte Sorgen machen. Eure Jüngste ist nicht tot. Sie lebt derzeit bei ihrem Bruder in Australien. Und das ist gut so. Besser dort als irgendwo in einem Kinderheim oder Internat. Und dass es so gekommen ist, das liegt an der Sorglosigkeit von Werner und dir. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Aber alles, was geschehen ist, habt ihr zu verantworten. Werner und du, ihr seid zwei intelligente Menschen. Werner kann ganze Säle mit seinen Vorträgen füllen und die Zuhörer begeistern. Aber was eure jüngste Tochter betrifft, da habt ihr euch unverantwortlich benommen.«

Inge hielt sich die Ohren zu. Sie konnte es nicht mehr hören. Ob nun ihre Eltern, ob ihre Tochter Ricky, ihr Sohn Jörg oder Hannes, bei dem Pamela sich jetzt aufhielt, alle machten ihnen Vorwürfe.

Verflixt noch mal, sie wussten doch selbst, dass sie einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatten. Da mussten sie alle doch nicht auch noch auf ihnen herumhacken.

Ihr Fehler, den sie bereits tausendfach bereut hatten, war gewesen, dass sie ihrer Jüngsten nicht gesagt hatten, dass sie adoptiert war, dass sie als Einjährige nach dem schrecklichen Unfalltod ihrer leiblichen Eltern das Leben der Auerbachs bereichert hatte. Der richtige Zeitpunkt hatte sich nicht ergeben, oder es war etwas anderes dazwischengekommen. Sie waren in den Sonnenwinkel gezogen, als die Kleine bereits mehrere Jahre alt war. Niemand hier kannte sie und die genauen Verhältnisse, und die Adoptionspapiere waren unter Verschluss gewesen. Wie hatten sie denn ahnen können, dass die Behörde umziehen würde, die Akte herunterfallen würde, um dann in die Hände einer neugierigen Frau zu gelangen, die ihr Wissen einer Freundin in dem Eiscafé preisgab, in dem ihre Kleine am Nebentisch gesessen und alles mitbekommen hatte.

Es war dumm gelaufen, es war eine Katastrophe und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Und sie konnten Asche über ihr Haupt schütten, sie konnten schreiend ums Haus rennen.

Es war geschehen!

Pamela, ihre Bambi, hatte es von einer Fremden erfahren, und es war zu verstehen, dass sie aufgebracht gewesen war. Aber so aufgebracht, dass sie mit den Auerbachs nichts mehr zu tun haben wollte. Mit Ricky hatte sie noch geredet, Hannes, mit dem sie die meiste Zeit ihrer gemeinsamen glücklichen Kindheit hatte, der war nicht aus ihrem Leben verbannt worden, obwohl der doch auch ein Auerbach war. Zum Glück, musste man sagen. Als Hannes von dem Desaster gehört hatte, war er aus Australien sofort gekommen und hatte, das war schon verrückt, er war ihr jüngster Sohn, alles in die Hand genommen. Daran war zu erkennen gewesen, dass dieses Jahr Weltreise ihn erwachsen gemacht hatte. Aber Hannes war anders als ihre anderen Kinder. Sonst wäre er jetzt auch nicht als Surf- und Tauchlehrer in Australien gelandet und hätte angefangen zu studieren.

Wie auch immer, Hannes war die Rettung gewesen, und Inge mochte nicht daran denken, was sonst alles hätte passieren können.

So richtig traurig machte Inge, dass ihre Jüngste, und das war sie, ob nun adoptiert oder nicht, nichts mehr von ihnen wissen wollte. Sie waren doch die Eltern, und sie waren so eng miteinander gewesen. Das konnte nicht einfach vergessen sein. Sie hatten keine Straftat begangen, sondern waren aus Liebe zu Pam ein wenig nachlässig gewesen. Sie hatten ihr keinen Schmerz bereiten wollen. Ach, Inge wusste nicht mehr, warum alles so gekommen war, warum sie nichts gesagt hatten. Sie wusste nur, dass es ihnen jetzt um die Ohren geflogen war, und das tat unendlich weh. Sie hatten es gut gemeint und genau das Gegenteil erreicht.

»Inge, ich weiß, dass du nichts hören willst«, sagte Teresa von Roth, »aber sich die Ohren verschließen, das hilft auch nichts. Ich bin übrigens nicht hergekommen, um dir wegen dieser unseligen Adoptionsgeschichte Vorwürfe zu machen, sondern ich bin gekommen, weil ich sehr besorgt bin. Werner und du, ihr zwei wart immer so eng, dass kein Blatt Papier zwischen euch passte. Jetzt zankt ihr euch wie die Kesselflicker. Man kann es bis nebenan hören. Mit Geschrei löst man keine Probleme. Das nur ganz nebenbei.«

Ihre Eltern, Magnus und Teresa von Roth, waren in ihrem Leben durch so manche Hölle gegangen. Schwere Schicksalsschläge und eine materielle Notlage hatten sie verkraften müssen. Aber sie waren daran nicht zerbrochen. Sie hatten sich mit viel Fleiß und viel Arbeit ein neues Leben aufgebaut, das nicht im Entferntesten an das reichte, was sie einmal hatten, wer sie einmal waren. Aber sie waren stolz geblieben und hatten niemals mit ihrem Schicksal gehadert, sondern waren froh gewesen, ihr Leben und vor allem sich zu haben. Und sie hatten die zweite Chance, die sich ihnen geboten hatte, dankbar ergriffen. Ja, ihre Eltern, die waren schon zwei ganz besondere Menschen. Und bessere Eltern konnte man sich auch nicht vorstellen. Sie hatten für ihr einziges Kind alles getan und lieber verzichtet, um es Inge zukommen zu lassen. Dabei waren sie gewiss nicht nur einmal vor Heimweh und Schmerz erfüllt gewesen, aber das hatten sie sich niemals anmerken lassen. Sie waren zwei stolze, selbstbewusste Menschen.

Inge wusste, dass man sich an ihren Eltern ein Beispiel nehmen konnte, aber leider war sie nicht so wie sie. Vielleicht lag es daran, dass sie niemals um etwas hatte kämpfen müssen. Sie hatte niemals etwas entbehrt. Wenn man sollte, hatte sie immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden, erst bei ihren Eltern, dann in ihrer Ehe mit Werner.

An Werners Seite hatte sie die halbe Welt gesehen, war mit ihm überall herumgekommen. Sie hatten drei wundervolle Kinder, und dann war ihr Herzenskind Bambi in ihr Leben gekommen und hatte es sehr bereichert. Bambi wollte nicht mehr Bambi sein, sondern Pam genannt werden, was ja auch zu verstehen war, sie hieß schließlich Pamela. Doch diese Entscheidung von jetzt auf gleich. Das alles zerrte an ihren Nerven.

Vielleicht war sie sich einfach zu sicher gewesen, hatte es sich in ihrem schönen Leben gemütlich gemacht und hatte es als Selbstverständlichkeit hingenommen. Und nun hatte sie die Quittung und wurde damit konfrontiert, dass es im Leben nicht nur Glück und eitel Sonnenschein gab und dass die Welt nicht immer heil war.

Inge blickte zu ihrer Mutter hinüber, die für ihr Alter noch erstaunlich gut aussah und die unglaublich vital war. Von ihr ging eine positive Energie aus.

»Möchtest du nicht doch etwas trinken, Mama?«, erkundigte Inge sich.

»Also gut, ein Mineralwasser«, gab Teresa nach, und sie klang nun schon viel versöhnlicher, weil es ihr unendliche leidtat, dass ihre Tochter so sehr litt. Wenn sie könnte, da würde sie ihr so gern helfen, aber da musste sie jetzt allein durch.

Inge holte Mineralwasser und zwei Gläser, setzte sich wieder.

»Mama, ich leide doch auch sehr darunter, dass es zwischen Werner und mir andauernd diesen Zoff gibt. Seit das …, seit diese Geschichte passiert ist, sind wir beide voller Schuldgefühle, und irgendwie können wir nicht damit umgehen, und weil das so ist, blaffen wir uns andauernd an.«

Teresa von Roth sah ihre Tochter bekümmert an.

»Inge, und nun fang bitte nicht gleich wieder an zu weinen oder fühle dich angegriffen. Es soll kein Vorwurf sein. Du bist ja so empfindlich geworden, dass man sich kaum traut, dir etwas zu sagen. So, wie ihr miteinander umgeht, wird alles nur noch schlimmer. Und die gegenseitigen Vorwürfe, die bringen überhaupt nichts. Ihr habt es alle beide vermasselt. Und deswegen müsst ihr auch zusammen versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen. Und ihr müsst aufhören, ewig auf diesem Thema herumzuhacken. Und immer dieses was wäre gewesen wenn … Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und ihr seid auf dem harten Boden der Realität gelandet. Blickt nach vorne. So wie es war, wird es niemals mehr werden. Dafür ist zu viel passiert. Ihr müsst versuchen, euch alle wieder ganz vorsichtig anzunähern. Aber um das angehen zu können, musst du mit Werner wieder an einem Strang ziehen.«

Inge blickte ihre Mutter an. Die hatte gut reden, die war so unglaublich stark. Und Inge wünschte sich von ganzem Herzen, wenigstens ein wenig so zu sein wie sie.

»Ich glaube nicht, dass wir das noch einmal hinbekommen werden«, sagte sie ganz zaghaft.

Teresa schüttelte den Kopf.

»Wenn du so denkst, dann bist du schon verloren. Da gibt es von dem großen Tagore einen ganz wunderbaren Satz, den du dir merken solltest – Glaube ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch finster ist.«

Inge blickte ihre Mutter überrascht an. Ja, so war sie, sie wusste immer etwas zu sagen. Dieser Satz gefiel ihr, einfach so, weil er schön war. Aber ob sie das auf sich anwenden konnte, daran zweifelte Inge. Sie zweifelte an allem. So, wie sie jetzt drauf war, würde sie nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer sehen.

Aber es war schön, dass ihre Mutter hier war, auch wenn die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hielt. Meistens hatte sie ja auch recht.

»Noch etwas, Inge. Ich weiß ja, dass Werner nicht da ist, und deswegen möchte ich dich bitten, heute Abend zu uns zu kommen. Ich werde für uns kochen, und dann machen wir uns einen gemütlichen Spieleabend. Du weißt ja, dass du deinen Vater damit immer erfreuen kannst.«

»Danke, Mama«, sagte Inge.

Teresa stand auf. Es war alles gesagt.

»Und erfinde keine Ausrede, mein Kind«, sagte sie, »ich freue mich. Und wenn du magst, kannst du auch schon früher kommen, wann immer du willst. Das weißt du ja, dass unsere Tür immer für dich offen ist.«

Inge sah wohl so kläglich drein, dass Teresa, ehe sie ging, ihre Tochter umarmte.

»Kopf hoch, mein Kind. Du schaffst es«, dann ging sie. Hochaufgerichtet und schnell wie ein junges Mädchen.

Ja, sie wäre wirklich gern wie ihre Mutter. Die nahm das alles auch sehr mit, denn sie hing an ihrem jüngsten Enkelkind, und zwischen ihr und Bambi war immer etwas Besonderes gewesen.

Kein einziger Laut des Jammerns war bislang über ihre Lippen gekommen. Sie stand mehr als alle anderen mit Hannes in Verbindung und versuchte, möglichst viel zu erfahren. Ja, so war sie.

Magnus von Roth saß in dem überaus gemütlichen und sehr stilvoll eingerichteten Wohnzimmer und spielte hingebungsvoll mit Luna, die nicht genug davon bekommen konnte, einem kleinen roten Ball nachzujagen.

Er hörte sofort damit auf, als seine Frau in den Raum kam. Das gefiel Luna überhaupt nicht, sie versuchte mit Bellen, ihn dazu zu bewegen, wieder mit dem Spielen anzufangen. Als das nicht geschah, verzog sie sich beleidigt unter den Tisch.

Magnus blickte seine Frau an, dann sagte er bekümmert: »Meine Liebe, ich sagte dir doch, nicht hinzugehen, weil das überhaupt nichts bringt. Unsere Inge ist erwachsen, und du weißt auch, welchen Dickkopf sie hat. Den hat sie leider von meiner Mutter Henriette geerbt. Du siehst richtig mitgenommen aus, und hat es dir etwas gebracht?«

Teresa warf ihrem Mann einen liebevollen Blick zu, ihrem besten Freund, mit dem sie durch dick und dünn gegangen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Sie zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, ob ich sie ein wenig zur Vernunft bringen konnte. Aber man muss es ihr doch sagen, sonst zerfleischen sie sich gegenseitig, weil sie sich beide schlecht fühlen. Heute Abend wird sie auf jeden Fall zu uns kommen, mit uns essen, und dann werden wir einen Spieleabend machen.«

»Da muss sie erst einmal hier sein«, bemerkte Magnus, der seine Tochter kannte, die an sich ein sehr liebevoller Mensch war, was sich allerdings rasch änderte, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. Im Augenblick war mit ihrer Tochter nichts anzufangen, und deswegen zog er es vor, sich aus allem herauszuhalten. Er hatte sich früher bereits mehr als nur einmal den Mund verbrannt, als er seine Tochter gedrängt hatte, ihrer Jüngsten endlich die Wahrheit zu sagen. Niemand musste aus einer Adoption etwas Ehrenrühriges machen. Im Gegenteil, es war gut, dass es Leute gab, die bereitwillig ein fremdes Kind zu seinem eigenen machten und ihm das triste Leben in einem Waisenhaus ersparten. Und das Kind hatte ein Recht darauf zu erfahren, wer seine leiblichen Eltern waren.

»Teresa, vielleicht kann ich dich ein wenig aufmuntern, indem ich dir sage, dass unser Hannes sich gemeldet hat. Er hatte diesmal viel zu sagen und hat auch ganz schöne Bilder geschickt. Ich denke, alles wird gut. Unsere Kleine sieht auf den Fotos recht zufrieden aus. Hannes hat sie sogar auf ein Surfbrett gestellt, und es scheint ihr Spaß zu machen. Auf jeden Fall hat sie das Lachen wieder gelernt. Ja, unser Hannes, der ist schon ein Teufelsbraten. Er ist großartig und hat mit seinen jungen Jahren eine ganze Menge Verantwortung auf sich geladen. Wenn man denkt …«

Er brach seinen Satz ab, als er merkte, dass seine Frau ihm überhaupt nicht mehr zuhörte. Sie wollte natürlich erst einmal wissen, was es aus dem fernen Australien für Neuigkeiten gab, und deswegen stürzte sie sich erst einmal auf den Computer. Ja, Magnus hatte recht, Pam, auch sie musste sich erst daran gewöhnen, fand es aber okay, ja, die machte wirklich einen zufriedenen Eindruck, und sie schien auch ein wenig in die Höhe geschossen zu sein, auf jeden Fall hatte sie ihre Haare abgeschnitten. Daran musste man sich erst einmal gewöhnen, aber es sah gut aus. Pam sah immer gut aus, sie war ein wunderschönes Mädchen, und wenn sie erst einmal ein bisschen älter war, würden sich die Jungen um sie reißen.

Teresa las die Zeilen von Hannes immer wieder, und sie vertiefte sich mehr als nur einmal in die Fotos, die Unbeschwertheit und Lebensfreude verrieten. Hannes sah aus wie ein Pirat. Seine Haare waren ausgebleicht von der Sonne, und seine ausdrucksstarken Augen strahlten aus seinem gebräunten Gesicht noch mehr als sonst.

Teresa war eine stolze Großmutter. Sie mochte all ihre Enkel, auch die beiden Großen. Aber die beiden Jüngsten hatte sie am meisten in ihr Herz geschlossen. Vermutlich, weil die auch die längste Zeit im Sonnenwinkel in ihrer Nähe verbracht hatten.

»Schatz, auch wenn du es hundertmal liest, es kommt nicht mehr als das, was unser Hannes geschrieben hat«, sagte Magnus.

Teresa wandte sich vom Computer ab.

»Du hast recht, aber es ist wunderschön, und an den Bildern kann man sich nicht sattsehen. Ich hoffe nur, dass Hannes diese Bilder auch an seine Eltern geschickt hat. Das müsste ja die Laune unserer Tochter verbessern. Du kannst ja heute Abend auch noch einmal mit ihr reden, Magnus. Auf dich hört sie.«

Magnus von Roth lachte.

»Nicht mehr als auf dich. Aber meinetwegen. Wenn sie nur nicht so verflixt stur sein würde. Werner und Inge sollten jetzt wirklich aufhören, das Thema immer weiter breitzutreten, sonst steht irgendwann bei den beiden noch eine Scheidung ins Haus.«

Sofort wehrte Teresa ab.

»Das glaube ich nicht, dafür lieben sie sich viel zu sehr. Aber jetzt muss wirklich Schluss sein. Was ist, hast du auch Lust auf einen Kaffee? Ich habe mich nicht getraut, drüben bei Inge danach zu fragen. Du weißt ja, sie soll ihren Kaffeekonsum einschränken, sie ist hibbelig genug. Aber ich glaube, da ist sie ganz vernünftig.«

Teresa lachte ihren Mann an.

»Und sag mir jetzt bitte nicht, dass sie das von dir hat. Alle schlechten Eigenschaften und Gewohnheiten sind von mir, das Positive hat sie natürlich von dir.«

»Ist doch so«, sagte Magnus vergnügt. »Aber ja, einen Kaffee hätte ich jetzt gern. Und wenn du dann vielleicht dazu auch noch ein kleines Stückchen von diesem köstlichen Schokoladenkuchen hast, den würde ich auch nicht ablehnen.«

Luna kam unter dem Tisch hervor, folgte Inge zur Küche.

Die drehte sich an der Tür noch einmal um. »Luna und du, ihr seid beide mit Süßigkeiten und Naschereien zu locken. Guck sie dir an, sie will natürlich ein Leckerli haben.«

Luna bellte, was auf jeden Fall Zustimmung bedeutete.

Teresa beugte sich hinunter, streichelte die entzückende kleine Labradorhündin, die so klein auch nicht mehr war, mit ihrem weißen Fell sah sie sehr besonders aus, und sie hatte einen wunderschönen Kopf.

»Ja, du bist schon ein schönes Mädchen«, sagte Teresa, »und lieb bist du auch, und deswegen hast du ein Leckerli verdient.«

Luna begann mit dem Schwanz zu wedeln, aufgeregt zu bellen.

»Ein Leckerli, verstanden«, sagte Teresa, und dann musste sie lachen, weil Luna wie ein kleiner weißer Blitz an ihr vorbeischoss und sich erwartungsvoll vor dem Schrank aufstellte, in dem die Leckerli in einem Glas untergebracht waren.

Teresa war es ganz recht, dass Luna sich bei ihnen einfach ein quartiert hatte, das zwang sie, morgens mit ihr herauszugehen, denn ihr Magnus war ein Langschläfer, und deswegen war er für die Abendspaziergänge zuständig, zu einer Zeit, in der sie längst im Bett war. So sehr sie sich auch liebten, so gut sie sich auch verstanden. Und sie waren sich in fast allem einig. Etwas, was im Alter immer deutlicher wurde. Aber in einem waren sie sich vom ersten Augenblick an verschieden gewesen. Teresa war eine Frühaufsteherin, und sie war sofort putzmunter, wenn sie die Augen aufschlug, während ihr Magnus eine Nachteule war.

Luna begann zu bellen, weil Teresa sich zuerst mit ihrer Kaffeemaschine beschäftigte. Sie unterbrach ihre Tätigkeit, holte das begehrte Glas heraus, und dann blieb es doch nicht bei dem nur einen Leckerli.

Konnte man einem solchen Blick widerstehen?

Teresa konnte es auf jeden Fall nicht, und das trug ihr bei Luna noch mehr Sympathiepunkte ein. Allerdings nur solange Magnus nicht in der Nähe war. Teresa konnte darauf wetten, dass es an seiner Freigiebigkeit lag, was die Leckerlis betraf.

Um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, kauften sie ja nur ausschließlich Bioware, und sie achteten darauf, dass die Leckerli keinen Zucker enthielten oder andere Stoffe, die Tieren schadeten. Sie und Magnus engagierten sich stark im Tierschutz, taten eine ganze Menge für das Tierheim in Hohenborn, aus dem Luna auch kam.

Und da fiel Teresa ein, dass sie unbedingt mit Frau Doktor Fischer telefonieren musste, der Chefin des Tierheims. Eine Nachbarin hatte ihr einen Briefumschlag mit einer Spende gegeben. Frau Doktor Fischer würde sich sehr freuen, das Tierheim platzte aus allen Nähten, weil die Leute sich Tiere anschafften wie ein Paar Schuhe oder eine Handtasche. Und wenn sie merkten, welche Arbeit damit verbunden war, kamen die Tiere weg wie ein Wegwerfartikel. Und da konnte man noch froh sein, wenn sie die Tiere ins Tierheim brachten und nicht irgendwo aussetzten und sie ihrem Schicksal überließen.

»So wie sie es mit dir gemacht haben, meine kleine Luna«, sagte Teresa, und Luna bellte zustimmend, blickte Teresa bettelnd an. Doch diesmal blieb sie hart. »Genug ist genug. Ich weiß nämlich sehr genau, dass Herrchen dich auch noch verwöhnen wird.«

Luna machte kehrt und lief zu Magnus.

Dumm war die kleine weiße Hundedame wirklich nicht.

Endlich konnte Teresa sich um Kaffee und Kuchen kümmern. Und da sie keine Lust hatte, ein zweites Mal in die Küche zu laufen, schnitt sie von dem leckeren Schokoladenkuchen gleich ein größeres Stück für ihren Magnus ab. Sie kannte ihn doch.

Auf jeden Fall war Teresa jetzt wieder ein wenig entspannter, und das war gut so.

*

Rosmarie Rückert saß zusammen mit ihrem Mann Heinz in dem viel zu großen Wohnzimmer, in dem man sich so richtig verloren vorkommen konnte. Die Größe des Raumes erinnerte ja beinahe an einen Fürstenpalast, in dem Räume solcher Ausmaße üblich waren.

Was hatten sie sich damals nur gedacht, sich in einem Alter, in dem andere Leute sich kleiner setzten, sich diesen Palazzo Protzo hinzusetzen. Ihr Sohn Fabian hatte es damals ironisch gemeint, als er die Villa zum ersten Male betreten hatte, aber innerlich musste Rosmarie ihm jetzt recht geben.

Wie schön war doch ihr altes Haus gewesen, in dem die Kinder aufgewachsen waren.

Was hatte sie eigentlich dazu getrieben, sich so zu vergrößern?

Um ihr Geld zu zeigen?

Um sich bewundern oder beneiden zu lassen?

Das war anfänglich auch so gewesen, und wenn sie ehrlich war, hatte sie es genossen.

Schöner, größer, teurer …

Das war ihre Devise gewesen. Doch jetzt hatte sie sich verändert. Und sie hatte zu vielem auch eine ganz andere Einstellung bekommen. Aber manches Rad ließ sich nicht zurückdrehen. Ihr war es wichtig gewesen, wer zu sein, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen. Und um die Kinder, die eigentlich nicht mehr als Statussymbole gewesen waren, hatten sich wechselnde Kinderfrauen gekümmert.

Jetzt hatte sie die Quittung.

Fabian machte sein Ding und kam eigentlich hier und da nur noch, weil Heinz und sie halt seine Eltern waren. Sein Draht zu den Auerbachs, seinen Schwiegereltern, war viel besser und enger. Und Stella? Wenn sie ehrlich war, dann kam die auch nur aus dem Grund, weil sie auch als Erwachsene noch immer eine folgsame Tochter war, die wusste, was sich den Eltern gegenüber gehörte.

Ehrlich gesagt wusste sie auch nicht viel über die Kinder von Fabian oder die von Stella. Sie war die Großmutter, und das hatte sie eigentlich immer mit alt gleichgesetzt.

Verrückt!

Cecile, die uneheliche Tochter von Heinz, von der er nichts wusste, bis Cecile erwachsen war, die hatte ihr unbewusst die Augen geöffnet. Ausgerechnet Cecile, die sie am liebsten erdolcht hätte, von der sie nichts wissen wollte. Dabei war das eine so patente Frau, und durch die hatte Rosmarie gesehen, dass man Reichtum nicht nach außen tragen musste, sondern sich unauffällig bewegen sollte und den Reichtum als Selbstverständlichkeit sehen sollte. Wenn sie daran dachte, wie panisch sie gewesen war, weil sie geglaubt hatte, Cecile könnte ihren Anteil vom Rückertschen Vermögen verlangen. Die Familie von Cecile war unermesslich reich, dagegen war das, was die Rückerts besaßen, und das war nicht wenig, nichts als Peanuts.

»Woran denkst du?«, erkundigte sich Heinz Rückert, der seine Frau bereits eine ganze Weile beobachtet hatte.

»Gerade an Cecile, und wie schrecklich ich mich ihr gegenüber benommen habe. Und ich dachte auch an unser Haus. Heinz, ist es nicht viel zu groß für uns?«

Heinz Rückert blickte seine Frau ein wenig irritiert an.

»Aber du wolltest dieses Haus doch um jeden Preis, und es sollte ganz genauso aussehen wie die Villa von diesem Industriellen, auf dessen Namen ich jetzt nicht gleich komme.«

»Frielingsdorf«, half Rosmarie ihrem Mann weiter, der in letzter Zeit ganz schön vergesslich wurde. »Ich weiß, aber man merkt erst, ob man sich wohlfühlt oder nicht, wenn man in dem Objekt seiner Begierde wohnt … Heinz, ich fühle mich nicht mehr wohl. Am liebsten würde ich diesen großen Kasten verkaufen.«

Heinz wurde wütend.

»Rosmarie, wir hatten wegen dieser Hütte Kräche ohne Ende. Du hast mir sogar damit gedroht, mich zu verlassen, wenn ich dir diesen Wunsch nicht erfülle. Und jetzt willst du verkaufen? So einfach ist das nicht. Die Immobilienpreise sind gestiegen, die Villa ist auf jeden Fall teurer geworden, wenn wir jetzt verkaufen, dann müssen wir, wenn wir mehr erzielen, auf jeden Fall einen Spekulationsgewinn versteuern.«

»Na und? Dann tun wir das, das bringt uns nicht an den Bettelstab.«

»In Hohenborn einen Käufer für dieses Objekt zu finden, ist auch noch etwas anderes. Nein, meine Liebe, ich denke, wir lassen es erst einmal so, wie es ist und bis du dir auch wirklich sicher bist.«

»Heinz, ich habe mich verändert«, sagte sie.

Er nickte bestätigend.

»Ja, das hast du. Und das gefällt mir auch gut, dass du dich nicht mehr so herausputzt und dass du offensichtlich den Spaß an Schönheitsoperationen verloren hast. Und Rechnungen vom Juwelier habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Aber dennoch, es bleibt dabei. Bis wir uns klar werden, wohin wir im Alter, und taufrisch sind wir ja nicht mehr, wirklich gehen wollen. Auch da muss ich dich an etwas erinnern. Als ich von einem Zweitsitz in Frankreich sprach, weil ich Cecile nahe sein wollte, hast du getobt. Erinnerst du dich noch?«

Du liebe Güte! Natürlich erinnerte Rosmarie sich, und wenn es ginge, würde sie das alles am liebsten ausradieren. Sie hatte keine rühmliche Rolle gespielt. Sie hatte sich aufgeführt wie eine Furie. Zuerst einmal war da ihr Verdacht, die junge Frau, mit der sie ihren Heinz zufällig gesehen hatte, sei seine heimliche Geliebte. Es wäre schnell aus der Welt zu schaffen gewesen, wenn sie ihm zugehört hätte. Aber sie hatte jede Aussprache vermieden, weil sich an ihrem Leben nichts ändern sollte. Den Kopf in den Sand zu stecken war auf jeden Fall für sie besser gewesen als sich einer jungen Geliebten zu stellen. Es war einzig und allein ihre Schuld gewesen, dass sie diese Höllenqualen erleiden musste. Aber es war ja weitergegangen. Als feststand, dass Cecile seine Tochter war, von der er nichts gewusst hatte, da war sie längst nicht zufrieden gewesen, sondern voller Panik, Cecile wolle an ihr Geld.

»Heinz, fang bitte nicht wieder davon an. Das war doch alles, bevor ich Cecile kennengelernt habe, bevor ich wusste, welch liebenswerter Mensch sie ist. Also lass es, höre auf, olle Kamellen aufzuwärmen. Ich könnte dir auch eine ganze Menge vorwerfen. Warum hast du mir beispielsweise nie erzählt, dass du in Paris studiert hast und dort eine große Liebe hattest, von der du durch unglückliche Umstände getrennt wurdest?«

Heinz seufzte.

Er und Rosmarie waren wirklich ein gutes Team, aber manchmal konnte seine Frau ganz schön nervig sein.

»Weil das mit Adrienne Raymond lange vor deiner Zeit war und weil du dich niemals für meine Vergangenheit interessiert hast. Du warst doch viel zu sehr damit beschäftigt, Geld unter die Leute zu bringen und gesellschaftliche Anerkennung zu finden.«

Rosmarie wurde rot.

Heinz hatte ja so recht. Es hatte sie nicht interessiert, was vor ihr gewesen war. Er hatte sie geheiratet, und ja, sie hatte das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster geworfen. Sie hatte es genossen, auf einmal reich zu sein.

Doktor Heinz Rückert, von Beruf Notar, zudem Sohn aus begütertem Hause, war nicht ihre erste Wahl gewesen. Ihre Freunde vorher, waren im Gegensatz zu ihm attraktiv und amüsant gewesen. Aber leider hatten sie kein Geld, und deswegen redete sie sich den eher biederen und langweiligen Heinz schön. Inzwischen hatte es sich geändert. Sie wusste, was sie an ihm hatte, und im Laufe der Jahre hatte sich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt, sie mochte Heinz. Und Liebe? Ganz so richtig wusste Rosmarie nicht, was das wirklich war. Früher hatte sie Liebe mit Begehrlichkeit verwechselt. Und wenn sie an ihre Eltern dachte, da hatte es nicht die Spur von Liebe gegeben, sie hatten sich viel gezankt, und da war es in erster Linie um Geld gegangen, von dem sie immer viel zu wenig hatten. Und sie kam aus einfachen Verhältnissen. Ihr Ehrgeiz, aus diesem Milieu herauszukommen, hatte sie vorangetrieben, und es konnte durchaus sein, dass das sie ein wenig hart gemacht hatte und sie nicht liebevoll war, besonders ihren Kindern gegenüber nicht.

Warum dachte sie jetzt an ihre Vergangenheit?

Warum dachte sie an den nicht gerade rühmlichen Beginn ihrer Beziehung?

War es ein aufkommendes schlechtes Gewissen?

»Heinz, ich …, es tut mir leid, ich habe dich wirklich nicht gefragt, aber du …, du hast mir auch keine Fragen gestellt.«

Er blickte sie an.

»Doch, Rosmarie, das habe ich. Aber du hast immer alles abgeblockt. Du wolltest nicht über deine Vergangenheit reden, weil du dich geschämt hast, aus einfachen Verhältnissen zu stammen. Glaubst du nicht, dass ich das wusste? Aber es hat mir nichts ausgemacht. Du warst so anders als die Frauen, die ich vor dir kannte. Es gab nur eine, die mein Herz berührt hat, die ich über alles geliebt habe, und das war Adrienne. Mit dir glaubte ich, über diese Liebe hinwegzukommen. Und das ist auch gelungen. Du hast mich wegen meines Geldes genommen und ich dich, um vergessen zu können. Wir hatten beide etwas davon. Und findest du nicht auch, dass wir uns im Laufe der Jahre ganz schön zusammengerauft haben?«

Diese Stunde der Wahrheit hatte Rosmarie nicht erwartet. Sie und Heinz hatten noch nie zuvor so offen miteinander geredet. Sie war verwirrt. Sie musste kein schlechtes Gewissen haben, Heinz war nicht anders gewesen. Sollte sie jetzt verletzt sein, weil ihr Ego nicht verkraften konnte, dass er sie nicht aus Liebe geheiratet hatte?

Was sollte das bringen?

Und er hatte recht, es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit gewesen, und es war aufgegangen.

Ahnte er ihre Gedanken?

Nun, er kannte sie. Rosmarie konnte ganz gut austeilen, einstecken konnte sie nicht.

»Rosmarie, wir müssen uns jetzt deswegen nicht mehr die Köpfe heißreden. Du bist meine Frau, und ich bin froh, dich an meiner Seite zu haben. Wir haben zwei großartige Kinder und liebe Enkel, und über die Partner unserer beiden müssen wir uns auch nicht beklagen.«

Er machte eine kleine Pause.

»Ich bin froh, dass das alles jetzt einmal zur Sprache kam. Jetzt können wir unter die Vergangenheit einen Strich ziehen und von vorne anfangen. Offen und ehrlich. Rosmarie, du bist eine großartige Frau, und ich möchte dich nicht verlieren.«

Das klang schön und versöhnlich.

Sie blickte ihren Mann an.

»Heinz, das möchte ich doch auch nicht. Und das sage ich jetzt nicht wegen des komfor­tablen Lebens, das ich an deiner Seite habe, sondern das sage ich, weil ich …, ich kann mir ein Leben ohne dich wirklich nicht vorstellen. Ich weiß, was ich an dir habe.«

Er stand auf, ging um den Tisch herum, zog sie zu sich empor, nahm sie in die Arme, und dann küsste er sie.

Und das fühlte sich so richtig gut an.

*

Die Kinder waren im Bett, Stella und Jörg Auerbach waren allein. Jörg hatte sich keine Arbeit mit nach Hause gebracht, sie hatten keine Verpflichtungen, mussten nirgendwo hin, sondern hatten sich vorgenommen, sich einen gemütlichen Abend zu machen.

So ganz für sich allein waren sie schon eine ganze Weile nicht mehr gewesen, und deswegen freuten sie sich so und wollten ihre Zweisamkeit auch genießen. Jörg machte viele Überstunden, war häufig geschäftlich unterwegs. Sie trafen sich oft mit Ricky und Fabian und den Kindern. Und nun gab es ja auch noch Cecile, ihre Halbschwester, die plötzlich in ihr Leben geschneit war und mit der sie sich sehr gut verstanden. Das war wirklich sehr überraschend für Stella und Jörg gewesen, aber für ihren Vater ja auch, der von Cecile nichts geahnt hatte. Ja, und dann war es hier und da unumgänglich, die Eltern und Schwiegereltern zu besuchen. Und da musste peinlich darauf geachtet werden, dass keiner zu kurz kam. Das hatte man davon, wenn man so eng miteinander verbandelt war wie die Auerbachs und die Rückerts. Fabian Rückert hatte Ricky Auerbach geheiratet. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und Stella Rückert und Jörg Auerbach hatten es ihnen ein wenig später nachgemacht. Bereut hatten sie es alle nicht. Sie verstanden sich wunderbar. Na ja, das Verhältnis zu ihren Eltern fand Stella sehr schwierig, und ihr Bruder fand es noch schwieriger.

Tja, wenn es um die Liebe von den Kindern zu ihren Eltern ging, da konnte man nicht einfach einen Schalter umschalten und plötzlich Gefühle entwickeln. Sie waren sich während ihrer ganzen Kindheit über Kinderfrauen oder sich selbst überlassen gewesen, und das rächte sich jetzt.

Aber dennoch …

Stella fuhr brav jede Woche zu ihren Eltern, brachte ihnen selbst gebackenen Kuchen.

Jörg kam mit einer Flasche Rotwein ins Wohnzimmer, wo Stella es sich bereits auf der Couch gemütlich gemacht hatte.

»Oh, du hast die Gläser bereits bereitgestellt, mein Schatz«, sagte er, warf seiner Frau einen liebevollen Blick zu. »Dann können wir ja jetzt zum gemütlichen Teil übergehen. Ich habe uns aus dem Weinkeller einen ganz besonderen Rioja hochgeholt, der dir bestimmt schmecken wird. Du liebst ja spanische Rotweine.«

Sie hätte mit Jörg jetzt gern über ihre Mutter reden wollen. Doch das konnte sie jetzt wirklich nicht tun. Er war so aufgeräumt, so gut gelaunt. Es musste warten.

Stella sah, wie er den tiefroten Wein in die wunderschönen Kristallweingläser schenkte, die sie gekauft hatte, nachdem sie von ihrer Tante Finchen eine Menge Geld geerbt hatte. Tante Finchen, von der jeder geglaubt hatte, dass sie gerade mal so zurechtkam. Sie war aus der Familie die Einzige gewesen, die sich um Tante Finchen gekümmert hatte, sie hatte sie eingeladen, an Ostern und Weihnachten war sie immer bei ihnen. Und dafür war sie Jörg heute noch dankbar, dass er das mitgemacht hatte. Tante Finchen war ziemlich schwierig gewesen. Alle waren sie aus allen Wolken gefallen, als plötzlich ein Testament auftauchte, in dem sie als Alleinerbin eingesetzt worden war.

Sie hatte sich gefreut, war glücklich und gerührt gewesen. Und natürlich unendlich dankbar. Jörg hatte sich für sie mitgefreut, und er wollte von dem plötzlichen Geldsegen nichts haben. Das war ihr Geld, sie hatte sich gekümmert.

Stella mochte nicht daran denken, dass nicht alle es so aufgenommen hatten. Fabian und Ricky auch, aber ihre Eltern …, die waren wütend gewesen und der Meinung, das Geld stünde ihnen zu.

Aus, vorbei.

Sie mochte nicht mehr daran denken. Dass sie überhaupt darauf gekommen war. Vermutlich wegen der Weingläser, die sie nur für besondere Anlässe aus dem Schrank holten.

Jörg setzte sich neben sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Auf einen schönen Abend, mein Schatz, ich freue mich. Und ich denke, es ist auch mal wieder an der Zeit, dir zu sagen, wie glücklich ich mit dir bin.«

In diesem Moment wurde sie von ihren Kindern unterbrochen, die nicht einschlafen konnten. Stella war dankbar, dass Jörg sich ihrer annahm, sie beruhigte und zurück ins Kinderzimmer brachte.

Alles war gut!

Sie und Jörg zogen an einem Strang, und da gab es keine Eifersüchteleien.

Stella trank etwas von dem Rotwein. Jörg hatte nicht zu viel versprochen. Er war köstlich, und diesen Genuss jetzt gemeinsam zu haben, wäre schön gewesen. Aber so war es nun mal, es kam immer anders als man dachte. Stella konnte jetzt nur darauf hoffen, dass Jörg es schaffen würde, die Kinder ganz schnell zum Einschlafen zu bringen. Das konnte er gut, er war wirklich ein fantastischer Vater. Und als Ehemann …, da gab es wirklich nichts Besseres. Sie waren ja jetzt bereits einige Jahre miteinander verheiratet, aber es wurde immer besser mit ihnen, immer inniger. Sie stimmten in so vielem überein, aber in einem waren sie sich hundertprozentig einig, und das war die Erziehung ihrer Kinder. Die standen für sie an erster Stelle, was nicht bedeutete, dass die Kinder ihnen auf dem Kopf herumtanzen durften. Da gab es ganz klare Grenzen, und die wurden von ihren lieben Kindern auch nicht überschritten.

Jörg war in den letzten Tagen unterwegs gewesen, und die Kinder hatten ihren Papi vermisst. Es war zu verstehen, dass sie jetzt aufgeregt waren. Ihr Papi hatte sie ins Bett gebracht, ihren eine Geschichte vorgelesen. Vielleicht hatten sie nicht einschlafen können, oder sie waren aufgewacht, und da war halt die Fantasie mit ihren durchgegangen.

Ein bitterer Zug umspielte ihre schönen Lippen. Wenn sie an ihre eigene Kindheit dachte …

Ihr Bruder Fabian und sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, zu ihren Eltern zu gehen. Da hätten sie aber etwas zu hören bekommen. Aber meistens waren die abends eh nicht daheim gewesen.

Diese lieblose Kindheit war für Stella ganz gewiss ebenfalls ein Grund, eine so liebevolle Mutter geworden zu sein. Sie schenkte ihren Kindern im Übermaß das, was sie selbst so sehr vermisst hatte.

Ihre Mutter machte ja jetzt Annäherungsversuche, und sie hatte sich auch verändert. Aber konnte man Liebe in einen Menschen hineinpflanzen?

Auch ihr Vater war, seit es Cecile in seinem Leben gab und er an seine alten Studentenzeiten in Paris erinnert worden war, sehr viel weicher geworden. In erster Linie wohl, weil er erfahren hatte, dass Adrienne, seine große Liebe, niemals aufgehört hatte, ihn zu lieben. Hätten widrige Umstände sie damals nicht getrennt, wären sie vermutlich noch immer glücklich miteinander, und Cecile hätte nicht ohne Vater aufwachsen müssen.

Aber dann hätte er ihre Mutter nicht kennengelernt, und es gäbe sie und Fabian nicht, jedes Ding hatte zwei Seiten.

Stella war ein weichherziger Mensch, und ihre Mutter tat ihr leid, und sie war bereit, vieles zu vergessen.

Natürlich hatte sie ihr durch ihre Lieblosigkeit eine ganze Menge angetan, aber Stella war nicht nachtragend, und wie sie auch war, es war ihre Mutter. Und sie wollte sich nicht irgendwann einmal Vorwürfe machen, wenn es für eine Versöhnung zu spät war. Da war sie anders als ihr Bruder Fabian. Gut, er respektierte seine Eltern, aber lieben würde er sie wohl nie. Welch ein Glück, dass er in Ricky eine so wunderbare Partnerin gefunden hatte. Wer weiß, vielleicht wäre er sonst ein ganz verbitterter Mann geworden.

Wenn man Ricky und Fabian sah, dann konnte bei einem die Sonne aufgehen. Mit ihr und Jörg war es wirklich ganz wunderbar, aber Ricky und Fabian …

Bestimmt lag es daran, dass sie eine Auerbach war, die aus einem liebevollen Elternhaus kam und all ihre Liebe verschwenderisch weitergeben konnte. Jörg kam zwar ebenfalls aus diesem Elternhaus, aber er war ein Mann. Und Männer waren, was Gefühle anbelangte, einfach anders. Die konnten nicht so aus sich herausgehen. Aber was Jörg zu geben hatte, das reichte für sie allemale. Aber für Fabian freute es sie. Da sie keine richtige Elternliebe bekommen hatten, waren sie von klein auf immer sehr eng gewesen. Und es wäre schrecklich für Stella, wenn ihr Fabian an die falsche Frau geraten wäre. War er nicht. Sie hatten alle beide Glück gehabt, und das war wohl das, was man einen gerechten Ausgleich des Schicksals nannte.

Sie trank noch etwas, und da kam auch schon Jörg zurück, setzte sich wieder und sagte: »Sie schlafen, und diesmal habe ich mich davon überzeugt, dass sie es wirklich tun, unsere kleinen Lieblinge. Ich sehe, du hast den Wein bereits probiert. Und, habe ich zu viel versprochen?«

Stella lehnte sich an ihn.

»Hast du nicht, mein Liebling. Aber ich bin froh, dass du jetzt bei mir bist, und ich hoffe, dass wir jetzt unsere Zweisamkeit genießen können.«

Er legte einen Arm um ihre Schulter, küsste sie, dann sagte er: »Das werden wir.«

Stella hatte eigentlich mit ihm über ihre Eltern, ganz speziell ihre Mutter sprechen wollen, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Aber das hatte Zeit. Das lief nicht davon, aber einen solchen Augenblick wie diesen jetzt, voller Liebe, voller Vertrautheit, voller intensiver Nähe, den bekam man so schnell nicht wieder.

Der Wein war ganz wunderbar, aber noch wunderbarer war es, die Küsse zu spüren, die so unbeschreiblich schön waren.

*

Doktor Roberta Steinfeld hatte es sich angewöhnt, die meisten Mahlzeiten zusammen mit ihrer Haushälterin Alma Hermann in ihrer gemütlichen Wohnküche einzunehmen.

Auch heute Abend saßen sie zusammen, hatten gut gespeist und genossen nun den Nachtisch, eine wunderbare Crème brûlée, die niemand so gut machen konnte wie Alma, auch nicht der Franzose des Sternerestaurants, in das sie früher allein wegen dieser Nachspeise mit ihrem Exmann Max gegangen war.

Normalerweise unterhielten sie sich angeregt, ganz besonders Alma genoss die Augenblicke mit ihrer Chefin. Aber die war heute ausgesprochen ruhig. Das kannte Roberta nicht an Alma, ohne die sie sich ein Leben überhaupt nicht mehr vorstellen konnte. Alma war das Beste, was ihr passieren konnte. Seit Alma bei ihr war, musste Roberta sich um das Haus, den Haushalt, den Garten, das Essen, sie musste sich um überhaupt nichts mehr Gedanken machen. Alles funktionierte perfekt. Alma hatte auf ihren Weg kommen müssen und hatte Ordnung in das Chaos ihres Alltags gebracht. Roberta war eine ganz hervorragende Ärztin, da machte ihr niemand etwas vor. Aber ansonsten …, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken, denn das würde ihren Blutdruck ganz gehörig in die Höhe treiben.

Auf den Weg kommen …

Es als Zeichen zu sehen …

Dafür war eigentlich ihre Freundin Nicki zuständig. Aber was Alma anbelangte, da musste sie Nicki zustimmen.

Daran, wie es damals gewesen war, als sie Alma krank, antriebslos, verzweifelt, hungrig zufällig im Wald gefunden hatte, mochte Roberta jetzt nicht denken. Das lag eine ganze Weile zurück, alles war gut gegangen, und Alma war der Engel, der ihr den Rücken freihielt.

Sie waren ein gutes Team geworden, was einander vertraute. Doch jetzt stimmte etwas nicht, und was das war, das musste Roberta herausfinden. Alma benahm sich ganz anders als sonst.

»Alma, was ist los?«, erkundigte sie sich deswegen.

Alma wurde rot, überlegte einen Augenblick, wollte etwas sagen, doch dann besann sie sich.

»Oh …, äh …, ich …, nichts, alles ist in Ordnung.«

Roberta begann zu lachen.

»Also, meine liebe Alma, eine Schauspielerin hätten Sie nicht werden können, darin sind Sie grottenschlecht. Und flunkern können Sie ebenfalls nicht, weil Sie dazu viel zu aufrichtig sind. Noch einmal. Was ist los? Habe ich etwas gemacht? Haben Sie sich über mich geärgert? Dann heraus mit der Sprache.«

Eine solche Frage empörte Alma.

»Sie doch nicht, Frau Doktor. Hier sein zu dürfen, für Sie zu arbeiten, ist das Allerbeste, was mir in meinem Leben bislang passiert ist. Sie sind eine Chefin, wie man sie sich nur wünschen, von der man träumen kann.«

Roberta winkte ab.

»Also gut, dann freue ich mich, und ich bin auch zufrieden, dass ich an nichts die Schuld trage. Doch meine Liebe, ich kenne Sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt. Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt, nur Sprechenden kann geholfen werden.«

Alma überlegte einen Moment, rang mit sich, dann sagte sie: »Frau Doktor, Sie wissen doch, dass ich Mitglied des Gospelchors bin.«

Roberta nickte.

»Das weiß ich, und das finde ich auch ganz wunderbar.«

»Ja, mir gefällt es auch sehr. Aber nun …, nun ist der Chor für eine Woche nach Irland eingeladen worden. Es soll ein großes Festival für viele Gospelchöre stattfinden. Und es bleibt auch Gelegenheit, sich so ein wenig umzusehen, Dublin hat ja viel zu bieten, wie das berühmte Trinity College, die St. Patricks Cathedral, um nur zwei Beispiele zu nennen, spannend ist es gewiss auch, das Guiness Storehouse zu besichtigen, und ein Pint Guiness sollte man unbedingt in der Gravity Bar trinken, wo man einen 360 Grad Blick über die Stadt hat.«

Alma hatte sich richtig in Begeisterung geredet.

»Ja, das ist großartig. Herzlichen Glückwunsch, von Dublin aus kann man viele schöne Ausflüge machen, und ich hoffe sehr, Ihr Chor ergreift die Gelegenheit, sich auch außerhalb Dublins ein wenig umzusehen. Ein Ausflug nach Wicklow lohnt sich auf jeden Fall. Das Powers­courth Hause mit seinen grandiosen Gärten ist sehenswert oder auch die Klosteranlage Glendalough. Wenn man Zeit hat, weiterzufahren, ist das mittelalterliche Städtchen Kilkenny sehenswert. Ach, Alma, ich beneide Sie. Ich finde Irland großartig, und ich würde am liebsten auch sofort meine Koffer packen.«

Alma sagte nichts.

»Aber sagen Sie mal, Alma, warum sprühen Sie nicht vor Begeisterung bei dieser Aussicht, hier mal rauszukommen?«

»Aber Frau Doktor, ich kann doch nicht mitfahren.«

Jetzt verstand Roberta überhaupt nichts mehr.

»Und warum nicht?« Eine bessere Frage fiel ihr dazu nicht ein.

Alma zögerte einen Moment mit ihrer Antwort.

»Weil ich Sie nicht eine Woche allein lassen kann.«

Roberta hätte mit allem gerechnet, mit so einer Antwort gewiss nicht. Am liebsten hätte sie vor Erleichterung angefangen zu lachen. Sie hatte sich bereits alles Mögliche zusammengereimt.

»Also, meine Liebe, in einer Woche werde ich weder verhungern, noch im Chaos versinken. Essen kann ich sehr gut im ›Seeblick‹, und das Haus wird während Ihrer Abwesenheit nicht zusammenbrechen, es sei denn die Termiten brechen in Scharen hier ein, und damit ist nicht zu rechnen. Und, was das Entscheidendste ist. Sie haben einen ordnungsgemäßen Arbeitsvertrag, und da steht Ihnen Urlaub zu, meine Liebe, und das nicht nur eine Woche. Ich hoffe, Sie haben die Reise noch nicht abgesagt, und wenn doch, dann machen Sie gefälligst alles rückgängig. Und bitte, Alma, Sie sind eine so gescheite Frau, kommen Sie niemals mehr auf derart spinnerte Ideen, versprechen Sie mir das?«

Alma nickte.

»Ich dachte ja nur, dass ich Sie gerade jetzt nicht allein lassen kann, weil Sie so viel Arbeit haben und Ihren Kopf dafür frei haben müssen.«

Roberta war gerührt.

»Wenn Sie so wollen, dann habe ich immer viel Arbeit, dann dürften Sie niemals Urlaub machen und ich im Übrigen ebenfalls nicht. Fahren Sie nach Irland, ich freue mich für Sie, und das tue ich wirklich.«

»Danke, Frau Doktor«, sagte Alma, dann begann sie zu strahlen. »Irland war schon immer mein Traum, doch als ich noch verheiratet war, interessierte sich mein Exmann nicht für das Land, und danach, als er mich mit all den Schulden allein gelassen hatte, besaß ich nicht einmal das Geld, um mir eine Fahrkarte bis in die nächste Stadt zu kaufen. Ach, Frau Doktor, wie sehr mein Leben sich wieder zum Guten verändert hat. Und das verdanke ich Ihnen allein. Wäre ich nicht hier im Sonnenwinkel, hätte ich nicht Mitglied des Gospelchores werden können, dann hätte ich nicht dieses komfortable Leben. Ich kann frei schalten und walten, und ich habe sogar eine eigene, ganz entzückende Wohnung hier im Seitentrakt des Hauses.«

»Und ich kann in Ruhe meiner Arbeit nachgehen, bekomme ein so köstliches Essen wie in einem Sterne-Restaurant, ich muss meinen Garten nicht verwildern lassen, mein Bett ist immer frisch bezogen, meine Handtücher sind gewaschen, meine Kleidung hängt ordentlich im Schrank. Muss ich noch mehr sagen?«

Alma blickte ihre Chefin an.

»Liebe Frau Doktor, ich tue alles von Herzen gern, alles, was Sie mögen.«

Ihre Alma, die würde mit ihrer Dankbarkeit wohl niemals aufhören, dabei war es für sie beide eine absolute Win-Win-Situation.

»Okay, Alma, Sie können etwas für mich tun. Haben Sie für mich vielleicht noch eine zweite Portion von dieser himmlischen Crème brûlée?«

Alma sprang auf.

»Habe ich Frau Doktor, ich weiß doch, wie gern Sie diese Creme essen.«

*

Marianne von Rieding saß mit ihrem zweiten Ehemann Carlo Heimberg in dem stilvollen Frühstückszimmer im Herrenhaus des Erlenhofs. Als Marianne und ihre Tochter das stattliche Anwesen von ihrem verstorbenen Schwiegervater geerbt hatte, hatte sie versucht, die Räume weitgehend zu ›entstauben‹, hatte sich von vielem getrennt und vor allem versucht, Licht in alles zu bringen.

Dieses Frühstückszimmer hatte sie beinahe unverändert gelassen, nur ein paar Bilder und Möbelstücke entfernt, die alles ein wenig erdrückten.

In dem Zimmer standen wunderschöne alte Kirschholzmöbel, deren warmer Holzton etwas Anheimelndes hatte. Solche Möbel gab es kaum mehr, weil es heutzutage viel zu kostspielig war, sie in dieser hohen Handwerksqualität herzustellen. Außerdem hatten viele Menschen, ganz besonders die jungen Leute, ihr Interesse für diese Schätze aus der Vergangenheit verloren. Sie kauften sich lieber zweckmäßige, moderne Möbel, die sie kurz und schmerzlos entsorgten, wenn sie keinen Spaß mehr daran hatten. Wir waren eine Wegwerfgesellschaft geworden, und diese Tendenz nahm immer mehr zu.

Es war nicht die Einrichtung allein, die diesen Raum zu etwas Besonderem machte. Da gab es im Haus noch viel wertvollere Möbel. Nein, es war der unbezahlbare Blick, den man hatte. Durch die Fenster der Terrassentür hatte man einen unvergleichlichen Blick auf die Felsenburg, die das Herzstück des Anwesens war, jene prächtige, geschichtsträchtige Ruine, die auch halb verfallen imposant wirkte. Imposant und beeindruckend. Eine Ruine, die berührte, weil an dieser Felsenburg so deutlich demonstriert wurde, wie vergänglich alles doch war. Nichts war für die Ewigkeit bestimmt, und davon waren in früher Zeit die damaligen Erbauer wohl ausgegangen. Davon zeugten die dicken Mauern, die Schießlöcher, durch die man sich vor Eindringlingen schützen wollte.

Das war längst vorbei. Schon vor langer Zeit hatte man die Felsenburg dem Verfall preisgegeben. Selbst wenn man wollte, wenn man bereit war, ein Vermögen dafür hinzulegen, wäre es ein aussichtsloses Beginnen.

Carlo war von der Ruine fasziniert, und natürlich hatte er sich überlegt, ob man aus dieser alten Dame noch etwas machen konnte. Er hatte es resigniert aufgegeben, es hatte keinen Sinn. Also konnte man dem unaufhaltsamen Verfall nur zusehen und sich an den vielen Geschichten, die um die Felsenburg rankten, erfreuen, oder man konnte erschauern, denn wenn so manches wahr war, was man überliefert hatte, dann waren die früheren Burgherren nicht zimperlich gewesen.

Wer der Erbauer war, das konnte man nicht mehr feststellen, aber über viele Generationen hinweg waren es die von Riedings gewesen, die man als Besitzer der Felsenburg nachweisen konnte.

Eigentlich müsste das Marianne stolz machen, doch das war nicht so. Sie war angeheiratet, und ihr verstorbener Schwiegervater hatte weder von ihr noch von seinem einzigen Enkelkind Alexandra, ihrer Sandra, nichts wissen wollen. Er war auch nach dem Tod seines einzigen Sohnes unversöhnlich geblieben. Und sie waren mehr als erstaunt gewesen, plötzlich bei einem Notar zu erfahren, dass dieser unversöhnliche Mann sie als seine Erben eingesetzt hatte.

Doch das lag nun schon so lange zurück. Und im Grunde genommen mussten sie und Sandra dankbar für die Erbschaft sein, denn Mutter und Tochter hatten hier ihr Glück gefunden. Marianne hätte niemals für möglich gehalten, noch einmal in ihrem Leben einem Mann zu begegnen, der ihr Herz höherschlagen lassen konnte. Und doch war es geschehen. Sie hatte diesen Menschen in Carlo Heimberg, dem Erbauer der Siedlung im Sonnenwinkel, gefunden. Sie und Carlo waren sehr glücklich miteinander und dankbar für das, was sie miteinander verband.

Und Sandra?

In dem Fabrikanten Felix Münster hatte sie den Richtigen gefunden. Doch ehe Felix und Sandra sich nähergekommen waren, hatte Sandra sich in Manuel verliebt, seinen Sohn. Und dann war sie für Manuel eine ganz wundervolle Ersatzmutter geworden, die ihm all die Liebe gab, die ihm seine leibliche, leider viel zu früh verstorbene eigene Mutter, nicht mehr geben konnte.

Felix hatte ganz in der Nähe des Herrenhauses ein wunderbares Anwesen geschaffen, und dort waren er, Sandra, Manuel und die kleinen Zwillinge sehr glücklich miteinander, sie waren eine Vorzeigefamilie, wieder, musste man sagen.

Marianne war so froh, dass sich ein kleiner Zwischenfall, der die glückliche Beziehung ein wenig ins Wanken gebracht hatte, längst behoben war. Und da hatte Manuel sich als ein wahrer Held erwiesen. Er hatte dafür gesorgt, dass Sandra und Felix wieder glücklich waren.

Bei Sandra und Familie war alles Sonnenschein, und so kitschig es auch klang, das war es wirklich.

Marianne seufzte.

Sie wollte, sie könnte das auch von Carlo und sich behaupten. Was ihre Gefühle füreinander und ihre komfortablen äußeren Lebensumstände betraf, dafür müsste sie dem lieben Gott jeden Tag auf Knien danken. Darum ging es nicht. Da könnte es besser nicht sein.

Es war so, dass sie sich sehr große Sorgen um die Gesundheit ihres Mannes machte. Da stimmte etwas nicht.

Carlo arbeitete viel, viel zu viel für sein Alter, auch wenn er ein dynamischer Mann war, der noch immer glaubte, die ganze Welt aus den Angeln heben zu können. Aber alles hatte seine Zeit, und wenn man auf das Rentenalter zuging, konnte man sich nicht das zumuten, was man als Dreißigjähriger locker machen konnte.

Dass Carlo sich stets zu viel zumutete, lag unter anderem auch daran, dass er von seinem Beruf besessen war. Er war mit Leib und Seele Architekt, und diesen Beruf hatte er bereits als kleiner Junge ergreifen wollen. Das war überliefert. Und es war wohl wirklich so, dass man dann später nichts anderes wollte. Auf Carlo traf es auf jeden Fall zu. Carlo war bekannt, er war ein großer Könner, er war ein Visionär. Deswegen wurde er auf internationalen besonderen Bauprojekten auch immer wieder angefragt. Und wenn er an einer Ausschreibung teilnahm, bekam er den Zuschlag.

Die Siedlung im Sonnenwinkel war auch etwas ganz Besonderes, wenngleich das im Vergleich zu seinen anderen Projekten nichts war. Carlo hatte auf jeden Fall für die Gestaltung des Sonnenwinkels nicht nur einen Preis bekommen, weil es Siedlungen in dieser Art zuvor noch nicht gegeben hatte: modern, innovativ und so ganz anders als das, was man sonst kannte.

Und das Beste war, dass sie sich ohne dieses Projekt niemals begegnet wären. Und so hätte der Sonnenwinkel, auch wenn er pottenhässlich wäre, für sie immer einen ganz hohen Stellenwert.

Carlo hatte seine Frau beobachtet, die merkwürdig besorgt schien, dabei war es doch ein so schöner Morgen. Und natürlich hatte er auch ihren abgrundtiefen Seufzer gehört.

»Liebes, bedrückt dich etwas?«, erkundigte er sich deswegen. »Gibt es nebenan etwa Zoff?«

Marianne lächelte.

Natürlich hatte Carlo das, was nebenan gewesen war, ebenfalls mitbekommen, und weil er Sandra und ihre Familie sehr mochte, war er sehr besorgt gewesen.

Marianne schüttelte den Kopf. Sie war eine gepflegte damenhafte Erscheinung, hatte graubraune Haare, war mittelgroß, schlank. Ihre glasklaren Augen blickten wach in die Welt. Sie sah so aus, wie man sich eine adelige Dame vorstellte, und es käme niemand auf die Idee, dass sie eine Bürgerliche war und diesen Titel nur durch Heirat mit ihrem ersten Mann bekommen hatte.

»Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen mehr machen. Sowohl Felix als auch Sandra haben ihre Lektion gelernt, und sie wissen, dass man Missverständnisse nur aus der Welt schafft, indem man miteinander redet. Nein, Carlo, ich sorge mich um dich.«

Carlo Heimberg war so erstaunt, dass er den Löffel aus der Hand legte, mit dem er gerade den Zucker in seiner Tasse umrühren wollte.

»Um mich?«, erkundigte er sich gedehnt. »Weswegen denn? Mein Leben könnte nicht schöner sein, seit ich dir begegnet bin und du meine Frau geworden bist.«

Mit ihm verheiratet zu sein, das machte auch sie auf jeden Fall glücklich. Aber sie wollte sich jetzt nicht ablenken lassen.

»Carlo, mein Liebster, es geht nicht darum, dass wir sehr glücklich miteinander sind, und ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, irgendwann einmal Krach mit dir zu bekommen. Ich mache mir große Sorgen um deine Gesundheit.«

Er versuchte ein schiefes Lächeln.

»Musst du nicht, alles ist bestens, mein Herz.«

»Ja, wenn das so ist, warum weigerst du dich dann, dich mal bei Frau Doktor Steinfeld untersuchen zu lassen? Du magst sie als Mensch, und was ihre ärztliche Kompetenz betrifft, ich glaube, da kann ihr niemand so schnell das Wasser reichen.«

»Ich finde Frau Doktor Steinfeld wunderbar, aber dann lade sie meinetwegen zum Kaffee ein. Man geht nur zum Arzt, wenn man krank ist. Und mir fehlt nichts.«

Marianne gab nicht nach.

»Dann beweise mir das. Du sagst doch immer, dass du mich liebst, und davon bin ich überzeugt. Aber lass mich einen Termin für dich machen. Wenn dir nichts fehlt, dann ist das eine Geschichte von einer maximal halben Stunde, und ich kann wieder beruhigt sein.«

Carlo Heimberg kannte seine Frau mittlerweile sehr gut. Wenn sie sich in etwas festbiss, konnte sie beharrlich sein wie ein Terrier.

»Gut, in Gottes Namen«, gab er nach. »Können wir jetzt davon aufhören? Ich möchte den Vormittag mit dir genießen, und ich freue mich schon auf den Museumsbesuch in der Stadt. Die Ausstellung muss ganz großartig sein, und ich glaube, man kann sich diese Werke nur noch heute und morgen ansehen.«

Marianne freute sich auch, aber am meisten freute sie sich darüber, dass ihr Carlo endlich einsichtig wurde.

Gleich morgen würde sie für ihn den Termin bei Frau Doktor Steinfeld machen. Sie war nicht so überzeugt davon wie er, dass mit ihm alles in Ordnung war.

Sie war doch nicht blind und sah, wie er sich manchmal die Hand aufs Herz presste, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Und diese blasse Gesichtshaut, die war ebenfalls nicht normal. Carlo war viel im Freien, und als sie sich kennengelernt hatten, war ihm das auch anzusehen gewesen.

»Wenn du magst, können wir vor oder nach der Ausstellung noch ein wenig shoppen gehen. Du weißt doch, wie gern ich das tue, weil ich so unendlich stolz auf meine Frau bin.«

Marianne war gerührt vor lauter Glück. Ja, so war er, ihr Carlo, unendlich liebevoll, charmant. Er war klug, belesen, und was am wichtigsten war, er hatte sein Herz auf dem rechten Fleck.

Sie war so glücklich, seine Ehefrau zu sein. Wenn es nicht so wäre, und wenn man sie vor die Alternative stellen würde, eine Entscheidung zu treffen zwischen einem Hauptgewinn im Lotto oder ihm: Marianne würde sich ohne auch nur eine Sekunde zu zögern für Carlo entscheiden, weil sie wusste, dass er mehr war als ein Lottogewinn.

Im Lotto gewinnen konnte man immer wieder einmal, aber ihn, ihren Carlo, den gab es nur ein einziges Mal auf dieser Welt, deswegen war sie doch auch so besorgt. Ihn zu verlieren, das würde ihr das Herz brechen. Aber an so etwas wollte sie gar nicht erst denken.

Sie hatten noch so viel vor, und mit ihm an ihrer Seite war das Leben einfach nur schön.

Fanny, das Hausmädchen, kam herein, um sich zu erkundigen, ob die Herrschaften noch etwas wollten.

Nein, das wollten sie nicht. Sie waren im Augenblick wunschlos glücklich, und so sollte es auch bleiben.

»Danke, Fanny, wenn wir etwas benötigen, dann melden wir uns.«

Fanny ging, sie waren wieder allein.

Das war auch etwas, woran Marianne sich erst einmal gewöhnen musste, für alles Personal zu haben. Ehe sie auf den Erlenhof gekommen waren, hatte sie immer alles allein gemacht, auch, als sie noch mit Sandras Vater verheiratet gewesen war, der leider viel zu früh gestorben war. Sie waren mit seinem Verdienst gut zurechtgekommen, aber auf vieles mussten sie verzichten, und das war in erster Linie Personal. Aber Marianne war sich nie für etwas zu schade gewesen, und daran würde sich auch nichts ändern.

Sie genoss alles, was sie jetzt hatte, aber sie würde auch nicht zerbrechen, wenn das nicht so sein sollte.

Marianne wollte allerdings nicht darüber nachdenken, wie ihr Leben ohne Carlo aussähe.

Nein!

Alles war gut, sie wollte den Augenblick genießen, und ihre Gegenwart war ganz wunderbar. Und wenn die gut war, dann musste man sich doch auch keine Gedanken um die Zukunft machen.

Wie sehr sie ihn doch liebte, ihren Carlo.

Ihre Blicke trafen sich, und was da zu sehen war, das war ganz viel Liebe …

*

Ricky saß in ihrem Wohnzimmer und versuchte sich abzulenken, was ihr aber nicht gelingen wollte. Sie hatte versucht zu lesen, vergebens. Im Fernsehen war auch nichts Gescheites zu sehen gewesen.

Sie sah andauernd auf ihre Uhr. Wo Fabian bloß blieb?

Gut, er hatte seine Kollegen zu einer wichtigen Konferenz zusammengetrommelt, aber die musste doch längst vorbei sein. Auch wenn es Probleme gab, konnte man die schnell besprechen. Und ihr Fabian, der kam immer rasch auf den Punkt.

Ricky stand auf, machte eine unruhige Wanderung durch den Raum, dann verließ sie das Wohnzimmer und lief hinauf zu den Kinderzimmern, wo die lieben Kleinen schliefen.

Henrike Rückert, geborene Auerbach, die jeder seit jeher nur Ricky nannte, liebte ihre Kinder über alles. Sie hatte immer nur heiraten wollen und Kinder haben. Und dieser Wunsch war in Erfüllung gegangen. Eigentlich war sie ein Glückskind, einen Mann wie Fabian Rückert bekommen zu haben. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, auf beiden Seiten, und sie hatten weder ihre Heirat noch ihre Kinder bereut. Jedes von ihnen war ein absolutes Wunschkind.

Dass Ricky sich spontan entschlossen hatte, doch noch ein Studium zu beginnen, weil nur ein Schulabschluss nicht alles gewesen sein konnte, auch wenn es ein Abitur war, hatte Fabian voll unterstützt. Und nun war sie begeisterte Studentin. Sie studierte Deutsch und Biologie auf Lehramt. Dieses waren schon in der Schule ihre Lieblingsfächer gewesen, und dass sie Lehrerin werden wollte, das hatte eindeutig mit Fabian zu tun. Er war ein fantastischer Lehrer, und man hatte ihm nicht umsonst die Leitung des bekannten und begehrten Goethegymnasiums angeboten. Für diese Schule gab es lange Wartelisten, und seit Fabian der Direktor war, war die Warteliste noch größer geworden.

Ricky kam an einem Spiegel vorbei, sah selbstkritisch hinein, aber sie konnte an ihrem Äußeren nichts aussetzen. Sie war sehr schlank und konnte essen, was sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, und ihre Kinder sah man ihr auch nicht an. Mit ihrem Pferdeschwanz wirkte sie sehr jung und unternehmungslustig, ihr Blick war neugierig und wach. Ja, etwas störte sie. Es war ihre Haarfarbe, die so überhaupt nicht richtig zu definieren war. Sich die Haare färben zu lassen, daran hatte sie bislang noch nicht gedacht, und solange sie ihrem Fabian gefiel, war auch alles in Ordnung.

Vorsichtig ging sie in die Räume, wo die Kinder schliefen. Sie überzeugte sich liebevoll, dass alle wohlauf waren. Mit ihren so wohlgeratenen Kindern hatte Fabian wirklich das Glückslos gezogen. Ihre Kinder und Fabian waren das Wichtigste in ihrem Leben. Ricky konnte das Glücksgefühl nicht beschreiben, das sie empfand.

Fabian war noch immer nicht da.

Es konnte doch nicht sein, dass eine Lehrerkonferenz am Abend so lange dauerte, da fasste man sich kurz, weil man nach Hause wollte. Ricky bekam es mit der Angst zu tun.

Fabian war hoffentlich nichts passiert. Sie wollte einen solchen Gedanken überhaupt nicht zu Ende bringen, denn es wäre unvorstellbar für sie, ohne ihn zu leben. Er war ihr alles, ihre zweite Hälfte, und sie bekam noch heute Herzklopfen, wenn sie intensiv an ihn dachte. Daran hatte sich nichts geändert, und das würde es auch nicht. Sie hatten sich gesehen, und da war es um sie geschehen.

Am liebsten hätte Ricky ihren Mann jetzt angerufen, aber Fabian hatte sein Handy immer ausgeschaltet, wenn er nicht gestört werden wollte.

Nach einer Weile versuchte sie es doch, weil sie immer unruhiger wurde.

Nichts!

Ricky versuchte sich abzulenken, doch was immer sie auch tat, es brachte nichts, weil sie einfach zu unruhig war und ihre Gedanken durcheinanderwirbelten wie aufgescheuchte Vögel.

Endlich hörte sie Geräusche, sie rannte zur Tür, Fabian kam zur Tür herein, Ricky fiel ihm um den Hals.

»Das ist vielleicht ein Empfang«, sagte Fabian und drückte seine Frau an sich.

»Endlich bist du da«, rief sie, »ich hatte solche Angst.« Er ließ sie los.

Doktor Fabian Rückert war ein Bild von einem Mann. Er war groß und schlank, hatte kurze Haare, tiefgründige, interessante Augen, und die randlose Brille passte zu seinem schmalen Gesicht.

»Wieso hattest du Angst, mein Liebling?«, erkundigte er sich ein wenig erstaunt. »Du wusstest doch, wo ich war.«

Sie nickte.

»Ja, aber eine Konferenz kann doch nicht so lange dauern«, sagte sie.

Er zog seine Jacke aus, hängte sie an die Garderobe, dann lachte er. »Du hast recht, und wir saßen eigentlich alle schon auf heißen Kohlen, weil wir nach Hause wollten. Aber unsere neue Kollegin Frau Doktor Klinger konnte kein Ende finden. Sie hatte immer noch etwas vorzubringen, und niemand von uns wollte sie gleich am Anfang stoppen. Du weißt doch, neue Besen kehren gut. Vielleicht wollte sie uns zeigen, was sie alles drauf hat, oder an dem Gymnasium, an dem sie vorher war, konnte man kein Ende finden und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Aber genug davon. Ich bin froh, endlich bei dir zu sein.«

Er legte einen Arm um ihre Schulter, gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo sie so lange auf ihn gewartet hatte. Endlich war ihr Fabian da.

Er erkundigte sich nach den Kindern, dann wollte er wissen, wie es bei ihren Eltern gewesen war, die sie heute kurz besucht hatte.

Das war jetzt nicht unbedingt das, worüber sie reden wollte. Aber da gab es auch noch etwas, was geklärt werden musste.

»Ach, Fabian, das ist eine unendliche Geschichte, Papa war nicht daheim, und Mama …, um die mache ich mir ernsthafte Sorgen. Die ist nicht wiederzuerkennen. Sie kommt einfach nicht damit klar, dass ihre Jüngste nichts mehr von ihr wissen will und dass sie jetzt in Australien ist.«

»Sie hat halt Schuldgefühle, weil sie ihr das mit der Adoption nicht erzählt haben, und damit muss sie aufhören. Es ist nun mal geschehen, kein Fluss fließt zurück.«

Ricky nickte.

Natürlich hatte Fabian recht, das war auch ihre Meinung.

»Mama hat an ihrem Leben nicht nur die Freude verloren, sondern sie lässt alles auch schleifen. Ich bin ja eigentlich in den Sonnenwinkel gefahren, um mit ihr über unser Haus zu sprechen. Seit die Köhlers nach Singapur gezogen sind, steht es leer, dabei gibt es viele Interessenten, und du weißt, wie begehrt der Sonnenwinkel ist.«

Er zuckte die Achseln.

»Ihr steht halt der Kopf nicht danach. Vielleicht sollten wir das Haus einem Makler geben. Das haben wir ja bislang nicht gemacht, weil deine Mutter sich unbedingt kümmern wollte.«

Ricky nickte.

»Das denke ich auch, und dann sollten wir ihm auch sagen, dass er sich nicht um eine Vermietung, sondern um einen Verkauf kümmern soll.«

Jetzt blickte Fabian Rückert seine Frau erstaunt an.

»Ricky, was sind das denn jetzt für neue Töne? Ich wollte es schon immer, weil nicht davon auszugehen ist, dass wir jemals wieder in den Sonnenwinkel ziehen werden. Aber du wolltest es nicht, weil du emotional so sehr an dem Haus hingst, in dem wir unser gemeinsames Leben begonnen haben.«

Wieder nickte sie.

»Ich hänge immer noch daran, aber das ist reine Sentimentalität. Wenn wir es verkaufen, sind wir frei davon, uns fällt bestimmt etwas ein, was wir mit dem Verkaufserlös machen können. Wir können uns beispielsweise ein Ferienhaus in der Bretagne kaufen. Dort hat es uns allen so gut gefallen, und wie du weißt, gibt es auf Quiberon wunderschöne Häuser.«

Er lachte.

So war sie, seine Ricky, spontan ohne Ende.

»Ricky, mein Liebes, wir waren dort in unsrem Wohnmobil dort und hatten unglaublich viel Spaß, und wir waren flexibel. Und so kann es durchaus noch zwei, drei Jahre sein. Dann sind die Kinder größer, und die wollen ganz gewiss ein wenig mehr von der Welt sehen als nur die Bretagne. Und wir haben wieder einen Klotz am Bein. Der Sonnenwinkel ist gerade mal um die Ecke, und wir haben uns nicht gekümmert. Ehrlich, ich finde, das ist keine gute Idee.«

Ricky seufzte.

Natürlich hatte Fabian recht, aber die Bretagne war halt so schön, so ursprünglich, und wenn sie an die Côte Sauvage dachte, wurde ihr Herz weit.

»Nein, es ist keine gute Idee. Aber man muss ja das Geld, das man bekommt, nicht sofort wieder ausgeben.«

»Kluge Frau«, sagte er, »doch einen Teil können wir beispielsweise dafür verwenden, die Hypothek dieses Hauses hier abzulösen, und euch wenn es kaum Zinsen gibt, kann es nicht schaden, etwas Geld auf der hohen Kante zu haben. Ich verdiene zwar nicht schlecht, aber die Kinder werden größer und damit auch die Ansprüche. Schon jetzt geben wir eine Menge für sie aus. Bei Sandra für Klavier- und Reitunterricht, Henrik lernt Klarinette und geht zum Judo, die Kleinen werden nachziehen. Irgendwann wollen sie alle den Führerschein machen. Kinder sind eine Herausforderung, und sie kosten viel Geld. Aber dennoch, ich möchte keines von ihnen missen.«

»Denkst du, vielleicht ich?«, rief sie. »Unsere Kinder sind unser schönstes Geschenk, und wir wollten jedes von ihnen, und das ganz bewusst. Ach weißt du, Fabian, wenn ich mal wieder ein wenig herumspinne, dann muss ich mir keine Sorgen machen, weil du mich immer wieder auf die Erde zurückholst.«

Er lachte.

»Nun ja, ich bin schließlich Lehrer, und manchmal bist du wie ein großes Kind, aber dafür liebe ich dich. Du hast so viel Sonne in mein Leben gebracht, und du gibst so viel Liebe. Ich mag überhaupt nicht daran denken, was ich ohne dich geworden wäre. Deine Liebe, deine Leichtigkeit sind so wunderbar.«

Ricky setzte sich neben ihn, lehnte sich vertrauensvoll an seine Schulter.

»Wir sind wirklich wie Pott und Deckel, und dafür müssen wir dankbar sein.«

Sie küssten sich, und das war nicht weniger leidenschaftlich als zu Anfang ihrer Liebe.

*

Ihr letzter Patient für diesen Vormittag war Carlo Heimberg. Roberta kannte den Architekten vor allem von den legendären Festen, die es immer oben auf dem Erlenhof gegeben hatte.

Das war anders geworden, als die Münster-Werke in eine finanzielle Schieflage geraten waren. Da hatte es aufgehört. Auch nachdem wieder alles in Ordnung war. Die Feste waren es nicht so sehr gewesen, die Roberta begeistert hatten, sondern mehr die Menschen. Und einer von ihnen war ohne Zweifel Carlo Heimberg.

Hier und da traf man sich auch noch, und wenn ihre Alma sie nicht so gut bekochen würde, wäre sie auch öfter im ›Seeblick‹, wo man sich jetzt traf.

»Herr Heimberg, hier bei mir in der Praxis habe ich Sie noch nie gesehen«, sagte Roberta, nachdem sie den Architekten begrüßt hatte.

Carlo lachte.

»Frau Doktor, ich schätze Sie sehr, vor allem die geistreichen Gespräche mit Ihnen. Und glauben Sie mir, ich würde Sie lieber anderswo treffen als hier. Meine Frau hat darauf bestanden.«

»Das war klug«, erwiderte Roberta. »Auch wenn einem nichts fehlt, sollte man wenigstens einmal im Jahr zum Arzt gehen, um seinen Gesundheitszustand kontrollieren zu lassen.«

»Mir fehlt nichts«, sagte er.

Roberta blickte ihn an. Er sah müde und blass aus.

»Das werden wir sehen.«

Mit dem Geplänkel war es vorbei. Roberta begann ihn zu untersuchen, zuerst das Übliche, den Blutdruck messen, dann hörte sie ihn ab.

Als das vorbei war, blickte sie ihn ernst an.

»Herr Heimberg, Ihr Blutdruck ist viel zu hoch, und es sind sowohl der systolische als auch der diastolische Wert, beide gehen weit über das Normmaß hinaus. Und Ihr Herz … Ich möchte gern ein Langzeit-EKG mit Ihnen machen, und das am liebsten sofort. Und morgen kommen Sie bitte nüchtern in die Praxis, damit wir ein großes Blutbild machen können.« Roberta war sehr ernst, und das beunruhigte ihn.

»Frau Doktor, mit mir ist doch ansonsten alles in Ordnung, oder?«, wollte er wissen.

Das konnte Roberta leider nicht bestätigen.

»Herr Heimberg, lassen Sie uns alle Ergebnisse abwarten. Aber Ihr Herz, das müssen Sie doch manchmal gespürt haben. Erhöhte Blutdruckwerte spürt man leider zunächst überhaupt nicht, leider sind das heimliche Killer. Aber das ist etwas, was man in den Griff bekommt.«

Carlo antwortete ihr lieber nicht. Das mit dem Herzen, das stimmte. Er hatte es gespürt, aber als Arbeitsüberlastung abgetan, und immer ging es ihm ja auch nicht schlecht. Und Blutdruck …, das konnte nicht sein. Er war schlank, bewegte sich viel, und Marianne und er aßen gesund, was nicht ausschloss, daß sie mal eine Pizza aßen oder Pommes. Aber das nicht oft.

»Ich will nicht anfangen, Tabletten zu essen«, sagte er sofort. »Diese Pillen sollen doch erhebliche Nebenwirkungen haben.«

Beinahe hätte Roberta angefangen zu lachen. Solche Worte hörte sie mehr als nur einmal, und das dann auch meistens von Männern.

»Lieber Herr Heimberg, jetzt regen Sie sich bitte nicht auf. Das erhöht nämlich auch den Blutdruck, und wenn es Sie beruhigt, zum Rezeptblock greife ich nicht so schnell. Gerade beim Blutdruck hat man die Möglichkeit, ihn auf andere Weise zu regulieren. Erst wenn das nicht funktioniert, verschreibt man Tabletten.«

Ihre Worte beruhigten ihn ein wenig, er sah sie gespannt an, und Roberta erzählte ihm, dass man einiges vermeiden musste und was schadete, und das war zu viel Fleisch, zu viel Gewicht, zu wenig Bewegung und negativer Stress.

»Und auch wenn scheinbar davon kaum etwas auf Sie zutrifft, Stress haben Sie auf jeden Fall, und wenn Sie unterwegs sind, wissen Sie nicht, wie viel Salz in dem Essen ist, und gerade in Ihrer Branche wird viel Alkohol getrunken. Und wenn man nur den Stress und den Alkohol und das Salz im Essen nimmt, kommt einiges zusammen. Sie glauben nicht, was ein bewusster Umgang mit Essen, Trinken und der richtigen Bewegung ausmacht.«

Sie blickte ihn an.

»Darüber unterhalten wir uns, wenn alles gründlich untersucht ist. Und ich schlage auch eine Langzeitblutdruckmessung vor, und wenn nötig, auch ein Langzeit-EKG, das habe ich Ihnen ja eingangs schon gesagt. Und wenn Sie damit einverstanden sind, dann machen wir gleich ein Belastungs-EKG.«

Viel Lust hatte er nicht, aber da er nun schon mal hier war.

»Meinetwegen«, sagte er. »Aber, Frau Doktor, was immer auch bei allem herauskommt. Bitte sagen Sie nichts meiner Frau. Ich möchte nicht, dass Marianne sich beunruhigt.«

»Herr Heimberg. Ich unterliege der äzrtlichen Schweigepflicht. Ich darf Ihrer Frau überhaupt nichts sagen. Aber Sie sollten offen und ehrlich mit ihr sein. Wenn sie nicht schon besorgt wäre, hätte sie nicht den Termin für Sie gemacht. Es ist also auf jeden Fall besser, ihr die Wahrheit zu erzählen, als sie im Ungewissen zu lassen. Sie haben eine so großartige Frau, die wird Sie in jeder Hinsicht unterstützen.«

Er nickte.

»Ja, sie ist wirklich etwas Besonderes, meine Marianne, und ich danke dem lieben Gott jeden Tag, dass ich sie habe. Und das soll noch lange so sein. Also, was soll ich jetzt tun? Wo ist das Fahrrad, auf das ich mich jetzt setzen soll, und mit wem mache ich den Termin für morgen, und dann das mit diesen Langzeit-Dingen für Herz und Blutdruck.«

Roberta klopfte ihm auf die Schulter.

»Gemach, gemach. Ich entlasse Sie jetzt in die Hände von Frau Hellenbrink. Die weiß, was zu tun ist. Wir sehen uns gleich noch mal kurz, um das Ergebnis des Belastungs-EKG’s zu besprechen, die weiteren Termine bekommen Sie von Frau Hellenbrink.«

Carlo Heimberg ging, der nächste Patient kam herein. Die Praxis lief immer besser, Roberta musste darüber nachdenken, eine weitere Spechstundenhilfe einzustellen. Ursel Hellenbrink hatte alles im Griff, aber sie kümmerte sich ja auch noch um die Auszubildende, die sie jetzt hatten. Leni Schrader machte sich recht gut, aber sie war erst am Anfang.

Der Patient, der jetzt vor ihr saß, wurde seinen Husten nicht los. Roberta hatte ihn gründlich untersucht, und zum Glück konnte sie eine Lungenkrankheit ausschließen.

»Herr Müller, Sie dürfen bei einem solchen Wetter nicht so leicht bekleidet herumlaufen, und wie wäre es damit, mit dem Rauchen aufzuhören?«

»Das kann ich nicht«, sagte er sofort, »ich habe es bestimmt schon tausendmal versucht.«

Roberta nahm kein Blatt vor den Mund.

»Herr Müller, das sind faule Ausreden. Es ist nicht so, dass Sie es nicht können, Sie wollen es nicht. Sie haben aus dem Nichts eine große Schreinerwerkstatt aufgebaut. Sie machen wunderschöne Möbel. Das haben Sie geschafft, mit sehr wenig Geld, aber mit viel Energie und dem Willen, es schaffen zu wollen. Das war eine großartige Aufgabe, und nun wollen Sie mir einreden, dass Sie nicht gegen diese Glimmstängel ankämpfen können?«

Er grinste.

»Frau Doktor, Sie können einem ganz schön einheizen. Also gut, ich kann es noch mal versuchen.«

Roberta winkte ab.

»Wenn Sie so anfangen, dann haben Sie gleich schon verloren. Sie sollen nichts versuchen, Sie müssen es wollen, genauso, wie Sie diesen Betrieb wollten. Das ging auch nicht ohne einen starken Willen.«

Er zögerte mit der Antwort.

Roberta war niemand, der anderen Leuten gern Angst machte, aber manchmal musste man die Keule nehmen. Und das war hier der Fall. Dieser Herr Müller war ein ausgesprochen netter Mann, und es war wirklich beachtenswert, was er in seinem Leben erreicht hatte.

Als sie ihn zum ersten Mal gesehen und sein Husten gehört hatte, hatte sie die schlimmsten Befürchtungen gehabt und sogar an ein Lungenkarzinom gedacht. Das hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Aber wenn er so weiterqualmte, könnte es dazu kommen. Er rauchte viel, da konnte er beteuern, was er wollte. Man musste sich nur seine braungefärbten Finger ansehen, seine Haut, und seine Sachen rochen alle nach Rauch.

»Herr Müller, wenn Sie es allein nicht schaffen, dann kann ich Ihnen auch die Adresse eines Kollegen aufschreiben, der ein Anti-Rauch-Programm anbietet.«

Das wollte er nicht.

»Herr Müller, Sie haben eine Frau und seit zwei Monaten einen kleinen Sohn. Unabhängig davon, dass es für ein Kind besser ist, in einer rauchfreien Zone aufzuwachsen«, sie blickte ihn ernst an, »möchten Sie nicht ein schönes Leben mit Ihrer Frau führen, und möchten Sie nicht Ihren Sohn aufwachsen sehen? Fragen Sie sich bitte mal, ob diese Zigaretten es wert sind, auf all dieses Glück zu verzichten. Und reden Sie sich jetzt bitte nicht ein, dass man von Zigaretten Krebs bekommen kann, dass es Sie aber nicht treffen muss. Sie sind schon geschädigt, werden den Husten nicht los. Und so zu denken ist wie Roulette, ich an Ihrer Stelle würde an mich, meine Frau, meinen Betrieb und auch an meine Angestellten denke, für die ich ja ebenfalls eine Verantwortung trage.«

Er sagte nichts.

Hatte sie sich zu weit vorgewagt? Er war immerhin ein erwachsener Mann, der sich von einer Ärztin, die nicht älter war als er selbst, nicht belehren lassen wollte.

Er griff in seine Jackentasche, holte eine Zigarettenschachtel daraus hervor, knallte sie ihr auf den Tisch.

Irritiert blickte Roberta von der Zigarettenschachtel zu ihm.

»Herr Müller, was soll das?«, wollte sie wissen. »Was soll ich damit?«

Er grinste.

»In den Papierkorb werfen. Sie haben gewonnen, und Sie haben ja auch recht. Und wenn ich jetzt nicht anfange, wann dann? Die Schachtel noch zu Ende rauchen zu wollen, das wäre der reinste Selbstbetrug.«

»Herr Müller, das finde ich toll«, sagte sie, griff nach der Schachtel und warf sie in ihren Papierkorb. »Ich unterstütze Sie, wo ich kann, aber gegen Ihre Halsbeschwerden und Ihren Husten gebe ich Ihnen jetzt die Probe eines neuen Präparats, das ein Pharmavertreter mir gestern dagelassen hat. Probieren Sie es aus, es soll Wunder wirken. Die darin enthaltenen Substanzen können auf jeden Fall nicht schaden.«

Roberta stand auf, holte aus ihrem Arzneischrank das neue Wundermittel, gab es ihm.

»Wenn es wirkt, werde ich es Ihnen gern verschreiben.«

Sie wechselte noch ein paar Worte mit ihrem Patienten, dann verabschiedete sie ihn und bedankte sich noch einmal für seine Einsicht.

Er lachte erneut.

»Sie können jemanden ganz schön überzeugen, Frau Doktor«, sagte er, »und das mit netten Worten. Meine Christie versucht es seit Jahren ohne Erfolg. Aber es stimmt ja, wenn man abwägt, dann kann es nur zu Gunsten meiner Frau und meine Sohnes ausgehen. Die meisten Zigaretten raucht man eh aus lauter Gewohnheit. Und Sie haben mich überzeugt, es ist eine Willenssache. Und einen starken Willen, den habe ich.«

Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann ging der Patient. Sich noch lange freuen, das konnte Roberta jetzt nicht, denn schon der nächste Patient stand im Raum, diesmal war es eine Frau …

Alma war mit ihrem Gospelchor nach Irland gefahren, und Roberta hatte sie davon abhalten können, für sie während dieser Zeit vorzukochen. Roberta freute sich darauf, zur Abwechslung mal in den ›Seeblick‹ zu gehen. Roberto Andoni, der neue Wirt, war mittlerweile voll etabliert, und sein Restaurant war immer gut besucht. Aber Roberta wusste, dass er immer ein Plätzchen für sie hatte, und das war gut zu wissen.

Roberta mochte Roberto sehr gern und auch seine junge blonde Frau Susanne. Ja, sie mochte sie wirklich, obwohl Susanne den Platz eingenommen hatte, an dem Roberta gern ihre Freundin Nicki gesehen hätte. Roberta und Nicki waren ein so schönes Paar gewesen, und sie liebten sich. Alles wäre gut gegangen, hätte Nicki sich nicht in den Kopf gesetzt, im Sonnenwinkel nicht leben zu können und an der Seite eines Gastwirts schon überhaupt nicht, der mitten in der Nacht aufstehen musste, um zum Großmarkt zu fahren.

Obwohl sie ihn liebte, hatte Nicki sich von ihm getrennt, und nun war sie mit einem Malcolm Hendersen zusammen, von dem Roberta, obwohl sie ihn nicht kannte, ein ungutes Gefühl hatte. Dabei sollte sie sich doch freuen, endlich war da ein Mann an Nickis Seite, der offensichtlich viel Geld hatte, der sie verwöhnte, beschenkte, im Privatflugzeug einfliegen ließ.

Nicki war davon überzeugt, dass Malcolm sie heiraten würde, den dicken Brillantring hatte sie ja schon mal. Doch Roberta fragte sich, warum während der Gelegenheit er ihr nicht, wie es in England und Amerika so üblich war, einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Nicki hatte unwirsch darauf reagiert, und Roberta hatte seither nichts mehr dazu gesagt. Nicki war erwachsen, sie musste wissen, was sie tat. Roberta hatte sich ja auch daran gehalten, ihr nichts über das Leben von Roberto zu erzählen. Sie hatte es einmal versucht, und da hatte Nicki so heftig darauf reagiert, dass Roberta, was Roberto anbelange, ebenfalls den Mund hielt, und so wusste Nicki auch nicht, dass er mittlerweile verheiratet war. Aber das würde Nicki vielleicht nicht interessieren, dieser Malcolm war derzeit der Mittelpunkt ihres Lebens. Roberta wünschte es ihr, aber sie war auch ein wenig traurig, dass Nicki sich kaum noch meldete, und wenn Roberta sie manchmal erreichte, wirkte sie gehetzt und abgelenkt, weil es halt nicht so einfach war, sein Leben in Deutschland mit den Besuchen ihres Freundes in England unter einen Hut zu bringen.

Komisch war ja schon, dass sie sich immer in Hotels trafen und nicht in seinem Haus, das bestimmt ganz prachtvoll sein musste, denn wer ein Privatflugzeug besaß, die teuersten Autos, der sparte bestimmt nicht an seinem Haus. Und nach Deutschland war Malcolm auch noch nicht gekommen. Interessierte es ihn so gar nicht, wie seine Freundin lebte?

Roberta hatte den ›Seeblick‹ erreicht, trat ein. Auch heute war wieder beinahe jeder Tisch besetzt. Aber Roberto hatte aus dem ›Seeblick‹ auch wirklich etwas gemacht. Und das genossen die Gäste. Hinzu kam, dass das Essen, das er servierte, sterneverdächtig war.

Roberta hatte kaum einen Schritt in den Gastraum getan, als auch schon Susanne auf sie zugeschossen kam. Sie hatte ihre blonden Haare hochgesteckt, trug einen schönen Rock, der ihr bis zur Wade ging, und eine Bluse mit sehr schönen Knöpfen. Sie sah schön und adrett aus, und so liebten die Gäste die freundliche Frau des Besitzers des Seeblicks.

Seit Susanne mit Roberto verheiratet war, schien sie noch schöner geworden zu sein. Sie sah sehr glücklich und ausgeglichen aus.

»Frau Doktor Steinfeld, wie schön, dass Sie uns mal wieder besuchen«, wurde sie von Susanne herzlich begrüßt und auch gleich zu einem sehr netten kleinen Tisch geführt, von dem man aus einen Großteils des Restaurants überblicken konnte, und wenn es hell war, dann konnte man auf den Sternsee blicken, der unterhalb des Seeblicks zu sehen war. Das war ein grandioser Ausblick, und der Seeblick trug seinen Namen nicht umsonst. Der Blick auf den See war atemberaubend, und im Sommer kamen auch viele Ausflügler her, Leute mit Fahrrädern, die sich auf die Terrasse setzten, um den Blick zu genießen, und nicht nur das, dann wurden tagsüber auch kleine Köstlichkeiten serviert, die nicht viel teurer waren als Pommes mit Majo und Currywurst.

»Ich habe frei, meine Haushälterin ist mit ihrem Gospelchor nach Irland gefahren, und ich nutze die Zeit, mich hier bei Ihnen verwöhnen zu lassen.«

Das freute Susanne sehr, sie fand die Ärztin großartig, und sie rechnete es ihr hoch an, dass sie sich ihr gegenüber so nett verhielt. Immerhin war die allerbeste Freundin von ihr ihre Vorgängerin gewesen.

Susanne wollte ihr die Speisekarte bringen, doch Roberta winkte ab.

»Ich glaube, ich weiß schon, was ich haben möchte. Ich hätte Lust auf eine Pasta, und da möchte ich mich auch nicht festlegen, sondern lasse mich überraschen.«

Susanne nickte, versprach, es an die Küche weiterzugeben.

Roberta wollte gerade ein Glas Rotwein bestellen und ein Mineralwasser, als sie sich erkundigte: »Oder gibt es etwas Besonderes, was Sie mir heute anbieten können?«

Susanne nickte.

»Mein Mann hat heute Morgen vom Großmarkt ganz frische Seezunge mitgebracht, die servieren wir mit …«

Roberta winkte ab.

»Ich nehme die Seezunge, die habe ich schon lange nicht gegessen, und verraten Sie mir bitte nicht die Beilagen, da lasse ich mich überraschen, die sind bei Ihnen immer ganz köstlich.«

Susanne freute sich, und Roberta bestellte statt des Rotweins nun einen Weißwein und das Mineralwasser.

Welch ein Glück, dass sie sich erkundigt hatte. Auf eine Seezunge hatte sie jetzt richtig Lust, auch wenn die Pasta im Seeblick köstlich war. Aber die konnte sie auch morgen Abend essen.

Susanne Andoni war gerade weg, als Roberto zu ihr an den Tisch kam, um sie zu begrüßen. Zum Glück hatte die Trennung von ihm und Nicki das gute Einvernehmen zwischen ihnen nicht getrübt.

Er setzte sich mit zwei Champagnergläsern an ihren Tisch.

»Roberta, stoßen Sie bitte mit mir auf ein ganz großartiges Ereignis an?«

Er war aufgeregt, und Roberta dachte, dass er nun doch die Erlaubnis der Denkmalsschutzbehörde bekommen hatte, um die er, seit er den Seeblick gekauft hatte, kämpfte.

»Gern«, sagte sie, »aber wenn es etwas zu feiern gibt, sollte Ihre Frau dann nicht dabei sein?«

»Das geht nicht«, sagte er, und das klang ein wenig geheimnisvoll.

Roberta blickte ihn ein wenig irritiert an, das merkte er, deswegen fügte er hinzu: »Susanne ist schwanger, und da darf sie natürlich keinen Alkohol trinken …, ach, Roberta, sie macht mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Ich werde eine Familie haben, nun können die Schatten der Vergangenheit alle weichen.«

Roberta gratulierte ihm, sie freute sich wirklich für ihn und Susanne. Und ehe sie ihn fragen konnte, sagte er: »Wir haben es uns gewünscht, aber nicht damit gerechnet, dass es so schnell klappen würde. Auch das gibt eine Veränderung. Susanne kann sich dann nicht mehr um die Gastronomie kümmern, das Kind hat Vorrang. Aber hier im Restaurant mitzuarbeiten, das war ihre eigene Entscheidung. Das hätte sie nie gemusst. Dann wird eben Personal eingestellt.«

Und Nicki hatte daraus einen Film gedreht, hatte alles abgelehnt. Dabei hätte sie im Haus, das groß genug war, ohne Weiteres ihrer Arbeit als Dolmetscherin und Übersetzerin nachgehen können. Nicki hatte sich durch ihre Voreingenommenheit um alles gebracht. Hoffentlich würde sie das niemals bereuen!

Roberta hob ihr Glas.

»Dann trinken wir auf Sie, auf Ihre Frau und vor allem auf Ihr Baby«, sagte sie.

Hell klangen die Gläser aneinander.

Susanne kam mit dem Weißwein und dem Mineralwasser und strahlte über das ganze Gesicht.

»Roberto hat es Ihnen erzählt, Frau Doktor, nicht wahr. Ist es nicht großartig?«

Dem stimmte Roberta zu und gratulierte auch ihr.

»Kinder sind etwas ganz Wunderbares, und hier oben aufzuwachsen garantiert eine schöne Kindheit.«

Susanne nickte heftig.

»Mein Leben hier mit Roberto und bald mit einem Kind, das ist ein Traum. Manchmal würde ich mich gern in den Arm kneifen, um mich davon zu überzeugen, dass alles wunderbare Wirklichkeit ist.«

Roberto und Susanne tauschten Blicke miteinander, die viel von dem verrieten, was sie füreinander empfanden.

Susanne wurde abgerufen, und auch Roberto hatte sich um andere Gäste, vor allem darum zu kümmern, dass es in der Küche rund lief.

Susanne unterhielt sich mit zwei Gästen einige Tische weiter, sie lachten miteinander. Ja, sie war wirklich eine sehr patente Frau.

Und Roberto verschwand, nachdem er hier und da ein paar freundliche Worte mit den Gästen gewechselt hatte, in seiner Küche.

Der Seeblick war zu neuem Leben erwacht. Alles war so ganz anders als früher. Das kannte Roberta ja auch noch.

Hier und da sah sie Patienten von sich. Man wechselte ein paar Worte miteinander, und als Magnus und Teresa von Roth das Restaurant betraten, wechselte Roberta sogar den Tisch. Die von Roths hatten sie gebeten, sich zu ihnen zu setzen, und das tat Roberta von Herzen gern.

Sie würde niemals vergessen, dass diese beiden es gewesen waren, die zuerst ihre Praxis betreten hatten, ohne dass ihnen etwas fehlte. Sie hatten Roberta aufmuntern wollen, weil niemand bei ihrer Eröffnung gekommen war, und sie voller Selbstzweifel gewesen war, ob es richtig gewesen war, die Praxis von ihrem alten Studienfreund Enno Riedel zu übernehmen, der nach Amerika gegangen war.

Am liebsten hätte Roberta jetzt angefangen zu lachen. Wie lange lag das nun alles zurück, und was war nicht alles passiert. Die Praxis brummte, sie war beliebt und anerkannt, sie hatte sich integriert, und sie war glücklich. Jetzt war sie es wieder, nachdem sie ihre unglückliche Liebe zu dem Aussteiger Kay Hall überwunden hatte. Es war unglaublich schön gewesen, beinahe magisch. Aber vielleicht lag das auch daran, dass sie keinen zermürbenden Alltag miteinander hatten.

Kay, der etablierte Aussteiger, und sie, die etablierte Ärztin, die sich nicht vorstellen konnte, ihren geliebten Beruf aufzugeben.

Sie war mit Kay auf Wolke Sieben gewesen, und den Abstieg hatte sie selbst vorgenommen, weil es zwischen einfach keine Gemeinsamkeiten gab. Ihre Lebensziele waren zu unterschiedlich. Kay hatte den Sonnenwinkel verlassen, und sie war von Schuldgefühlen niedergedrückt gewesen, weil sie sich Vorwürfe gemacht hatte, dieser Liebe keine Chance gegeben zu haben. Ihr Verstand hatte gesiegt, und letztlich war das auch gut so. Partnerschaften fanden schließlich auf Erden statt, und das war leider nicht immer magisch.

Komisch, dass sie gerade jetzt an Kay denken musste.

Sie wollte das, was sie mit ihm erlebt hatte, nicht missen. Durch ihn hatte sie nach ihrer unerfreulichen Scheidung von ihrem Exmann Max das Lachen wieder gelernt, und an seiner Seite hatte sie die Leichtigkeit des Seins verspürt, wie sie es noch nie zuvor gehabt hatte, auch nicht in ihren scheinbar glücklichen Zeiten.

»Frau Doktor, wie kommt es, dass Sie heute hier sind«, erkundigte Magnus von Roth sich lachend. »Haben Sie heute frei bekommen? Auswärts zu essen geht doch gegen die Ehre Ihrer Frau Hermann. Oder haben Sie etwas ausgefressen, und Ihre Alma streikt ganz einfach.«

Roberta stimmte in das Lachen ein, die von Roths waren herrlich, es versprach ein unterhaltsamer Abend zu werden.

»Nichts von allem«, sagte sie, und dann erzählte sie von Almas Reise nach Irland.

»Der Sonnenwinkel macht sich, kaum zu glauben, dass wir sogar einen Gospelchor haben, der so gut ist, dass er aus dem Ausland eingeladen wird.«

»Ich habe mal einen Auftritt in Hohenborn mitbekommen, und da war ich begeistert. Es ist ja so, dass man Provinz sofort mit provinziell gleichsetzt. Und das ist nicht so. Hier siedeln sich die verschiedensten Leute aus den verschiedensten Gründen an.«

»Das sieht man an Ihnen, Frau Doktor«, warf Teresa von Roth ein. »Welch ein Glück, dass Sie sich entschieden haben, sich hier niederzulassen. Etwas Besseres hätte uns nicht passieren können. Der Doktor Riedel war ein guter Arzt, aber ich muss sagen, gegen Sie, da war er nichts. Und das ist jetzt kein fishing for compliments.«

»Danke, Frau von Roth«, sagte Roberta artig. »Aber hier wohnen auch nette Leute, und ich werde übrigens nie vergessen, wie Sie als Erste zu mir kamen, um mir Mut zu machen.«

Magnus von Roth winkte ab.

»Nicht der Rede wert. Auf jeden Fall ist es schön, dass Sie unsere Ärztin sind, und jetzt ist es schön, dass wir gemeinsam miteinander essen. Was gibt es denn heute Schönes? Was essen Sie denn?«

Roberta sagte es ihnen, und da stand deren Entscheidung auch fest. Sie entschieden sich ebenfalls für die Seezunge.

»Da haben Sie Glück«, sagte Susanne Andoni lachend, »es gibt genau noch zwei Portionen, dann ist die Seezunge aus.«

Magnus zwinkerte seiner Frau zu.

»Da hast du aber Glück, mein Schatz«, rief er launig.

»Und wieso?«, wollte sie wissen.

Sein Lachen verstärkte sich.

»Weil du dann etwas anderes hättest essen müssen. Für nichts auf der Welt hätte ich auf die Seezunge verzichtet, auch für dich nicht.«

Susanne entfernte sich, um in der Küche die Bestellung aufzugeben, und das muntere Geplänkel zwischen Teresa und Magnus von Roth ging weiter.

Diese beiden konnten für jedes Paar auf der ganzen Welt ein großes Vorbild sein. Es war zu spüren, wie fest sie miteinander verwurzelt waren, wie zwei große, starke Bäume, die allen Unwettern trotzten. Und irgendwie hatten sie das auch miteinander getan. Miteinander!

Und das war es wohl, wenn Roberta an sich und ihren Exmann dachte, da hatte es eine sehr große Ungleichheit gegeben. Sie war die Gebende gewesen, und er hatte egoistisch genommen und seine Bedürfnisse erfüllt. Und dann hatte er sie auch noch schamlos betrogen mit jeder Frau, die bei Drei nicht auf den Bäumen gewesen war. Und ganz schlimm war, dass er nicht einmal vor Patientinnen oder Angestellten Halt gemacht hatte.

Schluss …

Es war vorbei, sie wollte nicht mehr an Max und an das Leben mit ihm, wohl eher neben ihm, denken. Manchmal sagte sie sich, dass diese Frau, die das alles mitgemacht hatte, unmöglich sie gewesen sein konnte.

Susanne servierte ihnen drei Teller mit liebevoll angerichteten und köstlich aussehenden Vorspeisen.

»Ein kleiner Gruß aus der Küche«, sagte Susanne. »Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«

Sie entfernte sich, und die von Roths und Roberta machten sich über die Vorspeisen her.

»Köstlich«, sagte Teresa von Roth. »Die beiden machen es richtig, mit dieser netten Geste machen sie Pluspunkte, und wie sagt man so schön, mit Speck fängt man Mäuse? Man fühlt sich als ein besonderer Gast, kommt deswegen sehr gern wieder, und …«

Magnus von Roth unterbrach seine Frau.

»Welch ein Glück, dass die Vorspeise kalt ist, sonst wäre sie es jetzt geworden, weil du überhaupt nicht aufhörst zu reden«, lachte er.

»Ich finde richtig, was Ihre Frau sagt, Herr von Roth«, pflichtete Roberta Teresa bei.

»Na klar«, schmunzelte er, »das wundert mich überhaupt nicht. Frauen müssen doch immer zusammenhalten.«

Es war wirklich ein Glück, dass die Vorspeisen kalt waren, denn nun hatten sie das nächste Thema …

*

Nachdem sie sich nun beide einig waren, ihr Haus im Sonnenwinkel zu verkaufen, zögerten sie nicht mehr, sondern beauftragten einen Makler, dem Ricky das Haus zeigte, und der hell begeistert war und vollmundig versprach, es innerhalb einer Woche zu verkaufen.

»So etwas findet man nicht so schnell wieder«, sagte er begeistert. »Und das in dieser Lage. Sie haben es auf jeden Fall richtig gemacht, das hier zu erwerben, als der Sonnenwinkel noch nicht bekannt war und die Grundstücks- und Hauspreise niedrig waren. Ich sag immer wieder, es kommt nur auf eines an, und das ist Lage, Lage, Lage.«

Der Mann redete viel, aber das taten die Makler wohl alle. Er war ihnen empfohlen worden, und darauf wollten Fabian und sie sich erst einmal verlassen. Man konnte jedem Menschen nur vor den Kopf gucken.

Sie entschuldigte sich, denn sonst wäre es noch stundenlang weitergegangen, und schließlich war alles gesagt.

Er würde sich melden, und da Ricky ihm einen Schlüssel gegeben hatte, konnte er die Besichtigung allein mit den Interessenten durchführen. Er würde sich erst melden, wenn ernsthaftes Kaufinteresse bei jemandem vorlag.

»Man wird sich um das Objekt reißen«, versicherte er noch einmal. »Bei den niedrigen Zinsen ist es ja auch richtig, zuzugreifen. Was soll man sonst mit dem Geld machen? Ich sage immer, es ist dumm, Häuser zu verkaufen. Alles ist beliebig vermehrbar, aber Grund und Boden nicht, und …«

Er brach seinen Satz ab, blickte auf einmal völlig verunsichert Ricky an. Jetzt hatte er sich wohl selbst in der Kurve überholt. Es war nicht klug gewesen, einem Verkäufer solche Sätze zu sagen, die er normalerweise aus der Schublade holte, wenn er sich mit Käufern unterhielt.

»Ja, ich, nun …, wir bleiben in Verbindung, Frau Rückert«, sagte er, dann hatte er es eilig, davonzukommen.

Ricky sah ihm nach, wie er zu seinem Auto lief, ja beinahe rannte, einem großen, ganz gewiss teuren Luxusschlitten. Er hatte sie verunsichert.

Das mit dem Grund und Boden stimmte.

Vielleicht war es ja doch keine so gute Idee, das Haus zu verkaufen, sondern es weiterhin zu vermieten. Bislang hatten sie mit der Vermietung doch Glück gehabt.

Ricky beschloss, noch einmal in aller Ruhe einen Rundgang durch das Haus zu machen, in dem sie mit Fabian so glücklich gewesen war.

Das Haus war schön, es war sogar sehr schön. Und ja, es stimmte. Die Lage war bestechend. Aber wenn sie ehrlich war, dann wohnten sie jetzt schöner, das Haus und das Grundstück waren größer, sie wohnten in der Stadt, was viele Vorteile hatte.

Sie rief Fabian an, der gerade Pause hatte, und er meldete sich sofort.

»Und, was sagt der Makler?«, erkundigte er sich.

»Er ist sich sehr sicher, das Haus binnen einer Woche verkaufen zu können.«

»Das ist doch gut, warum bist du so …, ich weiß nicht, nicht gut drauf, vielleicht?«

Ricky erzählte es ihm.

»Das heißt, dass du jetzt doch lieber vermieten möchtest?«, fragte er.

»Nein, ich …, ehrlich, er hat mich verunsichert«, sagte sie, »und ich will eigentlich nur deine Meinung hören.«

»Aber Liebes, die kennst du doch. Verkaufen! Du musst dich doch nicht von einem Makler verunsichern lassen. Diese Weisheit ist übrigens nicht auf seinem Mist gewachsen, das weiß jeder. Deswegen muss man sich nicht mit Häusern, Wohnungen und Grundstücken zupappen. Der Erlös des Hauses im Sonnenwinkel lässt uns schuldenfrei werden, und mit dem übrig gebliebenen Geld können wir auch etwas anfangen. Aber wenn du unsicher bist, dann lass uns um Himmels willen nur vermieten. Wir müssen nicht verkaufen.«

Es stimmte, und jetzt war Ricky eigentlich auch wieder beruhigt.

»Wir verkaufen«, sagte sie, »so, wie besprochen. Und ich mache jetzt noch einen kurzen Abstecher zu meinen Eltern, und dann fahre ich direkt zur Uni. Oma Holper ist da, du musst nur noch die Hausaufgaben unserer kleinen Lieblinge durchsehen. «

Fabian versprach es, und Ricky wusste, dass auf ihn Verlass war, und die Oma Holper, die war in Gold nicht aufzuwiegen. Es war eine verwitwete, alleinstehende Nachbarin, die ihre Nachbarskinder liebte, wie man eigene Kinder nicht mehr lieben konnte, die ihr leider verwehrt geblieben waren. Ihre lieben Gören nannten sie nicht umsonst Oma Holper, sie war wie eine Oma.

»Tut mir leid, dass ich für einen Moment verunsichert war. Aber jetzt ist wieder alles okay. Entschuldige bitte die Störung.«

»Du störst nie, und ich möchte, dass in dir nicht der allerkleinste Zweifel bleibt. Wenn du den hast, dann sagen wir dem Makler ab. Das Haus steht jetzt schon eine ganze Weile leer, weil deine Mutter nicht in die Puschen kam. Auf einen Tag, eine Woche oder einen Monat mehr kommt es wahrhaftig jetzt nicht an.«

Ricky war überwältigt!

So war ihr Fabian, ihr Mann. Am liebsten hätte sie ihn jetzt umarmt, doch weil das nicht möglich war, sagte sie: »Du weißt überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe.«

Er antwortete nicht sofort, doch dann sagte er ganz ernsthaft: »Doch, ich weiß es, und dafür danke ich dem Schicksal jeden Tag aufs Neue. Durch dich hat mein Leben einen Sinn bekommen.«

Ricky hörte, wie jemand in sein Zimmer kam, er musste sich schnell verabschieden, und sie blieb überwältigt zurück.

Die Sonne schien in das große Wohnzimmer, und das war ein gutes, nein, es war ein fantastisches Zeichen!

Ricky steckte ihr Handy weg, dann verließ sie das Haus. Fabian sagte immer, dass alles seine Zeit hatte. Es stimmte, hier lebten nur noch schöne Erinnerungen.

*

Ricky erschrak, als sie ihre Mutter sah, sie war blass, übermüdet, abgemagert. Was war nur aus ihr geworden?

Normalerweise freute Inge Auerbach sich immer, wenn eines ihrer Kinder vorbeikam und war dann so richtig überschwänglich.

Jetzt brachte sie gerade einmal ein müdes: »Schön, dass du da bist, Kind«, hervor.

»Ich kann nicht lange bleiben, gerade mal auf einen Kaffee, denn ich muss noch zur Uni.«

»Und weswegen bist du gekommen, wenn du nicht mehr als für einen Kaffee Zeit hast?«

»Weil ich mich mit einem Makler getroffen habe, der unser Haus verkaufen soll.«

Sofort bekam Inge ein schlechtes Gewissen.

Das Haus!

Das hatte sie vollkommen vergessen, dabei hatte sie sich doch beinahe aufgedrängt, sich darum zu kümmern. Bei ihr war wirklich alles aus dem Ruder gelaufen.

»Wieso verkaufen?«, erkundigte sie sich alarmiert. »Es sollte doch wieder vermietet werden.«

Ricky nickte.

»Das stimmt, Mama«, sie machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, weil es nicht so aussah, als würde ihre Mutter die Energie dazu aufbringen, einen Kaffee zu kochen, und sie musste wirklich weg. »Und vielleicht ist es ganz gut so, dass eine Vermietung noch nicht erfolgt ist. Fabian und ich haben uns entschlossen, zu verkaufen. Wir werden niemals mehr in den Sonnenwinkel zurückkehren, wir lösen die Hypotheken von unserem Haus ab, und das wird dann schuldenfrei sein. Und ich muss dir nicht sagen, was Kinder kosten. Das weißt du aus eigener Erfahrung. Unsere Kinder sollen alle Möglichkeiten haben, ihren Neigungen nachzugehen, und Bildung, Wissen und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist mehr wert als alles Geld auf der Welt.«

Inge schaute ihre Tochter unsicher an.

»Und es ist nicht, weil ich die Vermietung vergessen habe, und nun seid ihr sauer und macht Nägel mit Köpfen.«

Ricky schüttelte den Kopf.

»Nein, Mama, wir sind nicht sauer. Aber unabhängig von dem Haus musst du dich von deinen Schuldgefühlen befreien. Du musst loslassen. Rückgängig machen lässt sich überhaupt nichts. Papa und du, ihr habt einen Fehler gemacht, Pam nicht zu sagen, dass sie adoptiert ist, und …«

Inge unterbrach ihre Tochter.

»Jetzt sagst du zu ihr auch schon Pam«, klagte sie. Was sollte das denn jetzt?

»Mama, sie heißt Pamela, will Pam genannt werden. Das ist eine schöne, moderne Abkürzung des Namens. Sie hätte, auch wenn es nicht so gekommen wäre, nicht auf ewig Bambi bleiben können. Das ist niedlich für ein kleines Mädchen, für eine Erwachsene ist es nur peinlich, so genannt zu werden.«

Der Kaffee war fertig, Ricky stellte die Tassen auf den Tisch, dazu Milch und Kaffeesahne, dann holte sie den Kaffee und schenkte ein.

Ricky war ernsthaft besorgt. Dieser Zwischenfall hatte sie vollkommen verändert. Sie war wirklich nicht mehr sie selbst.

»Wo ist Papa?«, erkundigte sie sich.

Inge zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, er hat es zwar gesagt, doch ich habe es vergessen. Er kommt auf jeden Fall heute Abend wieder nach Hause …, glaube ich.«

Ricky hatte jetzt keine Angst, ihre Mutter könnte geistig verwirrt sein. Doch ihr Zustand verriet ihr, wie es um sie bestellt war.

»Mama, ich will jetzt nicht lehrerhaft wirken, was du mir ja manchmal vorwirfst, aber du solltest dir professionelle Hilfe holen. Allein kommst du aus diesem Loch nicht mehr heraus. Dafür hast du dich viel zu tief darin verstrickt.«

Inge wusste, dass Ricky es nur gut meinte. Aber sie befand sich in einer Verfassung, in der sie eine Fliege an der Wand störte.

»Willst du damit sagen, dass ich verrückt bin, Ricky?«, blaffte Inge Auerbach ihre Tochter an.

Ricky behielt die Nerven, normalerweise wäre es jetzt nur so aus ihr herausgeplatzt. Doch sie hatte von Fabian gelernt, sich nicht provozieren und auch nicht in ausweglose Situationen bringen zu lassen und sich nicht sinnlos zu ereifern.

Ricky blieb ganz ruhig!

»Mama, davon spricht keiner. Und das weißt du auch. Ich möchte es deswegen jetzt auch nicht diskutieren. Wenn du dir keine professionelle Hilfe suchen möchtest, was in Amerika übrigens so selbstverständlich ist wie ein Zahnarztbesuch, dann gehe wenigstens zu Frau Doktor Steinfeld. Die kann dir etwas verschreiben, was dich zur Ruhe kommen lässt. Du kennst sie, du vertraust ihr, und Frau Doktor Steinfeld ist in die ganze Geschichte involviert. Sie hat Pamela schließlich nachts aufgegriffen, und bei ihr war sie, bis sie mit unserem Hannes nach Australien gefahren ist.«

Inge sagte nichts, aber Ricky ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen. Sie kannte ihre Mutter, wusste, wie sie normalerweise drauf war. Es war ganz schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sie sich selbst zerfleischte.

Ricky begann von ihren Kindern zu erzählen. Sie wusste, wie sehr ihre Mutter ihre Enkel mochte. Sie wollte sie einfach von ihren trüben Gedanken ein wenig ablenken, und das gelang ihr sogar ein bisschen. Inge musste sogar lachen, als Ricky ihr erzählte, was sie alles so angestellt hatten.

»Und wenn du wieder besser drauf bist, dann bringen wir euch die Kinder zu einem Wochenendbesuch vorbei.«

Sofort bekam Inge Auerbach glänzende Augen, weil sie ihre Enkelkinder über alles liebte.

»Aber dem steht doch überhaupt nichts im Wege. Ich bin schließlich nicht krank.«

»Mama, so wie du jetzt drauf bist, kannst du unsere Lieben nicht bändigen«, sagte Ricky sofort.

Sie trank schnell ihren Kaffee aus, ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass sie wirklich schon sehr spät dran war.

»Lass uns telefonieren, Mama. Ich muss jetzt los, laufe aber rasch noch einmal ganz kurz nach nebenan und sage den Großeltern Hallo.«

Es wäre für Ricky undenkbar, in den Sonnenwinkel zu kommen und nicht wenigstens kurz bei ihren Großeltern vorbeizuschauen. Ricky hatte ein ganz besonders herzliches Verhältnis zu ihnen, und sie würde nie vergessen, wie sehr sie ihre Wünsche unterstützt hatten, als sie sich entschlossen hatte, zu studieren. Sie hatten ihr sogar ein kleines Auto gekauft, damit sie unabhängig war.

»Das kannst du dir heute sparen, Ricky«, sagte Inge, »sie sind mit Luna zum Tierarzt gefahren.«

Erschrocken erkundigte Ricky sich: »Was fehlt ihr denn, unserer kleinen Prinzessin?«

Diese Frage erheiterte Inge. Jetzt musste sie wirklich lachen, denn mit dem Wort Prinzessin hatte ihre Tochter den Nagel auf den Kopf getroffen.

Sie winkte ab.

»Ach, es ist nichts Schlimmes. Luna hat sich etwas in die vordere linke Pfote getreten, aber sie humpelt, als hätte man ihr das halbe Bein amputiert. Sie ist eine kleine Staatsschauspielerin und weiß, wie sie sich in Szene setzen kann, und sie ist dreimal chemisch gereinigt, wenn es darum geht, den einen gegen den anderen auszuspielen, wenn sie etwas erreichen möchte.«

Ricky stimmte in das Lachen ihrer Mutter ein, weil sie sich das so richtig vorstellen konnte. Sie war auch ganz vernarrt in die kleine, weiße Labradordame, die die Herzen aller im Sturm erobert hatte.

»Ganz speziell, wenn es um Leckerli geht«, bemerkte sie. »Aber kannst du dich erinnern, Mama? In dieser Hinsicht war Jonny ebenfalls ein Weltmeister.«

Das stimmte.

Ricky umarmte ihre Mutter.

»Jetzt hast du wenigstens einmal gelacht, Mama«, sagte sie. »Kopf hoch, es wird schon wieder, und wegen des Hauses mach dir bitte keine Sorgen. Es ist alles gut, Fabian und ich sind uns da einig.«

Sie winkte ihrer Mutter zu, lief davon, Inge hatte große Mühe, ihrer Tochter zu folgen.

Sie bekam gerade noch mit, wie Ricky sich in ihr Auto setzte und davonbrauste.

Sie war immer auf der Überholspur, ihre Große, aber so war sie schon immer gewesen. Aber eines musste man ihr lassen, es war ganz großartig, wie sie alles unter einen Hut brachte – Mann, Kinder, gesellschaftliche Verpflichtungen und jetzt das anspruchsvolle Studium.

Gut, Ricky war viele Jahre jünger als sie. Aber Inge glaubte nicht, dass sie das früher so gewuppt hätte wie ihre Tochter es tat.

Sie war halt anders, die Ricky. Aber in einem hatte sie natürlich recht, sie durfte sich wirklich nicht so gehen lassen. Sie musste sich von ihren Schuldgefühlen befreien, die ihr den Schlaf raubten, sie antriebslos machten. Und was das Schlimmste daran war: Sie und Werner durften sich nicht mehr so zerfleischen. Sie änderten an nichts etwas. War es denn nicht besser, sich zusammenzusetzen und zu beratschlagen, was sie unternehmen konnten, damit ihre Jüngste ihnen verzieh, weil man ihr vorenthalten hatte, dass sie adoptiert war?

Und Ricky hatte in einem ebenfalls recht, wenn sie schon keine professionelle Hilfe haben wollte, sollte sie wenigstens zu Frau Doktor Steinfeld gehen.

Sie seufzte.

Ja, es war wirklich ganz schlimm, wenn einem das eigene Leben ganz gehörig um die Ohren flog. Sie waren einfach zu sicher gewesen, dass ihre heile Welt auf ewig eine bleiben würde …

Sie würde mit ihren Eltern reden. Sie wollte, dass Luna wieder zu ihr und Werner kam. Durch Luna wurden sie abgelenkt, und der kleine Hund war schließlich das Verbindungsglied zwischen ihnen und Bambi, nein, in Gottes Namen, Luna war das Verbindungsglied zu Pam.

*

Sandra Münster lief die wenigen Meter hinüber zum Herrenhaus. Die Kinder waren in der Schule, und Felix war längst in seiner Firma, nachdem sie sich liebevoll voneinander verabschiedet hatten. Es war beinahe so wie am Anfang ihrer Beziehung, wie in den Werbewochen, wie man so schön sagte, und sie konnten beide nicht mehr begreifen, dass es bei ihnen zu diesem unschönen Streit gekommen war. Sie hatte ihm vorgeworfen, eine Affäre zu haben, und er hatte sich verletzt zurückgezogen, weil er nicht fassen konnte, dass Sandra so etwas von ihm dachte.

Schwamm darüber …

Sie waren wieder glücklich, so glücklich, als habe es diesen Streit nie gegeben.

Es war schön, dass sie so dicht beieinander wohnten, und es war eine liebe Gewohnheit geworden, zusammen noch einen Kaffee oder Tee zu trinken, wenn in beiden Häusern ›reine Luft‹ war, wenn die Frauen allein waren.

Es war wirklich schön, aber einen Nachteil hatte es auch, wenn man so dicht beieinander war, bekam man auch eine ganze Menge mit, und ihre Mutter neigte leider manchmal dazu, sie so zu behandeln, als sei sie noch ein kleines Mädchen, das dringend die mütterlichen Ratschläge brauchte.

Das nervte manchmal ganz schön, aber man konnte darüber hinwegsehen, weil sonst alles stimmte, beinahe perfekt war.

Ihre Mutter sprach mit Fanny, die gerade abräumte, als Marianne von Rieding ihre Tochter bemerkte, sagte sie: »Warten Sie, Fanny«, und zu ihrer Tochter gewandt, »möchtest du etwas trinken, Sandra?«

Mochte sie heute nicht, damit war Fanny entlassen, entfernte sich.

Marianne von Rieding trug eine braune, sehr gut geschnittene Hose, die ihre schlanke Figur betonte, dazu ein camel­farbenes Twinset aus feinster Cashmerewolle, und sie trug eine schimmernde Perlenkette, die Carlo ihr einmal geschenkt hatte, sonst, außer Armbanduhr und Ehering keinen Schmuck.

Marianne von Rieding war eine gepflegte, aristokratische Erscheinung, Sandra war stolz auf ihre Mutter. Heute allerdings wirkte sie ein wenig blass und sah besorgt aus.

Sandra setzte sich, dann erkundigte sie sich: »Mama, was ist los?«

Marianne kam sofort zur Sache.

»Ich mache mir Sorgen um Carlo.«

Das verstand Sandra jetzt nicht.

»Aber er ist doch zu Frau Doktor Steinfeld gegangen, und da ist er in allerbesten Händen, und wenn sie ihr Okay gibt, dann weißt du, dass Carlo nichts fehlt.«

»Das ist es ja gerade«, ereiferte Marianne sich. »Ich habe ihn ja gebeten, zu Frau Doktor Steinfeld zu gehen, und er gab auch nach. Aber für ihn schien es so etwas zu sein wie ein Spaziergang durch einen Rosengarten.«

»Und?«, wollte Sandra wissen. »Ist es das nicht?«

Marianne zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht, er redet nicht darüber. Aber bedenklich finde ich, dass er bereits einige Male in die Praxis musste, und die Frau Doktor hat ihm auch eine Überweisung zu einem Kardiologen gegeben. Und du weißt, Kardiologe, das bedeutet, dass mit seinem Herzen etwas nicht stimmt.«

Das wollte Sandra nicht so sehen.

»Du kennst die Frau Doktor. Sie ist gründlich und eher übervorsichtig. Es kann doch sein, dass sie nur eines ihrer eigenen Ergebnisse bestätigt haben möchte.«

Wieder ein Achselzucken.

»Aber es kann auch sein, dass Carlo künftig kürzertreten muss. Das predige ich schon lange.«

»Mama, ehe du die Ergebnisse der Untersuchungen nicht kennst, willst du da nicht lieber aufhören, dich verrückt zu machen? Du predigst mir immer, dass man sich erst Gedanken machen muss, wie man auf die andere Seite kommt, wenn man am Fluss steht. Und jetzt zermürbst du dich.«

»Ich hab das nicht gesagt, da verwechselst du mich. Ist aber auch egal. Es stimmt ja. Aber erinnerst du dich, wie ich schon vor einiger Zeit gesagt habe, dass Carlo sich zu viel zumutet, dass er kürzertreten muss?«

Sandra erinnerte sich, sie erinnerte sich aber auch daran, dass ihre Mutter in diesem Zusammenhang gesagt hatte, dass sie überlegte, das Herrenhaus aufzugeben, wegzuziehen, und ein solcher Gedanke war für Sandra unerträglich.

Sie musste ihre Mutter auf andere Gedanken bringen, sie durfte davon nicht wieder anfangen.

»Mama, sollen wir nicht nach Hohenborn fahren und dort die Geschäfte ein wenig unsicher machen?«

Damit konnte Sandra ihre Mutter eigentlich immer ködern, heute allerdings nicht.

»Danach steht mir wirklich nicht der Sinn. Carlo geistert in meinem Kopf herum. Am liebsten würde ich in der Praxis anrufen und mich nach seinem Gesundheitszustand erkundigen.«

»Mama, du weißt, dass das nicht geht, es gibt da die ärztliche Schweigepflicht.«

»Meinst du, das weiß ich nicht«, blaffte Marianne ihre Tochter an. »Ich bin besorgt, aber ich bin nicht blöd.«

Als sie das betroffene Gesicht ihrer Tochter sah, entschuldigte sie sich sofort.

»Tut mir leid, mein Kind. Ich bin ungerecht, du kannst nichts dafür. Es ist meine Angst, die mich ungerecht werden lässt. Dass Carlo etwas geschehen könnte, das ist ein Gedanke, der mich wahnsinnig macht. In meinem Alter jemanden wie ihn zu finden, das ist ein großes Geschenk. Junge, attraktive Frauen gehen allein durchs Leben.«

Sandra nahm ihre Mutter in den Arm.

»Mama, hör auf damit. Es ist nichts passiert, manches kann man herbeireden. Und wenn du keine Lust zum Shoppen hast, dann lass uns in diese Fotoausstellung gehen, die sehr gut sein soll. Du musst dich ablenken, und ich möchte diese Ausstellung auf jeden Fall sehen. Und heute Vormittag, das passt. Die Zwillinge und Manuel sind heute noch eine Weile unterwegs, sie haben alle schon einen er­staunlich vielseitigen Stundenplan, bis sie nach Hause kommen, sind wir längst zurück.«

Unschlüssig schaute Marianne von Rieding ihre Tochter an, dann nickte sie entschlossen. »Meinetwegen, die Ausstellung soll wirklich gut sein, und wenn so etwas schon mal in unsere Gegend kommt, dann sollte man wirklich die Gelegenheit ergreifen.«

Marianne blickte an sich herunter.

»Vielleicht sollte ich mich umziehen.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, Mama. Du siehst umwerfend aus. Diese warmen Töne stehen dir wirklich ausgezeichnet.«

Marianne lachte.

»Gut, dass du meine Tochter bist. Dann will ich dir mal glauben, einer Fremden würde ich das nicht abnehmen.«

Marianne zog sich ein Paar Straßenschuhe an, suchte ihre Handtasche, überprüfte deren Inhalt.

»Und meinst du wirklich, dass ich mir wegen Carlo keine Sorgen machen muss?«

»Bestimmt nicht, Mama. Das Schlimmste, das passieren kann, ist, dass er kürzertreten muss. Ansonsten ist es normal, dass alles untersucht wird bei jemandem, der seit Ewigkeiten nicht beim Arzt war.«

Marianne von Rieding schaute ihre Tochter an. Meinte Sandra das jetzt wirklich, oder wollte sie sie nur beruhigen?

Sie stellte keine Fragen mehr, dann Sandra war auf dem Weg nach draußen. Und Marianne beschloss, abzuwarten. Was sollte sie denn sonst tun?

*

Welch ein Glück, dass Marianne von Rieding nicht wirklich ahnte, wie es um den Gesundheitszustand ihres Mannes bestellt war, dann hätte sie gewiss nicht die Fotoausstellung mit ihrer Tochter besucht. Dann wäre sie daheim geblieben, auch wenn das nichts brachte und sie dann auch nichts ändern konnte.

Carlo Heimberg saß derweil in Robertas Arztpraxis, und wenn er ehrlich war – er fühlte sich nicht wohl.

Die Frau Doktor hatte auf einem weiteren Belastungs-EKG bestanden, und Ursel Hellenbrink war mit den ganzen Aufzeichnungen auch sofort verschwunden, ehe er ihr eine Frage stellen konnte.

Er hatte kein gutes Gefühl.

Als er schließlich ins Sprechzimmer gerufen wurde, wirkte die Ärztin sehr ernst. Und auch das war kein gutes Zeichen. Auch wenn sie ernsthafte Dinge besprochen hatten, war das doch mehr oder weniger in einem leichten Plauderton geschehen. Schließlich kannte man sich, mochte sich.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Heimberg.«

Sie blickte ihn an.

»Ich habe mich mit dem Kardiologen in Verbindung gesetzt, zu dem ich Sie geschickt habe. Und der hat meine Befürchtungen bestätigt. Und das zeigt auch dieses zweite EKG von eben. Bei Ihnen ist es jetzt nicht mit ein paar Pillen getan oder mit der Bitte, kürzerzutreten. Sie müssen ins Krankenhaus.«

Als sie sein entsetztes Gesicht sah, versuchte sie, ihn zu beruhigen.

»Um einen Herzinfarkt zu vermeiden, der tödlich sein kann oder von dem bleibende Schäden zurückbleiben, müssen ein paar Vorbeugungsmaßnahmen erfolgen. Es müssen Stents gesetzt werden.«

Roberta erklärte es ihm, doch Carlo Heimberg hörte ihr kaum zu. Er war sich unverwüstlich vorgekommen, hatte sich für gesund gehalten, und war immer der Meinung gewesen, dass die Krankheiten nur die anderen bekamen.

Sie war rührend bemüht, es ihm zu erklären, und er glaubte ihr auch. Aber war sie nicht zu vorsichtig?

»Frau Doktor, das geht nicht. Wie stellen Sie sich das vor. Ich habe an einer Ausschreibung für ein großes Prestigeobjekt teilgenommen, und unter der Hand habe ich bereits erfahren, dass ich den Zuschlag bekommen werde. Das kann nur noch ein paar Tage dauern.«

Roberta blickte ihren Patienten sehr ernst an. Konnte oder wollte er es nicht begreifen? Sie hatte sich doch alle Mühe gegeben, es ihm auf eine für Laien unverständliche Weise zu erklären.

»Herr Heimberg, schön für Sie, herzlichen Glückwunsch, aber diesen Auftrag werden Sie ablehnen müssen. Sie werden in Zukunft überhaupt auf diese großen Ausschreibungen, diese großen Bauvorhaben, verzichten müssen. Man kann nur tun, was man tun kann. Und in Ihrem Fall bedeutet das, wie gesagt, dass Sie kürzertreten müssen.«

Er wollte etwas sagen, aber Roberta ließ es nicht dazu kommen.

»Herr Heimberg, in Ihrem Alter kann man nicht mehr so einfach voraussetzen, die Kräfte wie ein Dreißigjähriger zu haben. Sie haben so viel erreicht. Wem wollen Sie noch etwas beweisen? Sie haben eine wunderbare Frau, genießen Sie an deren Seite Ihr Leben. Mehr erreichen kann man nicht.«

Allmählich dämmerte es ihm, seine Marianne hatte sich nicht umsonst Sorgen gemacht. Sie hatte etwas geahnt, aber er hatte seine Herzschmerzen nicht wahrhaben wollen, hatte es auf Stress geschoben.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, erkundigte er sich und hatte schon eine ganze Menge von seinem Selbstbewusstsein verloren. »Und bedeutet das alles, was Sie mir gesagt haben, dass ich mich schon mal nach einem guten Platz für eine Grabstelle umsehen muss?«

Roberta konnte sich gerade noch ein Lachen verkneifen, weil die Situation wirklich sehr ernst war, aber sie war doch immerhin noch nicht aussichtslos.

An ihm konnte man deutlich sehen, dass Männer so viel weniger belastbar waren als Frauen. Er war ein intelligenter Mensch, aber jetzt versagte seine Intelligenz.

Roberta erklärte ihm noch einmal, dass es bei ihm zwar fünf Minuten vor Zwölf war, aber das jetzt alles in die Wege geleitet werden konnte, um Schlimmes zu vermeiden.

»Je eher Sie in die Klinik gehen, umso schneller sind Sie aus der Gefahr heraus.«

»Ich hasse Krankenhäuser«, stieß er hervor.

»Herr Heimberg, da geht niemand gern freiwillig hin. Aber wenn Sie möchten, da kann ich einen Termin bei einem ehemaligen Studienkollegen für Sie machen. Er leitet eine kleine, feine Privatklinik, die mit den modernsten Geräten ausgestattet ist. Professor Heierhoff ist eine Kapazität auf seinem Gebiet, er hat sogar schon Herztransplantationen durchgeführt und hat, ehe er sich niedergelassen hat, international in den größten und bekanntesten Herzkliniken gearbeitet.«

»Und wie lange dauert das? Bin ich nach dieser Operation sofort wieder einsatzfähig?«, wollte er wissen.

»Tut mir leid, Herr Heimberg, ich bin keine Herzspezialistin, und auf jeden Fall müssen Sie nach dem Klinikaufenthalt noch eine Reha machen. Das ist so üblich.«

Er war unfähig, jetzt etwas zu sagen. Diese Nachricht hatte ihn kalt erwischt. Aber blöd war er nicht, sie würde ihm das nicht alles sagen, wenn es nicht ernst wäre. Aber er musste damit erst einmal fertig werden.

»Ich überlege es mir«, sagte er ausweichend, doch mit dieser Antwort war Roberta überhaupt nicht einverstanden. Sie erklärte ihm noch mal, dass es ein großes Glück gewesen war, dass er ärztliche Hilfe gesucht hatte, ehe es zu einer Katastrophe gekommen war, dass er jetzt aber nicht mehr lange überlegen durfte, weil jeden Augenblick etwas passieren konnte.

»Wenn Sie mich fragen, Herr Heimberg. Ich an Ihrer Stelle würde jetzt nicht mehr lange zögern, sondern sofort ins Krankenhaus gehen. Reden Sie mit Ihrer Frau, aber halten Sie nicht mit der Wahrheit zurück. Sagen Sie ihr, wie ernst es ist, und wenn Sie möchten, können Sie auch gemeinsem mit Ihrer Frau zu mir in die Praxis kommen, und dann erkläre ich alles gern noch einmal.«

Carlo Heimberg überlegte, rang mit sich. Das war ihm deutlich anzusehen. Dieser erfolgsgewohnte Mann hatte den Boden unter den Füßen verloren.

»Herr Heimberg«, erinnerte Roberta ihn, »nehmen Sie bitte regelmäßig den Blutverdünner, den ich Ihnen verschrieben habe, und vergessen Sie auch nicht die Tabletten einzunehmen. Und wenn Sie plötzliche Atemnot bekommen, wenn Ihr Puls und Ihr Blutdruck eskalieren, dann nehmen Sie das Medikament, das ich Ihnen für den Notfall gegeben habe, und dann zögern Sie nicht, sofort den Krankenwagen anzurufen und sich ins nächste Krankenhaus bringen zu lassen.«

Roberta sah ihn ernst an.

»Herr Heimberg, das müssen Sie mir versprechen.«

Bei ihren Worten war er blass geworden, seine Augenlider flatterten. Er atmete tief durch.

»Bitte machen Sie für mich einen Termin bei diesem Herzspezialisten.«

Roberta atmete tief durch.

»Herr Heimberg, das ist eine vernünftige Entscheidung.«

Sie griff zum Telefon, und sie hatte sogar das große Glück, Hilmar Heierhoff zwischen zwei Operationen zu erreichen.

Es hatte wohl gezogen, dass sie gesagt hatte, dass sie den Professor aus gemeinsamen Studienjahren kannte und dass sie einen Patienten hatte, über den sie mit Hilmar unbedingt sprechen musste.

Hilmar Heierhoff freute sich wirklich sehr, von Roberta zu hören. Sie hatten sich immer gut verstanden, aber ein wenig aus den Augen verloren, und sie hatte seine Karriere nur in den Fachzeitschriften verfolgt.

Sie schilderte ihm rasch den Fall und dass es ihr ein Anliegen wäre, wenn er die Operation übernehmen könnte.

Carlo hörte gespannt zu, und er merkte, wie er sich ein wenig entspannte, weil nicht zu überhören war, wie kompetent Roberta Steinfeld doch war und welches Ansehen sie auch bei ihrem berühmten Kollegen genoss.

Hilmar Heierhoff wollte auf jeden Fall mit ihr in Verbindung bleiben, und das würden sie über diesen Patienten ja auch bleiben.

Das Gespräch war beendet, Roberta wandte sich Carlo Heimberg zu.

»Nun liegt es bei Ihnen, Herr Heimberg, ob Sie allein zu Professor Heierhoff fahren wollen, oder ob Ihre Frau mitfahren möchte. Im Gästehaus ist auf jeden Fall ein Zimmer reserviert, das Sie absagen können, wenn Sie es nicht in Anspruch nehmen wollen. Bitte, haben Sie keine Sorgen, bei dem Professor sind Sie in allerbesten Händen.«

Er nickte.

»Davon bin ich überzeugt, und vermutlich würde er sich um jemanden wie mich nicht persönlich kümmern, wenn Sie es nicht veranlasst hätten. Einen kurzfristigen Termin bei einer Kapazität zu bekommen, davon kann man nur träumen, diese Menschen sind doch auf Monate ausgebucht, und selbst übernehmen sie nur die interessanten Fälle. Frau Doktor Steinfeld. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Also, wenn Sie mal ein Haus bauen …«

Roberta unterbrach ihn lachend.

»Man soll zwar nie nie sagen. Aber ich glaube nicht, dass ich hier noch einmal wegziehen werde. Ich bin angekommen. Die Arbeit im Sonnenwinkel macht mir Spaß, und ich überlege deswegen auch, die Option von Dr. Riedel anzunehmen und das Haus zu kaufen.«

Er sah sie an.

»Für den Sonnenwinkel ist es ein Segen, dass Sie hier sind und die Praxis von Doktor Riedel übernommen haben, ganz besonders jetzt für mich auch. Aber Sie sind noch jung, es stehen Ihnen alle Möglichkeiten offen. Und, ich will nicht indiskret sein. Sie sind eine äußerst attraktive Frau, und es wird gewiss wieder einen Mann in Ihrem Leben geben.«

Sie erinnerte sich an ihre unglückliche Ehe mit Max Steinfeld, ihre unglückliche Liebe zu dem liebenswerten Aussteiger Kay Hall.

Musste sie das alles noch einmal haben?

Aber, wie gesagt, man sollte nie nie sagen!

»Lieber Herr Heimberg, danke für Ihr großzügiges Angebot, und sollte sich meine Meinung noch einmal ändern, dann, bitte glauben Sie mir das, werde ich auf Sie zurückkommen. Aber werden Sie erst einmal wieder gesund. Ich mache alle Unterlagen für Professor Heierhoff fertig, die können Sie morgen früh in der Praxis abholen, ehe Sie losfahren. Wenn noch etwas sein sollte, Herr Heimberg, bitte rufen Sie mich an, jederzeit. Und machen Sie sich keine Gedanken, das, was bei Ihnen gemacht werden muss, ist für den Professor ein Eingriff, den er im gewissermaßen Schlaf machen könnte. Danken Sie Ihrer Frau, denn ohne deren Drängen wären Sie doch niemals zu mir gekommen, oder?«

Diese Frage beantwortete Carlo lieber nicht.

Sie verabschiedeten sich voneinander. Roberta war unglaublich erleichtert, dass es so gekommen war, und Carlo Heimberg? Dem war nichts anzusehen, aber es reichte, dass er sich für die Operation entschieden hatte. Danach hatte es zunächst einmal wirklich nicht ausgesehen.

Es gab noch eine Menge zu tun, ehe Roberta sich um den nächsten Patienten kümmerte, ließ sie sich von dem Kardiologen, bei dem Carlo war, alle Unterlagen schicken.

*

Seit ihre Welt zusammengebrochen war, seit die Sonne für sie aufgehört hatte zu scheinen, war Inge Auerbach kaum auf die Straße gegangen, vor allem hatte sie den Wochenmarkt, den sie so sehr liebte, niemals besucht.

Die Worte ihrer Tochter hatten sie aufgerüttelt, wenn man sich ihretwegen solche Sorgen machte, dass man sie sogar schon zum Psychiater schicken wollte, war das mehr als bedenklich.

Sie riss sich zusammen, und um sich zu beweisen, dass sie sich selbst aus dem Sumpf ihrer Schuldgefühle und ihrer Traurigkeit ziehen konnte, entschloss sie sich, auf den Wochenmarkt zu gehen. Dadurch, dass sie sich um nichts mehr gekümmert hatte, waren ihre Vorräte auch erheblich geschrumpft. Und sie hatte Lust auf eine gute Hühnersuppe, die bei diesem Wetter immer richtig war. Da gab es einen Bauern, der Biohühner anbot, und das sogar zu einem sehr moderaten Preis, und dazu viel frisches Gemüse.

Sie bekam schon Pfützchen auf der Zunge.

Als die Kinder klein waren, hatte es immer Hühnersuppe gegeben, wenn sich bei denen eine Erkältung abzeichnete, und ihr Werner, der konnte Hühnersuppe inhalieren, so gern mochte er sie. Man konnte ihm keine größere Freude bereiten, und es passte gut, denn Werner kam heute Abend von einer Reise aus London zurück. Da konnte sie ihn überraschen und würde Pluspunkte sammeln, und vielleicht sollten sie da auch die Gelegenheit ergreifen, über sie und wie sie miteinander umgingen, sprechen.

Eigentlich war Inge frohen Mutes, als sie, bewaffnet mit ihrem Einkaufskorb, das Haus verließ.

Sie hatte den Markt noch nicht einmal erreicht, als sie mit Grete Bondorf zusammentraf. Das war eine Frau, die ein paar Häuser weiter wohnte und die so etwas wie die Tageszeitung des Sonnenwinkels war. Sie wusste alles, und wenn man etwas publik machen wollte, dann musste man es nur Grete erzählen und konnte davon ausgehen, dass man es binnen kürzester Zeit bis Hohenborn wusste.

Grete Bondorf hätte sie nun nicht unbedingt treffen wollen, aber jetzt konnte Inge ihr nicht mehr ausweichen.

Ehe sie Grete begrüßen konnte, war die schon auf sie zugelaufen.

»Frau Auerbach, Sie habe ich ja schon so lange nicht mehr gesehen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, und Ihre jüngste Tochter. Ja, wo steckt die eigentlich? Es ist mitten im Schuljahr, da kann sie ja noch keine Ferien haben.« Sie blickte Inge an, und die hatte das Gefühl, von diesem Blick wie mit Röntgenstrahlen durchbohrt zu werden.

»Wie Sie sehen, liebe Frau Bondorf, bin ich gesund und munter. Und was unsere jüngste Tochter anbelangt, die macht ein Auslandsschuljahr in Australien. Da unser Hannes sich dort aufhält, bietet es sich an. Er kann dann ein wenig auf seine Schwester ein Auge haben.«

Damit war Gretes Neugier noch lange nicht befriedigt.

»Ja, ich habe es gehört, dass Hannes in Australien ist, dabei war er doch gerade erst auf einer langen Weltreise. Was macht er denn dort?«

Jetzt langte es.

Man durfte jemanden wie Grete Bondorf zwar nicht verärgern, weil diese Frau sehr gefährlich sein konnte, aber sie musste jetzt vor ihr auch nicht ihr gesamtes Familienleben ausbreiten.

Inge beschloss, die Frage einfach zu ignorieren. Sie schenkte Grete ein Lächeln, dann sagte sie: »Bitte entschuldigen Sie mich jetzt. Der Markt schließt gleich, und ich möchte unbedingt etwas Gemüse und ein Suppenhuhn kaufen. War schön, Sie mal wieder getroffen zu haben, Frau Bondorf.« Das stimmte zwar nicht, aber immerhin ging es der guten Grete herunter wie Öl.

»Ja, ich fand es auch schön, schade, dass Sie immer so wenig Zeit haben. Wir könnten uns doch auch so mal treffen, einen Kaffee miteinander trinken, plaudern. Ich finde, Sie und Ihr Mann sind sehr interessante Leute. Wir sind beinahe Nachbarn und kennen uns doch kaum.«

Das fehlte ihr gerade noch!

Nie!

Ihr Lächeln verstärkte sich.

»Ach, Frau Bondorf, ich habe eine große Familie mit Kindern und Enkelkindern, außerdem meine Eltern. Da hat man nicht viel Zeit. Und mein Mann ist ja so viel unterwegs, da genießen wir es, wenn wir mal Zeit nur für uns allein verbringen können.«

»Ja, der Professor ist ein toller Mann, es stand gerade erst wieder was in der Zeitung über ihn. Er hat da so einen Vortrag gehalten.«

»Frau Bondorf, bitte entschuldigen Sie, jetzt muss ich wirklich los.«

Ehe die Frau noch etwas sagen konnte, rannte Inge davon, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

Eine grässliche Person!

Zum Glück gab es nicht viele davon im Sonnenwinkel, denn das wäre ein Grund gewesen, hier wieder wegzuziehen.

Sie kaufte Obst und Gemüse, Küchenkräuter, und das Suppenhuhn, wie es schöner nicht hätte sein können.

Sie wohnte nun schon so lange im Sonnenwinkel, da blieb es nicht aus, dass man die meisten Menschen kannte, und gegen ein paar nette Worte hier und da hatte sie ja auch überhaupt nichts einzuwenden. Sie hatte nur etwas gegen Klatschbasen.

Doch wenn sie glaubte, Grete Bondorf schon entronnen zu sein, da sah sie sich getäuscht. Die kam angehetzt, war froh, sie zu erblicken.

»Frau Auerbach«, keuchte sie, »ich habe ja ganz vergessen, Sie etwas zu fragen …, das Haus Ihrer Tochter, wird das verkauft?«

Ehe Inge darauf eine Antwort geben konnte, fuhr sie fort: »Ich habe da Leute gesehen, die immer mit einem Mann da hineingingen, der mit einem ziemlich großen, teuren Auto ankommt. Ist das ein Makler?«

»Jetzt reicht es! Tut mir leid, Frau Bondorf, dazu kann ich Ihnen überhaupt nichts sagen, wie Sie ja wissen, gehört das Haus meiner Tochter und meinem Schwiegersohn, und ich habe keine Ahnung, was die beiden damit vorhaben. Rufen Sie sie doch einfach mal an und erkundigen Sie sich.«

Grete Bondorf schnappte nach Luft, dann drehte sie sich einfach um und ging. Sie war wütend, das war nicht zu übersehen.

Sie war diese schreckliche Frau zwar los, aber hatte sie sie jetzt so verärgert, dass sie anfangen würde, über die Auerbachs zu reden?

Einen Moment war Inge verunsichert, aber dann besann sie sich auf ihre früheren Stärken.

Na und?

Sollte sie reden. Zum einen gab es nichts, nun ja, das mit der Adoption schon, aber das war auch nichts Illegales, und wenn …, beliebt war die gute Grete im ganzen Sonnenwinkel nicht. Und die meisten Leute würden ein Kreuzzeichen machen, sollte diese Person hier einmal wegziehen.

Um dieser Person nicht noch ein drittes Mal begegnen zu müssen, bei Grete wusste man nie, machte Inge sich eilig auf ihren Heimweg.

Hühnersuppe …

Werner …

Sie konnte sich auf beides freuen, ehrlich gesagt, mehr noch natürlich auf ihren Mann. Sie würde sich für ihn extra ein wenig hübsch machen, und sie würde nicht mehr jammervoll sein, das nahm sie sich auf jeden Fall vor. Und sie konnte nur darauf hoffen, dass auch Werner bereit war, das Kriegsbeil zwischen ihnen zu begraben. Ihre Stärke war immer, an einem Strang zu ziehen, so nach dem Motto, gemeinsam gegen den Rest der Welt. Das hatten sie vergessen, und jeder war für sich allein vorangeprescht, um in dieser Sache besser dazustehen.

Wie verrückt das doch gewesen war. Das war kein Leistungswettbewerb. So, wie sie es gemacht hatten, konnte es nur Verlierer geben.

Eines hatte Inge heute gelernt. So gruselig diese Grete Bondorf auch war. Durch sie hatte es bei ihr plötzlich Klick gemacht, und dazu gehörte auch, sich nicht zu verstecken, sondern aufgerichtet nach vorne zu blicken.

Inge begann, wieder sie selbst zu werden, und das machte sie glücklich. Es war schon verrückt, dass es nur eines eigentlich unbedeutenden Anstoßes bedurfte, und plötzlich wachte man auf.

Das musste sie ihren Eltern erzählen.

Es ging nicht, sie erinnerte sich.

Schade, dass sie nicht daheim waren. Sie waren bereits am frühen Morgen losgefahren, um einer alleinstehenden alten Dame einen Geburtstagskuchen zu bringen, den ihre Mutter liebevoll gebacken hatte. Und sie hatten sogar Luna mitgenommen, weil sie sich sicher waren, dass die kleine Hundedame jeden Menschen aufmuntern konnte.

Es war schon unglaublich. Ihre Eltern waren selbst alte Herrschaften, aber sie besuchten Leute, die streckenweise noch jünger waren als sie selbst.

Also, auf ihre Eltern traf auf jeden Fall der Spruch »Man ist so alt, wie man sich fühlt«, hundertprozentig zu.

Ach ja, die Kraft ihrer Eltern hätte Inge gern. Die beiden waren wirklich unglaublich, und an ihnen konnte man sich ein Beispiel nehmen.

Inge brachte ihre Schätze ins Haus, und ehe sie sich an die Zubereitung der Hühnersuppe machte, kochte sie sich einen Kaffee. Den hatte sie verdient, und den würde sie in vollen Zügen genießen. Ja, das würde sie.

*

Professor Werner Auerbach kam ziemlich müde, aber auch sehr missmutig von seiner Reise aus London zurück. Es war nicht so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Und er fragte sich ernsthaft, ob er sich das auf Dauer antun sollte. Sein Ruf als Wissenschaftler war längst gefestigt. Wenn er ganz ehrlich war, dann dienten diese Vortragsreisen allenfalls der Befriedigung seines Egos. Werner genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, hofiert zu werden. Und der Applaus, den er immer bekam, war wie eine Droge. Man wollte immer mehr davon haben.

Doch hatte er das nötig?

Nein, das hatte er nicht!

Irgendetwas lief schief in seinem Leben, und das war eindeutig sein Privatleben. Seit das mit ihrer Kleinen geschehen war, schien es, als ginge ein tiefer Riss durch ihre Beziehung.

Werner Auerbach war fest entschlossen, daran etwas zu tun. Seine Inge und ihn verband eine Lebensliebe. Er war sich bewusst, dass er kein zweites Mal eine Frau finden würde wie sie. Inge war eine vortreffliche Kameradin, und sie war die großartige Mutter seiner Kinder. Dass diese alle so gut geraten waren, dazu hatte er nicht beigetragen. Das war einzig und allein Inges Verdienst. Und ihm war schon klar, das sie ihre Ziele aufgegeben hatte, um ihm den Rücken zu stärken. Sie hatte den Alltagskram von ihm ferngehalten, und er hatte, das musste er ehrlich zugeben, es als Selbstverständlichkeit hingenommen.

Im Grunde genommen war in London nichts passiert. Für ihn war es wie immer gut gelaufen. Ihn hatte nur der Ablauf gestört, hervorgerufen durch mangelndes Organisationstalent der Veranstalter.

Aber manchmal bedurfte es eines kleinen Anlasses, um eine Kehrtwendung vorzunehmen. Und das wollte Werner Auerbach tun. Hier und da noch mal eine Veranstaltung oder einen Vortrag, aber nur, wenn es hochkarätig war. Und ansonsten würde er seine Bücher schreiben. Er hatte der Wissenschaft noch eine ganze Menge zu sagen.

Und er würde mit Inge ein wirklich gemeinsames Leben beginnen, das hatte sie wirklich verdient.

Der Professor hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und als er die Haustür aufschloss, spürte er, dass etwas anders geworden war. Es war nicht der köstliche Duft von Hühner­suppe, der das Haus durchströmte.

Nein, Inge kam ihm entgegen, und erst jetzt wurde ihm wieder einmal bewusst, welch attraktive Frau seine Inge doch war.

Sie trug ein bordeauxrotes Wollkleid, das ganz wunderbar zu ihren schönen Augen und ihren recht kurzen Haaren passte, und das ihre weiblichen Rundungen betonte.

Der Professor rückte ein wenig nervös seine randlose Brille zurecht, durch die betont wurde, dass er ein Intellektueller war.

Was hatte das zu bedeuten?

Unter normalen Umständen hätte er es positiv gedeutet, doch so, wie sie beide derzeit drauf waren, wie sie sich angifteten, war er besorgt.

Wenn ihr Streit besonders heftig war, hatte sie ihm mehrfach gedroht, ihn zu verlassen.

War es jetzt so weit?

Wollte sie ihm noch einmal vor Augen führen, was er an ihr verlor?

Professor Werner Auerbach, der international anerkannte Wissenschaftler, der auch ein Mann des überzeugenden Wortes war, war sprachlos.

Inge ging auf ihn zu, lächelte ihn an und sagte: »Schön, dass du daheim bist, Werner. Ich habe extra für dich Hühnersuppe gekocht, weil ich glaube, dass sie dir nach einem Aufenthalt im tristen, verregneten London guttun wird.«

Sie war nett!

Sie war ausgesprochen nett!

Und, verflixt noch mal, wie toll sie aussah!

Inge hatte sich verändert.

Er war nicht in der Lage, seine Gedanken in Worte zu fassen, und das war schon recht bedenklich.

»Magst du dich ein wenig frisch machen?«, erkundigte Inge sich. »Ich hole derweil die Suppe aus der Küche.«

Die Auerbachs liebten ihre gemütliche Wohnküche, ganz besonders den großen Familientisch.

Ihr Wohnzimmer mit den schönen alten Biedermeiermöbeln, die Inge mit in die Ehe gebracht hatte, benutzten sie nur an hohen Feiertagen. An denen aßen sie an dem Tisch, der in einer Essnische stand.

Auf dem Weg ins Badezimmer blickte Werner in den Raum, und seine Verunsicherung wuchs. Der Tisch war wunderschön gedeckt, Inge hatte sogar ihre guten Kristallgläser und die Silberleuchter auf den Tisch gestellt.

Er wollte etwas sagen, besann sich, wusch sich im Badezimmer rasch die Hände, dann hatte er es eilig, an den beinahe festlich gedeckten Tisch zu kommen.

Werner saß kaum, als er nicht länger an sich halten kannte.

»Inge, was ist los, wenn das die Einleitung für eine Trennung sein soll, und du willst es mir noch einmal nett machen, damit ich sehe, was ich verliere, dann bin ich nicht damit einverstanden, sondern ich werde alles tun, damit du bei mir bleibst. Ich werde um dich kämpfen.«

Sie war so perplex, dass sie nichts sagen konnte, und das beflügelte ihren Mann noch mehr.

»Es ist vieles schiefgelaufen, ich war ungeduldig, ich habe herumgebrüllt. Tut mir leid. Aber ich habe auch nur Nerven, und das, was da mit unserer Kleinen geschehen ist, wie herausgekommen ist, dass wir sie adoptiert haben, hat mich ungerecht werden lassen. Du kannst nichts dafür, ich kann nichts dafür. Wir haben es zusammen verursacht, und ich finde, wir müssen es zusammen ausbaden.«

Inge sagte noch immer nichts.

»Inge, wir haben doch immer an einem Strang gezogen, und das war unsere Stärke. Wir müssen uns darauf wieder besinnen.«

Ihm waren die gleichen Gedanken gekommen. War das nicht merkwürdig, und zeigte das nicht, wie sehr und wie eng sie miteinander waren. Das hatte sogar eine Fernwirkung.

»Das könnte dir so passen, mein Lieber«, rief sie und schaute ihn dabei schelmisch an. »Ich habe die besten Jahre meines Lebens mit dir verbracht, und das war nicht immer einfach. Du glaubst doch nicht, dass ich jetzt für ein jüngeres Modell Platz mache?«

Nun war er sprachlos.

»Du …, du …«, stammelte er schließlich. »Du willst dich nicht trennen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Werner, daran würde ich niemals im Traum denken«, sagte sie ernst. »Vergiss, was ich manchmal im Zorn so dahergeredet habe.« Sie wurde noch ernster. »Werner, ich liebe dich, und mir ist klar geworden, dass wir beide dabei waren, das, was zwischen uns so wunderbar ist, zu zerstören. Ich habe deine Lieblingssuppe gekocht, mich ein wenig aufgehübscht, und dass ich hier in unserem Wohnzimmer serviere …, nun, ich finde, ein Neuanfang braucht auch einen würdigen Rahmen.«

Werner liebte eine gute Hühnersuppe über alles, er fand den Rahmen hier großartig, aber …

Die Suppe konnte warten!

Loben für alles konnte er sie später!

Im Augenblick gab es nur eines zu tun, und das war, seine Frau in den Arm zu nehmen, sie zu küssen und ihr zu sagen, wie sehr er sie doch liebte.

Inge genoss jeden Moment. Sie fühlte sich zurückgesetzt in die stürmische Anfangszeit ihrer Beziehung, und sie hätte wirklich nicht für möglich gehalten, dass in ihnen noch so viel Leidenschaft steckte.

Es war noch immer schlimm, was passiert war.

Es ließ sich nicht rückgängig machen.

Aber gemeinsam konnten sie überlegen, was nun zu tun war, um den Frieden wieder herzustellen.

Und es war keine Frage. Es war am allerbesten, dass sie bei sich anfingen. Und da waren sie gerade dabei …, es war schön, nein, es war wunderschön, und es war überhaupt nicht zu begreifen, dass sie sich so sehr aus den Augen verloren hatten.

»Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«, stand in einem Gedicht.

Ja, es stimmte, da waren sie jetzt. Und das nach so vielen Jahren …

*

Obwohl es sehr anstrengend und sehr zeitaufwendig war, liebte Roberta die Hausbesuche bei ihren Patienten. Und sie bereute nicht einen Augenblick lang, sich dafür entschieden zu haben.

Ihr alter Freund Enno hatte sie gewarnt, aber sie hatte all seine Warnungen in den Wind geschlagen. Und in einem hatte er auf jeden Fall recht. Es wollten auch Patienten besucht werden, die es auf jeden Fall zu ihr in die Praxis geschafft hätten. Aber da das die Ausnahme war, sah Roberta großzügig darüber hinweg.

Jetzt wurde sie zum Lindenhof zu den Lützelers gerufen, und da war Roberta sich sicher, das es berechtigt war, um ihre Hilfe zu bitten.

Ein weiches Lächeln umspielte Robertas Lippen, als sie auf den blitzsauberen Hof fuhr. Sie war noch nicht lange im Sonnenwinkel gewesen, als man sie zu Sonja Lützeler gerufen hatte, die ihr erstes Kind bekam, und die von der Hebamme, die die Geburt begleiten sollte, in Stich gelassen worden war, weil eine andere Patientin die arme Frau egoistisch für sich in Anspruch genommen hatte.

An die konnte Roberta sich auch noch sehr gut erinnern. Lissy Kleinert und ihr Mann Benno, die glaubten, sich mit ihrem Geld alles erkaufen zu können. Denen hatte sie einen Strich durch die Rechnung gemacht, und Lissy war im Krankenhaus gelandet, um dort ihr Kind zu bekommen. Aber für Sonja Lützeler war sie da gewesen, und sie hatte einem gesunden kleinen Mädchen geholfen, das Licht der Welt zu erblicken. Roberta hatte während ihres Studiums auch das Gebiet Geburtshilfe gestreift. So eine Geburt dann tatsächlich zu erleben, das war etwas anderes als das, was in den Büchern stand. Sie war nicht nur auf die Kindesmutter stolz gewesen, weil die das fabelhaft gemacht hatte, nein, ein wenig auch auf sich selbst. Und sie war gerührt gewesen, dass die Lützelers ihre kleine Tochter nicht Amelie genannt hatten, sondern aus Dankbarkeit Roberta.

Schade, dass sie sich ein wenig aus den Augen verloren hatten. Aber für die kleine Roberta war ein Kinderarzt zuständig, und ihre Hilfe hatten bislang weder Sonja noch Markus Lützeler in Anspruch genommen, und sie konnte sich ihnen nicht aufdrängen und sie bitten, wenigstens die jährlichen Routineuntersuchungen einzuhalten.

Man hatte ihr Auto gehört, denn Roberta war mit ihrem Arztkoffer noch nicht einmal ausgestiegen, als die Haustür geöffnet wurde und Sonja Lützeler herausgestürmt kam, auf Roberta zu.

»Danke, Frau Doktor, dass Sie gekommen sind«, rief sie.

»Dafür bin ich da, Frau Lützeler«, beruhigte sie die aufgeregte Frau, »das ist mein Beruf.«

Sie folgte Sonja ins Haus.

Es war der Traum von den beiden, mit Pferden in einem Bauernhaus zu leben, und den hatten sie sich erfüllt. Und Roberta musste voller Hochachtung sagen, dass sie einen ganzen Schritt weitergekommen waren. Man konnte die Fortschritte deutlich sehen.

Sie folgte Sonja in die große Wohnküche, und dort saß Markus auf einem Stuhl, ein Bein hatte er auf einen anderen gelegt.

»Tut mir leid, dass ich Sie herbemühen muss«, sagte er, »es ist dumm gelaufen.«

Sonja untersuchte den Fuß, und sie konnte ihn auf jeden Fall beruhigen, dass er nicht gebrochen war, sondern dass er eine gehörige Stauchung hatte.

»Und die tut manchmal mehr weh als ein Bruch. Sagen Sie, wie ist das denn passiert?«

Er bekam ein schuldbewusstes Gesicht.

»Oh, es ist einzig und allein meine Schusseligkeit, und ich habe die Quittung bekommen.«

Er erzählte ihr, dass er vom Heuboden einen neuen Ballen für die Pferde herunterholen wollte. Herabwerfen konnte er den Ballen nicht, weil er vorher eine Maschine nicht beiseite gestellt hatte. Also musste er den Ballen heruntertragen, und da hatte er übersehen, dass in der Leiter eine Sprosse fehlte, war danebengetreten und heruntergefallen.

»Ich wusste das mit der Sprosse und wollte das immer schon reparieren. Aber wie es so ist, kommt immer etwas anderes dazwischen, und manchmal ist man auch nicht in der Lage, seinen inneren Schweinehund zu besiegen. Auf so einem Hof gibt es immer etwas zu tun, und wenn man sich nicht auskennt, kann man das vorher nicht einschätzen. Manchmal will ich auch nur die Fünf eine gerade Zahl sein lassen und Zeit mit meiner Frau und unserer kleinen Roberta verbringen.«

Roberta sah sich die Verletzung noch einmal genauer an. Es war wirklich nichts gebrochen.

»Herr Lützeler, Sie wissen schon, dass Sie bei einem Orthopäden besser aufgehoben gewesen wären als bei mir«, sagte sie.

Er versuchte trotz seiner Schmerzen ein Grinsen.

»Ich weiß, Frau Doktor, aber Sie sind auch keine Gynäkologin oder Hebamme, und niemand hätte unseren kleinen Sonnenschein besser auf die Welt bringen können als Sie. Sie sind eine wunderbare Ärztin, Sie genießen unser vollstes Vertrauen, und wenn wir ärztliche Hilfe brauchen, dann würden wir niemals zu einem anderen Mediziner gehen als zu Ihnen.«

Das war ein wunderschönes Kompliment und machte Roberta ganz verlegen, also beschäftigte sie sich mit seiner Verletzung und versorgte sie sachgemäß.

»Jetzt haben Sie erst einmal ganz viel Ruhe nötig, Herr Lützeler, und ich bitte Sie, das auch einzuhalten. Wenn Sie sich daran halten, verkürzt sich auch der Heilungsprozess. Und machen Sie sich kein schlechtes Gewissen. Ein Anwesen wie dieses hier zu haben, bedeutet nicht, Tag und Nacht zu arbeiten. Freizeit gehört in jedem Beruf bei jeder Arbeit dazu. Ich bin voller Bewunderung, was Sie inzwischen schon alles geschafft haben.«

»Das sieht man?«, freute er sich.

Roberta bestätigte es, dann wollte sie wissen: »Und bereuen Sie mittlerweile, diesen Hof hier gekauft zu haben?«

»Nie«, riefen beide wie aus einem Munde.

»Es ist immer noch unser Traum, und eigentlich ist es noch stärker geworden, seit wir unser Kind haben. Es kann in guter Luft, in einer herrlichen Landschaft inmitten der Natur aufwachsen, mit Tieren, unbehelligt von Abgasen und frei.«

Roberta hätte sich gern noch mit den beiden unterhalten, aber dazu hatte sie leider keine Zeit, weil sie noch zwei Besuche zu machen hatte, und dann musste sie pünktlich zur Nachmittagssprechstunde in der Praxis sein.

Aber sie musste wiederkommen, und sie nahm sich vor, es so einzurichten, dass Markus Lützeler ihr letzter Patient sein würde.

Aber die Kleine, die wollte sie wenigstens noch sehen. Sie erfuhr, dass sie schlief, und Sonja musste wohl Robertas enttäuschtes Gesicht gesehen haben, denn sie sagte: »Wenn Sie wollen, können Sie dennoch einen Blick auf sie werfen, Frau Doktor.«

Roberta wollte, und so folgte sie Sonja in das Kinderzimmer, das mit sehr viel Liebe hergerichtet worden war und in dem das kleine Mädchen wie eine Prinzessin in seinem Bettchen schlief.

Roberta näherte sich auf Zehenspitzen dem Bett und blickte auf die Kleine hinab.

Sie sah wunderschön aus, hielt beide Fäustchen gegen das rosige Gesicht gepresst und machte einen sehr zufriedenen Eindruck.

Es war nicht zu übersehen, dass dieses Kind geliebt wurde, und das war ein Grundstein für ein glückliches und vertrauensvolles Leben.

Versonnen blickte Roberta hinunter auf ihre kleine Namensvetterin. Zum ersten Mal realisierte sie, wie schön es sein musste, ein eigenes Kind zu haben. Nein, nicht zum ersten Mal, als sie glaubte, mit Kay magische Momente zu erleben, war flüchtig der Gedanke aufgetaucht, mit ihm ein Kind zu haben. Aber es hatte nicht sein sollen, und vorher mit ihrem Exmann Max, war es niemals ein Thema gewesen. Max hatte keine Kinder haben wollen, und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie sich seinem Wunsch gebeugt hatte oder ob es ihr ganz recht gewesen war, weil sie genug damit zu tun hatte, die große Gemeinschaftspraxis aufzubauen und zu etablieren. Das war alles an ihr hängen geblieben, während Max sein Ding gemacht hatte, was in erster Linie darin gipfelte, sie schamlos zu betrügen und hinterher auszunehmen, dass es unverschämt war.

Die kleine Roberta war so süß, und jetzt lächelte sie sogar im Schlaf.

Würde sie jemals eigene Kinder haben?

Würde sie es bereuen, wenn sie ein Familienleben ihrem Beruf geopfert hatte?

Roberta riss sich gewaltsam zusammen.

Sie wusste selbst nicht, was heute mit ihr los war. So sentimental war sie doch sonst nicht.

Am liebsten wäre sie hier stehen geblieben, hätte gewartet, bis die Kleine ihre unschuldsvollen Augen aufschlug. Es ging nicht, sie musste weiter, und wer weiß, wofür das gut war.

Auf Zehenspitzen verließ sie das entzückende Kinderzimmer und das noch entzückendere Baby.

»Frau Doktor, Sie müssen mal vorbeikommen, wenn sie wach ist. Unser Sonnenscheinchen kann sich so sehr freuen. Da wird einem ganz anders. Ach, Sie glauben ja nicht, welche Bereicherung Roberta für uns ist. Sie war ja nicht eingeplant, hat alles durcheinandergebracht. Aber das war gut so, sonst säßen wir noch immer ohne Kind hier, wären ganz gewiss mit dem Umbau ein ganzes Stückchen weiter, aber wir hätten sie nicht und wüssten demzufolge auch nicht, was für eine Bereicherung ein Kind ist. Es gibt nichts auf der ganzen Welt, was dem gleichzusetzen ist. Wir danken jeden Tag für dieses außergewöhnliche Glück.«

Sonja hörte nicht auf zu schwärmen, und Roberta wurde auf einmal sehr wehmütig.

Sie hatte erst mit Erfolg die Praxis mit Max aufgebaut, dann hatte sie sich im Sonnenwinkel einen Namen gemacht. Man schätzte und vertraute ihr.

Vor ihr war Doktor Riedel da gewesen, nach ihr würde ein anderer Arzt oder eine andere Ärztin kommen. Ihr Name würde verwehen, und irgendwann würde man sich an sie nicht mehr erinnern.

Von der Felsenburg waren wenigstens noch ein paar Überreste geblieben, die an eine ruhmreiche Vergangenheit erinnerten.

Roberta wusste wirklich nicht, was mit ihr los war. Die kleine Roberta war nicht das erste Baby, das sie sah, und es konnte auch nicht daran liegen, dass sie diesem Kind zum Leben verholfen hatte.

Lag es daran, dass ihr zum ersten Male bewusst wurde, dass ihre biologische Uhr tickte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, ein Kind zu bekommen. Sie hatte ja noch nicht einmal einen Ehemann. Und was das betraf, da hatte sie nicht das richtige Händchen. Und mit Kay, an den sie immer wieder denken musste, wäre es auch nicht gegangen. Er war aus einem etablierten Leben ausgestiegen. Er hätte sie ganz schön dafür bedankt, wenn er die Verantwortung für ein Kind hätte übernehmen müssen.

Sie musste hier weg, sie musste auf andere Gedanken kommen. Das, was ihr jetzt durch den Kopf ging, das war wie Gift.

Sie begab sich noch einmal zu ihrem Patienten, und das lenkte Roberta sofort ab. Sie war mit Leib und Seele Ärztin, und wenn sie als solche handelte, dann gab es keinen Platz für etwas anderes, auch nicht für verführerische Gedanken.

Als sie ging, war sie in Gedanken bereits bei dem nächsten Patienten, und dann rief auch noch Ursel Hellenbrink an, die in der Praxis etwas aufarbeiten wollte und erinnerte sie daran, dass eine Patientin eine halbe Stunde vor dem üblichen Praxisbeginn kommen würde.

*

Rosmarie Rückert wusste mit sich selbst nichts anzufangen, und wenn sie sich in diesem Zustand befand, half es meistens, wenn sie auf Shoppingtour ging und ihre Kreditkarten glühen ließ.

Es hatte immer Spaß gemacht. Warum wunderte sie sich eigentlich nicht, dass es damit vorbei war?

Schon im ersten Laden hatte sie keine Lust, ein zweites Outfit anzuziehen.

Das konnte es nicht sein. Seit die uneheliche Tochter ihres Mannes, Cecile, in ihrem Leben war, hatte das eine ganz drastische Änderung erfahren. Sie hatte die Lust an ihrem Leben verloren, das sich bis dahin meist im Außen abgespielt hatte.

Es war wirklich verrückt. Egal, was sie machte, sie fragte sich insgeheim, ob es Cecile wohl auch so tun würde. Und diese Fragen beantwortete sie sich meistens mit einem klaren »Nein«.

Was war es nur, was sie sich so sehr nach Cecile richten ließ? Ihre unauffällige, beinahe bescheidene Art, obwohl Cecile nicht wusste, wohin mit ihrem Geld?

Rosmarie war sich nicht sicher, aber es konnte durchaus sein. Cecile war mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden, während sie arm aufgewachsen war, in sehr bescheidenen Verhältnissen. Und nachdem sie ihren Mann Heinz kennengelernt und geheiratet hatte, war sie wie entfesselt gewesen und hatte das Geld wirklich mit vollen Händen ausgegeben. Und da Heinz ein großzügiger Mensch war und genug verdiente, um all ihre Bedürfnisse zu befriedigen, hatte er sie nicht behindert.

Was Rosmarie jetzt bedauerte, das war nicht das Geld, das sie verschwendet hatte. Nein, es war die Erkenntnis, dass über ihrem selbstsüchtigen Tun ihre Kinder auf der Strecke geblieben waren, die sie Kinderfrauen überlassen hatte und die es ihr jetzt durch Ignoranz heimzahlten. Und sie hatte keine Idee, wie sie das ändern konnte.

Sollte sie sich vor Fabian und Stella auf den Fußboden werfen und um Verzeihung bitten?

Das ging ja wohl zu weit.

Aber was sollte sie tun?

Obwohl sie doch nichts kaufen wollte, steuerte Rosmarie wie fremdbestimmt auf ein dunkelblaues Seidenkleid mit kleinen weißen Punkten zu, riss es vom Haken und sagte: »Das möchte ich jetzt probieren.«

Sie war noch nicht einmal in dar Umkleidekabine, als ihr bewusst wurde, dass sie sich just in dem Augenblick dazu entschlossen hatte, als sie an ihre Kinder denken musste.

Sie war keine Psychologin, hatte keinerlei Erfahrung in dieser Hinsicht, aber eines war ihr klar. Das, was sie bewog, dieses Kleid anzuprobieren, war eine reine Ersatzbefriedigung. Und das erschreckte sie.

War das nicht ein Zeichen dafür, jetzt mal ganz unabhängig von ihren Kindern, dass sie ein leeres Leben führte, das sie versuchte auszufüllen durch beispielsweise sinnlose Käufe?

Das erschreckte Rosmarie so sehr, dass sie es einfach nicht fertigbrachte, in dieses Kleid zu schlüpfen, obwohl es eigentlich sehr hübsch war und sie wusste, dass sie solche getupften Sachen gut tragen konnte.

Sie reichte der Verkäuferin das Kleid, die sie recht irritiert anblickte und sagte: »Tut mir leid, mir ist gerade eingefallen, dass ich weg muss. Vielleicht ein andermal.«

Sie raffte ihre Sachen zusammen, dann verließ sie eilig das Geschäft und stieß dort beinahe mit einer Frau zusammen.

Es war ausgerechnet Teresa von Roth, die Großmutter ihrer Schwiegertochter und ihres Schwiegersohnes.

»Hallo, Rosmarie«, sagte Teresa. »Was ist los, du hättest mich ja beinahe über den Haufen gerannt?«

Sie sah sich Rosmarie genauer an, die, wie immer, fantastisch aussah. Ein wenig irritiert bemerkte sie keine einzige Einkaufstüte bei ihr, und das war ungewöhnlich.

Wenn Teresa diese Frau hier und da schon mal in Hohenborn traf, und das kam nicht so oft vor, weil sie keine Lust dazu hatte, in dem Städtchen herumzulaufen, dann war Rosmarie immer vollbepackt gewesen, mit so vielen Einkaufstüten, die sie kaum tragen konnte.

Rosmarie bemerkte den Blick.

»Ich …, ach …, äh, ich wollte da ein Kleid anprobieren, doch aus der Nähe gesehen, gefiel es mir doch nicht so gut.«

Sie wollte von sich ablenken, und deswegen erkundigte sie sich.

»Und was machst du hier? Und wo ist Magnus? Normalerweise tretet ihr zwei doch immer im Doppelpack auf!«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Teresa, »aber Magnus hatte mehr Lust, mit Luna um den See zu laufen. Heute ist ja ein so schönes Wetter. Aber ich wollte unbedingt die von mir bestellten Bücher abholen. Wenn ich nicht genug Lesematerial habe, werde ich grantig. Und ja, nun mache ich noch einen Abstecher zum Heim des Hohenborner Tierschutzvereins. Ich habe bei uns wieder ein paar Spenden gesammelt, und dort freut man sich über jeden Cent.« Sie blickte Rosmarie an, überlegte kurz. »Komm doch einfach mit, ich könnte darauf wetten, dass du noch niemals dort warst.«

Nein, war sie nicht. Rosmarie traute sich nicht, Teresa zu sagen, dass sie nicht einmal wusste, wo dieses Tierheim genau war.

Aber ins Tierheim?

Sie?

Rosmarie zögerte.

»Dorthin zu gehen, das ist auf jeden Fall sinnvoll, seine Einstellung zu Tieren einmal zu überprüfen. Du glaubst ja überhaupt nicht, wie einfach es sich viele Menschen machen. Sie kaufen ein Tier, und wenn sie merken, dass es Arbeit macht oder dass es deren Erwartungshaltung nicht erfüllt, wird es entsorgt oder ins Heim gebracht. Und das war es dann.«

Teresa konnte sich in Rage reden, wenn es um die Tiere ging. Sie engagierte sich, sie sammelte, sie versuchte, Tiere zu vermitteln. Und es war selbstverständlich gewesen, für ihre Enkelin den Ersatz für ihren geliebten Jonny aus dem Tierheim zu holen, nicht irgendwo bei einem Züchter. Sie hatten mit Luna großes Glück gehabt. Luna war ein reinrassiger Labrador. Sie war einfach ausgesetzt worden, weil das doch nicht das richtige Weihnachtsgeschenk gewesen war.

Da Rosmarie noch immer nichts sagte, blickte Teresa ihr Gegenüber an.

»Was ist nun? Kommst du mit oder nicht? Wir könnten hernach auch noch irgendwo einen Kaffee trinken, und du erzählst mir, was du so treibst.«

Rosmarie hatte vor Teresa großen Respekt, aber sie bewunderte sie auch grenzenlos. Also nickte sie und sagte: »Gut, ich komme mit.«

Das freute Teresa, die sich sofort strammen Schrittes in Bewegung setzte, so schnell, dass Rosmarie Mühe hatte, ihr zu folgen. Welch ein Glück, dass sie einigermaßen bequeme Schuhe anhatte, mit ihren Stielettos, die sie mit Vorliebe trug, wäre das überhaupt nicht möglich gewesen.

Nach einer knappen Viertelstunde standen sie vor dem Tierheim des Tierschutzvereins, und Rosmarie hätte hinter diesen Mauern so etwas niemals vermutet.

Sie wurden von Frau Doktor Fischer, der Leiterin herzlich begrüßt, und die nahm hocherfreut die Spende entgegen.

»Ach, Frau von Roth, es ist unglaublich, wie sehr Sie sich für uns einsetzen, und wie unermüdlich Sie sammeln. Es ist wirklich eine große Hilfe.«

Dann wurde sie abberufen, und Teresa von Roth sagte: »Dann sehen wir uns mal um, damit Sie einen Einblick bekommen.«

Viel Lust hatte Rosmarie wirklich nicht. Das Gebelle der Hunde störte sie, und den Geruch der Katzen mochte sie überhaupt nicht.

Sie gingen an den Käfigen entlang, und Teresa kannte beinahe jedes Schicksal der Tiere. Manche Tiere hatten eine ganze Menge erleiden müssen und waren teilweise schlimm gequält worden.

Auf einem großen Freigelände liefen die Hunde herum, die frei herumlaufen durften ohne Schaden anzurichten.

Manche der Tiere kannten Teresa, und die zauberte ein paar Leckerli aus ihrer Tasche.

Es gab wirklich Hunde, die sehr schön aussahen. Rosmarie konnte nicht begreifen, wieso man die nicht haben wollte. Ein Tier hatte es ihr besonders angetan, der ihr gegenüber auch sehr zutraulich war. Teresa gab ihr ein paar Leckerli und forderte sie auf, die an das Tierchen zu verfüttern. Es war ein noch sehr junger, ausnehmend schöner Beagle, und es wunderte Rosmarie überhaupt nicht, dass man ihn Beauty genannt hatte.

Rosmarie bückte sich, verfütterte die Leckereien, und sie traute sich sogar, die kleine Beauty zu streicheln. Und als sie weitergingen, folgte sie ihnen, blieb aber immer an Rosmaries Seite.

»Ich glaube, du hast eine Freundin gewonnen«, bemerkte Teresa.

Ein nicht zu beschreibendes Gefühl überkam Rosmarie. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas mit Hunden zu tun gehabt, überhaupt nicht mit Tieren. Und Fabian war beinahe schon erwachsen gewesen, als er sich durchgesetzt und einen Collie gekauft hatte. Daraus waren mehrere geworden, und einen davon hatte die kleine Auerbach bekommen und viele Jahre Freude an ihrem Jonny gehabt.

Beauty bellte sie freudig an, und Rosmarie bückte sich, um die kleine Hundedame zu streicheln.

»Ich glaube, ich nehme sie mit«, sagte sie ganz spontan und war beinahe erschrocken über sich selbst.

Damit war Teresa allerdings nicht einverstanden.

»Rosmarie, einen Hund kauft man nicht wie eine Handtasche, an der man gerade Gefallen findet und die man im Schrank verschwinden lassen kann, wenn man sie nicht mehr mag.«

Rosmarie war sofort still und wirkte ziemlich verunsichert.

»Tut mir leid, Rosmarie, das hätte ich jetzt nicht sagen dürfen. Und ich entschuldige mich in aller Form bei dir. Aber weißt du, wenn es um die Tiere geht, dann kann ich militant werden. Was diese Tiere teilweise mitgemacht haben, wie traumatisiert sie streckenweise sind. Und warum sind sie das? Weil Menschen sich gedankenlos ein Tier anschaffen, ohne sich über die Konsequenzen klar zu sein. Du hast dich jetzt spontan für Beauty entschieden, weil sie ein ausnehmend schöner Hund ist, weil es dir gefällt, wie anhänglich sie ist. Das reicht nicht, es erfordert sehr viel mehr, sich auf einen Hund einzulassen.«

Als sie Rosmaries bedröppeltes Gesicht sah, lenkte sie ein: »Warum kommst du nicht erst einmal her, besuchst die kleine Schönheit, spielst mit ihr. Frau Doktor Fischer sieht es auch gern, wenn man für ein Tier so etwas wie eine Patenschaft übernimmt. Das heißt, man kann mit dem Tier auch Spaziergänge unternehmen. Und wenn du nach einer gewissen Zeit noch immer Beauty haben möchtest, dann solltest du dich dafür entscheiden. Vorher nicht.«

Teresa hatte ja recht, aber deren Worte machten Rosmarie so betroffen.

»Du traust es mir nicht zu«, sagte sie leise, und weil Teresa nichts sagte, fuhr sie fort: »Nun ja, du weißt ja, dass ich zu Fabian und Stella nicht das beste Verhältnis habe. Und bestimmt haben sie dir auch erzählt, welch grottenschlechte Mutter ich war. Und klar, wie soll jemand, der für seine Kinder nicht da war, besser zu einem Tier sein, und wenn ich …«

Teresa von Roth unterbrach sie einfach.

»Kannst du jetzt bitte damit aufhören, Rosmarie? Erst einmal erlaube ich mir kein Urteil darüber, ob du eine gute oder eine schlechte Mutter bist. Jeder tut, was er kann. Was ich dir vorher erzählt habe, hat nichts damit zu tun, ob man als Mutter versagt hat oder nicht. Ich spreche einfach aus Erfahrung, und der Beweis dafür, dass ich recht habe, das sind die überfüllten Tierheime. Und du scheinst deine Kinder nur schlecht zu kennen. Weder Fabian noch Stella haben sich bei mir über dich beklagt.«

Rosmarie wäre am liebsten im Fußboden versunken, sie fühlte sich dieser Frau gegenüber immer so klein. Dabei tat Teresa nun wirklich nichts, um sich zu profilieren. Sie war einfach nur eine starke Persönlichkeit, die man bewundern musste.

Teresa klopfte Rosmarie auf die Schulter.

»Ich schlage vor, du verabschiedest dich jetzt von deiner kleinen Freundin. Und wir zwei gehen zusammen einen Kaffee trinken. Hier ganz in der Nähe gibt es ein entzückendes kleines Bistro, in dem man den allerbesten Kaffee und allen nur möglichen Variationen bekommt. Mir schmeckt am allerbesten der Café au lait. Und ehe wir gehen, verabschieden wir uns von Frau Doktor Fischer, sagen ihr, dass du an Beauty interessiert bist, dass du aber Zeit zum Überlegen brauchst und deswegen erst einmal besuchsweise herkommen möchtest und mit Beauty auch spazieren gehen willst.«

»Wird sie mich da nicht für unsicher halten?«, erkundigte Rosmarie sich besorgt.

Teresa schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, sie wird dich für verantwortungsbewusst halten«, sagte Teresa.

Sie kramte die letzten Leckerli aus ihrer Tasche, gab sie Rosmarie, und die beugte sich wie ein reich beschenktes Kind zu Beauty hinunter und verfütterte sie an sie, dann streichelte sie das Tierchen, versprach wiederzukommen, ehe sie Teresa folgte. Sie war ziemlich nachdenklich geworden.

Sie in einem Tierheim.

Sie vernarrt in einen Hund.

Das war etwas, was Rosmarie niemals für möglich gehalten hätte. Die alte Rosmarie schien immer mehr zu verschwinden, und es kam eine Frau zum Vorschein, mit der sie selbst erst einmal lernen musste, umzugehen.

Wer war sie wirklich?

Wenn sie die alte Rosmarie nicht mehr war, dann bedeutete das doch, dass sie in all den Jahren an sich vorbeigelebt und nur eine Rolle gespielt hatte.

Rosmarie Rückert war ziemlich verwirrt. Sie konnte sich alles nicht erklären. Schön, gewisse Veränderungen bei sich hatte sie Cecile zugeschrieben, der unehelichen Tochter ihres Mannes.

Aber die plötzlich erwachte Tierliebe. Womit ließ sich die erklären? Oder suchte sie nur so eine Art von Ersatzbefriedigung, weil ihre Kinder ihr entglitten waren?

Ihr gingen so viele Gedanken durch den Kopf, und so sehr sie sich auch darauf freute, mit Teresa von Roth einen Kaffee zu trinken, am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen, um sich wieder ein wenig zu sortieren. Aber vielleicht wurde sie von Teresa auch abgelenkt, die war immerhin eine Frau, die etwas zu sagen hatte. Und da war Inge Auerbach schon sehr zu beneiden, eine solche Mutter zu haben. Vielleicht wäre ja auch bei ihr manches anders gelaufen, wenn sie andere Eltern gehabt hätte.

*

Das kleine Bistro war wirklich entzückend, und es war Teresa auch gelungen, sie nicht nur abzulenken, sondern auch ein wenig aufzubauen, und Rosmarie war ganz glücklich gewesen, als Teresa ihr zum Schluss vorgeschlagen, doch mal wieder gemeinsam in das Tierheim zu gehen. Das war beinahe wie ein Ritterschlag gewesen.

Rosmarie war so aufgewühlt, dass sie jetzt unmöglich nach Hause gehen konnte. Sie musste es Heinz erzählen, und da konnte sie nicht warten, bis er nach Hause kam, und am Telefon sprach man auch nicht darüber.

Und da sie gerade an seinem Notariat vorbeikam, ging sie hinein und ließ sich von seiner Sekretärin bei ihm anmelden.

Das musste sein, auch bei der Familie, Heinz liebte es überhaupt nicht, einfach überfallen zu werden.

Zum Glück war Heinz allein, und sie durfte auch sofort in sein Allerheiligstes.

»Rosmarie, ist etwas passiert?«, erkundigte er sich besorgt.

Rosmarie setzte sich.

»Das kann man wohl gegen«, rief sie aufgeregt, und dann erzählte sie ihm von ihrem Besuch im Tierheim zusammen mit Teresa von Roth, und sie begann von Beauty zu schwärmen.

Bekam Heinz Rückert eigentlich alles mit, was aus seiner Frau nur so heraussprudelte?

Eher nicht, denn als sie eine kurze Sprechpause machte, erkundigte er sich: »Wo warst du, Rosmarie?«

Er musste sich verhört haben.

»Im Tierheim, Heinz, du hast schon richtig gehört. Ohne Teresa wäre ich da niemals hingekommen, ich wusste ja nicht einmal, wo es ist. Heinz, du glaubst überhaupt nicht, wie viele Tiere dort eingeliefert werden, das Heim platzt aus allen Nähten, und Teresa ist ganz großartig, sie unterstützt das Haus, wo sie nur kann, sie sammelt unermüdlich Spenden, und ich glaube …«

Heinz Rückert unterbrach seine Frau.

»Rosmarie, ich habe nicht viel Zeit, ich habe gleich die nächste Beurkundung. Warum erzählst du mir das alles? Willst du, dass wir auch spenden? Schön, kein Problem. Dann geben wir halt auch, sagen wir mal fünfzig Euro.«

Rosmarie starrte ihren Mann entgeistert an. Darum ging es überhaupt nicht, und fünfzig Euro, das war ja wohl eine Zumutung. Sie war sauer, weil sie merkte, dass er ihr nicht richtig zugehört hatte.

»Da musst du aber noch mindestens eine Null dranhängen«, sagte sie spitz.

»Fünfhundert? Meinst du das im Ernst?«

Sie nickte entschlossen.

»Es können aber auch ruhig tausend Euro sein, und nach oben ist noch viel Luft. Es ist für einen guten Zweck, und denke doch bloß, wie wir für vieles, was überhaupt nicht nötig ist, das Geld aus dem Fenster werfen. Jeder Cent ist gut angelegt.«

So entschlossen hatte Heinz Rückert seine Frau noch nie erlebt, und dass sie sich für Tiere engagierte, war auch eine Seite an ihr, die er noch nicht kannte. Rosmarie hatte sich verändert, und allmählich machte es ihm Angst. Wohin würde es noch führen?

Rosmarie und ein Besuch von ihr im Tierheim, das war für ihn noch immer nicht vorstellbar. Aber es schien ihr ernst zu sein, und deswegen holte er aus einer Kassette zwei Fünfhundertnoten heraus, schob sie seiner Frau zu.

»Aber sorge bitte dafür, dass du eine Spendenbescheinigung bekommst, damit wir es auch von der Steuer absetzen können.«

Zufrieden strich Rosmarie das Geld ein und überlegte, dass sie es doch sofort zu Frau Doktor Fischer bringen konnte und dabei hatte sie die Gelegenheit, noch mal Beauty zu sehen.

Apropos Beauty …

»Und was sagst du zu dem kleinen Beagle, von dem ich dir erzählt habe?«

Er sah sie so entgeistert an, dass sie jetzt sicher sein konnte, dass er nicht zugehört hatte. Also wiederholte sie, dass sie sich in Beauty verliebt hatte.

Was sagte sie da?

»Willst du damit sagen, dass du einen Hund haben möchtest, Rosmarie? Du und ein Hund. Das geht ja nun überhaupt nicht. Bei dir kann ich mir eine ganze Menge vorstellen, das aber nun überhaupt nicht.«

Schon wollte Rosmarie heftig reagieren, als die Tür geöffnet wurde, seine Sekretärin den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte: »Bitte entschuldigen Sie, Herr Doktor Rückert. Aber der Mandant ist früher gekommen. Soll ich ihn bitten zu warten, oder …«

Heinz ließ sie gar nicht erst aussprechen. Ihm war anzusehen, wie unendlich erleichtert er war, weil ihm das weitere Diskussionen mit Rosmarie ersparte, und die würde es geben. Er kannte doch seine Frau.

»Nein, nein, es ist okay, bringen Sie mir den Vorgang und dann bitten Sie den Mandanten herein. Meine Frau will jetzt gehen.«

Wollte sie nicht, aber sie wollte auch in Gegenwart seiner Sekretärin keinen Streit anfangen. Das wollte er ebenfalls nicht, und deswegen sagte er nur hastig: »Rosmarie, wir sprechen heute Abend in aller Ruhe über alles, einverstanden?«

Sie konnte nur nicken, dann verließ sie sein Büro. Sie würde Frau Doktor Fischer das Geld bringen, und sie würde sich noch einmal Beauty ansehen, aber vorher würde sie sich Leckerli besorgen, viele Leckerli. Schließlich gab es im Tierheim auch viele Tiere, die sich gewiss alle freuten, ein wenig verwöhnt zu werden.

Als sie das Bürogebäude verließ, kniff sie sich vorsichtshalber in den Arm. Ja, sie war es wirklich, stellte sie voller Verwunderung fest.

*

Roberta hatte lange überlegt, ob sie sich an diesem Sonntag überhaupt anziehen sollte. Nur der Gedanke, dass sie eine Person der Öffentlichkeit war, dass Notfälle, auch wenn sie keinen Notdienst hatte, eintreten konnten, hatten sie veranlasst, sich doch anzuziehen. Sie trug eine gemütliche Hose, einen bequemen Pullover. So konnte sie auf jeden Fall Leute empfangen.

Bislang war alles perfekt gewesen, sie hatte lange geschlafen, ausgiebig gebadet, sich von Kopf bis Fuß eingecremt, und ihre Haare hatte sie nach dem Waschen einfach nur locker hochgesteckt. Sie hatte gefrühstückt, und jetzt saß sie mit ihrer Zeitung am Tisch und war fest entschlossen, sie von vorn bis hinten zu lesen, sie würde nicht einmal das Kreuzworträtsel auslassen.

Roberta konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so entspannt gewesen war.

Sie wollte sich gerade einem neuen Artikel zuwenden, als es an ihrer Haustür wild klingelte. Es schien ja jemand unentwegt seinen Finger auf dem Klingelknopf zu halten. Glaubte diese Person vielleicht, sie könnte fliegen? Roberta war ziemlich ungehalten, als sie die Haustür öffnete.

»Du?«, konnte sie nur entgeistert sagen.

Der neue Sonnenwinkel Staffel 2 – Familienroman

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