Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 2 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 9
ОглавлениеDoktor Roberta Steinfeld hätte mit allem gerechnet, aber gewiss nicht mit ihrer Freundin Nicki, die unerwartet vor ihrer Tür stand und beinahe ihre Klingel abgerissen hätte, so heftig hatte sie Einlass begehrt.
So stürmisch zu sein, passte nicht zu Nicki, und an einem Sonntagmorgen so früh unterwegs zu sein, passte erst recht nicht.
Roberta starrte ihre Freundin wie einen Geist an, und ihr »Du?«, war nicht unberechtigt.
Nicki fiel Roberta um den Hals, dann sagte sie, und ihre Stimme klang atemlos: »Ich habe nur ganz kurz angehalten, um dich zu begrüßen, und ich fahre auch gleich weiter. Mein Gepäck lasse ich direkt im Kofferraum, und wenn ich …«
Roberta unterbrach ihre Freundin. Was war denn mit Nicki los?
Sie wirkte aufgewühlt, hatte hektische rote Flecken im Gesicht, war fahrig.
Roberta blieb ganz ruhig.
»Ich wünsche dir auch einen guten Morgen«, sagte sie, »und dann kommst du erst einmal ins Haus und sagst am besten ganz langsam Heuwägelchen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber augenblicklich überholst du dich selbst in der Kurve.«
Roberta legte ihrer Freundin einen Arm um die Schulter, und ehe sie mit ihr ins Wohnzimmer ging, sagte sie: »Schön, dass du da bist. Wir haben uns seit gefühlten Ewigkeiten nicht gesehen, und wir telefonieren auch kaum noch, seit du deinen Malcolm hast.«
Nicki reagierte heftig.
»Höre auf von dem. Den Namen möchte ich niemals mehr hören. Verstehst du, niemals mehr.«
Diese heftige Reaktion machte Roberta betroffen. Sollten sich ihre Befürchtungen bewahrheitet haben? Ohne ihn zu kennen, hatte sie vom ersten Moment an ein ungutes Gefühl gehabt. Ein Mann, der mich angeblich so sehr liebt, der trifft sich mit mir nicht nur in Hotels, sondern zeigt mir sein Haus und ist auch daran interessiert zu sehen, wie ich wohne.
Roberta schob ihre Freundin zu einem Sessel, bot ihr einen Kaffee an, den Nicki ablehnte.
»Ich bin eh gleich wieder weg«, sagte sie.
Wohin wollte sie eigentlich? Der Sonnenwinkel lag nicht gerade an einer Hauptverkehrsstraße. Und bei aller Liebe, ihretwegen hätte Nicki keinen großen Umweg gemacht.
»Nicki, ich habe kapiert, dass du auf der Durchreise bist. Aber jetzt möchte ich wissen, was los ist. Malcolm Hendersen war doch der Mann, den du heiraten wolltest. Zumindest ist das meine letzte Information. Was ist passiert?«
Nicki war so wütend, dass sie vor lauter Zorn nicht einmal weinen konnte.
»Er hat mir etwas vorgemacht. Er hat mich belogen, er hat geglaubt, mich mit seinem Geld kaufen zu können, dabei ist es nicht einmal sein Geld.«
»Halt, Nicki, bitte der Reihe nach. Wenn du sagst, es ist nicht sein Geld …, gehört es seiner Frau? Ist er verheiratet?«
Nicki bekam einen roten Kopf, und jetzt liefen doch ein paar Tränen.
»Ich bin zufällig dahinter gekommen, und natürlich konnte er mich nicht mit nach Hause nehmen, dort sitzen seine Frau und seine Kinder. Und jetzt weiß ich auch, dass sie das Geld hat. Aber sie ist großzügig genug, es ihn ausgeben zu lassen. Und er hat geglaubt, ich würde mich mit dem Status einer Geliebten zufriedengeben, wenn er mich nur verwöhnt und reich beschenkt. Ich bin doch nicht käuflich …, es ärgert mich ja so sehr, dass ich auf ihn hereingefallen bin und all seine Lügen. Ich habe ihm ganz gehörig meine Meinung gesagt, und dann bin ich gegangen. Dabei hat er mich angefleht, bei ihm zu bleiben. Aber die Geliebte eines verheirateten Mannes, das ist ja wohl ein absolutes No-Go. Ich hätte mich niemals auf ihn eingelassen, wäre mir das sofort bekannt gewesen.«
Sie atmete tief durch.
»Jetzt habe ich von Experimenten endgültig die Nase voll, und ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde zu Roberto fahren, ihm sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe, und ich werde ihm sagen, dass ich bei ihm bleiben möchte. Er ist der tollste Mann, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, und da man ja bekanntlich nicht alles haben kann, bin ich fest entschlossen, für ihn den Sonnenwinkel und auch sein Restaurant in Kauf zu nehmen. Und zu ihm möchte ich jetzt, ich möchte keinen Augenblick versäumen. Ich habe schon zu viel Zeit vertrödelt. Ich liebe ihn, wie ich noch nie zuvor einen Mann geliebt habe. Es war dumm von mir, ihn zu verlassen. Aber wie sagt man so schön? Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Malcolm hätte ich mir ersparen können, und es gibt leider viele Malcolms auf dieser Welt. Einen Roberto gibt es nur einmal. Ich hätte auf dich hören sollen. Aber ist es nicht schön, dass ich mich besonnen habe und endlich schlau geworden bin? So verkehrt ist es doch überhaupt nicht, herzuziehen, ich bin dann auch in deiner Nähe. Ich vermisse schon die Zeiten, die wir miteinander verbracht haben, als du noch mit diesem schrecklichen Max verheiratet warst und in meiner Nähe wohntest.«
Manche Katastrophen bahnen sich an.
Doch mit dem, was sich da gerade abspielte, hätte Roberta nicht in ihren kühnsten Träumen gerechnet. Es war entsetzlich! Es war wie in einem schlechten Film!
»Nicki, setz dich wieder«, ächzte sie schließlich, während ihre Gedanken sich überschlugen. Wie sollte sie es Nicki beibringen?
Nicki dachte nicht daran, sie traf Anstalten, sich in Richtung Haustür zu bewegen.
Hier half kein Drumherumreden, hier kam sie nur mit der bitteren Wahrheit weiter.
»Nicki, es ist keine gute Idee, zu Roberto zu fahren«, sagte sie schließlich.
Nicki hielt inne, und Roberta atmete auf, als sie sah, dass Nicki sich wieder hinsetzte. Das war auch bitter nötig.
»Und wieso nicht? Heute ist Sonntag, da wird er gewiss nicht zum Großmarkt gefahren sein.«
Roberta atmete tief durch.
»Nein, aber es hat sich einiges geändert. Roberto ist nicht nur verheiratet, nein, seine Frau bekommt auch ein Kind …, ein Wunschkind. Die beiden sind sehr glücklich.«
Es war so still im Raum, dass man beinahe seinen eigenen Atem hören konnte.
Nicki war wie erstarrt, und Roberta überlegte fieberhaft, ob sie jetzt aufstehen und zu Nicki gehen sollte, um sie in den Arm zu nehmen.
Sie, die souveräne Ärztin, fühlte sich augenblicklich ziemlich überfordert.
Welch verfahrene Situation!
Roberto Andoni hatte Nicki über alles geliebt, und er hatte alles versucht, sie von sich und dem Leben mit ihm zu überzeugen.
Nach einer OnOff-Beziehung, nach einer wunderschönen Liebesnacht, hatte Nicki ihm einen Abschiedsbrief geschrieben, und dann war sie aus seinem Leben verschwunden.
Oh Gott!
Nicki fasste sich nach einiger Zeit zuerst.
»Und warum habe ich das nicht erfahren?«, blaffte sie Roberta an.
Die musste schlucken. Eine solche Anschuldigung konnte sie nicht auf sich sitzen lassen.
»Weil du mir verboten hast, über Roberto oder den ›Seeblick‹ zu reden. Du wolltest nichts mehr davon wissen, und als ich dennoch versuchte, dich zu informieren …«, sie machte eine kleine Pause, um ihren nächsten Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, »erinnerst du doch daran, dass du tagelang nicht mit mir gesprochen hast und mir sogar die Freundschaft kündigen wolltest, wenn ich es noch einmal gewagt hätte, über Roberto und sein Leben zu sprechen.«
Sie blickte Nicki an, die wie versteinert in ihrem Sessel saß. Sie konnte einem so richtig leidtun.
Es war auch ein bisschen viel auf einmal.
Zuerst erfahren zu müssen, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, verheiratet war. Und der Mann, den sie liebte, zu dem sie wollte, war es nun auch.
Aber bei ihm hätte es nicht sein müssen. Wenn sie es nur gewollt hätte, dann wäre sie die Frau an seiner Seite.
Das war ganz schön heftig.
Nach einer ganzen Weile erkundigte Nicki sich: »Und was ist das für eine Frau, die er geheiratet hat? Hoffentlich ist sie so ein richtiger Besen.«
Sie war verletzt, dabei gab es dafür überhaupt keinen Grund. Sie hatte ihn verlassen.
»Nein, sie ist sehr nett«, erwiderte Roberta wahrheitsgemäß.
Das war eine Antwort, die Nicki nicht gefiel.
»Nun ja, aber raffiniert scheint sie zu sein, denn sonst wäre es ihr nicht gelungen, sich an ihn heranzumachen und ihn dazu zu bewegen, sie zu heiraten.«
So, wie Nicki jetzt drauf war, würde sie kein gutes Wort an der armen Susanne lassen, dabei war die wirklich ein überaus sympathischer und herzlicher Mensch.
»Die beiden sind sich auf einer Verbrauchermesse begegnet, fanden sich sympathisch, und dann hat sich alles Weitere ergeben. Er war frei, sie war frei. Herrgott noch mal, Nicki, Roberto ist ein sehr attraktiver und liebenswerter Mensch. Da ist es doch normal, dass Frauen sich für ihn interessieren. Was hast du denn erwartet? Dass er dir ein Leben lang nachweinen soll? Du wolltest ihn nicht mehr, vergiss das nicht. Und jetzt nimm es hin und gönne ihm und Susanne sein Glück.«
Nicki warf ihrer Freundin einen bitterbösen Blick zu.
»Es sieht ja ganz so aus, dass du voll und ganz auf ihrer Seite bist.«
Sollte Roberta diese törichten Worte einfach ignorieren? Nein, das ging nicht.
»Ich gönne ihnen ihr Glück. Roberto hat ganz schön gelitten, als du Knall auf Fall gegangen bist. Nicki, was erwartest du eigentlich? Du hinterlässt verbrannte Erde und erwartest, dass darauf niemals mehr etwas wachsen kann. Wäre dieser Malcolm nicht ein solcher Reinfall gewesen, wäre es dir niemals in den Sinn gekommen, auch nur einen Gedanken an Roberto Andoni zu verschwenden. Aber weil dieser Malcolm ein Fehlgriff war, kam es dir in den Sinn, dass da doch noch etwas war. Nicki, es tut mir leid, du bist meine allerbeste Freundin, aber das bedeutet nicht, dass du Narrenfreiheit genießt. Werde jetzt nicht kleinlich und versuche, Susanne und Roberto niederzumachen.«
»Aber ich liebe ihn wirklich. Ich war zwischendurch nur etwas verblendet. Ich habe wirklich noch nie zuvor einen Mann so sehr geliebt wie Roberto.«
»Nicki, wenn es wirklich so gewesen wäre, dann hätte es dir nichts ausgemacht, dass er ein Restaurant hat, dass er in der halben Nacht täglich zum Großmarkt muss, und dann hättest du dich ohne darüber nachzudenken mit dem Sonnenwinkel arrangiert. Wenn man jemanden wirklich liebt, dann zählt der Mensch allein, dann zählen nicht die äußeren Umstände.« Sie zögerte kurz, warf Nicki einen nachdenklichen Blick zu, fragte sich, sollte sie oder sollte sie nicht. Sie entschloss sich dafür, es auszusprechen. »Sieh einmal, Susanne hatte auch nichts mit der Gastronomie am Hut, weil sie sich in Roberto verliebt hatte, hat sie bedenkenlos ihr altes Leben aufgegeben und ist mit ihm in den Sonnenwinkel gegangen, weil er dort lebte und sie sonst keine weitere Chance gehabt hätte, ihn näher kennenzulernen und mit ihm zusammen zu sein.«
Nach diesen Worten war es eine ganze Weile still zwischen den beiden Frauen.
Roberta fragte sich, ob sie gar zu weit gegangen war, und Nicki versuchte, ihre wild durcheinanderwirbelnden Gedanken ein wenig zu ordnen.
Für sie war alles so klar gewesen, in den Sonnenwinkel zu kommen und mit Roberto Andoni dort anzufangen, wo sie aufgehört hatten.
Dass es für ihn eine andere Frau in seinem Leben geben könnte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.
Und nun?
Darüber nachzudenken, war sie überhaupt nicht in der Lage, sie hatte ihn verloren.
Er war mit einer anderen Frau verheiratet.
Schlimmer noch, die beiden erwarteten ein Kind!
Diese Tür war auf jeden Fall für alle Ewigkeit für sie verschlossen, und das machte sie nicht nur ganz schön fertig, sondern sie fühlte sich jeder Perspektive beraubt. Und was besonders schlimm war, Roberto erschien ihr auf einmal wie mit einem Glorienschein umgeben. So etwas wie ihn würde sie niemals mehr finden, und je mehr ihr das klar wurde, umso toller fand sie ihn.
Sie wurde von Schuldgefühlen gepeinigt. Der Gedanke war geradezu unerträglich, dass sie ihn hätte haben können. Sie hatte ihr Glück mit Füßen getreten!
Wie aus weiter Ferne bekam sie mit, wie Roberta sagte, nun doch einen Kaffee kochen zu wollen.
Roberta floh förmlich aus dem Raum, weil sie wirklich nicht wusste, wie sie sich ihrer Freundin gegenüber jetzt verhalten sollte.
Ihr zu sagen, alles sei überhaupt nicht so schlimm, war genauso dumm wie sie daran zu erinnern, es sei alles ihre eigene Schuld.
Während sie den Kaffee kochte, fragte sie sich, ob Nicki Roberto wirklich liebte, oder ob sie sich nur an ihn erinnert hatte, weil sie von diesem Malcolm so sehr enttäuscht worden war.
Nicki hätte aus ihrer jetzigen Situation heraus den Sonnenwinkel und seinen Beruf als Gastronom mit in Kauf genommen. Doch wäre das auf Dauer gut gegangen?
Das wagte Roberta zu bezweifeln. Sie kannte ihre Freundin Nicki. Sich darum jetzt noch Gedanken zu machen, das brachte überhaupt nichts. Das Thema Roberto Andoni war für immer vorbei und somit auch das Thema Sonnenwinkel. Roberto war mit Susanne verheiratet, in ein paar Monaten würden sie Eltern werden.
Als Roberta mit dem Kaffee ins Wohnzimmer kam, saß Nicki vollkommen in sich zusammengesunken in ihrem Sessel und weinte bitterlich.
Jetzt wurde es für Roberta allerhöchste Zeit, ihre Freundin zu trösten.
*
Auch Roberto und Susanne Andoni hatten gemütlich miteinander gefrühstückt und genossen gemeinsam den Sonntagmorgen. Jetzt saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt, und sie kuschelte sich vertrauensvoll an ihn.
Sie waren mit Susannes derzeitigem Lieblingsthema beschäftigt, einen Namen für ihr gemeinsames Kind zu finden.
Roberto ging Susanne zuliebe auf dieses Thema ein, das Männer nicht unbedingt so beschäftigte, wie es bei Frauen der Fall war.
Susanne wollte, dass sie sich auf Mädchennamen konzentrierten, weil sie glaubte, ein kleines Mädchen zu bekommen. Und Roberto zog sie damit auf, dass sie das ja nur wollte, weil man Mädchen so hübsche Kleidchen anziehen konnte.
Sie hatte ihm schon einige Namen vorgelesen, doch die gefielen ihm nicht, und umgekehrt war es auch der Fall. Was immer er auch sagte, fand nicht ihre Zustimmung.
»Maria«, sagte sie ganz spontan, »das ist ein schöner, traditionsreicher Name.«
Roberto lachte.
»Du willst ja unbedingt, dass unser Kind einen italienischen Namen bekommt«, sagte er, »aber weißt du, dass Maria in ganz Italien zu einem der häufigsten Vornamen gehört?«
Also das auch nicht, Susanne überlegte weiter.
»Francesca«, sagte sie schließlich. »Das klingt wie Musik, und so heißt gewiss auch nicht jeder.«
Roberto verstärkte den Druck seiner Arme. Er war so glücklich und entspannt mit Susanne.
»Ja, das ist ein schöner Name«, gab er zu, »aber er ist viel zu lang, und hier kann ihn nicht jeder richtig aussprechen. Und weißt du, wie man das Kind dann vermutlich nennen wird?«
Sie blickte ihn erwartungsvoll an.
»Sag es mir.«
»Franzl oder Fränzi«, sagte er.
Lachend hielt Susanne sich die Ohren zu.
»Okay, für heute gebe ich auf. Sag mal, sollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen? Das Wetter ist heute so herrlich, und wir waren schon lange nicht mehr am See. Wir sehen ihn uns nur von hier oben an.«
Damit war Roberto sofort einverstanden.
»Das ist eine gute Idee, dann lass uns direkt losgehen, einmal um den See schaffen wir bequem, ohne uns hetzen zu müssen. Wenn wir zurückkommen, mache ich uns eine Kleinigkeit zum Mittagessen, und dann muss ich erneut in die Küche zurück, um zusammen mit Luigi alles für das Abendgeschäft vorzubereiten. Und du kannst dich ein wenig hinlegen und ausruhen.«
Susanne winkte ab.
»Ich muss mich doch nicht ausruhen, ich bin keine alte Frau, und ich bin auch nicht krank, sondern schwanger. Ich werde dann schon mal im Restaurant nach dem Rechten sehen, überprüfen, ob die Blumen auf den Tischen noch frisch sind, und ich kann schon mal eindecken. Für heute Abend sind wir ganz gut ausgebucht. Vielleicht sollten wir doch darüber nachdenken, an den Sonntagen auch mittags aufzumachen und damit vielen Kundenwünschen entsprechen.«
Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, Susanne, das lassen wir. Eigentlich sollte der ›Seeblick‹ Sonntag und Montag geschlossen bleiben. Der Sonntagabend ist bereits ein Zugeständnis an unsere Gäste.«
Sie lachte.
»Was sich auf jeden Fall lohnt, wir sind fast immer ausgebucht.«
»Das stimmt, aber Umsatz ist nicht alles. Besonders jetzt, da wir bald ein Kind haben werden, ist es wichtig, Prioritäten zu setzen. Ich möchte mit unserem Kind Zeit verbringen, möchte es bewusst aufwachsen sehen. Was wir an freier Zeit haben, das ist herzlich wenig.«
Sie lehnte sich an ihn.
Susanne konnte ihr Glück noch immer nicht so richtig fassen, und manchmal glaubte sie schon zu träumen, dass sie einen so wundervollen Mann abbekommen hatte.
Er verstärkte den Druck seiner Arme, dann küsste er sie. Das war jetzt wichtig!
Der See kannte noch einen Augenblick warten.
In seinem Leben hatte es mehr Tiefen als Höhen gegeben. Erst mit Susanne war Ruhe bei ihm eingekehrt, und dafür war er so unglaublich dankbar.
Er wusste nicht, warum er gerade jetzt an Nicki denken musste. Er hatte sie geliebt, ja, das hatte er, mit einer unglaublichen Leidenschaft sogar. Aber bei ihr hatte er sich niemals sicher sein können, was im nächsten Augenblick passierte. Es war irgendwie wie ein Leben auf einem Pulverfass gewesen, was jeden Moment in die Luft gehen konnte.
Mit Susanne war alles so klar, irgendwie voraussehbar, ohne dabei langweilig zu sein.
Es lebte sich so gut mit ihr!
Er küsste sie erneut, und er wünschte sich so sehr, die richtigen Worte zu finden, ihr zu demonstrieren, wie wichtig sie für ihn war und wie sehr er sie liebte.
Ja, das war so, er liebte sie. Anders als Nicki, aber sie war ja auch ein ganz anderer Mensch.
Ja, mit ihr wollte er alt werden. Das war sein ganz fester Wunsch, und mindestens drei Kinder wollte er mit ihr auch haben.
Es waren wunderbare Aussichten für die Zukunft. Aber wenn die Gegenwart in Ordnung war, und das war sie, dann brauchte man sich um die Zukunft keine Gedanken zu machen.
Nicki konnte bis über ihre Grenzen hinausgehen und die gesamte Gefühlsskala hintereinander weg durchleben. Aber sie besaß auch die unglaubliche Stärke, sich da auch wieder herauszuholen.
Manchmal war das für die Menschen ihres engeren Umfeldes schlimmer als für sie selbst, denn während die noch darüber nachdachten, was man noch alles für die arme Nicki tun konnte, war die bereits anderweitig beschäftigt.
Roberta hatte wirklich schon Angst gehabt, Nicki könnte sich etwas antun. Und sie überlegte noch, ob sie ihr eine Beruhigungsspritze geben sollte, als Nicki plötzlich aufsprang und sagte: »Sollen wir eine Runde um den See drehen? Da ist es so schön, ich denke, es wird mir guttun.«
Insgeheim atmete Roberta erleichtert auf und war natürlich sofort damit einverstanden. Und aus Angst, die Stimmung bei ihrer Freundin könnte schnell wieder umschlagen, zog sie sich nicht einmal um.
»Das ist eine ganz hervorragende Idee, Nicki«, sagte sie. »Dann lass uns sofort losgehen. Das Wetter verlangt so richtig danach, noch mal rauszugehen und frische Luft zu tanken. Bereits Mitte nächster Woche soll ein neues Tief heraufziehen mit Regen, Sturm und kälteren Temperaturen.«
Ehe sie das Haus verließen, blieb Nicki stehen und umarmte ihre Freundin.
»Danke, Roberta«, sagte sie leise.
»Danke, wofür?«
»Dass ich meinen ganzen Müll bei dir abladen durfte und vor allem danke dafür, dass du ruhig geblieben bist. Ich war ziemlich ungerecht dir gegenüber. Natürlich weiß ich, was ich gesagt habe. Und ich wollte wirklich nichts über Roberto hören. Dass ich es selbst vermasselt habe, damit muss ich fertigwerden. Ich habe mich um das Glück meines Lebens gebracht.«
Nicki konnte eine Dramenqueen sein, aber in diese Richtung durfte sie gar nicht erst abgleiten.
»Nicki, wäre zwischen dir und Roberto alles perfekt gewesen, dann hätte dich nichts davon abbringen können, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu leben. Man hat für alles seine Gründe, und du hattest deine dafür, warum du ihn verlassen hast. Es gibt keinen Zweifel für deine Liebe zu Roberto, es gab aber auch keinen Zweifel daran, wie gruselig du den Sonnenwinkel findest. Rede ihn dir doch jetzt bloß nicht schön. Und für dich war es unmöglich mit einem Mann leben zu müssen, der jeden Tag, den Gott geschaffen hat, in aller Herrgottsfrühe zum Großmarkt muss. So hast du gedacht, als du mit Roberto noch auf Wolke Sieben schwebtest. Was glaubst du wohl, wie du denken würdest, wenn die Werbewochen erst einmal vorbei sind und der Alltag eingekehrt ist?«
Manchmal hatte Roberta mit solchen Ausführungen Glück, heute nicht. Da wollte Nicki die Dramenqueen bleiben.
»Roberta, du musst nichts sagen. Ich habe das Glück meines Lebens verloren, und das sage ich nicht nur so daher. Es ist wirklich so. Aber lass uns bitte davon aufhören. Erzähl mir, wie es bei den Auerbachs weitergegangen ist. Redet ihre Adoptivtochter wieder mit ihnen, oder schmollt sie noch immer. Und wann kommt Alma eigentlich zurück?«
Es konnte Roberta nur recht sein, dass wenigstens vorübergehend das Thema gewechselt wurde. Sie würde es noch aufgreifen. Das stand fest.
Jetzt liefen sie erst einmal los, und eines war wirklich ganz wunderbar. Mit Nicki konnte man ganz hervorragend laufen, wenn die mal ihren inneren Schweinehund überwand und sich auf die Socken machte.
Es war wirklich ein ausnehmend milder Tag, der einen für einen Moment vergessen lassen konnte, wie weit die Jahreszeit bereits fortgeschritten war und dass die kalten, nassen und trüben Tage bald in der Überzahl sein würden. Aber daran mochte man heute nicht denken.
Als sie den verlassenen, mittlerweile ein wenig verwahrlost aussehenden Bootsverleih erreichten, blieb Nicki unvermittelt stehen.
»Es ist eigentlich schade, dass sich kein Nachfolger für diesen …, nun ja, du weißt schon …, gefunden hat. Der Ort hier ist so idyllisch.«
»Du meinst Kay Holl«, sagte Roberta. »Ja, das ist wirklich schade. Aber das große Geld kann man hier mit den Booten nicht verdienen, und darauf war Kay nicht angewiesen. Ihm kam es in erster Linie auf den Platz hier an.«
Nicki warf ihrer Freundin einen forschenden Blick zu.
»Tut es …, äh …, tut es noch sehr weh?«, erkundigte sie sich leise. »Du hast ihn schließlich geliebt, und da muss es dich doch zerreißen, wenn du an den Ort kommst, an dem du mit ihm glücklich warst …, sehr glücklich.«
Vielleicht war es überhaupt nicht so verkehrt, dass Nicki jetzt Kay erwähnte. Da konnte sie Parallelen zu dem ziehen, was Nicki und Roberto und sie und Kay verband.
»Es war wunderschön mit Kay, es war Magie, aber es war keine Liebe, die Bestand im Alltag haben konnte. Er hat sich für das Leben eines etablierten Aussteigers entschieden, und ich bin in meinem bürgerlichen Leben fest verwurzelt und möchte kein anderes haben. Vielleicht werde ich so etwas wie mit ihm niemals mehr erleben. Aber ich bin dankbar dafür, dass er mir gezeigt hat, was Liebe sein kann. Es war schrecklich, ich habe lange gehadert, aber jetzt habe ich an Kay wunderschöne Erinnerungen. Wir hätten niemals einen Alltag gehabt, und wenn du jetzt ganz ehrlich bist, Nicki, dann spricht auch eine ganze Menge gegen dich und Roberto. Wie hätte euer Alltag funktionieren sollen?«
Das wollte Nicki natürlich nicht hören, unvermittelt rannte sie los. Und Roberta hatte überhaupt keine andere Wahl als ihr zu folgen.
Sie hatte sie gerade eingeholt, gemeinsam wollten sie um eine Ecke biegen, als beide unvermittelt stehen blieben.
Sie hätten mit allem gerechnet, damit allerdings nicht. Und den beiden anderen ging es ebenso.
Einen Moment lang standen sie sich stumm gegenüber, Roberta und Nicki und Roberto und Susanne.
Es war Roberta, die sich zuerst fasste und rief: »Ja, das ist eine Überraschung. Ich glaube, dem schönen Wetter heute kann niemand widerstehen. Es scheint mir, der halbe Sonnenwinkel ist auf den Beinen.«
Sie begrüßte Susanne und Roberto, und als sie merkte, dass Nicki davonlaufen wollte, hielt sie ihre Freundin am Ärmel fest.
Sie sagte zu Susanne: »Das ist meine Freundin Nikola Beck«, und zu Nicki: »Und das ist Susanne Andoni, Robertos Frau.«
Die beiden Frauen begrüßten einander, Roberto war ein wenig überfordert und presste sich ein: »Hallo, Nicki …, wenn das kein Zufall ist«, hervor, und weil Nicki nichts sagte, fügte er hinzu: »Du siehst gut aus, die neue Frisur steht dir gut.«
»Danke«, sagte Nicki artig.
Und das war es dann auch schon, redselig war niemand von ihnen. Sie versuchten beinahe zwanghaft, so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
In erster Linie starrten Nicki und Susanne sich an, was auch sehr verständlich war.
Sie waren wohl alle froh, als Roberta sie aus dieser ein wenig misslichen Situation befreite, indem sie sagte: »Ich denke, wir sollten weitergehen. Wir haben nicht einmal die Hälfte geschafft. Und ich fürchte, es wird noch voller werden. Fast scheint es, als sei der halbe Sonnenwinkel auf den Beinen.«
Sie wünschten einander also noch einen schönen Sonntag, ehe sie in entgegengesetzter Richtung weitergingen.
Nicki drehte sich noch einmal um, und genau das tat Susanne. Roberta war sich nicht sicher, ob sie das nicht auch getan hätte.
*
Eine Weile war es still zwischen ihnen, dann platzte es aus Nicki heraus: »Sie scheint ja wirklich nett zu sein, verflixt noch mal, warum ist es keine Frau, die man hassen kann?«
Darauf wusste Roberta keine Antwort, aber die erwartete Nicki auch nicht.
»Roberto wusste überhaupt nicht, wie er damit umgehen sollte«, fuhr sie fort.
»Nicki, du auch nicht. Es war für alle keine einfache Situation. Aber auf jeden Fall keine, in der man mit Messern oder gezückten Pistolen aufeinander zugehen sollte. Ihr habt euch getrennt, es gab kein böses Blut. Wenn, dann hätte Roberto sauer sein können, schließlich hast du ihm den Laufpass gegeben. Aber lass uns jetzt davon aufhören, manches kann man nämlich auch zerreden. Sieh mal da drüben den Seeadler. Ist es nicht wundervoll, wie grandios der über den See schwebt. Ich finde, es gibt nichts Schöneres als einen Adler im Flug.«
»Roberta, du musst mich nicht ablenken. Ist nett von dir gemeint.«
Dann legte sie wieder ein gehöriges Tempo vor, doch diesmal holte Roberta sie nicht ein. Es gab Augenblicke im Leben, da wollte man einfach nur allein sein. Und das musste ein anderer respektieren.
Es war gewiss sehr schwer, mit dem Glück eines anderen konfrontiert zu werden, wenn man besonders angeschlagen war. Und das war Nicki, und Roberto und Susanne war ihr Glück anzusehen.
Verflixt noch mal, das Leben konnte manchmal ganz schön kompliziert sein …
*
Auch zwischen Roberto Andoni und seiner Susanne war es zunächst still, beängstigend still.
Roberto fragte sich, ob und wenn ja, welche Gefühle er noch für seine Ex hatte. Unberührt war er von der Begegnung mit Nicki nicht geblieben.
Und Susanne fand Nicki äußerst attraktiv. Vor allem war sie so ganz anders, und sie passte rein äußerlich auf jeden Fall besser zu einem Italiener mit ihren langen schwarzen Haaren. Sie war klein, zierlich, hatte große dunkle Augen.
Sollte sie jetzt froh sein, dass Roberto sie gebeten hatte, seine Frau zu werden, oder wäre diese Nicki ihr sonst gefährlich geworden, und Roberto wäre zu ihr zurückgekehrt? Es waren keine schönen Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen.
Ahnte Roberto, was seiner Frau durch den Kopf ging?
Er zwang sie, stehen zu bleiben, hob mit einem Finger ihr Kinn ein wenig nach oben und zwang sie so, ihn anzusehen.
»Susanne, was immer du jetzt denkst: Die Gedanken sind falsch, vollkommen falsch. Es war überraschend, Nicki wiederzusehen. Aber es ist vorbei. Du bist die Frau an meiner Seite.«
Das hörte sich gut an.
»Sie ist sehr attraktiv«, sagte Susanne.
»Ja, das ist sie«, antwortete er. »Und zuerst habe ich mich auch in ihr Äußeres verliebt, zumal sie mich an eine Schauspielerin erinnerte, in die ich als Jüngling sehr verliebt war.«
Sie traute sich kaum, ihn anzusehen. Aber eine Frage beschäftigte sie so sehr, dass sie die stellen musste.
»Und heute?«, wollte sie wissen.
»Heute bin ich verrückt nach einer Blondine mit Augen so klar wie Bergseen und einem großen liebevollen Herzen.«
Ein schöneres Kompliment hätte er ihr jetzt nicht machen können, und sie wollte es so gern glauben.
»Susanne, im Leben eines jeden Menschen in unserem Alter gab es Beziehungen, gute oder schlechte, kurze oder langandauernde. Man kann die Gefühle seines Partners doch nicht infrage stellen, wenn man auf jemanden aus seiner Vergangenheit trifft. Es hätte auch umgekehrt sein können, und wir wären mit einem Lover von dir zusammengetroffen. Ehrlich mal, ich hätte dem keinerlei Bedeutung beigemessen, und das solltest du ebenfalls nicht bei Nicki tun. Sie ist jemand aus meinem früheren Leben. Susanne, ich bin mit dir zusammen, weil ich mit dir zusammen sein will. Und aus diesem Grunde haben wir auch geheiratet. Können wir jetzt bitte mit diesem leidigen Thema aufhören?«
Nichts lieber als das.
Sie trafen mit zwei Stammgästen zusammen, und das war gut, denn sie konnten sich ganz neutral unterhalten, und Nickis Schatten wich immer mehr und löste sich im Sonnenschein auf. Das war ein gutes Zeichen.
*
Es war schon verrückt, dass Rosmarie Rückert einfach nicht aufhören konnte, an Beauty zu denken, die kleine Beagledame aus dem Tierheim.
Es war keine Augenblickslaune gewesen, und sie konnte sich ja selbst nicht mehr verstehen. Sie, die niemals einen Bezug zu Tieren hatte, ging dauernd ins Tierheim, um Beauty zu besuchen und sie sogar auszuführen.
Sie musste eine Entscheidung treffen, und sie musste mit Heinz ernsthaft darüber reden. Noch hielt er das alles für einen Spleen und nahm es nicht ernst. Er glaubte, es sei damit getan, ihr hier und da Geld in die Hände zu drücken, damit sie das dem Tierheim spenden konnte. Natürlich gegen eine Spendenbescheinigung, darauf bestand er. Ein wenig kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, das man zufriedenstellen musste, damit es nicht weinte.
Rosmarie hatte es angedeutet, so richtig ausgesprochen hatte sie es bislang nicht, dass sie Beauty gern zu sich nach Hause holen wollte.
Vielleicht wäre es noch eine ganze Weile so weitergegangen und sie hätte sich vorerst damit begnügt, Beauty zu besuchen und mit ihr spazieren zu gehen, wäre ihr nicht aufgefallen, dass sie nicht die Einzige war, die sich für den Hund interessierte. Und das machte sie ein wenig panisch.
Sie hatte gerade mit ihrem Mann gefrühstückt, und er wollte sich erheben, um in sein Notariat zu gehen, als sie sich ein Herz fasste und ihn zurückhielt.
»Heinz, ich muss etwas mit dir besprechen«, sagte sie.
Ziemlich unwillig erkundigte er sich, warum sie nicht schon früher darauf gekommen sei. Schließlich hätten sie ausgiebig miteinander gefrühstückt, und da hätte sie Zeit genug gehabt, mit ihm zu reden.
Heinz hatte recht, sie hatte auch mehrfach versucht, mit ihm zu reden, dann hatte sie es wieder verworfen.
»Weil du mit dem Lesen deiner Zeitung beschäftigt warst«, sagte sie geistesgegenwärtig, »und das ist dir heilig.«
Stimmte auch!
Er seufzte, setzte sich wieder hin.
»Was ist es also, was so wichtig für dich ist, dass es bis heute Abend nicht warten kann?«
Rosmarie atmete tief durch, erzählte ihm, dass er doch von ihren Besuchen im Tierheim wisse.
»Und ob ich das weiß, es kostet mich ja auch jedes Mal etwas«, brummte er.
»Heinz, ich möchte Beauty zu uns holen«, sagte sie. So, nun war es heraus.
Er blickte sie entgeistert an.
»Rosmarie, du meinst das ernst, oder?«
»Ja, Heinz, es ist mein vollkommener Ernst. Ich bin richtig vernarrt in Beauty. Es macht mich glücklich, wenn ich mit dieser kleinen Hundedame zusammen bin.«
Tja, was sollte er davon halten?
Seine Rosmarie hatte sich verändert, nicht nur äußerlich. Sie hatte es aufgegeben, sich bei Schönheitsärzten unters Messer zu legen, sie schminkte sich kaum noch. Sie kaufte kaum noch Schmuck, dabei hatte der immer ihre Augen zum Glänzen gebracht.
Es war ihm ja nicht unangenehm gewesen, schließlich war das seinem Bankkonto zugute gekommen.
Aber ein Hund?
Rosmarie und ein Hund?
Es passte nicht, und das sagte er ihr auch.
»Heinz, ich möchte keine Entscheidung treffen, die dich verärgert. Aber du machst es dir einfach.«
»Nein, das mache ich nicht. Ich kann es mir nur nicht vorstellen, dich mit einem Tier in einen Zusammenhang zu bringen. Ein Tier schafft man sich nicht an, weil einem gerade danach ist. Du wirst schnell die Lust verlieren, und dann? Zurück ins Tierheim? Das kann keine Lösung sein, und ehrlich gesagt, wird es so kommen. Also, ich halte überhaupt nichts von einem solchen Gedanken. Ich habe immer nachgegeben, wenn es darum ging, deine Wünsche zu erfüllen, sieh dich um, die Möbel hier wolltest du unbedingt haben. Jetzt gefallen sie dir nicht mehr. Es musste unbedingt diese Villa hier sein, jetzt ist dir dieser Kasten zu groß. Die Autos in unserer Garage. Wer wollte sie haben? Soll ich noch mehr aufzählen?«
Sie hielt sich die Ohren zu.
Heinz Rückert stand auf.
Er musste wirklich los, weil in seinem Notariat gleich die erste Beurkundung vorgenommen werden musste. Heinz Rückert war ein bekannter Notar, vor allem große Firmen nahmen seine Dienste gern in Anspruch, und da ging es um große Posten, die viel Geld in seine Kasse spülten. Deswegen konnten die Rückerts sich ja auch einen so aufwändigen Lebensstil erlauben.
Heinz Rückert liebte seine Frau, sie waren ein gutes Team, und im Prinzip hatte er auch nichts gegen einen Hund einzuwenden. Er war es schließlich damals gewesen, der durchgesetzt hatte, dass Fabian seine Collies haben durfte. Wäre es nach Rosmarie gegangen, hätte es im Haus niemals Hunde gegeben.
Und nun dieser Wandel.
Er überlegte einen kurzen Augenblick, dann sagte er: »Rosmarie, ich mache dir einen Vorschlag. Heute Nachmittag treffen wir ja mit Fabian, Stella und Cecile zusammen, um bei einem Kollegen beurkunden zu lassen, dass Cecile auf eigenen Wunsch von der Erbfolge ausgeschlossen wird. Sie will verzichten und das notariell beurkundet wissen. Rede doch mal mit den Kindern, was die von deiner Idee halten.«
War das nun ein guter Gedanke oder nicht? Da war Rosmarie sich nicht sicher. Wenn sie ehrlich war, kannte sie kaum die Bedürfnisse ihrer Kinder, und die wussten nur wenig über sie und das, was sie wollte.
Sie waren sich niemals nahe gewesen, und jetzt hatte sie die Quittung dafür, dass sie Stella und Fabian stets Kinderfrauen überlassen hatte, weil es ihr wichtiger gewesen war, ihr eigenes Leben zu leben, das sich nach außen abspielte.
Wollte Heinz sie jetzt in eine Falle laufen lassen?
»Und was soll das bringen?«, wollte sie wissen. »Ich muss doch meine Kinder nicht fragen, ob ich mir einen Hund anschaffen darf oder nicht.«
»Rosmarie, darum geht es nicht. Natürlich kannst du darüber selbst entscheiden. Mich interessiert lediglich, was sie von dieser Idee halten.«
Rosmarie gab nach.
»Meinetwegen«, sagte sie.
Heinz war zufrieden und beeilte sich, das Haus zu verlassen, und Rosmarie fragte sich, ob es richtig gewesen war, sich auf so etwas einzulassen.
Ihre Kinder und sie, das war ein Kapitel für sich. Sie gingen wie Erwachsene miteinander um, aber das war es auch schon. Wäre sie in Not, da war sie sich sicher, dass sie auf Fabian und Stella zählen könne, aber sonst …
Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken.
Was sollte sie jetzt tun?
Ins Tierheim gehen, Beauty zu einem Ausflug abholen?
Sie wollte sich lieber auf den Nachmittag vorbereiten. Es würde sich alles in Wohlgefallen auflösen, dabei hatte sie eine solche Angst gehabt, die uneheliche Tochter ihres Mannes könne sich als Erbschleicherin erweisen. Wie dumm sie doch gewesen war, so etwas zu glauben. Cecile Raymont stammte aus einer so reichen Familie, dass das, was die Rückerts besaßen, für diese Leute nichts als Peanuts waren.
Es war nobel von Cecile und ihr hoch anzurechnen, dass sie ihren Verzicht auf den ihr zustehenden Anteil des Rückertschen Vermögens beurkundet haben wollte.
Ja, sie war etwas Besonderes, seine Tochter, von der er keine Ahnung gehabt hatte. Durch Cecile hatte sie sich auch verändert, durch sie war ihr bewusst geworden, dass man sein Vermögen nicht allen präsentieren musste. Cecile wirkte nett und bescheiden, und wenn man sie sah, dann entdeckte man eine attraktive junge Frau, käme aber niemals auf den Gedanken, wie reich sie war.
Auch wenn es anfangs überhaupt nicht so ausgesehen hatte, jetzt hatte Rosmarie die junge Frau so richtig gern, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Und das erstaunte Rosmarie, weil sie Cecile schließlich eine ganze Menge angetan hatte, worüber sie jetzt lieber nicht mehr nachdenken wollte.
*
Die Beurkundung von Ceciles Verzicht hätte Heinz ebenfalls vornehmen können, schließlich war er Notar. Doch er bestand darauf, einen neutralen Kollegen zu wählen. Alles sollte sauber sein, vor allem sollte der Kollege noch einmal eindringlich mit Cecile reden, um sie von dem Verzicht abzuhalten. Mittlerweile wollten sie eigentlich alle, dass Cecile irgendwann das bekam, was ihr zustand.
Cecile war sich absolut sicher, nichts zu wollen, und so war der eigentliche Akt sehr schnell erledigt. Nun wollten sie zusammen ein Café besuchen, sich unterhalten.
Es war nicht zu übersehen, wie gut sich die Halbgeschwister verstanden. Und darauf war es Cecile ja auch angekommen, eine Familie zu haben, nachdem ihre Mutter gestorben war und sie von ihrem Vater erfahren hatte.
Sie hatten sich von Anfang an gemocht, und es gab eine rege Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland.
In dem Café fanden sie einen ein wenig abseits stehenden Tisch, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten. Und wenig später waren auch schon ihre Wünsche erfüllt worden, und es standen Kaffee oder Tee und köstlicher Kuchen vor ihnen, für den dieses Café bekannt war.
Cecile erzählte, wie gern sie doch deutschen Kuchen aß, und bald schon war ein munteres Gespräch zwischen ihnen im Gange. Es war nicht zu übersehen, wie gut sie sich untereinander verstanden.
Das Gespräch bekam eine andere Wendung, als Heinz Rückert unvermittelt sagte: »Eure Mutter will sich einen Hund anschaffen.«
Stella setzte ihre Tasse ab, aus der sie gerade trinken wollte und erkundigte sich: »Mama will bitte was?«
Heinz wiederholte es, und Stella sagte: »Das ist doch eine Schnapsidee. Mama und ein Hund, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«
»Ich schon«, wandte Fabian ironisch ein. »Wahrscheinlich handelt es sich um einen gerade angesagten Hund, den man haben muss, um dazuzugehören, und selbstverständlich bekommt das Tier dann auch erst einmal ein diamantbesetztes Halsband verpasst.«
Nach diesen Worten war es still.
Rosmarie schluckte. Eigentlich wunderte es sie nicht, dass ihr Sohn eine solche Meinung von ihr hatte.
»Es ist ein Beagle …, aus dem Tierheim«, sagte Rosmarie.
»Noch schlimmer«, bemerkte Fabian, »diese Tiere sind meistens traumatisiert, sie brauchen besonders viel Zuwendung, außerdem ist ein Beagle ein sehr bewegungsfreudiger Hund, den kann man nicht einsperren, der braucht Auslauf … Stella hat recht, es ist eine Schnapsidee.«
Es war Cecile, die das Wort ergriff: »Das finde ich überhaupt nicht. Ihr seid aus dem Haus, wohnt zwar in der Nähe, aber doch weit genug, um nicht eben mal ganz kurz bei den Eltern vorbeizuschauen. Papa hat in seinem Notariat zu tun, und Rosmarie ist allein. Sie kann nicht den ganzen Tag über shoppen gehen, und Rosmarie ist auch keine Frau, die zu irgendwelchen Treffen älterer Frauen geht. Ein Hund ist ganz wunderbar, mit dem muss man sich beschäftigen, das ist eine Herausforderung. Und ein Beagle ist ein kluges, schönes Tier, das sehr auf sein Frauchen oder Herrchen bezogen ist. Nochmal, ich finde die Idee großartig. Wie schade, dass ich heute noch meinen Flug nach Paris nehmen muss, sonst würde ich zusammen mit Rosmarie ins Tierheim gehen.«
Rosmarie hätte Cecile am liebsten umarmt, ihre Worten bewirkten zumindest, dass nun auch Stella und Fabian nicht mehr ganz so ablehnend waren.
Stella sagte: »Mama muss wissen, was sie tut. Sollte es mit dem Hund nicht klappen, dann sage ich jetzt schon mal, dass wir das Tier nicht nehmen werden, wenn Mama seiner überdrüssig ist. Ein Hund ist nicht so etwas wie diese Gartenmöbelgarnitur, die sie loswerden wollte, kaum stand sie bei ihr auf der Terrasse.«
Rosmarie hätte sehr gern widersprochen. Es ging nicht, weil es stimmte. Die Gartenmöbel, die Stella da ansprach, hatte sie um jeden Preis haben wollen. Kaum auf ihrer Terrasse hatten sie ihr nicht mehr gefallen, und sie war froh gewesen, sie Stella andrehen zu können, um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil sie sonst alles irgendwo hätte verschwinden lassen. Es der eigenen Tochter zu schenken, war auf jeden Fall die bessere Lösung gewesen.
»Und wir nehmen den Hund auch nicht. Als ich jung war, war es ganz wunderbar, meine Collies zu haben. Jetzt habe ich Frau und Kinder, und in meinem Beruf bin ich so angespannt, dass ich mir nicht zutraue, nebenbei noch die Verpflichtung für ein Tier zu übernehmen.«
Jetzt wandte Fabian sich direkt an seine Mutter.
»Mama, ich weiß nicht, welcher Teufel dich da reitet, dir ein Tier aus dem Tierheim zu holen. Brauchst du es für eine Homestory, bei der sich so etwas gut macht?«, wollte er wissen. »Hätte ich in dem Tierheim etwas zu sagen, ich würde dir kein Tier anvertrauen, keines.«
Das hatte gesessen, nach diesen Worten war es zunächst einmal still.
Rosmarie war verletzt, aber sie konnte gegen das, was Fabian da sagte, keine Argumente vorbringen. Ihre Vergangenheit holte sie immer mehr ein. Ihre Kinder hatten bis heute eine grottenschlechte Meinung von ihr. Und es waren ganz besonders die Versäumnisse aus deren Kindheit, die sie jetzt einholten.
Wieder war es Cecile, die sich auf Rosmaries Seite schlug.
»Ich sehe das ganz anders. Ich sehe es als eine Herausforderung an. Und wenn ich Rosmarie wäre, dann würde ich sagen, jetzt erst recht. Ich würde mir den Beagle aus dem Tierheim holen und es allen beweisen.«
Rosmarie hätte am liebsten Cecile umarmt, ehe sie etwas sagen konnte, bemerkte Fabian: »Cecile, tut mir leid, so kannst du nur reden, weil du unsere Mutter nicht kennst, so wie Stella und ich sie kennen. Sie ist es gewohnt sich zu nehmen, was sie will, und dabei setzt sie sich egoistisch über alles hinweg. Egal, was oder wer da auf der Strecke bleibt.«
Cecile winkte ab.
»Ihr habt eure festgefasste Meinung über eure Mutter, Fabian«, sagte sie, »und das, was Kinder oftmals über ihre Eltern denken, ist sehr subjektiv. Ich sehe Rosmarie anders, und was immer auch gewesen sein mag: Rosmarie ist nicht ihre Vergangenheit. Sie darf sich davon nicht ein Leben lang einholen lassen. So, wie ich sie sehe und mag, finde ich, dass sie sich den Beagle holen soll, so oder so. Außerdem, ist es nicht ein wenig vermessen, dass ihr als erwachsene Kinder eurer Mutter vorschreiben wollt, was sie zu tun oder zu lassen hat?«
Fabian und Stella mochten ihre Halbschwester sehr, und so machten deren Worte sie doch ein wenig nachdenklich.
»Cecile, du hast recht«, sagte Stella schließlich. »Es geht uns nichts an.«
»Mama macht eh, was sie will«, fügte Fabian hinzu. »Können wir also das Thema beenden?«
Das geschah, doch danach wollte kein richtiges Gesprächsthema mehr aufkommen. Und viel Zeit hatten sie eh nicht mehr, Fabian und Stella wollten Cecile zum Flughafen bringen. Also brachen sie auf.
Zuerst verabschiedete Cecile sich von ihrem Vater, mit dem sie sich sehr gut verstand, dann ging sie auf Rosmarie zu, umarmte sie herzlich.
»Ich wäre wirklich gern mit dir in dieses Tierheim gegangen, Rosmarie«, sagte sie. »Wenn du diesen kleinen Beagle wirklich willst, dann hole ihn. Ich halte es wirklich für eine sehr gute Idee. Es ist eine Win-Win-Geschichte auf beiden Seiten. Das Tier bekommt wieder ein Zuhause, und du gibst deinem Leben einen neuen Sinn. Bitte, schicke mir unbedingt Bilder von dem Tierchen.«
Das versprach Rosmarie, dann bedankte sie sich bei Cecile. Welch außergewöhnlicher Mensch sie doch war. Rosmarie konnte einfach nicht mehr verstehen, warum sie sich gegen Cecile anfangs so sehr gewehrt hatte. Es war so dramatisch gewesen, dass darüber beinahe sogar ihre Ehe in die Brüche gegangen wäre. Dabei war Cecile im Grunde genommen innerhalb der Familie ihre einzige Verbündete. Und das war sie nicht, um ihr einen Gefallen zu tun oder um sich bei ihr einzuschmeicheln. Nein, das tat sie aus tiefstem Herzen heraus.
Fabian, Stella und Cecile verließen das Café. Rosmarie und Heinz blieben zurück. Rosmarie wollte ihren Kaffee noch austrinken, und Heinz hatte Lust auf ein weiteres Stück von dem Kuchen, für den das Café berühmt war.
Es war still zwischen ihnen. Rosmarie hing ihren Gedanken nach, und sie zuckte zusammen, als Heinz bemerkte: »Cecile hat dich ja wirklich in ihr Herz geschlossen, und das bringt sie auch zum Ausdruck.«
Rosmarie antwortete ihm nicht. Sie war wütend auf Heinz, weil er sie in die Situation gebracht hatte, sich vor ihren Kindern rechtfertigen zu müssen, die nicht gerade zimperlich gewesen waren. Gut, sie war damit einverstanden gewesen, dass auch mit Stella und Fabian über Beauty gesprochen werden wollte. Doch so, wie es geschehen war, kam Rosmarie sich ziemlich vorgeführt vor.
Heinz Rückert sah seine Frau an.
Was ihr wohl jetzt durch den Kopf ging?
Würde sie den Hund holen?
Das interessierte ihn brennend, doch er hielt es für ratsam, sich dem Thema jetzt nicht noch einmal zuzuwenden.
»Von dem Kuchen kann man einfach nicht genug bekommen«, sagte er.
Rosmarie kommentierte es nicht. Sie kannte ihren Mann und wusste, dass man ihn durch Schweigen zermürben konnte. Und richtig, er wurde nervös, bekam einen roten Kopf, schlang den Kuchen in sich hinein, als sie sagte, gehen zu wollen.
»Rosmarie, äh …, wenn du diesen Hund unbedingt haben möchtest«, sagte er schließlich, »ich habe nichts dagegen. Wirklich nicht. Und ich kann ihn dir ja hier und da auch einmal abnehmen. Ein bisschen mehr Bewegung kann mir nicht schaden.«
Sie blickte ihn an.
»Nein, das kann es wirklich nicht. Du hast ganz schön zugenommen, mein Lieber. Der Kuchen wäre jetzt nicht nötig gewesen, du hattest zuvor doch bereits ein Stück davon.«
Wieder stellte er fest, dass sich zwischen seiner Frau und ihm etwas verändert hatte. Und das machte ihm Angst. Heinz Rückert gehörte zu den Menschen, die ihren Trott liebten und keine Veränderungen brauchten.
Rosmarie hatte das eine oder andere Mal Veränderungen vorgenommen, die ihm ganz und gar nicht gefallen hatten. Führte sie wieder etwas im Schilde? Dann wäre es ja wohl am besten, sie darin zu bestärken, sich den Hund zu holen. Durch das Tier wäre sie mehr ans Haus gefesselt.
»Können wir?«, erkundigte sie sich.
Heinz stopfte das letzte Stückchen Kuchen in sich hinein und erhob sich hastig.
»Gewiss willst du jetzt ins Tierheim und den Hund besuchen, oder?«, wollte er wissen.
»Nein«, widersprach sie. »Du hast doch die Meinung unserer Kinder gehört und was die davon halten.«
»Aber Cecile findet es gut«, sagte er sofort. »Und je länger ich darüber nachdenke …, ich finde es eigentlich auch nicht schlecht.«
Rosmarie stand auf, griff nach ihrer Tasche, zog ihren Mantel an. Heinz konnte gerade noch die Bedienung rufen, um die Zeche zu bezahlen, dann folgte er ihr zu seinem Wagen, der direkt vor dem Café geparkt war.
So, wie Rosmarie derzeit drauf war, das gefiel ihm überhaupt nicht. Wenn er ehrlich war, da war ihm die frühere Rosmarie lieber gewesen, die hatte man mit Geschenken zufriedenstellen können. Es war wirklich schade, dass Cecile in Frankreich lebte und nicht so oft nach Deutschland kam. Cecile hatte einen guten Einfluss auf Rosmarie, und die beiden Frauen verstanden sich wirklich ausnehmend gut.
Heinz setzte sich in sein Auto, und dann fuhr er los und überlegte sich dabei beinahe krampfhaft, wie er eine Unterhaltung mit seiner Frau beginnen sollte.
*
Wenn sie ehrlich war, dann wäre Rosmarie am liebsten sofort ins Tierheim gefahren, aber diesen Triumph wollte sie Heinz nicht gönnen, und deswegen ließ sie sich von ihm vor ihrer Villa absetzen. Doch kaum war von seinem Auto nichts mehr zu sehen, lief Rosmarie in die Garage, setzte sich in ihren Sportflitzer und brauste davon.
Sie hatte auf einmal das Gefühl, unbedingt mit Inge Auerbach sprechen zu müssen.
Sie und Inge hatten schon immer ein gutes, wenn auch ziemlich distanziertes Verhältnis zueinander. Um so richtig eng miteinander zu sein, dazu waren die beiden Frauen zu verschieden. Aber es war doch immer besser mit ihnen geworden, und das war auch gut so, schließlich war Inge die Schwiegermutter ihrer beiden Kinder.
Als Rosmarie noch nicht wusste, dass Cecile nicht die junge Geliebte ihres Mannes war, sondern seine Tochter, war sie zu Inge gefahren, hatte der ihr Herz ausgeschüttet, und Inge hatte sich großartig verhalten. Das Schöne an ihr war, dass sie absolut verschwiegen war und dass man sich darauf verlassen konnte, dass sie mit niemandem darüber reden würde, was man ihr anvertraute.
Für Rosmarie waren die Auerbachs stets das gewesen, was man unter einer heilen Welt verstand, und wie sehr hatte sie sie beneidet. Dass es auch nur Menschen waren, hatte sich gezeigt, als herausgekommen war, dass Bambi, die Jüngste, die sich nur noch Pam oder Pamela nennen wollte, nicht das eigene Kind der Auerbachs war, sondern von ihnen adoptiert worden war. Niemand hatte es gewusst, sie hatten es vor Bambi geheim gehalten, und das arme Kind hatte es dann zufällig in einer Eisdiele von Fremden erfahren. Da war ein tiefer Riss durch die Familie gegangen, die Kleine wollte nichts mehr mit den Auerbachs zu tun haben. Und wer weiß, was nicht noch alles passiert wäre, hätte Hannes, ihr jüngster leiblicher Sohn, die Kleine nicht kurz entschlossen mit sich nach Australien genommen. Er war extra hergekommen, um sie zu holen. Er war schon ein ganz erstaunlicher Bursche, der Hannes. Machte ein Einser-Abitur, ging beinahe ein Jahr auf Weltreise, um sich dann zu entschließen, erst einmal nicht zu studieren, sondern als Surf- und Tauchlehrer zusammen mit einem Kumpel in Australien zu jobben. Damit hatte der Herr Professor Auerbach nicht gerechnet, doch es war ihm und Inge hoch anzurechnen, dass sie sich ihrem jüngsten Sohn nicht in den Weg gestellt hatten, sondern sie hatten ihn seines Weges ziehen lassen. Die Auerbach-Kinder hatten eigentlich alle tun und lassen dürfen was sie wollten. Jörg war noch den geradesten Weg gegangen, er hatte studiert, sich eine Weile im Ausland den Wind um die Nase wehen lassen, und dann hatte er Stella geheiratet. Ihrer Tochter hätte nichts Besseres passieren können. Jörg war der ideale Partner, und sie waren glücklich mit ihren Kindern. Henrike, die immer von allen nur Ricky genannt wurde, die hatte so ihren eigenen Kopf. Sie hatte sich in ihren Lehrer verliebt, hatte Abitur gemacht, Fabian geheiratet und dann ihre gemeinsamen Wunschkinder bekommen. Und weil das nicht alles gewesen sein konnte, hatte Ricky jetzt begonnen zu studieren. Rosmarie wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber Ricky zog ihr Ding durch, und Fabian war ganz auf ihrer Seite. Wenn man so wollte, dann waren die Auerbachs sehr tolerant, und sie standen immer hinter ihren Kindern. Also, von denen konnte sie sich schon eine Scheibe abschneiden, auch wenn nicht alles so perfekt war, wie es immer ausgesehen hatte.
Rosmarie hielt mit ihrem Wagen vor dem Grundstück der Auerbachs. Sie hatten noch eines der ersten Häuser, das schon hier stand, ehe die Siedlung durch den Architekten Carlo Heimberg gebaut worden war. Ein wahres Schmuckstück und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Aber die Villa der Auerbachs war etwas Besonderes.
Rosmarie stieg aus, lief auf das Haus zu und klingelte, und es dauerte nicht lange, da wurde ihr geöffnet.
Inge Auerbach blickte ihre Besucherin überrascht an.
»Hallo, Rosmarie, sind wir miteinander verabredet?«, erkundigte Inge sich. Seit das mit Pam geschehen war, war Inge noch immer ziemlich durcheinander, wenngleich sie sich auf einem guten Weg befand.
»Nein, bitte entschuldige, dass ich dich überfalle, Inge. Ich bin spontan verbeigekommen, weil ich deinen Rat brauche.«
Dass das überhaupt noch der Fall war, kam Inge beinahe wie ein Wunder vor. Sie selbst hielt sich inzwischen für die totale Versagerin.
»Komm rein. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass auch gerade meine Mutter bei mir ist.«
Rosmarie zögerte nur einen kurzen Augenblick. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, dass Teresa da war, die hatte sie ja mit ins Tierheim genommen, und Teresa hatte es Rosmarie zu verdanken, dass sie überhaupt mit Beauty in Kontakt gekommen war.
»Wenn ich euch nicht störe«, sagte Rosmarie.
Inge lachte.
»Wie kannst du denn stören, Rosmarie. Du bist doch schließlich Familie.«
Sie führte Rosmarie in ihre gemütliche Wohnküche, die der Lebensmittelpunkt der Auerbachs war. Welch heiße Diskussionen es schon an dem großen Familientisch gegeben hatte!
Rosmarie begrüßte nun auch Teresa, und die sagte sofort »Ich habe von Frau Doktor Fischer gehört, dass du nicht nur fast schon ein ständiger Gast im Tierheim bist, sondern dass du es finanziell auch ganz großzügig unterstützt. Das ist toll, Rosmarie. Dort kann man wirklich jeden Cent gebrauchen. Komm, setz dich, und erzähle mir, wie es mit Beauty und dir weitergeht. Es war von Anfang an nicht zu übersehen, dass es zwischen euch eine Verbindung gibt. Wirst du die kleine Hundedame zu dir nehmen, Rosmarie?«
Seit Rosmarie zum ersten Male mit Teresa ins Tierheim gegangen war, hatte sich zwischen den beiden Frauen etwas verändert. Und es gefiel Rosmarie Rückert ausnehmend gut, von Teresa von Roth, die sie über alles schätzte und auch bewunderte, nicht mehr als Modepuppe wahrgenommen zu werden, die sich für nichts anderes als Klamotten interessierte.
Rosmarie überlegte einen kurzen Augenblick, dann sprach sie ganz offen über das, was sie bewegte, sie erzählte aber auch, welche Meinung ihre Kinder zu diesem Thema hatten.
»Sie halten es beide für eine Schnapsidee und haben mich so richtig niedergemacht, und ich weiß nicht einmal, ob sie vielleicht sogar recht haben. Schließlich fehlt mir jegliche Erfahrung im Umgang mit Tieren, und leider bin ich manchmal ziemlich wankelmütig und ändere rasch meine Meinung. Ich wollte, ich könnte es anders sehen.«
Inge Auerbach brachte ihrer Besucherin unaufgefordert einen Kaffee, und Teresa sagte: »Frau Doktor Fischer ist da aber ganz anderer Meinung. Sie beobachtet dich und Beauty ja schon eine ganze Weile, und sie ist der Meinung, dass es mit dir und dem kleinen Beagle gut gehen wird. Also, sie hat nichts dagegen, den Hund an dich abzugeben. Das hat sie mir gesagt, als wir das letzte Mal miteinander telefonierten.«
Rosmarie merkte, wie sie errötete, und das vor Freude und Verlegenheit zugleich. Wie gut taten solche Worte, nachdem man ihr zuvor so überhaupt nichts zugetraut hatte.
»Und du, Teresa«, wollte Rosmarie wissen, »was ist deine Meinung dazu?« Das interessierte Rosmarie wirklich, Teresas Meinung war ihr wichtig.
Teresa von Roth ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
»Hättest du mir diese Frage vor ein paar Wochen gestellt, dann hätte ich vor lauter Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Es wäre für mich undenkbar gewesen.«
So war sie, Teresa konnte schonungslos offen sein, doch Rosmarie hatte keine Zeit, sich um diese Worte Gedanken zu machen, denn Teresa fuhr fort: »Du hast dich sehr zu deinem Vorteil verändert. Man kennt dich kaum wieder. Ich bin der Meinung, Beauty wird dir guttun. Es ist schön, ein Tier im Haus zu haben, für es sorgen zu können. Die kleine Luna, die, wie du weißt, ja auch aus dem Tierheim kommt, macht uns sehr viel Freude. Sie gehört zwar Bamb…, äh … Pamela, aber wir haben alle unsere Freude an ihr. Und Magnus dreht grade mit ihr eine Runde um den See.«
Diese Worte waren eindeutig, und Rosmarie wollte einfach nicht mehr auf andere hören, sondern auf sich. Und die Stimme in ihr sagte, es sei richtig, Beauty aus dem Heim zu holen.
Über das Thema war also alles gesagt, und da Teresa es angesprochen hatte, wollte Rosmarie wissen, wie es Pamela im fernen Australien ging.
»Hannes schreibt fleißig, und es scheint alles in Ordnung zu sein, und wenn man so will, hätte es uns schlimmer treffen können«, sagte Inge. »Werner und ich versuchen gerade einen Neuanfang. Es war schrecklich, wie wir uns zerfleischt haben und versuchten, uns gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Dabei haben wir doch beide versagt. Wir hätten offen mit der Adoption umgehen müssen.«
Rosmarie seufzte.
»Dass ihr überhaupt einen Fehler macht, hätte ich niemals für möglich gehalten. Ihr kamt mir immer so perfekt vor, ich habe euch bewundert und beneidet.«
»Es gibt keine perfekten Menschen, und es gibt auch nicht den Idealzustand. Ich glaube, man wünscht sich das, was man selbst nicht hat«, bemerkte Teresa. »Aber zum Glück kann man nicht nur jederzeit aus seinen Fehlern lernen, sondern man kann neue Wege beschreiten.«
»Ach, wenn das so einfach wäre«, rief Rosmarie.
Teresa lachte.
»Du bist doch auf dem besten Weg dazu, deinem Leben eine andere Richtung zu geben. Du hast dich äußerlich verändert, und das jetzt mit Beauty, das finde ich ganz großartig. Ich bin übrigens morgen im Tierheim, wenn du magst, komm doch auch dorthin. Dann können wir uns noch mal mit Frau Doktor Fischer unterhalten, und du erzählst ihr ebenfalls, was du uns gerade gesagt hast.«
Das war eine gute Idee, und Rosmarie war damit einverstanden. Dann begann sie von Cecile zu erzählen. Es war ihr einfach ein Bedürfnis, über die Tochter ihres Mannes etwas Positives zu berichten. Rosmarie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie anfangs über die arme Cecile hergezogen war.
*
Der Makler, den sie mit dem Verkauf ihres Hauses im Sonnenwinkel betraut hatten, hatte nicht zu viel versprochen.
Er schickte Fabian und Ricky schon nach einer Woche die Unterlagen der Leute, die er ausgesucht hatte und die allesamt ernsthaft das Haus erwerben wollten.
Sie hatten sich ja entschieden, nicht mehr zu vermieten, sondern zu verkaufen, weil sie selbst niemals mehr in den Sonnenwinkel ziehen würden. Aber jetzt, als es so weit war, fühlte es sich eigentümlich an. Es schwang eine ganze Menge Sentimentalität mit, schließlich hatte sie dort die erste Zeit ihres gemeinsamen Lebens verbracht. Dort hatten ihre beiden Großen die erste Zeit ihrer Kindheit verbracht.
Doktor Fabian Rückert hatte seine Frau bereits eine ganze Weile beobachtet, die mit ihren Gedanken irgendwo war, aber nicht bei den Unterlagen.
»Liebes, wir müssen nicht verkaufen«, sagte er, »noch ist nichts unterschrieben. Wir können alles rückgängig machen und weiterhin vermieten.«
Ricky riss sich zusammen, schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, Fabian, es bleibt dabei, und das ist auch vernünftig so. Und der Makler hat doch auch ein paar wirklich gute Leute gefunden, deren Bonität überprüft ist und die alle das Haus haben möchten. Es liegt jetzt bei uns, uns für einen Käufer zu entscheiden. Hast du bereits einen Favoriten?«
»Ehrlich gesagt nein, da ist der Versicherungsmakler, der im Haus nicht nur mit seiner Familie wohnen will, sondern auch sein Büro dort unterbringen will. Oder das Ehepaar, das seinen Lebensmittelpunkt in den Süden des Landes verlegen möchte.«
»Den Unternehmer aus Hamburg finde ich nicht so gut«, sagte Ricky. »Der will das Haus als Kapitalanlage erwerben und es vermieten. Wer weiß, wer dann ins Haus einzieht.«
»Wir hatten bislang doch auch vermietet, und da hat es keine Probleme gegeben.«
Ricky beugte sich noch einmal über die Unterlagen, blätterte sie durch.
»Ich glaube, ich würde am liebsten die alleinerziehende Mutter mit Tochter nehmen«, sagte sie. »Wir verabreden ein Treffen, und wenn die Frau sympathisch ist, dann gehen wir mit ihr zum Notar.«
»Na ja, das Geld für das Haus scheint sie auf jeden Fall zu haben, und darauf kommt es schließlich an, nicht darauf, ob sie sympathisch ist oder nicht. Wenn die Beurkundung erfolgt und das Geld auf unserem Konto ist, gehen wir eh getrennte Wege.«
Das war alles richtig, aber für Ricky fühlte es sich einfach gut an, und sie war froh, dass Fabian nichts dagegen hatte.
»Dann entscheiden wir uns also für die Frau?«, wollte Ricky wissen. »Wie heißt sie noch gleich? Ach ja, Gerda Schulz mit Tochter Leonie.«
»Wo wohl dieser Herr Schulz steckt«, sinnierte Ricky.
»Vielleicht hat es nie einen Herrn Schulz gegeben«, bemerkte Fabian. »Aber das geht uns auch nichts an. Rufst du morgen früh den Makler an, oder soll ich das tun?«
»Ich kann es machen, ehe ich nur Uni fahre«, sagte Ricky. »Das mit dem Studium habe ich mir leichter vorgestellt. Es ist ein ganz schönes Pensum, welches da zu bewältigen ist, und manchmal frage ich mich, ob es nicht ziemlich egoistisch von mir ist, so meine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.«
Irritiert blickte Fabian seine Frau an.
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«, wollte er wissen. »Wir haben es uns mit unserer Entscheidung wahrlich nicht leicht gemacht. Und es funktioniert. Du kümmerst dich, so weit es dir möglich ist, wir haben Oma Holper, und ich bin doch auch noch da. Und wenn alle Stricke reißen, dann hilft Stella uns. Und das haben wir bislang noch nicht in Anspruch nehmen müssen. Was ist auf einmal los mit dir, Ricky?«
Ricky zuckte die Achseln.
»Es gibt nichts Konkretes, aber ich mache mir eben viele Gedanken wegen der Kinder. Ich möchte schließlich allem gerecht werden.«
Es war herrlich zu studieren, sie fühlte sich jung und frei, und Deutsch und Biologie auf Lehramt zu studieren, machte Sinn. Deutsch und Bio waren schon in der Schule ihre Lieblingsfächer gewesen, und als liebevolle Mutter wusste sie mit Kindern umzugehen.
Was war eigentlich los mit ihr?
Es lief doch alles gut, und wenn das Haus erst einmal weg war, hatten sie einen Klotz weniger am Bein.
»Also bleibt es bei dieser Frau Schulz?«, wollte Ricky wissen.
Fabian hatte nichts dagegen, und so würde Ricky sich kümmern. Da Fabians Vater Notar war, hätten sie die Beurkundung bei ihm machen lassen können, doch das wollte Fabian nicht. Er wollte Privates nicht mit dem Verkauf des Hauses verquicken, alles sollte ganz neutral sein. Also würden sie bei dem Notar beurkunden lassen, mit dem der Makler zusammenarbeitete.
Es wurde also ernst, das Haus würde seinen Besitzer wechseln. Ricky wusste nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, das sie auf einmal beschlich.
War es Sentimentalität?
War es eine Vorahnung?
Sie hätte gern mit Fabian darüber gesprochen, aber bei allem Verständnis, das er immer für sie hatte, das würde ihn überfordern.
»Trinken wir ein Glas Wein miteinander?«, drang seine Stimme in ihre Gedanken hinein. »Schließlich haben wir doch einen Grund zu feiern. Und ich finde, wenn das Geld auf unserem Konto ist, sollten wir mit den Kindern einen Wochenendausflug machen. Paris Disneyland finden sie bestimmt ganz toll, und vielleicht können wir sie ja auch dazu bewegen, mit uns wenigstens in den Louvre zu gehen. Ich finde, ein kleines Kulturprogramm muss sein und gehört einfach dazu.«
Ricky blickte ihren Mann an.
Wie sehr sie ihren Mann doch liebte, und welches Glück sie mit ihm hatte. Er war nicht nur klug und sah fantastisch aus, nein, er war ein ausgesprochener Familienmensch und würde nie etwas ohne sie und die Kinder machen.
»Paris ist wunderbar«, sagte sie, dann blickte sie ihm nach, wie er aufstand, um Gläser und den Wein zu holen.
*
Nikola Beck, Nicki, wünschte, aus einem bösen Traum zu erwachen. Leider war es kein Traum, sondern bittere Wirklichkeit. Und sie wusste nicht, wie sie damit fertig werden sollte, dass ihr jeder Weg zu Roberto Andoni für immer versperrt war.
Er war verheiratet …
Er und seine Frau erwarteten ein Kind.
Wenn sie diese Susanne wenigstens hassen könnte, nicht einmal das gelang ihr, weil die Frau sympathisch wirkte. Und sie konnte nichts dafür, dass es ihr, Nicki, auf einmal wieder in den Sinn gekommen war, Roberto wieder für sich zu gewinnen, nachdem es mit Malcolm so sehr danebengegangen war.
Wieder für sich gewinnen war nicht einmal richtig. Sie war in ihrer Vermessenheit davon ausgegangen, dass Roberto die ganze Zeit über auf sie gewartet hatte und froh sein durfte, sie mit offenen Armen aufnehmen zu dürfen.
Wie vermessen sie doch gewesen war.
Was hatte sie sich da bloß gedacht!
Nachdem sie aus ihrer Schockstarre erwacht war, hatte Nicki sich entschlossen, nach Hause zurückzufahren und sich in die Arbeit zu stürzen, um alles zu vergessen.
Roberto hatte eine andere!
Es tat ja so weh, daran zu denken, und sie brach beinahe unter dem Gedanken zusammen, dass es allein ihre Schuld war, dass es so gekommen war. Sie hatte mit seinen Gefühlen gespielt, und sie war sich sehr sicher gewesen. Und genauso etwas gehörte bestraft.
Nicki blickte dumpf vor sich hin, und Alma, die von ihrer Irland-Reise mit ihrem Gospelchor zurückgekommen war, war ganz bekümmert. Sie mochte die Freundin ihrer Chefin so sehr, normalerweise war Nicki lustig, und jetzt war sie nicht mehr als ein Häufchen Elend.
Nicki und Roberta hatten sich in aller Frühe voneinander verabschiedet. Roberta war zu einem Ärztekongress gefahren, und es war ihr nicht gelungen, Nicki dazu zu bewegen, einfach noch zu bleiben, wenigstens, bis sie zurück sein würde.
Roberta konnte nur hoffen, dass Nicki ihre Drohung nicht wahr machen würde, niemals mehr in den Sonnenwinkel zu kommen.
»Nicki, Sie müssen etwas essen«, sagte Alma bekümmert. »Sie haben doch noch eine lange Fahrt vor sich. Und trinken, das müssen Sie auch. Wenn Sie mögen, dann koche ich Ihnen einen Kakao, der hilft immer.«
Nicki warf Alma einen traurigen Blick zu. Sie wusste ja, dass Robertas Haushälterin es nur gut mit ihr meinte. Aber nichts auf der Welt konnte sie von ihrer Seelenqual befreien.
»Ach, Alma, mir hilft überhaupt nichts mehr. Und ich werde niemals mehr in meinem Leben darüber hinwegkommen, dass ich mein Glück mit Füßen getreten habe. Ich habe den einzigen Mann, den ich jemals geliebt habe, freiwillig einer anderen überlassen, die schlau genug war, sofort mit beiden Händen zuzugreifen. Roberto ist ein so toller Mann, so etwas findet man nicht so schnell wieder …, überhaupt nicht mehr.«
Alma nickte.
»Ja, ich finde Roberto Andoni auch ganz toll, er sieht gut aus, ist liebenswürdig und freundlich. Aber wenn zwischen Ihnen alles in Ordnung gewesen wäre, dann hätten Sie ihn nicht verlassen und wären gegangen. Wenn eine Verbindung wirklich funktionieren soll, dann muss alles stimmen. Erinnern Sie sich bitte, Nicki, Sie wollten nicht im ›Seeblick‹ wohnen, Sie haben etwas gegen seinen Beruf, und den Sonnenwinkel finden Sie ganz grauenhaft. Es ist eine ganze Menge, die nicht stimmt. Aber das blenden Sie jetzt aus, wollen es nicht wahrhaben, weil Sie sich in der Rolle der Leidenden gefallen. Bitte entschuldigen Sie, es geht mich wirklich nichts an, aber ich kann Sie gut leiden, und Sie vertrauen mir ja auch eine ganze Menge an. Also, ich denke, Roberto Andoni ist noch nicht der Richtige für Sie. Da kommt noch ein anderer Mann auf Ihren Weg.«
Alma meinte es gut mit ihr, sie wollte sie trösten. Doch das, was die da sagte, das zu glauben, davon war Nicki noch sehr weit entfernt.
»Ich lerne immer die falschen Männer kennen, und ist mal der Richtige darunter, wie Roberto, dann lasse ich ihn gehen«, sagte Nicki düster. »Ich habe das falsche Händchen für die Männerwelt.«
Alma hatte derweil für Nicki eine heiße Schokolade gemacht, mit ganz viel Sahne, und Nicki machte sich darüber her.
»Ach, Alma, Roberta weiß überhaupt nicht, was sie an Ihnen hat. Sie sind ein Schatz, und am liebsten würde ich Sie jetzt mitnehmen. Sie sind so lieb, sie können zuhören, geben gute Ratschläge, und Sie können kochen, sterneverdächtig kochen.«
Alma mochte Nicki wirklich gern, aber deswegen Roberta verlassen? Sie wusste ja, dass Nicki es nicht ernst meinte, sondern nur so dahersagte, aber selbst im Scherz konnte Alma nicht daran denken, ihren Platz hier im Doktorhaus aufzugeben. Die Frau Doktor hatte ihr das Leben gerettet, und sie hatte so viel für sie getan, ihr vor allem ihr Selbstvertrauen, ihre Würde zurückgegeben. Sie war so weit unten angekommen, wie es tiefer wirklich nicht ging. Es schien so weit weg zu sein, doch Alma würde es nie vergessen.
»Nicki, ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, welch wunderbare Freundin Sie haben. Sie wird Ihnen helfen, warum bleiben Sie nicht einfach? Und ich verspreche Ihnen, all das zu kochen, was Sie mögen. Wir kriegen Sie schon wieder hin.«
Es klang verlockend, doch Nicki schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich könnte Roberto und dieser Frau kein zweites Mal begegnen. Und der Gedanke ihn mit ihr zu sehen, der ist unerträglich für mich. Nein«, sie stand auf, »ich fahre jetzt los. Ich muss allein damit fertig werden. Und meine Arbeit wird mir helfen. Wer weiß, vielleicht nehme ich ja auch einen Auslandsjob an.«
Alma blickte Nicki bekümmert an.
»Flucht ist kein Ausweg. Und glauben Sie mir, man nimmt sein Gepäck immer mit.«
»Kann ja sein, aber jetzt fahre ich los«, sie umarmte Alma, ließ sich von der rasch noch eine Dose mit Keksen und eine mit Kuchen einpacken, dann ging sie.
Es fiel ihr schwer, jetzt zu gehen, doch im Sonnenwinkel wurde sie immer an Roberta und seine Frau erinnert, und das war mehr als man aushalten konnte.
»Alma, danke für alles«, sagte sie tapfer, umarmte Alma ein letztes Mal, dann griff sie nach ihrem Trolley, der bereits gepackt war und ging.
Sie durfte sich nicht zurückhalten lassen, auch wenn die Gesellschaft von Roberta und Alma so wohltuend war. Sie musste jetzt allein durch alles hindurch. Und deswegen lehnte sie es auch ab, sich von Alma bis hinaus zu ihrem Auto begleiten zu lassen.
Sie hasste Abschiede, und das war jetzt nicht nur ein Abschied von diesem Haus und seinen Bewohnern, nein, sie musste Abschied von der einzigen, der wahren Liebe ihres Lebens nehmen.
Wie hoffnungsfroh sie doch hergekommen war, wie selbstsicher, da wieder anzufangen, wo sie aufgehört hatte. Und nun stand sie vor einem Trümmerhaufen, in dem es nichts als nur Scherben gab.
Roberto hatte eine andere, nicht nur das, er war mit ihr verheiratet, und sie erwarteten ein gemeinsames Kind. Schlimmer ging nimmer …
Mit vor Tränen blinden Augen setzte Nicki sich hinter das Steuer ihres Autos und fuhr los …
*
Normalerweise musste Nicki Richtung Hohenborn fahren, um von dort aus auf die Autobahn zu gelangen.
Ihr vollkommen unbewusst, fuhr sie die Straße entlang, die zum ›Seeblick‹ führte. Es war wie ein Zwang, und sie wollte wenigstens noch einmal sehen, was sie verloren hatte.
Wie hatte sie nur so töricht sein können, Roberto aufzugeben. Er hatte alles für sie getan, war zu jedem Kompromiss bereit gewesen.
Und sie?
Sie war dumm gewesen, dumm und vermessen.
Auf halber Höhe zum ›Seeblick‹ fuhr sie rechts an den Straßenrand. Sie konnte das Haus sehen. Es lag in seiner behäbigen Schönheit im strahlenden Sonnenlicht vor ihr.
Ein wundervolles denkmalgeschütztes Haus in einer grandiosen Lage. Das alles hatte Roberto ihr zu Füßen gelegt, er hatte ein paar Zimmer für sie extra für ihre Bedürfnisse ausbauen lassen wollen, damit sie dort ihrer Arbeit als freie Dolmetscherin und Übersetzerin nachgehen konnte. Er hatte seine Arbeit von ihr fernhalten wollen. Und sie? Sie hatte sich daran gestört, dass er in der halben Nacht aufstehen musste, um zum Großmarkt zu fahren. Das hatte ihr nicht gepasst, weil sie gemütlich mit ihm frühstücken wollte. Und nun? Nun konnte sie jeden Morgen so frühstücken, aber allein. Und das war wirklich keine Alternative. Wie vermessen sie doch gewesen war. Sie hatte sich an Nichtigkeiten aufgehalten.
Was war bloß los gewesen mit ihr?
Sie hatte sich verhalten wie ein pubertierendes Mädchen, und nicht wie eine erwachsene Frau.
Warum hatte sie nur nicht auf Roberta gehört? Die hatte ihr geraten, das Wagnis einer Partnerschaft mit Roberto Andoni einzugehen, weil sie etwas Besseres nicht finden würde, weil sie zusammenpassten.
Mit beiden Händen umkrampfte sie das Lenkrad, während ihr Blick unverwandt an dem Haus hing.
Es war geradezu unerträglich, was ihr alles durch den Kopf ging. Sie war so sehr in sich und ihre Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie ein Auto den Berg hochgefahren kam, hinter ihr anhielt.
Ein Mann stieg aus, Nicki zuckte erst zusammen, als an die Scheibe der Fahrertür geklopft wurde.
Sie blickte zur Seite und erschrak.
Es war Roberto!
Oh nein!
Sie war so durcheinander, dass sie losfahren wollte, doch das ließ er nicht zu.
Geistesgegenwärtig öffnete er ihre Autotür. Sie war ihm ausgeliefert.
»Hallo, Nicki«, sagte er ernst, und sie wagte nicht, in seine Richtung zu blicken. Sie wünschte sich nur ein Mauseloch, in das sie kriechen konnte. Das gab es nicht, und sie hatte jetzt auch keine Gelegenheit mehr, einfach loszufahren.
Wie hatte sie aber auch damit rechnen können, ihm zu begegnen. Sie hatte mit überhaupt nichts gerechnet, war einfach nur losgefahren, und nun hatte sie die Bescherung.
»Nicki, bitte steig aus. Lass uns miteinander reden«, bat er.
Sie tat, als habe sie nicht gehört, doch er wiederholte seine Bitte, und da gab sie nach.
»Nicki, was machst du hier?«, wollte er wissen.
Wenn sie das wüsste.
»Ich, äh …«, sie war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz zu formen, aber dann sagte sie sich, dass es keinen Sinn machte, ihm etwas vorzumachen. Auch wenn es nichts brachte, so musste sie aufrichtig sein.
»Wahrscheinlich bin ich hergekommen, um mir noch einmal alles anzusehen, um Abschied zu nehmen …, ich bin in den Sonnenwinkel gekommen, um dir zu sagen, dass ich Fehler gemacht habe, dass ich …, dass ich …«
Es war so schwer, es auszusprechen.
Er sah sie ernst an.
»Du bist gekommen, um mir zu sagen, dass du bleiben willst?«, erkundigte er sich.
Sie nickte.
»Und dann erfuhr ich, dass du verheiratet bist, dass deine Frau ein Kind von dir bekommt.«
Diesmal nickte er.
»Ja, das stimmt.«
Sie standen sich gegenüber, waren sich so unglaublich nah und doch so fern.
Er umarmte sie, ihre Gesichter kamen sich unaufhaltsam näher. Doch ehe sie sich küssten, ließ er sie los und sagte mit ernster Stimme: »Das wäre ein Verrat an Susanne, und das hat sie nicht verdient. Nicki, als ich dich am See sah, waren alle Gefühle wieder da. Es war kaum auszuhalten, aber ich denke, dass das, was uns miteinander verbindet, sich nicht in den Alltag übertragen lässt. Es gab einfach zu viele Hochs und Tiefs, und das Leben findet auf Erden statt …, ich werde dich immer lieben, und das weiß Susanne auch. Aber sie liebe ich auch, auf eine andere Weise, die sehr ruhig und sehr schön ist. Ich wünsche mir sehr, dass du und ich …, dass wir lernen, nett miteinander umzugehen. Wahrscheinlich werden wir uns hier und da sehen, deine allerbeste Freundin wohnt schließlich hier. Und ich wünsche dir wirklich von ganzem Herzen, dass du auch jemanden findest, bei dem du das Gefühl hast, angekommen zu sein. Das habe ich bei Susanne. Durch sie ist mir bewusst geworden, dass es schön ist, sein Leben durch ruhige Fahrwasser zu bringen, nicht durch einen aufgepeitschten Ozean, wie es bei uns der Fall war.«
Er blickte sie ernst an.
»Nicki, es ist schön, dass wir uns hier noch einmal getroffen haben. Ich werde Susanne von diesem Zusammentreffen erzählen. Ich wünsche dir viel Glück auf deinem Weg …, vielleicht wäre es mit uns doch gut gegangen, vielleicht auch nicht. Es war auf jeden Fall schön, dir begegnet zu sein. Durch dich durfte ich Gefühle erfahren, die ich längst verschüttet glaubte. Und dafür danke ich dir.«
Er strich ihr sanft und behutsam über das Gesicht, dann wandte er sich ab, ging zu seinem Auto, stieg ein, fuhr los, an ihr vorbei, ohne noch einmal einen Blick auf sie zu werfen.
Sie stand noch eine ganze Weile reglos da, dann riss sie sich zusammen und setzte sich mit weichen Knien in ihr Auto.
Roberto …
Würde sie je verwinden, was sie verloren hatte?
Würde sie je über die Schuldgefühle hinwegkommen, die sie sich machte?
Sie hatte ihn verloren, und das hätte nicht sein müssen.
Sie warf einen letzten Blick auf das Haus, dann fuhr auch sie los, und jetzt nahm sie die richtige Richtung, zuerst Hohenborn, dann die Autobahn.
Es konnte sie nicht trösten, dass er sie auch noch liebte. Es konnte sie nicht trösten, dass er sich wünschte, dass sie irgendwann ganz normal miteinander umgehen könnten.
Er war ein besonderer Mann, und er hatte Prinzipien, dabei wäre es so leicht gewesen, sie zu küssen. Er hatte es nicht getan, weil er ein verheirateter Mann war. Malcolm kam ihr in den Sinn, der seine Ehefrau schamlos betrog, und sie war sich sicher, dass er bereits wieder eine Frau an seiner Seite hatte, die auf seine Lügen hereinfiel.
Schöne Hotels, Privatflugzeuge, tolle Restaurants, kostbare Geschenke …
Sie hatte sich blenden lassen und dabei das ausgeblendet, was wirklich zählte im Leben.
Diese Susanne, die hatte es richtig gemacht. Doch diese Erkenntnis half ihr jetzt auch nicht weiter. Sie hatte das Glück ihres Lebens verloren.
Wie sollte sie irgendwann noch einmal einem Mann trauen? Würde sie nicht jeden, der ihr über den Weg lief, an Roberto messen?
Nicki mochte darüber nicht nachdenken, denn sonst würde sie den Verstand verlieren.
*
Roberto hatte oben am ›Seeblick‹ seinen Wagen noch nicht einmal abgestellt, als die Haustür aufgerissen wurde und Susanne herauskam.
»Mit wem hast du denn da gesprochen? Ich habe zufällig aus dem Fenster gesehen und sah dich mit einer Frau.«
»Ja, das war Nicki«, antwortete er.
Sie wurde blass, bekam einen flackernden Blick.
»Nicki?«, wiederholte sie beinahe ängstlich. »Was …, was wollte sie?«
Seit sie die Ehemalige ihres Mannes am See gesehen hatte, da hatte sie eigentlich keine ruhige Minute mehr. Sie wusste, wie heftig die beiden sich geliebt hatten, und Nikola Beck war eine sehr attraktive Frau.
Er zuckte die Achseln.
»Ich habe keine Ahnung, und vermutlich weiß sie es selbst nicht, warum sie hier heraufgekommen ist. Sie …«, er blickte sie an, dann entschloss er sich, Susanne alles zu erzählen. »Nicki ist in den Sonnenwinkel gekommen, um wieder mit mir zusammen zu sein. Nun, da sie weiß, dass ich mit dir verheiratet bin, hat sie wohl aufgegeben und wollte sich den ›Seeblick‹ aus der Ferne noch einmal ansehen.«
»Will sie …, hat sie …«
Roberto nahm sie in die Arme.
»Susanne, es ist nichts passiert. Natürlich habe ich ihr gesagt, dass ich noch Gefühle für sie habe. Alles andere wäre gelogen, aber ich habe ihr auch gesagt, dass ich dich liebe und dass ich sehr glücklich mit dir bin.«
Ein vollkommen verunsicherter Blick traf ihn.
Er verstärkte den Druck seiner Arme.
»Susanne, wir sind beide nicht mehr ganz jung, wir hatten beide ein Vorleben, ehe wir uns begegnet sind, und ich habe die Beziehung zu Nicki niemals verschwiegen und auch nicht die Gefühle, die es da gab und auch noch gibt. Gefühle lassen sich nicht einfach abstellen. Aber bitte glaube mir, ich würde dich nicht betrügen. Sollte es so weit kommen, dann haben wir mit unserer Beziehung Schiffbruch erlitten, denn in eine gute Beziehung passt kein Dritter. Susanne, vertraue mir bitte. Ich liebe dich, ich bin glücklich mit dir, und ich freue mich auf unser Kind.«
»Ja, aber, Nicki …«
»Das war das Leben vor dir, Susanne.«
Sie glaubte ihm noch immer nicht.
»Susanne, wenn ich mich zwischen Nicki und dir entscheiden müsste …, ich würde mich für dich entscheiden. Das Leben von zwei Menschen, das Miteinander, findet nun mal auf Erden statt. Und hier auf der Erde bin ich mit dir sehr, sehr glücklich.«
Sie lehnte sich enger an ihn.
Ja, sie musste ihm vertrauen. Wenn diese Nicki bloß nicht eine so attraktive Frau wäre.
»Susanne, vergiss Nicki, die Schatten der Vergangenheit werden uns niemals einholen. Und weißt du, warum? Weil wir zwei eine so großartige Gegenwart haben. Und wenn die stimmt, da muss man sich auch um die Zukunft keine Gedanken machen …, ich liebe dich.«
Sie schloss die Augen.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie, dann hatte sie nichts dagegen, dass er sie küsste.
*
Für Ricky und Fabian stand also fest, dass sie ihr Haus an Gerda Schulz verkaufen würden. Sie waren mit der Frau zusammengetroffen. Sie mochte um die Mitte dreißig sein, und das Erste, was auffiel war, dass sie unglaublich nervös wirkte.
Sie hatte kurze braune Haare, braune Augen und wirkte ziemlich knochig.
Man konnte Gerda Schulz nicht richtig einschätzen, doch man war sofort von ihr eingenommen, wenn sie über ihre Tochter Leonie sprach, mit der sie jahrelang kreuz und quer durch Europa gezogen war und die sich nun wünschte, sesshaft zu werden.
Im Internet hatten sie das Haus gefunden, und Leonie war sowohl von dem Haus als auch vom Sonnenwinkel begeistert, und ihrer Tochter zuliebe hatte Gerda sich für den Kauf des Hauses entschlossen und die Verlegung ihres Wohnsitzes in den Sonnenwinkel.
Heute nun sollte die Beurkundung beim Notar erfolgen, und Ricky war froh, dass Fabian sich die Zeit genommen hatte, ebenfalls persönlich zu dem Termin zu erscheinen.
Sie war aufgeregt, und obwohl sie schon längst nicht mehr in dem Haus wohnten, fiel es schwer, es loszulassen.
Ricky war da noch immer hin und her gerissen, und vermutlich würde das erst aufhören, wenn der Kaufvertrag unterschrieben war.
Gerda Schulz war bereits anwesend, und sie wirkte noch nervöser als sonst. Es schien die Frau etwas zu beschäftigen.
Ehe sie in das Büro des Notars gerufen wurde, hielt Gerda Schulz Ricky am Arm fest.
»Frau Rückert, ich muss Ihnen etwas sagen, ich …, äh …«, sie griff in ihre Handtasche, holte aus der einige Papiere hervor, wie sich herausstellte, bankbestätigte Schecks.
»Alle haben mir die Schecks geschickt, aber ich warte noch immer auf die Bestätigung der Bank of Scotland, das heißt, ich …, ich habe den Kaufpreis noch nicht zusammen. Da Leonie und ich die ganze Zeit über im Ausland waren, habe ich auch noch Konten dort, und jetzt …«
Der Makler wurde ungehalten, der natürlich auch schon mit seiner Provision gerechnet hatte.
»Wissen Sie, ich hatte ja nicht viel Zeit, mich um die Finanzierung zu kümmern. Und ehrlich gesagt, hätte ich auch normalerweise kein Haus gekauft, sondern hätte eines gemietet. Aber Leonie hätte so gern dieses Haus, sie möchte so gern im Sonnenwinkel sein, und deswegen habe ich mich entschlossen zu kaufen. Glauben Sie mir, ich habe das Geld, ich weiß nicht, warum es bei der Bank of Scotland so lange dauert. Bitte, Frau Rückert, Leonie hat in all den Jahren auf so vieles verzichten müssen. Es soll endlich einmal nach ihr gehen …, bitte, geben Sie mir noch einen kleinen Aufschub. Diese Schecks, die ich schon habe, können Sie ja schon bekommen.«
Gerda Schulz war total aufgeregt, und der Makler wurde immer ungehaltener.
Ricky wusste selbst nicht, was auf einmal mit ihr los war. Sie herrschte den Makler an, endlich still zu sein, dann wandte sie sich an Gerda.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann würden Sie viel lieber ein Haus mieten.«
Gerda nickte heftig.
»Aber da es nun mal nicht geht, und weil meine Leonie unbedingt in diesem Haus wohnen will, werde ich kaufen.«
Ricky verspürte ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung.
»Das müssen Sie nicht, Frau Schulz. Ich bin auch sehr gern bereit, Ihnen das Haus zu vermieten. Ich war mir eh nicht sicher, ob wir es verkaufen oder lieber nicht doch vermieten sollen.«
Gerda Schulz war außer sich vor Freude, und der Makler begann zu toben.
»Dann habe ich mir die ganze Arbeit umsonst gemacht. Es sind noch andere potentielle Käufer da, mit denen es bei der Bezahlung keine Probleme gibt. Ich war von vornherein gegen eine alleinstehende Frau mit Kind. Ein Mann kann so etwas ganz anders stemmen.«
Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein?
»Sie haben doch gehört, dass wir nicht mehr verkaufen«, sagte Ricky. »Um wenigstens etwas zu verdienen, können Sie den Mietvertrag aufsetzen, wenn Sie das nicht wollen, auch gut. Wir werden das Haus an Frau Schulz vermieten.«
Fabian hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, jetzt wandte sich der Makler Hilfe suchend an ihn.
»Herr Doktor Rückert, so sagen Sie doch etwas.«
Erst jetzt wurde Ricky bewusst, dass sie die ganze Zeit über allein agiert hatte. Sie warf Fabian einen unsicheren Blick zu. Normalerweise zogen sie an einem Strang, und das Haus gehörte schließlich ihnen beiden.
»Sie haben doch gehört, was meine Frau gesagt hat«, bemerkte Fabian. »Wir verkaufen nicht mehr, sondern wir vermieten, und, wie gesagt, Sie können gern den Mietvertrag machen.«
Dazu erklärte der Makler sich zähneknirschend bereit, weil der Spatz in der Hand schließlich besser war als die Taube auf dem Dach, aber dass er sauer war, sehr sauer sogar, das war nicht zu übersehen.
Der Notartermin wurde abgesagt, Fabian und Ricky verabschiedeten sich und ließen eine glückliche Gerda Schulz zurück.
Als sie das Büro verließen, erkundigte Fabian sich: »Kannst du mich bitte aufklären, was das alles jetzt sollte? Der Scheck der Bank of Scotland wäre vermutlich in ein paar Tagen gekommen.«
Ricky nickte.
»Ja, das stimmt, aber auf einmal war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob wir verkaufen sollen. Das mit dem Scheck war so etwas wie ein Zeichen, und eigentlich möchte Frau Schulz doch lieber mieten. Und ist es nicht rührend, dass sie das alles wegen ihrer Tochter Leonie auf sich nimmt, nur weil der Kleinen der Sonnenwinkel und das Haus gefallen?«
Er nahm Ricky in den Arm.
»In erster Linie willst du nicht verkaufen. Jetzt, da es tatsächlich akut war, hast du kalte Füße bekommen. Ich kenne dich doch.«
Sie nickte heftig.
»Du weißt doch, dass alles beliebig vermehrbar ist, nur Grund und Boden nicht«, wandte sie ein.
Fabian lachte.
»Ja, diesen Spruch kenne ich. Aber meinetwegen, soll diese Frau Schulz erst einmal mieten, vielleicht will sie ja später doch kaufen. Wir müssen nichts überstürzen, und wir kommen auch so zurecht, und die Mieteinnahmen decken auf jeden Fall die Hypotheken für das Haus, in dem wir leben. Was ist, möchtest du jetzt trotzdem noch kurz zu deinen Eltern fahren?«
Ricky nickte heftig. »Ja, das möchte ich«, sagte sie.
Sie hängte sich bei Fabian ein, und ging zusammen mit ihm zu ihrem Auto, das direkt um die Ecke parkte.
Nun war diese Frau Schulz also nicht die Käuferin, sondern die Mieterin des Hauses. Damit müsste alles in Ordnung sein, dennoch wurde Ricky das Gefühl nicht los, dass mit der Frau etwas nicht stimmte.
Warum war sie so nervös?
Und wieso ist sie jahrelang mit ihrer Tochter kreuz und quer durch Europa gereist, um jetzt im Sonnenwinkel zu landen?
Es waren schon einige Fragen, die sie bewegten, aber letztlich siegte die Tatsache, dass diese Frau das alles für ihre Tochter tat. Und eines war auf jeden Fall sicher: Für ein Kind gab es nichts Schöneres, als im Sonnenwinkel aufzuwachsen. Das wusste Ricky aus eigener Erfahrung, wenngleich sie da schon kein Kind mehr gewesen war, als sie mit der gesamten Familie in den Sonnenwinkel gezogen war. Aber der Sonnenwinkel war mit so vielen und ganz wundervollen Erfahrungen für sie verbunden.
Und ganz oben stand, dass sie bereits am allerersten Tag ihren Fabian kennen- und lieben gelernt hatte. Und das war mehr als ein Volltreffer in einer Lotterie, das war unglaublich, das war herrlich …, eigentlich gab es überhaupt keine Worte dafür, was das bedeutete.
Ihr Bruder Jörg hatte Stella kennen gelernt, und für Hannes und Bambi, die nur noch Pam genannt werden wollte, war es die schönste Kindheit gewesen, die man überhaupt haben konnte.
Ja, der Sonnenwinkel war etwas Besonderes, und man konnte Gerda Schulz und ihrer Leonie nur wünschen, dass sie sich sehr bald heimisch fühlen würden, und, ja, sie sollten glücklich werden.
Und war es nicht schön zu wissen, dass sie dazu ein wenig beitragen konnte? Immerhin war es ihr Haus, in dem sie künftig wohnen und die Beschaulichkeit, die Idylle genießen würden.
Ganz besonders für Leonie wünschte Ricky es sich, denn so ganz normal war es nicht, dass ein Kind sich aussuchte, wo es wohnen wollte. Wie groß musste die Sehnsucht des Mädchens sein, einen festen Platz im Leben zu bekommen.
Auf ihrem Weg kreuz und quer durch Europa hatte die Kleine ganz bestimmt eine ganze Menge gelernt, was wichtig für das Leben war. Aber ein Gefühl für Heimat konnten fremde Menschen und fremde Sprachen nicht ersetzen.
Gerda Schulz hatte sie jetzt schon zu sich eingeladen, und eines stand für Ricky fest: Sie würde hingehen, weil sie nämlich ganz gespannt auf Leonie war. Einen hübschen Namen, hatte sie auf jeden Fall, auch wenn der so häufige Nachname Schulz dazu nicht so richtig passte.
Aber das war wirklich nichts, worüber man sich Gedanken machen musste. Wirklich nicht.
*
Als Ricky mit ihrem Fabian in ihrem Elternhaus ankam, fand sie dort nicht nur ihren Vater, ihre Mutter vor, nein, auch ihre Großeltern waren von nebenan gekommen, und gemeinsam tranken sie Kaffee.
Das taten sie oft, und das Schöne war, dass es möglich war, wenn man so dicht beieinander wohnte. Da konnte man einfach mal nach nebenan gehen und musste nicht auf eine Einladung warten.
»Und wo ist der Champagner?«, erkundigte Professor Auerbach sich launig, nachdem sie einander begrüßt hatten.
»Champagner?«, erkundigte Ricky sich ein wenig irritiert. Der Professor lachte.
»Nun, immerhin habt ihr ein Haus verkauft, und das muss doch gefeiert werden.«
Fabian fiel in das Lachen seines Schwiegervaters ein. Er liebte die Auerbachs, und bei denen hatte er sich vom ersten Augenblick an heimisch gefühlt. So ganz anders als bei seinen eigenen Eltern, bei denen er sich stets wie ein Besucher vorkam, nicht unbedingt ein geliebter.
»Von wegen verkaufen, lieber Werner«, sagte Fabian. »Du kennst doch deine kapriziöse Tochter, unsere Ricky hat sich im letzten Augenblick dafür entschieden, nicht zu verkaufen, sondern dieser Frau Schulz das Haus zu vermieten, weil die nicht rechtzeitig einen bankbestätigten Scheck von der Bank of Scotland bekommen hat.«
Und dann erzählte er, was geschehen war.
»Die Frau wollte eigentlich nur mieten«, versuchte Ricky sich zu verteidigen, »und sie zieht nur in den Sonnenwinkel und in unser Haus, weil ihre Tochter es so gern möchte. Ich finde, das muss man unterstützen, und ihr alle wart doch eh alle dagegen zu verkaufen.«
»Es ist eure Entscheidung«, bemerkte der Professor, »und da halten wir uns heraus. Also gibt es keinen Champagner, aber gegen einen Kaffee habt ihr ja wohl nichts einzuwenden, oder?«
Das hatten sie nicht, und Ricky war glücklich, dass zwischen ihren Eltern offensichtlich wieder alles in Ordnung war. Sie hatte schrecklich darunter gelitten, wie sehr die beiden sich gestritten hatten, weil jeder die Schuld bei dem anderen suchte, nachdem dummerweise in der Öffentlichkeit aufgeflogen war, dass Pamela, ihre Bambi, keine Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte. Es war dumm gelaufen, und im Grunde genommen hatte ausgerechnet ihr Jüngster, der Hannes, die Nerven behalten und hatte seine kleine Schwester, mit der er glücklich aufgewachsen war, nach Australien geholt, und damit hatte er Schlimmes verhindert, denn Pam wollte mit den Auerbachs nichts mehr zu tun haben, von denen sie sich verraten fühlte. Nun, zu verstehen war es ein wenig, denn ausgerechnet die Kleine hatte sich als eine besonders echte Auerbach gefühlt. Aber Hannes, auf den konnte man stolz sein, wenngleich noch niemand wusste, wohin sein Weg ihn führen würde. Nach dem Einserabitur hatte er eine Weltreise von fast einem Jahr gemacht, und jetzt jobbte er als Tauch- und Surflehrer in Australien. Hannes machte sein Ding, und da war er wirklich so ganz anders als seine Geschwister.
Ricky und Fabian bekamen nicht nur ihren Kaffee, sondern auch etwas von dem herrlichen Kuchen, den die Großmutter Teresa von Roth mitgebracht hatte.
Sie unterhielten sich ein wenig über Gerda Schulz und deren Tochter, doch da war das Interesse schnell erloschen. Die Auerbachs und die von Roths waren nicht neugierig, sie interessierte viel mehr, was bei Ricky, Fabian und deren Kindern los war, und da gab es wirklich eine ganze Menge zu berichten.
Ricky merkte, dass es ihr nicht gelang, so unbefangen wie früher über die Kinder zu berichten, denn seit sie studierte, hatte sich einiges verändert. Die Kinder waren anders geworden, und sie hatte den engen Kontakt zu ihnen doch ein wenig verloren. Und das erschreckte sie. So deutlich wie jetzt war es ihr noch nie bewusst gewesen.
»Und das Studium, mein Kind?«, wollte Magnus von Roth wissen. »Macht es dir noch immer so viel Spaß?«
Das machte es, das konnte Ricky bestätigen, doch sie wusste selbst nicht, was auf einmal mit ihr los war. Sie hatte hier und da flüchtig daran gedacht, weil sie sich ihren Mann und ihren Kindern gegenüber schlecht fühlte. Aber konkret war es niemals gewesen.
Auf einmal wusste sie, was zu tun war. Und wahrscheinlich war das jetzt der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern und ihren Großeltern, und mit denen sprach sie immer ganz offen über alles, was sie bewegte.
Und das jetzt!
Das war ein Vulkan, der in ihr brodelte, und sie musste alles tun, den Ausbruch zu verhindern.
Sie stellte ihre Tasse ab und merkte, wie sehr ihre Hand dabei zitterte, dann nahm sie gedankenverloren den Löffel in die Hand, spielte damit.
»Fabian weiß es auch noch nicht«, begann sie, »aber ich werde mein Studium abbrechen.«
Eine Bombe hätte keine einschlagendere Wirkung haben können. Alle hier im Raum wussten, wie wichtig das Studium für Ricky war, wie glücklich sie darüber gewesen war, damit beginnen zu können. Und alle hatten sie unterstützt. Die Großeltern hatten ihr sogar ein Auto gekauft, damit sie flexibler war.
Nach diesen Worten sagte zunächst niemand etwas, doch dann schwirrten die Fragen nur so durcheinander, nur Fabian sagte nichts. Er musste sich von dieser Eröffnung seiner Frau erst einmal erholen, weil er am allerbesten wusste, wie sehr Ricky ihr Studium genoss. Und nun das?
Er war in der Familie der Besonnene, sie die Spontane, doch das, was sie jetzt eröffnet hatte, machte ihn einfach nur sprachlos.
»Bitte haltet mich nicht für verrückt«, versuchte Ricky zu erklären. »Ich liebe mein Studium über alles. Aber ich liebe auch Fabian und unsere so lieben Kinder, und ich spüre, wie die auf der Strecke bleiben. Sie verändern sich, verändern ihr Verhalten, und das sind Notsignale, die ich aber nicht sehen wollte. Man kann sich nicht auf Kosten anderer Menschen verwirklichen. Das ist egoistisch, und ich möchte nicht irgendwann einen akademischen Titel haben, dafür ist aber das, was ich am meisten liebe, auf der Strecke geblieben. Ich weiß nicht, ich glaube, diese Frau Schulz hat mich zur Umkehr bewegt. Sie sieht nicht aus wie jemand, der den Sonnenwinkel als seinen Lebensmittelpunkt wählen würde. Sie tut es dennoch, weil ihre Tochter es möchte. Und ich denke, Kinder haben ein Recht darauf, auch gefragt zu werden, und die darf man nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen. Klar fanden sie es zunächst cool, eine Mutter zu haben, die studiert. Aber sie haben nicht das Ausmaß dessen begriffen, was es bedeutet. Ich muss keine berufliche Karriere machen, warum soll ich also nicht später noch einmal studieren, wenn die Kinder aus dem Gröbsten sind, wenn sie mich nicht mehr brauchen? Kinder werden so schnell groß, und ich möchte das miterleben. Das war immer mein Wunsch und das war immer mein Ziel. Ich möchte nicht nur am Rande etwas mitbekommen.« Ricky wandte sich an ihren Mann. »Fabian, du hast mich immer unterstützt und dabei so manch eigene Wünsche zurückgestellt. Dafür danke ich dir. Aber ich möchte, dass es wieder so wird, wie wir es immer wollten …, die Kinder und wir.«
Zunächst einmal war es still, dann setzte eine lebhafte Diskussion ein, die letztlich darin endete, dass man Ricky Hochachtung für ihre Entscheidung zollte. Jeder der Anwesenden wusste, wie glücklich sie gewesen war studieren zu dürfen, und wenn sie das jetzt freiwillig aufgab, um wieder »nur« Hausfrau und Mutter zu sein, dann verdiente das Anerkennung.
Fabian hätte es nur gern vorher erfahren, und das sagte er seiner Frau auch.
»Fabian, ich wusste es nicht«, antwortete Ricky wahrheitsgemäß, »der Gedanke kam mir urplötzlich, und mir war klar, dass ich nur so und nicht anders handeln darf. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder mich in irgendeiner wichtigen Lebenssituation vermissen. Das wäre schrecklich für mich. Fabian, wir haben jedes unserer Kinder gewollt, und wir waren uns vom ersten Augenblick an einig, wie wir sie erziehen wollen. Das Studium war toll, aber du und unsere Kinder, das Leben mit euch, das ist durch nichts zu ersetzen.«
Fabian war besänftigt, er konnte der Frau, die er über alles liebte, eh nichts abschlagen. Und wenn er ganz ehrlich war, war das mit dem Studium eine doch viel größere Herausforderung als ursprünglich gedacht. Er hätte es auf sich genommen, er hätte es mit Ricky durchgezogen, aber so …, es wäre unehrlich, sie jetzt dazu zu bewegen, weiterzustudieren.
»Ricky, du kannst es dir noch einmal überlegen«, sagte er vage, doch davon wollte sie nichts wissen.
»Fabian, da gibt es nichts mehr zu überlegen. Es fühlt sich gut an. Gut und richtig.« Sie blickte in die Runde. »Und was sagt ihr? Oder sollen wir gar abstimmen?«
Magnus von Roth blickte seine Enkelin ernst an.
»Ricky, das ist einzig und allein die Entscheidung von Fabian und dir, und niemand sonst hat etwas dazu zu sagen. Wir haben dich unterstützt, als du dich entschieden hattest, mit einem Studium zu beginnen. Und wir sind auf deiner Seite, wenn du es dir anders überlegst. Und weißt du auch, warum? Weil wir dich lieben, weil wir möchten, dass du glücklich bist.«
Ricky war ganz gerührt, sie sprang auf, lief auf ihren Opi zu, umarmte ihn, gab ihm einen Kuss. »Danke, Opi, und wenn du willst, dann verkaufe ich das Auto und gebe dir das Geld dafür.«
Magnus von Roth blickte seine Enkelin an.
»Sag mal, wie bist du denn drauf? Geschenkt ist geschenkt, außerdem kannst du das Auto dafür benutzen, nun häufiger in den Sonnenwinkel zu kommen.«
Das war ein Argument!
Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann entschuldigten Ricky und Fabian sich.
Für sie war es jetzt wichtig, allein alles noch einmal zu besprechen, wenngleich voraussehbar war, dass Ricky an ihrer Entscheidung nichts mehr ändern würde.
*
Ehe sie losfuhren, wandte Ricky sich ihrem Mann zu.
»Fabian, bitte entschuldige, dass ich dich und die anderen so überrumpelt habe. Ich wusste es vorher selbst nicht, das schwöre ich. Diese Gerda Schulz hat mich irgendwie vollkommen durcheinandergebracht. Aber jetzt mal ehrlich, ist nicht alles besser so?«
Er strich ihr über das Haar.
»Ricky, du hast eine Entscheidung getroffen, und ich akzeptiere sie. Damit musst du dich zufriedengeben.«
»Aber du bist …, du bist nicht sauer auf mich?«, erkundigte sie sich.
Er lächelte.
»Liebes, ich kenne dich lange genug, und ich weiß auch um deine spontanen Entscheidungen. Wenn ich jedes Mal sauer wäre …«
Ihr Fabian!
»Fabian, und darum liebe ich dich. Du bist der beste Mann auf der ganzen Welt, und ich kann mich nicht glücklich genug schätzen, dich bekommen zu haben.«
Er startete.
»Und jetzt fahren wir nach Hause?«, wollte er wissen. Ricky zögerte.
»Eigentlich schon, aber wir sind doch ganz in der Nähe, sollen wir nicht einen kurzen Abstecher nach Hohenborn zu deiner Mutter machen?«
Fabian ließ den Motor absterben.
Hatte er sich verhört?
Er warf einen Blick zur Seite.
»Ricky, wie du weißt, fährt man bei meinen Eltern nicht einfach so vorbei, da muss man sich anmelden. Und selbst wenn es nicht so wäre, hätte ich keine Lust dazu. Die Besuche bei meinen Eltern sind immer sehr frustrierend.«
Ricky wollte noch nicht aufgeben.
»Deine Mutter hat sich sehr verändert. Sie ist umgänglicher geworden, und ich habe das Gefühl, dass sie das Verhältnis zu dir und deiner Schwester Stella gern verbessern würde.«
»Das hätte ihr früher in den Sinn kommen können«, sagte Fabian. »Sie hat uns Kinderfrauen überlassen, hat sich niemals für uns interessiert. Wir sind uns total fremd. Und das kann auch so bleiben.«
Fabian und seine Mutter!
Das war leider ein Kapitel für sich!
Und wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie mit ihrer Schwiegermutter auch nicht viel anfangen konnte. Dazu waren sie zu verschieden, aber Rosmarie hatte sich wirklich verändert. Und sie hatte gelernt, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdiente.
»Fabian, sie bemüht sich doch wirklich, und wir sind ganz in der Nähe von Hohenborn. Sie hat sich den Hund aus dem Tierheim geholt, und gewiss freut es sie, wenn wir uns den mal ansehen.«
»Es ist eine Frage der Zeit, wann sie des Hundes überdrüssig sein wird, und ich frage mich, wem sie den dann andrehen will, so wie all die Fehlkäufe, die sie dann auf Stella und uns abzuwälzen versucht.«
»Fabian, von Omi weiß ich, dass die Leiterin des Tierheims sehr gewissenhaft ist und ganz genau überprüft, ob und wem sie einen Hund gibt. Deine Mutter und dieser kleine Beagle scheinen sich wirklich zu mögen.«
Fabian seufzte.
»Ich weiß nicht, warum du immer noch die Partei meiner Mutter ergreifst. Sie hat dir doch, weiß Gott, auch schon das Leben ganz schön schwer gemacht, indem sie versuchte, sich in alles einzumischen. Und wie sie gewettert hat, als sie erfuhr, dass du studieren wolltest.«
Ricky lachte.
»Dann kann sie sich ja jetzt freuen, wenn sie erfährt, dass ich das Studium abbrechen werde. Komm, Fabian, du bist doch gar nicht so, du bist eine Seele von Mensch. Wir müssen ja nicht lange bleiben. Aber ich glaube, wenn wir da jetzt hinfahren, ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Rosmarie ist immerhin deine Mutter. Mit seinen Eltern sollte man nicht verkracht sein, denn nichts ist schlimmer als etwas zu bereuen, wenn es zu spät ist.«
Fabian hielt sich gespielt die Ohren zu, ehe er erneut startete. Sein Auto schoss pfeilschnell nach vorne.
»Okay, ist ja schon gut. Du hast gewonnen«, sagte er, »aber wir bleiben maximal auf einen Kaffee oder Tee, sehen uns den Hund an, und wenn meine Mutter komisch wird, dann gehen wir sofort, einverstanden?«
Insgeheim atmete Ricky auf.
»Einverstanden«, sagte sie, »aber dazu wird es nicht kommen.« Fabian antwortete nicht, er blieb für den Rest der Fahrt schweigsam, und auch Ricky hing ihren Gedanken nach.
Jetzt, wo sich alles allmählich setzte, bekam sie beinahe Angst vor ihrer eigenen Courage. War es richtig gewesen, aus einem Gedanken heraus allen zu sagen, dass sie ihr Studium aufgeben wollte? Sie hatte es sich doch immer gewünscht, und wie begeistert sie jeden Tag zur Uni gegangen war. War es wirklich diese Frau Schulz gewesen, diese merkwürdige Frau, die ihr Leben nach den Wünschen ihrer Tochter ausrichtete?
Nein!
Sie konnte und wollte sich nicht mit dieser Frau vergleichen. Ihr schlechtes Gewissen war schon lange da gewesen. Und man durfte als liebende Mutter seiner Kinder nicht einfach seine eigenen Bedürfnisse über alles andere stellen. Das war egoistisch. Aber sich für seine Familie opfern, das war doch auch nicht der richtige Weg, oder?
Ricky war so sehr verstrickt in ihre Gedanken, dass sie nicht mitbekam, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.
Fabian hatte gerade den Motor abgestellt, als sich die Haustür öffnete und Rosmarie, mit Beauty an der Leine, das Haus verlassen wollte.
Als sie ihren Sohn und ihre Schwiegertochter bemerkte, begann sie zu strahlen.
»Fabian, Ricky, das ist aber eine Überraschung«, rief sie entzückt.
»Wir wollten uns nur kurz den Hund ansehen«, sagte Fabian steif, »aber wie wir sehen, willst du gerade weggehen. Dann wollen wir nicht stören.«
Schon wollte er sich ins Auto setzen, als Rosmarie auf ihren Sohn zugelaufen kam.
»Aber ich kann doch später gehen«, sagte sie, »bitte kommt ins Haus. Schön, dass ihr da seid.«
Beauty blieb ganz in Rosmaries Nähe sitzen. Sie war ganz auf ihr neues Frauchen fixiert, wie es oftmals der Fall war, wenn Tiere aus einem Heim kamen.
Ricky beugte sich zu der kleinen Hündin hinunter, die sich noch enger an Rosmarie drückte und zu zittern begann.
»Aber ich will dir doch bloß hallo sagen«, sagte Ricky ganz leise, »du bist ja wirklich eine sehr Hübsche.«
»Ja, das ist sie«, sagte Rosmarie ganz stolz.
Fabian sah sich den Hund an, die Leine, das Halsband, und er konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Leine und Halsband sind aber sehr schlicht. Nirgendwo ein Glitzersteinchen, das hätte ich jetzt nicht von dir erwartet. Du liebst doch normalerweise alles, auf auffällt und teuer ist.«
»Fabian«, mahnte Ricky ihren Mann, die diese Bemerkung für vollkommen unnötig hielt.
Fabian entschuldigte sich, und Rosmarie sagte traurig: »Ach, Fabian, wie glücklich wäre ich doch, wenn wir ein entspanntes Verhältnis zueinander finden könnten, so wie …, so wie ich es mit Cecile habe.«
Das hätte sie jetzt wohl besser nicht gesagt, denn Fabian meinte sofort: »Cecile ist ein ganz wunderbarer Mensch, sie ist zu allen nett und freundlich, und sie …, sie kennt dich nicht. Sie hatte keine Kindheit mit dir als Mutter.«
Die Stimmung drohte zu eskalieren, es war Ricky, die versuchte, die Atmosphäre ein wenig zu entspannen, und das gelang ihr sogar.
Gemeinsam gingen sie ins Haus, und wenn man ehrlich war, war das nach den Wohnverhältnissen bei den Auerbachs beinahe so etwas wie ein Kulturschock. Bei den Auerbachs die anheimelnde Gemütlichkeit, hier die Villa, in der alles viel zu groß, viel zu protzig war.
Sie gingen in Rosmaries Salon, die bestellte bei dem herbeieilenden Hausmädchen Tee, dann saßen sie sich gegenüber, und es war schrecklich, sie hatten sich wirklich nichts zu sagen.
Wieder war es Ricky, die die Situation rettete, indem sie mehr über Beauty erfahren wollte. Und das lockerte in der Tat die Stimmung, Rosmarie blühte auf, sie erzählte alles über Beauty und war ganz stolz darauf, berichten zu können, dass sie mit dem kleinen Hund auch regelmäßig in eine Hundeschule ging.
»Ich möchte nichts falsch machen«, sagte sie.
Ricky bemerkte, wie ihr Mann eine Bemerkung machen wollte, und sie konnte ahnen, was ihm auf den Lippen lag. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu, und Fabian hielt sich zum Glück zurück.
Ganz offensichtlich hatte Rosmarie den Blick ihrer Schwiegertochter ebenfalls bemerkt.
Sie blickte ihren Sohn traurig an.
»Fabian, ich weiß, dass ich als Mutter versagt habe. Ich habe so ziemlich alles falsch gemacht. Doch nichts lässt sich mehr rückgängig machen. Gäbe es einen Hebel, den man umdrehen kann, dann würde ich ihn betätigen …, ich bemühe mich so sehr um Stella und dich. Stella bemüht sich, aber du … Fabian, warum bist du so unversöhnlich und gibst mir keine Chance in der Zukunft. Ich möchte doch mein Leben ändern. Was soll ich tun?«
Fabian fühlte sich in die Enge gedrängt.
»Lassen wir die Zeit für uns arbeiten«, sagte er schließlich, »es ist auf jeden Fall gut, dass du mit dem Tier in eine Hundeschule gehst. Es ist ein hübscher Beagle, und ich finde den Namen Beauty passend.«
Rosmarie wurde vor lauter Freude rot, und Ricky atmete insgeheim erleichtert auf.
Vielleicht war das jetzt wirklich der erste Schritt in die richtige Richtung, und die kleine Hundedame konnte ein Bindeglied sein. Beauty liebte auf jeden Fall ihr neues Frauchen über alles. Und wenn man im Allgemeinen von einem treuen Hundeblick sprach, den konnte man hier sehen.
Ricky wünschte sich wirklich von ganzem Herzen eine Versöhnung mit seinen Eltern. Fabian war ein so liebevoller, ein so herzlicher Mensch. Es musste doch etwas geben, was die Verkrustung seines Herzens lösen konnte!
Beauty saß dicht gedrängt an Rosmaries Beinen.
»Das große Haus macht ihr ein wenig Angst«, sagte Rosmarie.
»Das macht jedem Angst«, sagte Fabian.
Rosmarie nickte.
»Mir auch. Es war ein Fehler, es bauen zu lassen, und deswegen wollen wir es auch verkaufen. Es wird bereits angeboten, bislang vergebens. Nun, ein solches Haus wäre an einem anderen Platz längst weg, Hohenborn ist nicht das richtige Pflaster für eine derartige Immobilie.«
Fabian konnte seiner Mutter kaum zuhören, er glaubte, sich verhört zu haben.
Er hatte diese protzige Villa vom ersten Augenblick an schrecklich gefunden und nie verstanden, warum seine Eltern sich in ihrem Alter noch einen solchen Palast hingesetzt hatten.
Und nun wollten sie also verkaufen!
Ehrlich gesagt hätte er das nicht gedacht. Es schien sich wirklich etwas im Leben seiner Eltern zu verändern, wie ihm langsam dämmerte.
»Und was soll dann geschehen?«, wollte er wissen und verkniff sich glücklicherweise hinzuzufügen, ob sie sich dann eine noch protzigere Villa hinsetzen wollten.
Rosmarie blickte ihren Sohn an.
»Wir wissen es noch nicht. Auf jeden Fall werden wir uns kleiner setzen, und vielleicht kaufen wir uns auch eine kleine Wohnung in Paris. Heinz möchte gern mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen, was ja auch zu verstehen ist. Und Cecile kann nicht immerfort nach Deutschland kommen.«
So redete seine Mutter?
Fabian konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie über die arme Cecile hergezogen war, kein gutes Haar hatte sie an der Armen gelassen.
Er konnte augenblicklich wirklich nichts dazu sagen, so verwirrt war er.
Ricky nutzte die Redepause ihrer Schwiegermutter zu erzählen, dass sie sich entschlossen hatte, das Studium aufzugeben.
Rosmarie sagte nicht sofort etwas dazu, doch als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme ein wenig bestürzt: »Aber das wolltest du doch unbedingt.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Ricky, »doch inzwischen wurde mir klar, dass das Leben kein Wunschkonzert ist, dass man Prioritäten setzen muss, will man nicht riskieren, dass alles auseinanderfliegt. Ich liebe meinen Mann und meine Kinder über alles. Sie sind für mich das Wichtigste auf der Welt, und deswegen darf ich nicht nur entscheiden, was für mich wichtig ist, sondern was das Beste für uns alle ist.«
Sie machte eine kurze Pause.
»Das kann das Studium nicht sein, und die Freude darüber kann nicht das Glück ersetzen, das ich jeden Tag mit Fabian und den Kindern habe.«
Nach diesen Worten war es ganz still im Raum, und als Fabian kurz zu seiner Mutter blickte, entdeckte er Tränen in deren Augen.
Das war neu, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Irgendwie war es ein bewegender Augenblick. Mit ihren Worten hatte Ricky nichts erreichen wollen, sie waren ihr einfach aus dem Herzen gekommen.
Rosmarie fing sich zuerst, sie streichelte Beauty, dann wandte sie sich an ihre Schwiegertochter.
»Ach Ricky, wie sehr bewundere ich dich für deine Stärke, deine Kinder werden dich dafür lieben, und du darfst sicher sein, dass sie dich immer bewundern werden dafür, dass du dich für sie entschieden hast. Ich wollte, ich hätte in meinem Leben auch so handeln können, da wäre alles anders gekommen. Für mich haben immer Äußerlichkeiten gezählt, und damit war ich so sehr beschäftigt, dass dabei meine Kinder auf der Strecke blieben, ohne dass ich es merkte. Für mich war alles, was ich tat, richtig, und ich war vermessen genug zu glauben, dass es für Kinder ausreicht, wenn sie ordentlich versorgt werden …, es soll keine Entschuldigung sein, aber ich wäre als Kind glücklich gewesen, wenn man mich gut versorgt hätte. Wenn ich daran denke …«
Ihre Stimme versagte, und sie streichelte wieder Beauty, die es sichtlich genoss, um sich ein wenig zu sammeln. Als sie sich aufrichtete, klang ihre Stimme wieder normal.
»Es sind olle Kamellen, vergesst es. Noch mal zu dir, Ricky, ich kann nur sagen … Hut ab.«
Die Worte ihrer Schwiegermutter freuten Ricky, aber sie musste noch an das denken, was Rosmarie sonst noch preisgegeben hatte.
Wahrscheinlich war es wirklich so, dass ein jeder Mensch nur das geben konnte, was ihm selbst mitgegeben worden war. Und das schien bei Rosmarie herzlich wenig gewesen zu sein.
Es war schon merkwürdig. Sie war nun schon so viele Jahre mit Fabian verheiratet, war hier und da mit den Schwiegereltern zusammengetroffen, doch so ehrlich wie heute hatte sie Rosmarie noch nie erlebt, nicht einmal ansatzweise.
Sie sah sie plötzlich in einem anderen Licht, und sie war fest entschlossen, Fabian zu bewegen, sein Verhalten seiner Mutter gegenüber grundsätzlich zu überdenken, und sie würde auch versuchen, offener mit Rosmarie umzugehen.
Welch ein Glück sie doch hatte, in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen zu sein. So konnte sie all ihre Liebe auch vorbehaltlos an ihren Mann und ihre Kinder weitergeben.
Das war ein großes Privileg!
Und Liebe und Geborgenheit brachten Sicherheit und waren für Kinder ein Geschenk fürs Leben. Es war etwas, was mehr zählte als alles andere auf der Welt.
Ricky war bisher ohne einen Studienabschluss durchs Leben gekommen, und das würde auch weiterhin keine Rolle spielen. Sie konnte so viel mehr geben als Kenntnisse in Deutsch und Biologie. Sie konnte Liebe geben, die Vertrauen schaffte. Und wer Vertrauen hatte, besaß auch das nötige Selbstbewusstsein, um durch alle Stürme des Lebens zu kommen.
Sie und Fabian tauschten einen Blick, und der sagte mehr als tausend Worte es vermocht hätten. Und weil sie so sehr von diesem unglaublichen Gefühl umhüllt wurden, fand Fabian sogar ein paar versöhnliche Worte für seine Mutter.
Welch ein Tag!
Zuerst der nicht stattgefundene Verkauf ihres Hauses!
Dann ihr Entschluss, nicht mehr studieren zu wollen!
Und Fabian und seine Mutter gingen ganz vorsichtig aufeinander zu.
Ricky wusste schon jetzt, was sie heute noch mit ihrem Fabian tun würde: Sie würde mit ihm Champagner trinken, denn dazu hatten sie allen Grund …
*
Carolo Heimberg und seine Frau Marianne von Rieding befanden sich auf dem Heimweg. Sie hatten beide nicht damit gerechnet, dass sie eine so lange Zeit von daheim weg sein würden. Aber so war es nun mal, das Schicksal ging seltsame Wege, und es gab Dinge, die man nicht voraussehen und auch nicht vorausberechnen konnte. Und plötzlich gab es Situationen, die ein ganzes Leben auf den Kopf stellten.
Marianne fuhr den schweren Tourenwagen, und Carlo saß neben ihr. Das war auch neu, denn normalerweise hätte er es sich niemals nehmen lassen, seinen Wagen selbst zu fahren. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil es sich einfach so gehörte, dass der Mann am Steuer saß.
Es hatte sich viel in seinem Leben geändert, und er wusste noch nicht, wie er damit umgehen sollte.
Er, der scheinbar unverwundbare Architekt Carlo Heimberg war vom Leben ordentlich geschüttelt worden, und dass er überhaupt noch lebte, hatte er im Grunde genommen seiner Marianne zu verdanken.
Hätte die nicht dafür gesorgt, dass er zum Arzt ging, dann wäre …
Nein!
Er mochte daran nicht denken, dass es ihn vermutlich jetzt nicht mehr gäbe, wäre Marianne nicht gewesen.
Er hatte Glück gehabt, Glück in jeder Hinsicht, vor allem, dass die Frau Doktor Steinfeld ihn zu dem Kardiologen geschickt hatte, der eine Kapazität auf seinem Gebiet war. Und der hatte schließlich festgestellt, dass er nicht nur ein paar Stents brauchte, um wieder richtig funktionieren zu können, sondern dass es bei ihm um mehr ging, nämlich eine lebensbedrohliche Besonderheit, die eine Operation am offenen Herzen erforderlich machte, die man bislang kaum durchgeführt hatte.
Er hatte es überlebt.
Eigentlich musste er dankbar sein, und das war er auch, aber er konnte sich einfach nicht damit trösten, dass es hätte sehr viel schlimmer sein können.
Es hatte ihn getroffen!
Das war etwas, womit er niemals gerechnet hätte. Er war der Meinung gewesen, in seinem Leben immer weiter Höchstleistungen vollbringen zu können, hatte immer auf der Überholspur gelebt und geglaubt, es mit einem Dreißigjährigen aufnehmen zu können.
Wie vermessen war er doch gewesen.
Der Professor und Chirurg hatte ihm seine Grenzen ganz ernsthaft aufgezeigt, und die waren leider eng bemessen.
Wie sollte es nun weitergehen?
Er hatte keine Ahnung, aber er hatte das Gefühl, dass er es mit dieser wunderbaren Frau an seiner Seite schaffen würde.
Marianne war sein Fels in der Brandung, und sie war die ganze Zeit über bei ihm gewesen, im Krankenhaus, und später auch in der Reha.
Nach einer ganzen Weile des Schweigens sagte er plötzlich: »Marianne, fahr bitte rechts ran.«
Was sollte das denn? Sie waren kurz vor daheim, man konnte schon die Felsenburg sehen, und wenn sie gleich um die Ecke bogen, konnten sie die Dependance, in der Sandra und ihre Familie lebten und das Herrenhaus sehen.
Aber da Carlo seit seiner Krankheit reizbar und empfindlich geworden, war, erfüllte Marianne den Wunsch ihres Mannes, fuhr das Auto rechts an den Straßenrand, stellte den Motor ab und blickte ihn an.
»Wir sind gleich zu Hause«, erinnerte sie ihn, weil sie sich nicht erklären konnte, warum er jetzt anhalten wollte.
Er nickte. »Ich weiß, aber ich denke, wir sollten jetzt reden, ehe Sandra und Felix uns mit Fragen überfallen. Ich möchte nicht, dass sie mitleidvoll mit mir sind, wenn sie erfahren, was mit mir los ist.«
Das verstand Marianne nun überhaupt nicht.
»Carlo, mein Lieber, warum sollten sie Mitleid mit dir haben? Und warum sollen sie es nicht erfahren? Sie sind unsere Familie.«
Carlo antwortete nicht.
»Dass du im Krankenhaus warst, von einem großartigen Professor am offenen Herzen operiert wurdest, das wissen sie doch, auch von deinem Aufenthalt in der Reha. Jetzt bist du entlassen in ein Leben, das ein anderes sein wird als zuvor, aber ein Leben. Und darüber sind Sandra und Felix ebenso glücklich wie ich. Carlo, bitte versuche damit umzugehen und das Beste daraus zu machen. Erst wenn du es akzeptierst, können wir uns Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll. Der Professor hat nichts dagegen, wenn du deinen Beruf wieder ausübst, aber halt in Maßen.«
Er lachte bitter.
»Ja, Schmalspur, soll ich mich hinsetzen und ein Einfamilienhaus entwerfen? Kannst du dir das vorstellen? Ich habe niemals kleinklein gearbeitet, und das werde ich jetzt ganz gewiss nicht tun. Dann hänge ich meinen Beruf an den Nagel.«
»Du kannst Bücher schreiben, das wolltest du schon immer, hattest aber keine Zeit dazu. Jetzt hast du sie, und ich denke, du hast eine ganze Menge zu sagen. Außerdem kannst du als Dozent arbeiten, du mit deinem großen Wissen bist für jeden Student eine Bereicherung. Es gibt viele Möglichkeiten, es gibt viele Wege, du musst die Möglichkeiten nur ergreifen und die Wege beschreiten.«
Carlo Heimberg sah seine Marianne, seine späte Liebe, ganz zerknirscht an.
»Bitte entschuldige, mein Herz. Du bist die ganze Zeit über ohne zu murren an meiner Seite, und ich nöle dir die Ohren voll. Es ist nur so verdammt schwer, einen Weg aus diesen Trümmern zu finden.«
Sie lächelte ihn aufmunternd an.
»Ich weiß, mein Liebling. Aber ich bin an deiner Seite, und gemeinsam schaffen wir es. Da bin ich mir ganz sicher. Bitte entspann dich jetzt und lass uns weiterfahren. Ich habe nämlich eine unbändige Lust auf einen starken schwarzen Kaffee.«
Er nickte.
»Du hast recht«, sagte er, »fahren wir …, weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«
Sie blickte ihn an, ehe sie losfuhr.
»Das weiß ich, mein Liebster, und das ist ein ganz großes Geschenk.«
So empfand sie es wirklich, sie hätte niemals für möglich gehalten, nach dem Tod ihres ersten Mannes noch einmal einen Partner wie ihn zu finden. Sie hatte ihn gefunden, und was für einen Mann! Er war das späte Glück ihres Lebens geworden.
Und sie waren so glücklich miteinander, und so sollte es auch bleiben.
Sie hatten eine zweite Chance bekommen. Carlo war am Herzen operiert, er war in seinen Aktivitäten deutlich eingeschränkt, aber er lebte, und sie konnten noch viele wunderbare Jahre miteinander verbringen, und was dabei ganz besonders zählte, das war das Miteinander. Zusammen waren jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, ja, sogar jede Sekunde ein Geschenk. Das war Marianne so richtig bewusst geworden, als es bei ihrem Carlo um Leben und Tod gegangen war.
Sie mussten nicht mehr lange fahren, da kamen sie vor dem prächtigen Anwesen an, über dem stolz die Überreste der Felsenburg standen. Die Felsenburg wirkte noch immer imposant und geheimnisumwoben. Doch sie war auch ein deutliches, ein mahnendes Zeichen dafür, wie vergänglich doch alles war, auch scheinbar unzerstörbare Mauern.
Bei der Dependance war kein Auto zu sehen. Wahrscheinlich war Felix noch in der Firma, und Sandra war mit Manuel und den Zwillingen unterwegs.
Auch gut, da konnten sie in aller Ruhe erst einmal ankommen.
Marianne machte sich nicht die Mühe, beim Herrenhaus in die Garage zu fahren, sondern sie hielt unmittelbar neben dem schönen, schweren Eingangsportal.
So groß, so imposant hatte sie das Haus überhaupt nicht in Erinnerung gehabt.
Sie stieg aus, Carlo schaffte es allein aus dem Auto. Das Gepäck würde später jemand vom Personal aus dem Wagen holen und ins Haus bringen.
Nebeneinander gingen sie auf die Haustür zu, als die von innen geöffnet wurde.
Fanny, das Mädchen, begann zu strahlen.
»Gnädige Frau, Herr Heimberg«, rief sie, »herzlich willkommen wieder daheim. Warum haben Sie uns nicht von Ihrem Kommen unterrichtet? Wir hätten etwas vorbereitet.«
»Fanny, alles ist gut, und wenn Sie uns eine Freude machen möchten, mein Mann und ich würden uns über einen Kaffee sehr freuen.«
»Nichts lieber als das«, versprach Fanny sofort, »darf es auch etwas von dem Zitronenkuchen sein, den Sie beide so gern mögen? Wir haben ihn heute frisch gebacken.«
Es durfte auch der Zitronenkuchen sein. Fanny war wirklich ein ausgesprochen netter Mensch, immer freundlich, immer zuvorkommend, nie aufdringlich.
Sie gingen zusammen in den Biedermeier-Salon, der nicht ganz so groß war wie die übrigen Räume, und der vor allem durch die hübschen Möbel sehr anheimelnd wirkte. Marianne hielt sich hier gern auf. Es war, ehrlich gesagt, ihr Lieblingszimmer, sah man mal von der Wohndiele ab mit dem großen Kamin.
Aber einen richtigen Zugang hatte sie zum Herrenhaus niemals gefunden, und beinahe schämte sie sich schon dafür, dass sie nicht so beeindruckt war wie die Besucher, die herkamen und aus dem Stauen nicht herauskamen.
Sie musste sich und anderen Menschen nichts beweisen, und vielleicht lag ihr gestörtes Verhältnis zu diesem Haus, zu dem gesamten Anwesen, auch daran, dass sie und Sandra nie geduldet waren. Ihr Schwiegervater hatte seinen einzigen Sohn verstoßen, weil der es gewagt hatte, eine Bürgerliche zu heiraten. Und es hatte ihn auch niemals interessiert, dass er eine Enkelin hatte.
Es war nicht damit zu rechnen gewesen, dass ihr Schwiegervater Sandra und ihr das gesamte Anwesen vermacht hatte, und das konnte nur daran liegen, dass es sonst keinen Erben gab oder dass er vor seinem Ende noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen bekommen hatte.
Das würden sie niemals mehr herausfinden, denn es gab nur ein förmliches, total unpersönliches Testament.
Warum musste sie gerade jetzt daran denken?
Und warum hatte sie ausgerechnet heute eine solche Distanz zu allem?
Weil so viel geschehen war, weil ihr so vieles bewusst geworden war?
Carlo setzte sich in einen Sessel, Marianne setzte sich neben ihn, ergriff seine Hand: »Du kannst dich gleich hinlegen, mein Schatz. Oder soll dir Fanny deinen Kaffee nach oben bringen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Danke, es geht schon. Aber was ist los mit dir, meine Liebe? Du wirkst nicht gerade glücklich, dabei sind wir doch unbeschadet hier angekommen, und gleich gibt es sogar den leckeren Zitronenkuchen.«
»Es ist das Herrenhaus«, sagte Marianne. »Es kam mir noch nie so groß, so unpersönlich und so kalt vor. Man verliert sich in diesen dicken Mauern.«
Carlo Heimberg blickte seine Frau ein wenig überrascht an. Er wusste schon, dass der Erlenhof nicht unbedingt ihre große Liebe war. Aber so hatte Marianne noch nie über das Anwesen gesprochen, zumindest nicht in seiner Gegenwart.
Fanny brachte den Kaffee und den Zitronenkuchen, zog sich diskret zurück.
Marianne trank einen Schluck. Ja, der Kaffee tat ausgesprochen gut.
Bedächtig stellte sie das hauchfeine Porzellan zurück, dann wandte sie sich an ihren Mann.
»Carlo, wir haben so vieles zu bedenken, wie es mit unserem Leben weitergehen soll.«
Sie blickte ihn ernsthaft an.
»Carlo, siehst du unsere Zukunft hier im Herrenhaus?«, wollte sie wissen.
Jetzt war er überrascht.
Marianne hatte hier und da schon einmal geschimpft, aber irgendwo hatte er doch immer das Gefühl gehabt, dass sie sich als Herrin dieses Anwesens doch recht wohlfühlte.
Richtig gesprochen hatten sie darüber niemals, weil er so häufig weg gewesen war, und wenn er dann daheim war, dann hatten sie wahrhaftig anderes zu tun gehabt, als sich über Häuser zu unterhalten.
»Marianne, du weißt, dass ich schon mal die Idee hatte, mit dir in ein lichtdurchflutetes komfortables Penthouse zu ziehen. Was du wirklich davon hältst, das ist mir niemals klar geworden. Ich muss hier nicht bleiben. Doch hängst du nicht an allem hier?«
Sie trank erneut etwas von ihrem köstlichen Kaffee, ehe sie antwortete: »Carlo, ich habe zu alldem hier keinen wirklichen Bezug. Es ist geerbt, mein Schwiegervater wollte uns zu seinen Lebzeiten niemals hier haben. Gut, es ist sehr angenehm, Sandra, die Kinder und meinen Schwiegersohn gleich nebenan zu haben. Aber das ist kein Kriterium, um hier oben unbedingt zu bleiben. Lass uns doch mal darüber nachdenken, was man mit dem Herrenhaus machen könnte. Es ist so groß, es gibt so viele Zimmer, man könnte es sogar zu einem Hotel umbauen, die Lage ist fantastisch.«
Er antwortete nicht sofort.
»Liebling, jetzt bist du als Architekt gefragt. Du hast den Sonnenwinkel geschaffen, da wird dir doch zu dem hier ebenfalls etwas einfallen, oder?«
Er lächelte sie an.
»Danke, dass du meine Fähigkeiten so hoch einschätzt, nun, einfallen wird mir etwas. Aber bedenke bitte, dass Sandra und Familie nebenan wohnen. Vielleicht wollen die das Herrenhaus haben, und vielleicht stört es sie auch, wenn gleich nebenan Fremde wohnen oder gar Hotelgäste sich tummeln.«
»Carlo, ich habe schon mal mit Sandra darüber gesprochen. Sie will auf keinen Fall ins Herrenhaus ziehen, was durchaus verständlich ist, Felix hat die Dependance für viel Geld zu dem machen lassen, was sie jetzt ist. Es ist auf jeden Fall moderner, komfortabler, heller, ansprechender als dieser alte große Kasten hier. Und wenn, meinetwegen können sie das alles hier oben haben. Man kann nichts mitnehmen, und ich habe zum Glück einen vermögenden Mann geheiratet, der ebenfalls nicht scharf auf das alles hier ist. Das hast du mir mehr als nur einmal gesagt.«
Carlo aß bedächtig etwas von dem wirklich ganz wunderbaren Zitronenkuchen, dann sagte er: »Liebes, wir können über alles nachdenken. Es zählt allein, dass wir zwei zusammen sind und dass wir uns nicht nur miteinander, sondern auch in unserem Umfeld wohlfühlen. Es gibt so viele Optionen. Gut, dass du das jetzt angesprochen hast, ich merke, wie meine Lebensgeister wieder wach werden, und auch wenn ich international nicht mehr als Architekt arbeiten kann, etwas hier oben zu gestalten, das ist auf jeden Fall eine Herausforderung. Du musst dir nur klar sein, dass du wirklich nicht hier oben leben willst.«
Sie stand auf, ging zu ihm hinüber, setzte sich auf seine Sessellehne und schmiegte sich an ihn.
Sie fühlte sich glücklich und geborgen. Sie war mit ihrem ersten Mann sehr glücklich gewesen. Doch Carlo, der war ihre Lebensliebe. Es war eine reife Liebe, und die war auf jeden Fall kostbarer als die ungestüme leidenschaftliche Liebe der Jugend.
»Für mich zählt nur, dass wir beide zusammen sind und an einem Ort leben, der uns beiden gefällt. Mehr will ich nicht.« Carlo Heimberg küsste seine Frau.
Sie war so stark, sie war so klug, und sie sah so wunderschön aus mit ihren graubraunen Haaren, ihren graublauen Augen. Marianne war eine gepflegte, damenhafte Erscheinung, die das gewisse Etwas hatte. So richtig konnte er eigentlich noch immer nicht begreifen, dass sie sich für ihn entschieden hatte.
Seine Marianne hatte noch genug Chancen, das war ihm deutlich im Krankenhaus und in der Reha aufgefallen. Er war zwar krank, doch er war nicht blind. Es hatte seine Marianne so manch begehrlicher Blick getroffen.
»Also überlegen wir uns ganz genau, was wir wollen, wohin wir wollen, was mit dem Herrenhaus geschehen soll. Und erst wenn wir uns ganz klar darüber sind, dann weihen wir Sandra und Felix ein. Einverstanden?«
Sie lehnte sich enger an ihn.
»Einverstanden«, sagte sie, dann aber stand sie ganz schnell auf, denn Fanny war hereingekommen, um sich zu erkundigen, ob die Herrschaften noch etwas wünschten.
*
Gerda Schulz ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken, bis auf eine Ausnahme, und das war, wenn es um ihre Tochter ging, wenn sie mit ihr zusammen war.
Leonie war ihr ganzes Glück, und sie würde all das wieder auf sich nehmen, was geschehen war.
Leonie wollte unbedingt an einem festen Platz wohnen, dazu in Deutschland. Und Gerda hatte sich ein wenig schweren Herzens dem Wunsch ihrer Tochter gebeugt. Sie hätte noch weiter mit ihr im Ausland leben können. Es hatte doch wunderbar geklappt, und sie hatte Leonie unterrichtet, so gut, dass es jetzt keine Schwierigkeiten machte, sie auf einem regulärem Gymnasium anzumelden. Und das war geschehen, Leonie würde in Hohenborn aufs Gymnasium gehen.
Gerda glaubte nicht an Vorbestimmung. Sie wusste, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen musste und dass man nicht zimperlich sein durfte, wenn es darum ging, sein Glück zu machen.
Was allerdings den Sonnenwinkel betraf und dieses Haus: Das war schon merkwürdig. Leonie und sie hatten deutschlandweit im Internet gesurft, und Leonie war plötzlich beinahe aus dem Häuschen gewesen, als sie das Haus entdeckte und den Ort, an dem es stand.
Sie war wie besessen gewesen, und sie wollte nur in dieses Haus ziehen. Gerda hatte sich gebeugt.
Sie hätte das Haus gekauft, auch wenn es mit der Bank of Scotland Probleme gab, die nicht zu verstehen waren. Gerade dort hatte sie das meiste ihres Geldes deponiert.
Aber es hatte wohl so sein müssen, denn nun musste sie das Haus nicht kaufen, es zu mieten war viel problemloser, besonders, wenn man im Hinterkopf hatte, dass es einmal sein könnte, plötzlich wegzumüssen. Es war einfacher, ein gemietetes Haus zurückzulassen. Aber so wollte sie nicht denken. Sie fühlte sich müde, und eigentlich freute sie sich jetzt auch darauf, ein wenig zur Ruhe zu kommen.
Der Sonnenwinkel war ein Stück heile Welt, und das brauchte sie eigentlich jetzt auch. Ganz besonders Leonie brauchte es. Sie musste Gleichaltrige kennenlernen, es war nicht gut, dass sie immer nur mit ihr zusammenhockte.
Allerdings würde sie schon ein Auge darauf haben, wen ihre Tochter mit anbrachte.
So richtig konnte Gerda es noch nicht glauben, dass sich ihr Leben verändern würde. Es würde in ruhigen Bahnen verlaufen, und vielleicht würde auch sie hier zur Ruhe kommen. Das wünschte sie sich so sehr.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Leonie sagte: »Mami, ich kann es noch immer nicht fassen, dass wir dieses wunderschöne Haus bekommen haben, und ich freue mich ja so sehr darauf, dass ich meine eigenen Möbel bekomme, die ich mir selbst aussuchen darf. Alles in dem Haus können wir so machen, wie wir es wollen. Manchmal haben wir ja schön gewohnt, aber die meisten Wohnungen oder Häuser haben mir nicht gefallen. Da waren so olle Sachen drin.«
Gerda strich ihrer Tochter über das Haar.
Leonie war ein wunderschönes Mädchen, und mit ihren roten Locken und den grünen Augen sah sie ganz besonders aus, auch wegen ihrer sehr hellen Haut.
Als sie in Irland und Schottland lebten, hatte man Leonie für eine Irin oder Schottin gehalten.
Und als das nicht so war, vermutete man zumindest, dass sie ihrem Vater glich, der ein Ire oder Schotte sein musste.
Gerda ließ die Leute in ihrem Glauben, nicht einmal Leonie wusste, wer ihr Vater war, und das war auch gut so. Sie hatte schon lange nicht gefragt, und Gerda wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Tochter das Thema nicht mehr aufgreifen würde.
Wie einfach und unkompliziert war es doch gewesen als Leonie noch klein war. Kleine Kinder konnte man schnell zufriedenstellen, und noch schneller konnte man sie ablenken.
Es wurde immer schwieriger, und ihre Fragen wurden immer dringender.
Vielleicht war es wirklich gut, dass sie nun sesshaft wurden. Dann war Leonie abgelenkt und würde nicht mehr so viele Fragen stellen.
Gerda hoffte nur, dass die Menschen im Sonnenwinkel nicht allzu neugierig waren. Neugierige Fragen mochte sie überhaupt nicht.
Sie hielt vor dem Haus, das nun ihr Zuhause sein würde, das Auto stand noch nicht einmal richtig, als Leonie auch schon heraussprang.
»Mami, darf ich aufschließen?«, erkundigte sie sich ganz aufgeregt.
Gerda reichte ihrer Tochter die Schlüssel, und Leonie rannte durch den Vorgarten auf die Haustür zu.
Gerda bemerkte, wie ein Junge auf einem Fahrrad anhielt und ihnen neugierig zuschaute.
Er machte einen sehr netten Eindruck, und sie antwortete auf sein freundliches »Guten Tag« knapp, ehe sie Leonie folgte.
Leonie war vorausgelaufen, rannte bereits durch die Räume, während Gerda noch zögerte, ins Haus zu gehen.
Sie war plötzlich angespannt, und sie merkte, wie sie am ganzen Körper zitterte.
War es richtig gewesen, das Haus zu mieten?
War es richtig gewesen, sich Leonies Wünschen zu beugen? Sie war ein Kind, wenn hier jemand Entscheidungen zu treffen hatte, dann doch sie!
Gerda versuchte, sich zu beruhigen. In all den Jahren war sie egoistisch gewesen, war in die Länder gefahren, die ihr als geeignet erschienen. Es war nun wirklich an der Zeit, die Wünsche ihres Kindes zu berücksichtigen.
Der Sonnenwinkel, eine verschlafene heile Welt irgendwo im Nirgendwo. Das war doch genau richtig.
Leonie brauchte soziale Kontakte, und sie musste auch einen ordentlichen Schulabschluss haben. Denn eines stand fest, sie musste studieren! Und das würde sie auch, weil sie unglaublich klug war.
Ja, sie war etwas Besonderes, ihre Leonie, und sie war das Einzige, was sie so richtig glücklich machte …, zumindest meistens.
Wenn manchmal nicht diese Gedanken wären …
Gerda riss sich zusammen, weil in diesem Augenblick Leonie auf sie zugestürmt kam, ihr um den Hals fiel.
»Mami, warum kommst du denn nicht hinein in dieses wunderschöne Haus? Oh, ich weiß, dass wir hier ganz glücklich sein werden, du und ich …«
Sie küsste ihre Mutter stürmisch.
»Du bist die liebste Mami auf der ganzen Welt, weil wir in diesem schönen Haus wohnen dürfen. Komm, ich zeige dir, welches Zimmer ich gern haben möchte, und du hast hoffentlich nichts dagegen.«
Gerda hatte ihre Tochter noch nie so froh und glücklich gesehen. Es machte Spaß, sie anzuschauen.
Das musste doch eigentlich reichen, von ihren düsteren Gedanken wegzukommen, von denen sie auf einmal befallen war.
Gerda wünschte es sich so sehr, doch das ungute Gefühl, das blieb. Sie konnte es sich selbst nicht erklären.
Diese scheinbare Sicherheit hier, der scheinbare Frieden, das alles war nur oberflächlich. Darunter brodelte ein Vulkan. Und Vulkane hatten es nun einmal an sich, dass sie unberechenbar waren, irgendwann plötzlich ausbrechen konnten. Und sie konnten gnadenlos alles vernichten.
Gerda war der Jahreszeit entsprechend angezogen, dennoch fröstelte sie.
»Mami, was ist denn los mit dir?«, erkundigte Leonie sich besorgt. »Ist dir kalt, und freust du dich denn gar nicht?«
Gerda riss sich zusammen, sie durfte sich vor Leonie nicht so gehen lassen. »Doch, doch, ich freue mich. Ich bin nur ein wenig müde. Es war alles ein bisschen aufregend. Es war ein bisschen viel.« Leonie hakte sich bei ihrer Mutter ein.
»Das stimmt. Aber du hast gewonnen, du hast das Haus für uns bekommen. Aber so bist du halt. Du kannst kämpfen wie eine Löwin. Ach, Mami, ich bin ja so stolz auf dich, und am allermeisten freue ich mich darüber, dass du meine Mama bist. Du bist die allerliebste Mami auf der ganzen Welt.«
Dann zerrte Leonie ihre Mutter hinauf in den ersten Stock, um ihr das Zimmer zu zeigen, das sie sich ausgesucht hatte. Es war ein schönes Zimmer, es lag nach hinten hinaus zum Garten hin und hatte sogar einen eigenen kleinen Balkon.
»Mami, wie findest du es?«, wollte Leonie wissen. »Und darf ich es haben?«
Die Aufgeregtheit ihrer Tochter machte Gerda bewusst, wie sehr sie in all den Jahren etwas vermisst hatte, was nur ihr gehörte, sonst würde sie ein Zimmer nicht beinahe in Ekstase versetzen.
Das musste sie als Zeichen nehmen, dass es richtig gewesen war, in den Sonnenwinkel zu kommen. Und was sollte ihnen denn hier schon passieren? Hier kannte niemand sie, und es lag an ihr, was sie über sich und Leonie preisgeben wollte.
»Ich finde das Zimmer auch sehr schön, und natürlich kannst du es haben. Sieh mal, dazu gehört sogar ein hübsches, kleines Bad. Nur für dich allein. Und ich denke, jetzt sollten wir in das Möbellager fahren, das der Makler mir genannt hat. Auf dem Fußboden kannst du ja wohl nicht schlafen.«
»Oh ja, Mami, und ich weiß schon, was ich möchte. Ich will ein richtiges Prinzessinnenzimmer.«
Gerda drückte Leonie fest an sich.
»Das sollst du auch bekommen«, sagte sie.
Das war auch so etwas. Leonie hatte noch niemals ein Zimmer gehabt, das ihren Wünschen entsprach. Es waren immer irgendwelche Zimmer gewesen, teil gut, teils schlecht möbliert, aber richtig kindgerecht waren sie alle nicht. Und Leonie hatte niemals gemurrt, sondern es hingenommen.
Sie musste sich eingestehen, dass sie niemals die Wünsche ihrer Tochter berücksichtigt hatte, und sie konnte sich nicht damit herausreden, dass es nicht zu vermeiden gewesen war. So manches hätte sie anders machen können. Sie war übervorsichtig gewesen, und da waren eigene Wünsche und eigene Bedürfnisse auf der Strecke geblieben.
Ja, es war an der Zeit, die Vergangenheit loszulassen, die konnte sie hier unmöglich einholen. Nein, hier nicht.
Gerda spürte, wie sie ruhiger wurde, dann entschloss sie sich, von Zimmer zu Zimmer zu gehen, und Leonie durfte ganz wichtig aufschreiben, was sie alles so brauchten.
Eines war auf jeden Fall gut, die Küche war eingerichtet, und es gab sogar einen Tisch und vier Stühle, darum mussten sie sich also nicht kümmern.
Und das Haus hatte noch einen großen Vorteil. Es gab überall sehr zweckmäßige Einbauschränke. Und um die Beleuchtung mussten sie sich ebenfalls keine Sorgen machen, es gab in jedem Raum in die Decke eingearbeitete Lampen, die sogar sehr hübsch aussahen.
»Sind wir fertig, Mami?«, erkundigte Leonie sich ganz wichtig, und als Gerda das bestätigte, beschloss Leonie, den Zettel und den Stift in ihre Tasche zu tun. Es war so rührend anzusehen, welche Freude es ihr machte und wie bedeutend es für sie war.
Als sie das Haus verließen, schloss Leonie mit ihrem eigenen Hausschlüssel ab, den Gerda ihr gegeben hatte.
Sie gingen zum Auto, und ehe sie einstiegen, bemerkten sie den Jungen, der an ihnen langsam vorbeifuhr. Es war der Junge, den Gerda bereits gesehen hatte.
Was wollte er hier?
Warum beobachtete er sie?
Als sie merkte, wie verrückt es von ihr war, sich deswegen Gedanken zu machen, rief sie sich selbst zur Ordnung.
Jugendliche waren neugierig, und Leonie war ein ausnehmend hübsches Mädchen.
Das war vermutlich die Erklärung, die dadurch bestätigt wurde, dass der Junge Leonie angrinste.
Sie durfte jetzt wirklich nicht paranoid werden, nur weil ihr Leben begann, so zu werden, wie es für die meisten Menschen normal war.
»Guck mal, Mami, das ist ein netter Junge. Meinst du, dass er auch auf das Gymnasium in Hohenborn geht?«, wollte Leonie wissen.
Und diese Frage war ein weiters Indiz für Gerda, dass ihre Tochter begann, aus den Kinderschuhen hinauszuwachsen. Sie registrierte, was ja auch ganz normal war, dass sie von Jungen beachtet wurde.
Ja, es war auf jeden Fall wichtig für Leonies Entwicklung, dass sie in den Sonnenwinkel gezogen waren, versuchte Gerda sich zu beruhigen, und allmählich gelang es ihr auch, manchmal sogar ein wenig zu lachen, weil Leonie so gut drauf war, dass es aus ihr nur so heraussprühte.
*
Das Möbellager war noch gut eine halbe Autostunde von Hohenborn entfernt, und es lag inmitten eines Industriegebiets. Aber es war auf jeden Fall lohnenswert, herzukommen, und es hatte sich wohl auch herumgesprochen, dass man hier eine gute Auswahl finden konnte, denn es standen viele Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Kennzeichen auf dem riesigen Parkplatz.
Leonie war vor lauter Aufregung vollkommen aus dem Häuschen.
»Mami, wir haben noch niemals Möbel gekauft«, rief sie glücklich, »und jetzt dürfen wir aussuchen, was wir wirklich wollen.«
Sie konnte es kaum abwarten, das Möbellager zu betreten. Es war ein großes Gebäude, das sich über fünf Etagen erstreckte.
Zum Glück gab es direkt im Eingangsbereich einen Informationsstand, an dem man einen Plan bekam, aus dem ersichtlich war, was sich wo befand.
Kinder- und Jugendzimmer befanden sich ganz oben, und natürlich wollte Leonie zuerst dorthin. Gerda hatte ihre Tochter noch nie zuvor so aufgeregt erlebt, nicht an Weihnachten und auch nicht an ihren Geburtstagen.
Leonie hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere und konnte es kaum erwarten, dass der Fahrstuhl sie ganz nach oben brachte.
Leonie erregte Aufmerksamkeit, es war nicht zu übersehen, wie aufgeregt sie war.
»Du bekommst wohl ein neues Zimmer?«, erkundigte sich ein älterer Herr.
Leonie nickte, dass die Locken nur so flogen.
»Ja, ein Prinzessinnenzimmer«, rief sie glücklich.
Der ältere Herr blickte sie schmunzelnd an.
»Ja, darunter geht es ja wohl auch nicht. Du siehst schon aus wie eine Prinzessin. Aber ich glaube, hier wirst du etwas finden.«
Der Aufzug hielt, der ältere Herr stieg aus.
»Ich wünsche dir viel Glück, Prinzessin«, sagte er, winkte ihr zu. Der Aufzug fuhr wieder los.
»Mami, die Leute sind hier richtig nett«, stellte Leonie fest. »Was für ein Glück, dass wir nach Deutschland gezogen sind.«
Gerda konnte die enthusiastische Freude ihrer Tochter nicht teilen. Aber sie bemühte sich wenigstens, deren Aussage ein wenig halbherzig zu bestätigen.
War es wirklich ein Glück, dass sie hergezogen waren?
Sie durfte sich nicht fertig machen, wahrscheinlich war es alles ohne Bedeutung. Sie war nur irritiert, weil es das erste Mal war, dass sie eine eigene Wohnung, sogar ein Haus, hatten, das sie nach eigenen Wünschen gestalten konnten. Und das konnte einen schon ganz schön überfordern.
Endlich waren sie oben angekommen.
Als sie aus dem Aufzug ausstiegen, waren sie von der Vielfalt des Angebots erst einmal erschlagen. Damit hatten sie nicht gerechnet, und Leonie begann quietschend von einer Ecke zur nächsten zu laufen.
Gerda folgte ihr langsam, blieb hier und da stehen. Es waren hübsche Sachen darunter, aber Leonie äußerte sich nicht. Nach einer Weile kehrte sie zu ihrer Mutter zurück.
»Mami, es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe«, sagte sie und konnte nur mühsam Tränen der Enttäuschung zurückhalten.
Damit hatte Gerda nicht gerechnet. Sie hatte keine Ahnung, was Leonie sich vorgestellt hatte, aber in dem riesigen Angebot musste doch etwas zu finden sein. Es war für jeden Geschmack etwas dabei.
Gerda wies auf ein sehr hübsches Zimmer, vor dem sie gerade standen. Es war in einem hübschen Elfenbeinton gehalten.
»Sieh mal, Leonie, wie findest du das?«, erkundigte sie sich.
Leonie schüttelte den Kopf so heftig, dass die Locken nur so flogen.
»Doof«, sagte Leonie, und Gerda entschloss sich, überhaupt nichts mehr zu sagen.
Aber was wollte Leonie, deren Freude weg war, sie blickte nur noch enttäuscht und missmutig drein, was Gerda an ihrer Tochter eigentlich nicht kannte.
Eine Verkäuferin kam vorbei, und die hielt Gerda fest. Vielleicht wusste die Frau ja, wie man etwas aus Leonie herausbekommen konnte.
»Entschuldigen Sie bitte, wir suchen für meine Tochter eine Zimmereinrichtung«, sagte Gerda, »und ihr scheint nichts zu gefallen. Vielleicht haben Sie ja eine Idee.«
Die Verkäuferin hörte nur Zimmer, und sofort bekam sie glänzende Augen, denn das bedeutete einen Bonus, den man für jedes verkaufte Zimmer bekam.
Meistens kauften die Leute Einzelteile, und heute war überhaupt noch nichts gelaufen. Sie hatte gerade mal einen Stuhl und eine Spielzeugkiste an den Mann gebracht.
»Ich zeige Ihnen gern unsere Highlights«, sagte die Verkäuferin beflissen.
Sofort begann sie Gerda und Leonie herumzuführen, doch je länger sie unterwegs waren, umso missmutiger wurde Leonie.
Die Frau führte sie schließlich zu einem Zimmer, das man an einem besonders schönen Platz aufgebaut hatte.
»Das ist unser neuestes Modell«, sagte sie stolz, »es war auf der Messe und hat sogar einen Preis bekommen.«
Es war nett, aber Leonie warf kaum einen Blick auf die angepriesenen Möbel.
»Es gefällt dir nicht?«, erkundigte die Verkäuferin sich beinahe verzweifelt.
»Es ist so was von grässlich«, stieß Leonie hervor, dann wandte sie sich ab.
Gerda erkannte ihre Tochter nicht wieder, und die Verkäuferin schien mit ihrem Latein am Ende. Sie hatte sich doch so sehr bemüht, und welche schöne Sachen hatte sie diesem jungen Ding gezeigt.
Die Verkäuferin war geschafft. »Ja, dann weiß ich wirklich nicht, was Ihre Tochter eigentlich möchte. Ich habe ihr das Schönste gezeigt, was es derzeit auf dem Markt gibt, und andere Mädchen wären überglücklich gewesen, so etwas Tolles zu bekommen.«
Es war Gerda beinahe schon peinlich. Aber Leonie blieb unbeirrt. Sie schien wirklich eine ganz feste Vorstellung von dem zu haben, was sie sich wünschte.
Nur, was war es?
Leonie gesellte sich wieder zu den zwei Frauen.
»Was ist hinter dem Vorhang dort?«, wollte sie wissen. »Gibt es da auch Möbel?«
»Ja, die gibt es in der Tat dort«, bestätigte die Verkäuferin.
»Doch das sind welche, die wir nicht in unser Programm genommen haben. Es handelt sich dabei um eine Sonderanfertigung, von der wir uns eine Menge versprochen hatten, doch alles war zu teuer, um es in Produktion gehen zu lassen. Außerdem entspricht das alles wohl nicht dem allgemeinen Geschmack.«
»Was ist es denn? Darf ich es mal sehen?«, erkundigte Leonie sich mit neu erwachtem Interesse.
Die Verkäuferin warf Leonie einen zweifelnden Blick zu. Das junge Ding hatte bislang alles abgelehnt, was sollte das jetzt bringen. Sie war sauer, weil sie sich schnell ein gutes Geschäft versprochen hatte.
»Ich glaube nicht, dass es dir gefallen wird. Es ist etwas, was derzeit im Trend liegt, nämlich neuen Möbeln einen ollen Touch zu verleihen. Das muss man mögen, und ich weiß nicht …«
Die Verkäuferin wurde sofort von Leonie unterbrochen. Sie bekam glänzende Augen. »Meinen Sie den Shabby-Chic?«
Verwundert blickte die Verkäuferin Leonie an.
»Woher weißt du das?«, wollte sie wissen.
Gerda mischte sich in das Gespräch.
»Wir haben zuletzt in Schottland gelebt, und es gab ein ganzes Buch über Shabby. Das haben wir gesehen, in Schottland gibt es solche Möbel schon länger. Auf jeden Fall hat das meiner Tochter gefallen.«
»Bitte, lassen Sie mich die Möbel sehen«, rief Leonie ganz aufgeregt.
Die Verkäuferin zuckte die Achseln. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an, aber sie war sich sicher, dass es nichts bringen würde. Dieses Mädchen war ja so schwierig. Also, wenn es ihre Tochter wäre …
Sie ging auf den Vorhang zu, zog ihn lustlos zurück, trat beiseite.
Leonie schob sich an ihr vorbei.
Vorbei war es mit ihrer schlechten Laune.
»Mami, das ist es!, rief sie begeistert, »genauso habe ich es mir vorgestellt. Oh, Mami, sieh nur, wie wunderschön alles ist. Darf ich es haben?«
Die Verkäuferin blickte ein wenig konsterniert, weil sie damit nicht gerechnet hatte.
Es war ein komplett eingerichtetes Zimmer, das ungefähr die Größe hatte wie der Raum, den Leonie sich im Sonnenwinkel ausgesucht hatte. Und die Möbel waren wirklich etwas ganz Besonderes. Man sah sofort, dass sie von höchster Qualität waren. Sie waren auf shabby gemacht, ganz wie es im Trend lag, doch wie es gemacht worden war, verriet höchste handwerkliche Kunst. Und die sehr dezente graublaue Farbe verlieh allem eine ganz spezielle Note. Es war sofort zu sehen, dass das alles hier nicht dem allgemeinen Geschmack entsprach, sondern dass es etwas für Menschen war, die das Besondere liebten.
Gerda konnte nicht fassen, dass ihre Tochter sich dafür so sehr begeisterte. Sie war außer sich, und die Verkäuferin wurde wieder sehr viel freundlicher, weil es jetzt doch noch zu einem Geschäft zu kommen schien. Und was für ein Geschäft. Für den Verkauf dieser Möbel gab es einen Sonderbonus, aber die Frau war sich nicht sicher, ob die Begeisterung sich nicht sofort wieder legen würde, wenn die Frau und das Mädchen den Preis hörten.
Aber der schien sie erst einmal nicht zu interessieren, dabei sahen die beiden nicht so aus, als brauchten sie nur eine Schublade aufzumachen, um das Geld bündelweise daraus hervorzuholen.
Leonie ging andächtig von Möbelstück zu Möbelstück, strich hier und da über das Holz, betrachtete voller Entzücken ein Bild, setzte sich vorsichtig in den Schaukelstuhl.
Warum fragte die Frau nicht?
War es doch nur ein Strohfeuer?
Das passierte manchmal auch, Leute kamen in Möbelhäuser, nur um sich unterhalten zu lassen, nicht mit einer festen Kaufabsicht.
»Mit zwanzigtausend Euro ist alles sehr knapp kalkuliert, dennoch ist mein Chef bereit, einen Nachlass von dreißig Prozent zu gewähren, und über eine kostenlose Anlieferung können wir auch sprechen.«
Die Verkäuferin warf der Kundin einen vorsichtigen Blick zu. Zusammengezuckt war sie zumindest nicht.
»Und wann können Sie liefern?«, wollte Gerda wissen. »Da es sich um Unikate handelt, die Sie nicht produzieren werden, ist es doch wohl kein Problem, kurzfristig zu liefern?«
Die Frau schnappte nach Luft.
Hatte sie jetzt richtig gehört?
»Sie … Sie wollen kaufen?«, erkundigte sie sich.
»Aber ja, Sie sehen doch, wie begeistert meine Tochter von allem ist«, sagte Gerda.
Jetzt musste sich die Verkäuferin erst einmal hinsetzen. Der Tag hatte so mies begonnen, jetzt wurde er ihr Glückstag. Welch ein Glück, dass die Kleine sich für den Vorhang interessiert hatte, sie wäre niemals auf die Idee gekommen, den beiden diese Möbel zu zeigen.
Leonie lief ganz aufgeregt zu ihrer Mutter, umarmte sie.
»Mami, können wir die Matratze mitnehmen? Dann kann ich heute schon darauf in unserem neuen Haus schlafen«, rief sie.
Die Verkäuferin war jetzt zu allen Zugeständnissen bereit, vielleicht auch ein wenig in Sorge, dieses Geschäft könnte sich noch zerschlagen. Und das ging auf keinen Fall.
Sie erkundigte sich, wohin die Möbel gehen sollten, versprach, zu versuchen, dass noch heute eine Anlieferung erfolgen konnte.
Leonie konnte ihr Glück kaum fassen, und beinahe hätte sie in ihrer Freude auch die Verkäuferin umarmt.
Es war Gerda, die einwandte, dass sie doch auch noch ein Bett brauchte, und dass es an vielem fehlte.
Ein noch größeres Geschäft?
Die Verkäuferin lief zur Höchstform auf, sagte, dass die Firma auch ein Lager für Möbel unterhielt, die man sofort mitnehmen konnte und dass es da auch ganz tolle Möbel zu einem Sonderpreis gab, bei denen es sich meist um Ausstellungsstücke handelte.
»Wenn Sie möchten, dann sehen wir uns alles an«, schlug sie vor.
»Mami, Mami, dann können wir ja heute wirklich noch in unser schönes Haus einziehen«, jubelte Leonie.
Gerda ließ sich ein wenig von der Freude ihrer Tochter anstecken, und für einen kurzen Augenblick verschwanden ihre düsteren Gedanken.
Die Verkäuferin verschwand für einen Moment, weil sie ihren Chef informieren wollte, und als sie wiederkam, strahlte sie über das ganze Gesicht. Es war eindeutig, dass der Chef sie nicht nur gelobt hatte.
»Wir können«, sagte sie fröhlich, »und das mit dem Transport klappt auf jeden Fall auch.«
Sie wandte sich an Leonie.
»Du kannst auf jeden Fall noch heute in deinem schönen neuen Zimmer schlafen. Und ich sage dir eines, jeder wird dich darum beneiden, weil es das nämlich nur ein einziges Mal auf der ganzen Welt gibt. Ist das nicht toll?«
Leonie nickte, sie konnte vor lauter Glück jetzt einfach nichts sagen. Sie und ihre Mami in diesem schönen Haus, und jetzt noch die Prinzessinnenmöbel …
*
Doktor Roberta Steinfeld besuchte regelmäßig Ärztekongresse, weil sie es sehr wichtig fand, sich beruflich immer weiterzubilden.
Sie fuhr noch immer gern dahin, doch es hatte sich für sie etwas Entscheidendes geändert. Seit sie ihre Praxis im Sonnenwinkel hatte, merkte sie erst, wie abgehoben so manche ihrer Kollegen waren und wie sehr sie sich eigentlich von ihrem Beruf, für Menschen da zu sein, Menschen zu helfen, sich ihrer Bedürfnisse anzunehmen, entfernt hatten. Und das waren ganz besonders die Gerätemediziner, für die der einzelne Patient überhaupt nicht mehr zählte. Da wurden Nummern durch die Praxis geschleust.
Sie war sich anfangs ja nicht sicher gewesen, ob es richtig war, die Praxis von ihrem alten Studienkollegen Enno Riedel zu übernehmen.
Mittlerweile dankte sie dem Himmel, dass es sich so ergeben hatte. Für nichts in der Welt würde sie die Praxis noch einmal aufgeben, um irgendwo neu anzufangen oder sich doch wieder zu spezialisieren.
Es war gut so wie es war, und sie würde auf jeden Fall mit Enno in Verbindung treten, um ihm zu sagen, dass sie entschlossen war, sein Haus zu kaufen.
Er und seine Familie würden nicht mehr aus Amerika zurückkommen, und warum sollte sie das Haus nur mieten, wo er es ihr doch freigestellt hatte, es zu kaufen?
Dieser Kongress war auf jeden Fall ziemlich anstrengend gewesen, doch das konnte daran liegen, dass sie ihrem Exmann Max begegnet war.
Sie fragte sich wirklich, was er auf dem Kongress gewollt hatte. Er hatte die große Praxis gegen die Wand gefahren, das ehemals gemeinsame Haus verkauft, und nun krebste er mit einer jungen Kollegin in einer kleinen Allgemeinpraxis herum.
Die Frau konnte einem nur leidtun, denn Roberta glaubte nicht, dass Max sich geändert hatte. In der großen Praxis, die sie aufgebaut und zum Laufen gebracht hatte, war die Arbeit von ihr gemacht worden, und Max war der Herrgott in Weiß gewesen, der die Frauen angemacht hatte, und da war er ziemlich schmerzfrei gewesen und hatte nicht unterschieden zwischen Personal und Patientinnen.
Er würde es wieder tun, und Roberta konnte der jungen Kollegin nur wünschen, dass ihr beizeiten die Augen geöffnet wurden und sie nicht Jahre sinnlos bei ihm vertrödelte, so wie sie es getan hatte.
Mit welcher Selbstherrlichkeit Max auf dem Kongress aufgetreten war, dabei hatten viele der Kollegen sich von ihm distanziert. Aber es hatte Kolleginnen gegeben, die er mit seinem Charme, den er zweifelsohne besaß, beeindruckt hatte, und Max war glücklich, dass er sich wie der Hahn im Korb fühlen konnte.
Er war sogar dreist genug gewesen, sie anzubaggern. Glaubte er wirklich, sie würde ein zweites Mal auf ihn hereinfallen?
Sie konnte längst nicht mehr begreifen, was es damals gewesen war, dass sie ihn geheiratet hatte. Man hatte sie gewarnt, und es hatte ganz andere Männer gegeben, die ernsthaft an ihr interessiert gewesen waren.
Vorbei.
Max war jemand aus ihrem früheren Leben, das nicht wirklich ihres gewesen sein konnte.
Roberta stieg aus ihrer Badewanne, rubbelte sich ab, cremte sich ein, dann bürstete sie ihre Haare, betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Sie fand, dass sie schon mal besser ausgesehen hatte. Dann schlüpfte sie in einen bequemen Hausanzug, den sie heute nicht mehr ausziehen würde.
Jetzt freute sie sich auf das gemeinsame Abendessen mit Alma, und danach. Danach würde sie sich gemütlich mit einem Glas Rotwein vor den Fernseher setzen und relaxen. Morgen hatte sie einen anstrengenden Tag in der Praxis, doch daran wollte sie heute nicht denken.
Insgeheim hatte sie ja gehofft, dass ihre Freundin Nicki noch da sein würde, aber sie konnte verstehen, dass Nicki jetzt erst einmal allein sein wollte, wenngleich es eigentlich besser war, seinen Schmerz mit anderen zu teilen.
Welch ein Schock für Nicki, erfahren zu müssen, dass der Mann, zu dem sie zurückkehren wollte, mittlerweile verheiratet war und sogar bald Vater sein würde.
Aber warum hatte sie, verflixt noch mal, Roberto Andoni verlassen?
Das Schicksal ging manchmal wirklich sehr verschlungene Wege, und man konnte sich fragen, warum man davon betroffen war, warum nicht die anderen?
Roberta ging in die Küche, und dort duftete es bereits ganz köstlich, der Tisch war gedeckt. Alma wirbelte herum und sagte: »Machen Sie es sich gemütlich, Frau Doktor, gleich bekommen Sie Ihr Lieblingsessen serviert. Ochsenbrust mit Wirsinggemüse und Bratkartoffeln, nicht zu vergessen die Meerrettichsauce.«
Roberta freute sich.
»Ach, Alma, was würde ich ohne Sie nur machen. Seit Sie in meinem Leben sind, fühle ich mich ein wenig wie die Made im Speck.«
»Und seit ich in Ihrem Leben bin, Frau Doktor, muss ich mich jeden Tag in den Arm kneifen, um mich davon zu überzeugen, dass alles wahr ist, dass ich nicht träume, dass ich den besten Job habe, den ich jetzt habe und das bei der allerbesten Chefin der Welt.«
Roberta wurde rot, sie konnte mit Lob einfach nicht umgehen, und sie fand, dass Alma ganz gehörig übertrieb. Schnell lenkte sie ab.
»Es ist Ihnen nicht gelungen, Nicki zum Bleiben zu bewegen«, sagte sie traurig. »Wie war sie denn drauf, als sie abgefahren ist?«
Alma setzte sich für einen Moment, sie hatte alles, was auf dem Herd stand, unter Kontrolle.
»Es ging ihr sehr schlecht, und ich weiß nicht, ob sie sich davon noch einmal erholen wird. Sie hat Herrn Andoni wirklich geliebt.«
»Ja, das hat sie«, bestätigte Roberta, »aber sie hätte ihn nicht verlassen müssen, dann wäre alles anders gekommen. Alma Sie wissen selbst, dass man Menschen nicht manipulieren kann, und man kann auch nicht erwarten, dass der andere für immer allein bleibt. Roberto Andoni ist ein liebenswerter, ein sensibler, ein kluger Mann, den lässt man nicht allein, weil die äußeren Rahmenbedingungen einem nicht gefallen. Man kann nicht alles haben.«
Alma nickte.
»Das habe ich Ihrer Freundin auch gesagt, aber hinterher ist man immer schlauer. Ich weiß nicht, wie man ihr helfen kann. Sie ist wirklich am Boden zerstört, hoffentlich tut sie sich nichts an.«
Da konnte Roberta ihre Haushälterin trösten. Nicki konnte durch die gesamte Gefühlsskala gehen, sie konnte wie kein anderer Mensch alle Gefühle durchleben. Aber sie war eine sehr starke Persönlichkeit, und antun würde sie sich niemals etwas. Da war sich Roberta ganz sicher, und das sagte sie Alma auch.
Sie würde später versuchen mit Nicki zu telefonieren, aber jetzt wollte sie nicht mehr über ihre Freundin reden, und deswegen erkundigte sie sich: »Und gibt es etwas Neues im Sonnenwinkel?«
Eigentlich hatte sie nichts erwartet und war ganz erstaunt, als Alma ihr sagte, dass in das Haus von Ricky und Fabian Rückert eine Frau mit Kind eingezogen war.
»Das ist doch schön, für Kinder und Jugendliche ist das hier ein Paradies. Nirgendwo sonst können junge Menschen so sorglos aufwachsen, und wenn sie etwas erleben wollen, müssen sie nur bis Hohenborn fahren. Also, wenn ich Kinder hätte, ich wäre froh, sie hier aufwachsen zu sehen.«
Alma blickte ihre Chefin an.
Bildete sie sich das nur ein, oder hatte deren Stimme wirklich ein wenig traurig geklungen?
»Das können Sie doch, Frau Doktor«, sagte sie.
Roberta versuchte ein Lachen.
»Träumen Sie weiter, liebe Alma. Ich habe nicht einmal einen Mann. Und Sie wissen, die wachsen auch nicht auf Bäumen. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir das noch einmal antun würde. Mit Männern habe ich kein Glück.«
Sie dachte an ihren schrecklichen Exmann, aber ihr fiel auch Kay Holl ein, der unbekümmerte junge Aussteiger, mit dem sie eine kurze, heftige Liebesgeschichte verbunden hatte, die wunderschön gewesen war. Es war Magie. Roberta träumte noch heute davon, und wenn sie ganz besonders einsam war, wünschte sie sich, Kay käme zurück. Welch frommer Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen konnte, weil ihre Lebensmuster einfach zu verschieden waren und sie beide nicht dazu bereit waren, ihr Leben für den anderen aufzugeben. Kay war aus einem etabliertem Leben ausgestiegen, um frei zu sein, frei und unabhängig. Und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, etwas anderes zu sein als Ärztin. Ihr Beruf war ihre Erfüllung, und den würde sie niemals aufgeben.
Konnte es nicht sein, dass sie immer an Kay denken musste, weil ihre Geschichte kein Ende erlebt hatte, weil sie mittendrin, als es besonders schön gewesen war, aufgehört hatte. Und sie hatten nie einen gemeinsamen Alltag erlebt. Wäre das überhaupt möglich gewesen?
Sie musste jetzt so intensiv an Kay denken, weil es ihr mit ihm vorstellbar gewesen wäre, Kinder zu haben. Er wäre ein wundervoller Vater geworden.
»Ihnen wird der Richtige noch begegnen, Frau Doktor, das weiß ich«, drang Almas Stimme in ihre Gedanken hinein. »Und mit diesem Mann werden Sie auch Kinder haben, das weiß ich auch.«
Roberta wollte jetzt nicht sentimental werden, sie war in einer gefährlich weichen Stimmung, aus der sie unbedingt schnell herauskommen musste, und deswegen erkundigte sie sich: »Sind Sie Hellseherin, Alma?«
Alma schüttelte den Kopf.
»Nein, aber ich habe Ihnen die Karten gelegt, und die sagen eindeutig das, was ich Ihnen jetzt gerade erzählt habe.«
Ach ja, Alma und ihre Karten. Einen Spleen musste jeder haben, bei Alma war es sogar ein wenig mehr. Sie hatte sich in die Karten geflüchtet, weil ihr Leben unerträglich gewesen war, und darin hatte sie Trost gesucht und sich eine Welt zurechtgelegt, die Hoffnung versprach. Aber vielleicht war ja auch sogar etwas dran an den Karten, Roberta wollte sich da kein Urteil erlauben. Sie glaubte nicht daran, aber sich vorzustellen, dass sie irgendwann einmal einen Mann und Kinder haben würde, das fühlte sich gut an, sehr gut sogar.
»Alma«, lenkte sie rasch ab, »wie sieht es mit unserem Essen aus. Ich habe tierischen Hunger.«
Alma lachte.
»Alles fertig«, sagte sie, »wir können essen. Aber lenken Sie nicht ab, Frau Doktor. Meine Karten lügen nicht.«
Roberta entschloss sich, nichts dazu zu sagen, sie freute sich jetzt auf das Essen. Und dass das vorzüglich sein würde, davon war sie überzeugt …
*
Ricky Rückert hatte gerade die Kleinen liebevoll versorgt, als sie mit ihrer Schwägerin Stella zusammentraf, die mit ihrem Bruder Jörg verheiratet war.
Ja, es war schon praktisch, dass die Geschwister untereinander geheiratet hatten. So waren die Auerbachs und die Rückerts noch enger miteinander verbunden.
Stella war ganz aufgeregt.
»Ricky, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist.«
Ricky verstand sich mit ihrer Schwägerin bestens, sie waren schon gute Freundinnen gewesen, ehe ihr Bruder Jörg Stella geheiratet hatte. Aber deren Aufregung verstand sie jetzt nicht.
»Was meinst du damit?«, wollte Ricky wissen. »Was soll nicht wahr sein, und weswegen bist du so aufgeregt?« Normalerweise war Ricky doch nicht so schwer von Begriff.
»Na, dass du dein Studium schmeißen willst oder sogar schon geschmissen hast.«
Ach, das Thema war mittlerweile schon leidig für sie geworden.
Seit Ricky sich dazu entschlossen hatte, war der Fall für sie erledigt, und sie wollte auch darüber nicht mehr nachdenken und reden eigentlich auch nicht. Aber bei Stella musste sie wohl eine Ausnahme machen.
»Es stimmt, und glaub mir, Stella, es war die beste Entscheidung meines Lebens. Es ist wieder Ruhe in unser Haus eingekehrt, und die Kinder danken es mir. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr sie unter meiner Abwesenheit gelitten haben mussten.«
»Aber du wolltest es, alle waren damit einverstanden, ich habe auch angeboten, einzuspringen. Ricky, ich habe dich für deinen Mut so sehr beneidet.«
»Es war auch schön, Stella, und wären nicht die Kinder, würde ich bis zum Examen studieren. Aber ich habe meine Kinder nun mal so lieb, und die sind wichtiger als jedes akademische Studium. Ich habe vorher nicht richtig darüber nachgedacht, sonst hätte ich es gar nicht erst angefangen. Aber zum Glück habe ich rechtzeitig die Notbremse gezogen, ehe in ihren kleinen Seelen ein Schaden entstanden wäre. Das hätte ich mir niemals verziehen.«
Stella konnte mit dem Thema noch nicht aufhören.
»Ich war so sehr der Meinung, dass du alles mit links schaffen würdest. Was immer du auch tust, selbst die schwierigsten Dinge, bei dir sieht alles so leicht aus, wirkt wie ein Spaziergang durch einen Rosengarten.«
»Danke, Stella, dass du eine solche Meinung von mir hast, aber du irrst dich. Ich bin auch nur ein Mensch wie jeder andere. Und als ich mitbekam, dass unsere neue Mieterin in den Sonnenwinkel gezogen ist, unser Haus unbedingt haben wolle, und das alles nur, weil das der Herzenswunsch ihrer Tochter war, da wurde mir bewusst, dass man manchmal seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen muss. Diese Frau Schulz sieht nicht so aus, als sei der Sonnenwinkel die Erfüllung ihrer Wünsche. Sie ist wohl in all den Jahren mit ihrer Tochter in allen möglichen Ländern gewesen. Wegen der Kleinen hat sie dieses unstete Leben aufgegeben. Und ich denke, es gibt Situationen im Leben, in denen man nicht an sich denken kann.«
Stella zuckte die Achseln.
»Ich kann das jetzt nicht so nachvollziehen, weil ich nie in einer solchen Situation war und auch bestimmt nicht in eine solche kommen werde. Mein Platz ist bei Jörg und unseren Kindern, und da fühle ich mich wohl. Ich hatte nie irgendwelche Ambitionen. Es hätte mir auch nichts ausgemacht, von Jörg abhängig zu sein, das ist nun nicht mehr der Fall, weil Tante Finchen mich als ihre Erbin eingesetzt hat. Ach, Ricky, es ist schon beachtenswert, wie du immer dein Ding machst. Du weißt einfach, was du willst, und von dir kann man eine ganze Menge lernen.«
Ricky wollte nicht über sich reden, zumal sie es als ganz normal empfand, was sie so tat, und deswegen wechselte sie das Thema.
»Fabian und ich waren übrigens bei deiner Mutter, um uns den kleinen Hund anzusehen. Beauty ist wirklich ein ganz reizendes Tierchen, und Rosmarie scheint mit ihr sehr glücklich zu sein. Sie hat sich überhaupt verändert …, sehr deutlich zu ihrem Vorteil, finde ich.«
»Mama hat mir von eurem Besuch erzählt, und sie ist ganz glücklich, dass sie mit Fabian nicht so heftig aneinandergeraten ist wie sonst. Wie wundervoll wäre es doch, wenn es bei uns irgendwann einmal annähernd so harmonisch werden könnte wie bei euch, bei deiner Familie. Davon sind wir meilenweit entfernt. Und das macht mich traurig. Ich bemühe mich ja, aber Gefühle lassen sich nicht einfach erzwingen, und wenn ich meine Eltern sehe, da fühle ich eigentlich so gut wie nichts. Bisher war es jedenfalls so. Im Gegensatz zu Fabian halte ich mich aber zurück, schließlich sind es unsere Eltern, die es verdienen, mit Respekt behandelt zu werden.«
»Stella, da musst du dir wirklich keine Vorwürfe machen, du tust, was du kannst. Aber jetzt, da Rosmarie so anders geworden ist, besteht noch ein Hoffnungsschimmer. Und uns und meine Eltern darfst du nicht als Vorbild nehmen. Das war einmal, aber seit das mit Pamela geschehen ist …«
Stella blickte ihre Schwägerin an.
»Es fällt dir immer noch schwer, Bambi jetzt Pamela oder Pam nennen zu müssen, nicht wahr?«
Ricky zuckte die Achseln.
»Sie war immer unsere Bambi, unsere Kleine, aber ich respektiere ihren Wunsch. Ach, Stella, sie fehlt mir so sehr. Und ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, dass sie irgendwann nach Hause zurückkommt und Mama und Papa verzeiht, dass sie ihr verschwiegen haben, dass sie adoptiert ist und keine echte Auerbach.«
»Und das war es ja, worauf die Kleine immer so stolz war«, bemerkte Stella. »Sie hat sich als echte Auerbach gefühlt, hat zwischen sich und jedem von euch Ähnlichkeiten gesehen, und …«, Stella seufzte, »es muss schrecklich für sie gewesen sein, im Eiscafé zufällig das Gespräch zweier Frauen mitzubekommen und erfahren zu müssen, dass sie adoptiert ist. Da muss für das arme Ding doch eine Welt zusammengebrochen sein.«
Ricky nickte.
»Das denke ich auch. Und alles hätte vermieden werden können, wenn meine Eltern es nicht immer wieder herausgeschoben hätten, ihr die Wahrheit zu sagen. Es war ein Verrat an Pam. Sie hatte das Recht darauf zu erfahren, wo ihre Wurzeln sind. Und wäre es beizeiten geschehen, wäre sie ganz anders damit umgegangen. Jetzt ist ein tiefer Graben zwischen uns, und das belastet mich auch sehr. Sie fehlt mir, schließlich ist sie, und daran wird sich niemals etwas ändern, meine kleine, geliebte Schwester.«
»Ich mag sie auch so gern«, sagte Stella. »Jörg sagt immer, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können. So ist sie wenigstens bei Hannes, und ich glaube, der passt ganz großartig auf seine kleine Schwester auf.«
»Das glaube ich auch, aber Hannes ist selbst noch sehr jung. Der weiß ja nicht einmal, was aus ihm werden soll. Und wie soll er mit den Problemen eines pubertierenden Mädchens umgehen. Stella, erinnere dich, wie es bei uns war, wie oft wir in die Arme unserer Mütter geflüchtet sind.«
»Du in die Arme deiner Mutter«, sagte Stella traurig, »weil Inge eine liebevolle, verständnisvolle Mutter ist. Ich konnte das nicht, wie du weißt, waren Fabian und ich immer auf die Zuwendung unserer Kinderfrauen angewiesen. Und auch wenn die noch so nett sind, man vertraut ihnen nicht das an, was man einer guten, treusorgenden Mutter sagen würde …, aber es ist Vergangenheit, es ist vorbei. Und ich will auch nicht nachtragend sein, und deswegen werde ich heute Nachmittag zu meinen Eltern fahren. Ich habe sogar einen Kuchen gebacken.«
»Aber das tust du doch immer«, bemerkte Ricky. »Aber guck dir den Hund mal an, der ist wirklich süß, und er scheint an Rosmarie zu hängen. Als wir da waren, wich Beauty auf jeden Fall nicht von Rosmaries Seite, und das ist doch schon, mal was. Rosmarie hat sich wirklich verändert, und zwar zu ihrem Vorteil.«
»Wir sollten auch mal wieder ein Familientreffen machen«, sagte Stella. »Unsere Kinder kommen so gern zu euch, und ich glaube, alle unsere Kinder verstehen sich richtig gut.«
Ricky konnte das nur bestätigen.
»Sag mal, Stella, ist eure Familienplanung eigentlich endgültig abgeschlossen?«
Stella wurde rot. »Ich glaube, Jörg sieht das so. Ich hätte mir durchaus noch ein Kind vorstellen können.«
Ricky klopfte ihrer Schwägerin auf die Schulter.
»Stella, Jörg ist zwar mein Bruder, und ich liebe ihn auch wirklich über alles. Aber ich finde, manchmal kann er ein richtiger Macho sein. Er könnte deinen Wunsch schon respektieren.«
Dem widersprach Stella sofort.
»Mein Jörg ist überhaupt kein Macho. Er ist ein ganz wundervoller Ehemann und ein liebevoller Vater. Für mich ist es normal, mich an seine Regeln zu halten. Ich kenne es nicht anders, mir wurde immer von meinen Eltern gesagt, wo es längs geht, was ich zu tun oder zu lassen habe. Fabian ist da anders, der hat rebelliert. Aber wie ist es denn bei euch mit euren Kindern? Habt ihr die einfach so bekommen?«
»Nein, Stella, jedes von ihnen ist gewünscht, und das haben Fabian und ich gemeinsam so gewollt. Gemeinsam«, wiederholte sie noch einmal ganz nachdrücklich.
Stella zuckte die Achseln.
»Bei euch ist es eben anders als bei uns. Aber man muss daraus doch keinen Film drehen. Es gibt für eine Partnerschaft keine festen Regeln, du bist mit Fabian auf eure Weise glücklich, und so geht es mir mit Jörg. Ich habe nicht eine einzige Sekunde lang bereut, ihn geheiratet zu haben. Wir sind sehr glücklich miteinander. Und darauf kommt es schließlich an, und man muss keine Strichliste darüber führen, wer wann was und wo gesagt hat und ob er dabei vielleicht irgendwelche Kompetenzen überschritten hat.«
»Stella, ich denke, wir sollten das Thema beenden. Darüber zu streiten führt zu nichts. Außerdem muss ich nach Hause. Ich habe noch eine ganze Menge zu tun, vor allem muss ich mich mit einem Elektriker streiten, der uns schon dreimal versetzt hat.«
Stella lachte.
»Siehst du, und das muss ich nicht. Das nimmt mir Jörg ab, und das ist gut so.«
»Ich muss es auch nicht, meine Liebe«, bemerkte Ricky. »Ich will es.«
Stella umarmte Ricky. »Ich gebe auf, liebe Schwägerin. Gehe nach Hause und streite dich, und wenn du das hinter dir hast, kannst du ja vielleicht mal darüber nachdenken, ob und wann wir das Familientreffen machen.«
Sie verstanden sich wirklich gut, die beiden Frauen, und das lag in erster Linie vermutlich daran, dass sie Freundinnen waren. Sie konnten unterschiedlicher Meinung sein, ihrer Freundschaft tat das keinen Abbruch.
»Darüber muss ich nicht nachdenken, kommt doch einfach am Samstag vorbei, und am besten schon zum Mittagessen. Ich habe ja jetzt Zeit und kann etwas Leckeres für uns kochen, und wir können es auch gleich festmachen. Oder«, es war ein bisschen gemein, aber Ricky konnte sich nicht verkneifen hinzuzufügen, »musst du das erst mit Jörg besprechen?«
Stella wusste, wie es gemeint war und sagte: »Nein, ich denke, diese Entscheidung darf ich allein treffen. Das mit Samstag ist eine gute Idee, die Kinder werden sich freuen, und wenn wir schon mittags kommen, dann haben wir einige Stunden Zeit.«
»Die haben wir, denn natürlich bleibt ihr bis zum Abendessen. Stella, ich freue mich wirklich, und vielleicht kriegen wir die Männer dazu, sich allein zu unterhalten, die Kinder sind eh miteinander beschäftigt, und ich zeige dir meine neuesten Errungenschaften.«
»Klamotten?«, wollte Stella sofort wissen.
»Bücher«, entgegnete Ricky, »du weißt doch, wie lesebesessen ich bin.«
*
Nun wohnten sie also im Sonnenwinkel.
Leonie war überglücklich und kam aus ihrem Prinzessinnenzimmer kaum noch heraus. Sie liebte es über alles, und Gerda konnte sich überhaupt nicht erinnern, wie oft Leonie ihr bereits um den Hals gefallen war und sich bedankt hatte.
Gerda wünschte sich so sehr, sie könnte sich wenigstens etwas freuen. Das war nicht der Fall.
In ihrem Schlafzimmer standen ein Bett, ein Nachttisch und eine Lampe, zum Glück gab es die Einbauschränke.
Aber das war es auch schon. Sie hätte das Zimmer gemütlicher gestalten können, aber dazu fehlte Gerda ganz einfach die Energie.
Im Wohnzimmer standen ein Sofa, zwei Sessel, ein recht hübscher Vitrinenschrank, ein Tisch, und natürlich gab es einen Fernseher und eine Musikanlage.
Leonie hatte unbedingt ein Bücherregal haben wollen, in dem die paar Bücher ziemlich verloren wirkten, die sie besaßen.
Leonie fand alles toll.
»Mami, warum hatten wir nicht schon früher die Idee und haben uns ein Haus oder wenigstens eine Wohnung mit eigenen Möbeln genommen?«, fragte sie mehr als nur einmal. »So schön wie hier haben wir noch nie gewohnt, es ist wie in …, wie in … einem Paradies, und du, meine Mami, du bist der Engel darin, denn dir haben wir es alles zu verdanken. Dass du mir dieses teure Prinzessinnenzimmer gekauft hast.«
Ehe Gerda etwas sagen konnte, erkundigte Leonie sich plötzlich: »Mami, woher haben wir so viel Geld?«
Eine derartige Frage hatte Leonie bislang noch nie gestellt, und das brachte Gerda in arge Verlegenheit. Was sollte sie jetzt sagen?
»Ich …, äh …, nun …, ich habe etwas geerbt, und zwischendurch habe ich doch immer auch gearbeitet, und unser Lebensstil war niemals aufwendig.«
Leonie fiel ihrer Mutter um den Hals.
»Ach, Mami, da bin ich aber sehr froh. Dann müssen wir uns ja auch keine Sorgen machen und können für immer hier wohnen bleiben, und wenn ich groß bin, dann sorge ich für dich.«
Gerda presste ihre Tochter an sich und versuchte, ruhig zu atmen.
Hoffentlich stellte Leonie nicht noch mehr Fragen, die in diese Richtung gingen. Sie würde bestimmt weitere Fragen stellen, und die nächsten würden vermutlich sein, warum die meisten Zimmer im Haus nicht möbliert waren.
Noch genoss sie das Neue, ihr Zimmer, das Wohnzimmer, aber was sollte sie ihr sagen?
Wenn es nach Gerda ginge, könnte alles so bleiben, wie es augenblicklich war. Alles, was sie gekauft hatten, empfand sie nicht wie ihre Tochter als ein großes Glück, sondern es war für sie eine Belastung, etwas, was sie herunterzog, was sie festhielt.
Hätte sie nicht die Verantwortung für Leonie, dann hätte es für sie immer so weitergehen können, dieses Leben auf der Durchreise, dieses Leben aus dem Koffer. Das war unverbindlich gewesen und sicher. Eine Sicherheit, die ihr jetzt verloren gegangen war. Sie konnte nur hoffen, dass es sich bald wieder ändern würde.
Sie musste sich an den Zustand gewöhnen.
Vor allem musste sie ihren Verstand gebrauchen!
Was sollte ihr denn hier passieren? Vor allem nach so vielen Jahren.
Sie würde sich so gern mit Leonie freuen, wenn sie das doch nur könnte.
Leonie knöpfte ihre Jacke zu und sagte: »Mami, ich gehe dann mal los.«
Gerda versuchte, ihre Tochter davon abzuhalten, aber da war nichts zu machen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, hinauf zur Felsenburg zu wandern.
»Leonie, du kennst dich hier noch nicht aus, für dich ist alles fremd. Wenn du unbedingt zu dieser Ruine möchtest, dann lass mich doch mitgehen.«
Das Thema hatten sie bereits, und Gerda glaubte auch jetzt nicht, bei ihrer Tochter etwas zu erreichen. Und richtig! Leonie blitzte ihre Mutter an.
»Mami, ich bin kein kleines Mädchen mehr, und was soll mir auf dem Weg zur Felsenburg denn schon passieren? Man kann sie von hier aus sehen, verlaufen kann ich mich nicht. Und was sollen denn die Leute von mir denken, wenn sie sehen, dass ich an deiner Hand durch die Gegend laufe? Du hast es mir versprochen, dass ich hier allein Erkundungen durchführen kann, und du hast es mir versprochen, dass ich ab Montag mit dem Schulbus fahren darf.«
Gerda hatte es, fühlte sich noch immer nicht wohl dabei und versuchte, ihre Tochter davon zu überzeugen, sie wenigstens in der ersten Zeit zur Schule bringen zu dürfen.
Es war nichts zu machen.
»Mami, ich würde mich in Grund und Boden schämen, und bei den anderen Kindern wäre ich doch unten durch, und die würden mich ein Mamakind nennen. Willst du das?«
Natürlich wollte Gerda das nicht, aber sie versuchte dennoch, Leonie abzuringen, wenigstens in der ersten Woche gemeinsam mit ihr im Bus mitzufahren, wenn sie schon nicht gebracht werden wollte.
»Ich kann ja so tun, als müsste ich in Hohenborn etwas einkaufen.«
Leonie schüttelte entschieden den Kopf.
»Mami, wir sind Probe gefahren, ich kenne alle Abfahrtzeiten des Busses. Ich fahre ganz allein, und jetzt laufe ich ganz allein zur Felsenburg. Ich bin schon ganz aufgeregt.«
Sie umarmte ihre Mutter, küsste sie: »Mami, ich habe dich lieb.«
Dann verließ sie das Haus und schwenkte ganz stolz ihren Schlüssel.
»Du musst mir nicht aufmachen«, rief sie. »Bis später.«
Gerda war allein, und sie wusste, dass sie bis zu Leonies Rückkehr die Zeit in Anspannung verbringen würde, in Anspannung und Angst. Und sie ahnte, dass künftighin die Angst ihr ständiger Begleiter sein würde.
Sie ging ins Wohnzimmer, stellte sich ans Terrassenfenster und starrte hinaus in den Garten, der eigentlich hübsch angelegt war, um diese Jahreszeit allerdings ein wenig traurig aussah.
Sie presste ihren Kopf gegen das kühle Glas der Scheibe und zuckte zusammen, als sie ein Scheppern hörte. Jemand war unachtsam gegen Glas gestoßen und hatte es heruntergeworfen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, denn das bedeutete, dass sie nicht allein im Haus war …