Читать книгу Bettina Fahrenbach Staffel 7 – Liebesroman - Michaela Dornberg - Страница 5
ОглавлениеWährend Bettina den Hügel von der Destillerie zum Hof hinunterlief, überlegte sie krampfhaft, wer diese Frau wohl sein könnte, die unten wartete und die unbedingt mit ihr sprechen wollte.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, aber Thomas, dem die Frau merkwürdig vorkam, hatte es dringend gemacht.
Bettina war so sehr in Gedanken, dass sie über eine Unebenheit des Weges stolperte und beinahe hingestürzt wäre, wenn sie sich nicht im allerletzten Augenblick gefangen hätte.
Das brachte sie zur Besinnung. Wegen einer Fremden würde sie sich jetzt wirklich nicht den Hals brechen, und das kurz vor ihrer Hochzeit.
Also legte sie die letzte Strecke des Weges langsamer zurück.
Unten angekommen, entdeckte sie die Fremde schon von Weitem. Sie saß auf der Bank vor dem Haus, und Thomas stand vor ihr, als müsse er sie bewachen.
Beinahe hätte Bettina angefangen zu lachen bei dieser Vorstellung. Aber sie riss sich zusammen.
Allerdings verlangsamte sie ihren Schritt, um sich die Frau schon einmal anzusehen. Je näher sie kam, um so sicherer war sie sich, diese Frau noch niemals zuvor in ihrem Leben gesehen zu haben.
Das war ja merkwürdig.
Was sie wohl von ihr wollte?
Bettina war angekommen, grüßte.
Die Frau stand auf.
»Frau Fahrenbach?«, erkundigte sie sich überflüssigerweise, denn wer sonst wohl sollte sie sein.
»Ja, ich bin Bettina Fahrenbach.«
Die Frau starrte sie an. Ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie sich Bettina ganz, ganz anders vorgestellt hatte.
»Ich …, ich muss mit Ihnen reden«, sagte die Frau.
»Ja, gern, deswegen bin ich hier. Aber können Sie mir vielleicht Ihren Namen verraten? Ich möchte schon gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.«
Die Frau lief puterrot an. Sie war wirklich vollkommen durch den Wind.
»Entschuldigung, ja, ich …, ich bin Nele Rosskamp.«
Bettina war ein wenig irritiert. Warum eierte sie herum? Hatte sie sich den Namen gerade ausgedacht, oder hieß sie wirklich so.
»Also, hallo …, Frau Rosskamp«, sagte Bettina. »Ich denke, wir gehen am besten ins Haus.«
Als Nele Rosskamp sah, dass auch Thomas Anstalten machte, ihnen zu folgen, sagte sie rasch: »Ich möchte aber mit Ihnen allein sprechen.«
Bettina hielt inne.
»Tut mir leid, Herr Sibelius ist mein Verlobter, den ich in wenigen Tagen heiraten werde. Der wird bei dem Gespräch dabei sein.«
Bettinas Stimme hatte so bestimmt geklungen, dass ihre Besucherin keine weiteren Einwände mehr wagte, sondern nur stumm den Kopf senkte.
Bettina überlegte, wohin sie die Frau führen sollte. Ins Wohnzimmer? Das war irgendwie zu offiziell. In die Bibliothek? Die war zu anheimelnd. Bettina wusste ja nicht, was sie erfahren würde. Die Frau stand ziemlich unter Druck. Sie hatte sogar leichte Schweißperlen auf der Stirn, was nicht am Wetter liegen konnte.
Es war angenehm warm, aber nicht so heiß, um in Schweiß auszubrechen.
»Am besten setzen wir uns draußen auf die Terrasse«, hatte Thomas die rettende Idee.
»Ja, eine gute Idee«, rief Bettina erleichtert. Dann wandte sie sich an Nele Rosskamp. »Dürfen wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Nein, nein danke«, wehrte die Frau ab.
Auf der Terrasse war es sehr angenehm. Zum einen spendeten die hohen alten Bäume Schatten, zum anderen hielt die Markise das Sonnenlicht zurück.
Nachdem sie Platz genommen hatten, die Frau noch immer keine Anstalten machte zu erzählen, weswegen sie gekommen war, ergriff Bettina das Wort.
»So, Frau Rosskamp, und nun verraten Sie mir bitte, was Sie von mir wollen.«
Die Frau trommelte nervös mit ihren Fingern auf dem Tisch herum.
»Ich …, äh …, ich bin die Freundin … Ihres Bruders …, Frieder Fahrenbach.«
Wäre jetzt eine Bombe bei ihnen eingeschlagen, hätte das keine andere Wirkung gehabt, als diese Eröffnung.
Bettina starrte die Frau an wie eines der Weltwunder. Und da machte sie eine verblüffende Entdeckung. Jetzt, wo sie es wusste, erkannte sie, das Nele Rosskamp genau in Frieders Beuteschema passte. Sie war der Typ Frau wie Mona und auch die Geliebte, deren Namen sie längst vergessen hatte. Der Unterschied zu den beiden war nur, dass sie offensichtlich noch nicht an sich hat herumschnippeln lassen. Aber Erfahrung mit Botox hatte sie, das erkannte man an den übermäßig glatten Gesichtszügen. Die Frau war zwar noch jung, aber nicht so jung, um nicht schon Lebensspuren in ihrem Gesicht haben zu müssen, und seien es nur ein paar Mimikfalten. Aber das war im Augenblick wirklich nicht relevant.
»Hat Frieder Sie geschickt?«, erkundigte Bettina sich.
Sie antwortete nicht sofort, lief rot an, die Finger trommelten noch heftiger.
»Neeeeeein«, antwortete sie schließlich.
Bettina und Thomas schauten sich an.
»Dann sagen Sie mir jetzt klipp und klar, was Sie von mir möchten«, sagte Bettina heftiger als es normalerweise ihre Art war, »ich habe keine Lust auf eine Märchenstunde, und ich möchte Ihnen auch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.«
Nele zuckte zusammen.
»Es geht …, es geht um die Bürgschaft«, rang sie sich schließlich ab.
»Sie wissen darüber Bescheid?«, wollte Thomas wissen.
Ein heftiges Nicken war die Antwort.
Sie wusste also Bescheid!
»Und Frieder hat Sie wirklich nicht geschickt?«, fragte er weiter.
Diesmal kam ein heftiges Kopfschütteln.
»Warum meldet er sich nicht?«, erkundigte Bettina sich.
»Er …, Frieder ist …, er ist nicht daheim.«
»Dann weiß er nichts von unseren Nachrichten?«, fuhr Thomas fort.
Ein erneutes Kopfschütteln.
Bettina wurde allmählich ungeduldig. Die Frau war gekommen, um mit ihr zu reden, und nun spielte sie das Schweigen im Walde!
Das ganze war ja richtig mühsam.
»Dann sagen Sie mir, wie ich meinen Bruder erreichen kann. Wenn Sie seinen Anrufbeantworter abgehört haben, dann werden Sie auch mitbekommen haben, dass es pressiert. Ich muss mit ihm reden, andernfalls werden wir einen Anwalt einschalten.«
»Um Gottes willen, nein, tun Sie das nicht … Das geht nicht, ich …, Frieder …«
So ging das nicht weiter. Das sah nicht nur Bettina so, sondern auch Thomas, denn der schaltete sich jetzt ein.
»Frau … Rosskamp, Sie sind hergekommen, um mit meiner Verlobten zu reden. Aber es geschieht nichts, das einzige, was Sie herausbekommen, ist eine Stammelei. Also, reden wir jetzt mal Tacheles. Frieder ist nicht da, Frieder weiß nichts von unseren Anrufen, doch von der Bürgschaft …«
»Das weiß er auch nicht so genau«, unterbrach sie ihn, ihr Gesicht war mittlerweile so rot wie eine überreife Tomate.
Als sie bemerkte, wie wenig befriedigend ihre Gastgeber diese Antwort fanden, sah sie wohl ein, dass sie endlich mit der Wahrheit herausrücken musste, auch wenn ihr das unbeschreiblich schwer fiel.
»Ich …, ich arbeite bei … Frieders Hausbank und bin für die Kreditvergabe im Geschäftskundenbereich zuständig … In dieser Position habe ich Frieder auch kennen
gelernt … Es war zunächst einmal nur …, na ja, so richtig wahrgenommen hat er mich nicht. Ich mein als Frau. Als es für ihn immer schwieriger wurde Kredite zu bekommen, da hat er mich mal eingeladen, weil ich noch etwas für ihn durchbekommen hatte …«, sie machte eine kurze Pause, Bettina wollte sie schon auffordern weiterzusprechen, aber da fing sie von selbst wieder an. »Diese Einladung hatte nichts mit mir zu tun, darüber war ich mir klar, denn ich kannte seine Exfrau und hatte ihn auch mehrfach mit seiner Exfreundin gesehen …, zwischen denen und mir liegen Welten.«
»Aber vom Typ her ähneln Sie sowohl Mona als auch seiner ehemaligen Freundin«, bemerkte Bettina. Das Wort Beuteschema ließ sie in dem Zusammenhang weg. Das wäre zu gemein.
»Hm, ja, ein wenig vielleicht, aber im Verhältnis zu seiner Exfrau bin ich wohl eher so was wie eine Mona Fahrenbach der Vorstadt …, aber egal, wie dem auch sei. Wir gingen zusammen essen. Ich wusste, dass es für Frieder eine Pflichtübung war. Aber es war dann doch ein schöner Abend, obschon er ganz schrecklich drauf war. Er begann von sich zu erzählen, und ich hörte ihm zu …, so begann es mit uns. Im Grunde genommen war ich anfangs nicht mehr als so was wie sein Seelenklo. Aber dann kamen auch bei ihm Gefühle auf, und irgendwann waren wir zusammen.«
Am liebsten hätte Bettina ihr gesagt, dass sie wegen Mona und diesem anderen getunten Geschöpf keine Minderwertigkeitskomplexe haben sollte. Sie war auf jeden Fall sympathischer.
»Möchten Sie nicht doch etwas trinken?«, erkundigte sie sich, denn das schien nun doch eine längere Geschichte zu werden.
Diesmal nahm Nele Rosskamp an.
»Ja, gern, vielleicht ein Wasser, wenn Sie haben.«
Bettina wollte aufstehen, aber Thomas winkte ab.
»Lass mal, Liebes, das mache ich schon. Möchtest du auch etwas trinken?«
Sie lächelte ihn an.
»Ich nehm auch ein Wasser«, sagte sie.
Thomas ging ins Haus, die beiden Frauen schwiegen, bis Nele schließlich sagte: »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt, und auch den Fahrenbach-Hof, den hat Frieder ganz anders geschildert. Dabei ist es wunderschön hier.«
»Frieder mochte den Hof und auch das Dorf nie«, sagte Bettina. »Er fand es grauenvoll, wenn wir in den Ferien herkamen, und sobald es möglich war, hat er sich permanent geweigert, herzukommen.«
»Aber er hätte den Hof gern geerbt«, sagte Nele. »Und normalerweise hätte es auch so sein müssen. Frieder ist schließlich der Älteste, aber Sie waren ja der Liebling Ihres verstorbenen Vaters, und deswegen hat er Ihnen den Hof mit allem, was dazu gehört, zugeschoben. Frieder sagt, es ist ein gigantisches Vermögen. Allein die Seegrundstücke machen Sie zu einer mehrfachen Millionärin, das selbst wenn Sie nur einen Teil verkaufen. Frieder sagt, dass er und die beiden anderen Geschwister nur einen Bruchteil dessen geerbt haben von dem, was Ihnen da zugeschustert wurde.«
Bettina kochte innerlich vor Wut. Aber sie zwang sich, nach außen hin ruhig zu erscheinen. Die Frau konnte schließlich nichts dafür, die konnte nur nachplappern was ihr vorgekaut worden war.
»Was Frieder Ihnen da erzählt hat, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Den Fahrenbach-Hof wollte niemand von meinen Geschwistern haben. Sie haben mich, weil nur er für mich übrig geblieben war, sogar allesamt bedauert. Im Wert gestiegen ist der Besitz erst, nachdem alles Bauland geworden war …, nur davon habe ich nichts. Es handelt sich hier um etwas, was seit vielen Generationen im Familienbesitz ist. Die Fahrenbachs haben noch niemals etwas verkauft, sondern es für die nächste Generation bewahrt. Und auch ich, liebe Frau Rosskamp, werde es nicht anders handhaben. Eine Fahrenbach zu sein, das bedeutet Verantwortung. Wir alle sind nur auf der Durchreise hier. Ich möchte nicht, dass über mich einmal gesagt wird, dass ich das Erbe nicht gut verwaltet habe.«
Sie verzog das Gesicht, na klar, der von ihr angebetete Frieder hatte ihr ganz andere Geschichten erzählt. Und prompt kam auch eine davon.
»Der Fahrenbach-See ist gigantisch groß. Frieder sagt, dass es überhaupt nicht ins Gewicht fällt, wenn man ein Stückchen davon bebaut.«
Aha, diese Nummer mit dem Seegrundstück, das er unbedingt hatte haben wollen, um dort einen Hotelkomplex mit Tennis- und Golfplatz, eigenem Yachthafen, einem gigantischen Wellnessbereich zu errichten. Daher rührte ja der Ärger, deswegen sprach er unter anderem nicht mehr mit ihr.
»Sie irren sich, Frau Rosskamp. Schon ein Stückchen Veränderung würde das ganze Ökosystem zerstören. Wir haben am See seltene Tiere und Pflanzen, die anderen Orts längst ausgestorben sind. Und es ist das Erholungsgebiet für die Fahrenbacher und die Urlauber, die sich hier überall in der Umgebung erholen.«
»Und deswegen verzichten Sie auf einen Batzen Geld? Es mag ja sein, dass Ihre Vorfahren alles bewahrt haben, aber da hatten Sie nur einen See und viel Land, das im Grunde genommen nichts wert war. Ich weiß nicht, ob Sie heute nicht doch wankend geworden wären.«
Bettina hatte genug.
»Ich glaube, Frau Rosskamp, darüber sollten wir uns den Kopf nicht zerbrechen, und deswegen sind Sie auch nicht hergekommen. Es geht um die Bürgschaft. Schon vergessen?«
Thomas war zurückgekommen. Er hatte für sich einen Kaffee gekocht, deswegen hatte es auch länger gedauert.
Als Bettina der köstliche Duft des Kaffees in die Nase stieg, ärgerte sie sich insgeheim. Sie hätte besser auch einen Kaffee nehmen sollen, als einfach Wasser zu sagen, weil Nele Rosskamp es sich bestellt hatte.
Sie hatte es nur nachgeplappert ohne zu überlegen.
»Und jetzt ärgerst du dich, weil du dir nicht auch einen Kaffee bestellt hast«, drang seine Stimme in ihre Gedanken hinein. »Du kannst meinen haben. Ich trink dann eben das Wasser.«
Er schob ihr die Tasse zu, und Bettina konnte es wieder einmal nicht fassen, dass ihr Tom ganz einfach fühlte, wusste, wie es um sie stand, ohne dass da etwas gesagt werden musste.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, schielte aber dennoch bereits voller Verlangen auf die nun vor ihr stehende Tasse.
»Trink ihn«, forderte er sie auf. »Ich könnte mir ohne weiteres einen neuen Kaffee machen, wenn ich denn wollte. Ich musste dafür schließlich nicht in ein fremdes Land reisen, sondern nur in unsere Küche gehen, die nur ein paar Meter entfernt ist. Ich kann es also jederzeit wieder tun. Wasser ist für mich schon okay.«
Da zierte sie sich nicht länger, warf ihm einen schmachtenden Blick zu, ehe sie ganz genüsslich etwas von ihrem leckeren Kaffee trank, seinem Kaffee.
Dann stellte sie die Tasse ab und wandte sich wieder Nele zu, die ebenfalls etwas von ihrem Wasser getrunken hatte.
»Die Bürgschaft«, erinnerte sie ihre Besucherin.
»Ja …, äh …, nun …«, nach dieser kurzen Stammelei brach sie erst einmal ab, griff erneut nach dem Glas, so heftig, dass sie dabei etwas von dem Wasser auf ihr weißes T-Shirt schüttete, und Bettina dachte, dass Nele von Glück reden konnte, keinen Kaffee getrunken zu haben, denn jetzt würde ein dicker brauner Fleck das Shirt zieren.
Nele wischte an sich herum, aber es war ganz offensichtlich, dass das nicht aus Sorge um ihr Shirt geschah, sondern um Zeit zu gewinnen.
Was sollte das alles?
Warum rückte sie nicht mit der Sprache heraus?
Allmählich hatte Bettina die Faxen dicke, sie konnte sich den Ablauf ihres Tages wahrlich anders, sehr viel angenehmer, vorstellen.
Diese Nele Rosskamp machte zwar einen netten Eindruck, aber den machten andere Leute auch.
»Also, Frau Rosskamp, so kommen wir nicht weiter. Wir sitzen bereits eine ganze Weile hier herum, ohne dass Sie auf den Kern der Sache gekommen sind. Fangen wir also nochmals an. Sie sind bei Frieders Bank für die Vergabe der Kredite an Geschäfskunden zuständig, das ist also bei der Regionalbank, und ich vermute, Sie arbeiten dann unter Dr. Fleischer.«
Ein heftiges Kopfschütteln war die Antwort.
»Nein, mit der Regionalbank hat Frieder nichts mehr zu tun. Obschon schon Ihr Vater dort guter Kunde war, hat man Frieder, als seine Firma in die Schieflage kam, sämtliche Konten aufgekündigt …, ich bin bei der Westbank.«
Bettina kannte die Bank, sie war klein, arbeitete eher regional. Dort also war Frieder gelandet, dabei hatte er früher über die Westbank die Nase gerümpft und sie verächtlich Arme-Leute-Bank genannt. Nun ja, im Grunde genommen war er da mittlerweile richtig aufgehoben, denn er hatte sein Vermögen verbrannt. Seine Exfrau hatte ja vorgesorgt und sich einen Batzen beiseite geschafft, als Milch und Honig noch reichlich flossen. Bettina glaubte nicht, dass Frieder das auch getan hatte. Der hatte den coolen Mann gespielt und geglaubt, alles liefe von selbst, wie damals zu Papas Zeiten. Vielleicht wäre das ja auch eine ganze Weile gutgegangen, wenn Frieder Papas Konzept weiter verfolgt hätte. Aber Frieder hatte eigene Wege gehen wollen und alles anders gemacht, als erstes hatte er das gesamte bewährte Personal auf die Straße gesetzt, allen voran sie. Aber das war Schnee von gestern, sie hätte als Erbin des Fahrenbach-Hofs doch nicht weiter im Weinkontor arbeiten können.
Daran, dass sie jetzt wieder daran denken musste, erkannte Bettina, dass die alten Verletzungen noch da waren, dass sie noch längst nicht darüber hinweg war. Aber sie durfte sich damit nicht aufhalten, ganz besonders jetzt nicht. Jetzt galt es etwas ganz anderes zu klären. Und wenn das in diesem Schneckentempo so weiter gehen würde, dann säßen sie morgen noch immer beisammen, um um den heißen Brei herum zu reden.
»Also, okay, Frieder hat also seine Konten bei der Westbank. Sie haben ihn dort kennengelernt, ihm offensichtlich geholfen. Und nun erzählen Sie mir, wie es zu der Bürgschaft gekommen ist.«
Sie trank wieder, diesmal vorsichtiger, es wurde kein Wasser verschüttet.
»Frau Rosskamp, wir warten«, wandte Thomas ein, der auch dabei war, die Geduld zu verlieren.
»Also gut.«
Nele sah wohl ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, es hinauszuzögern. Es musste eh gesagt werden.
»Frieder wollte ein neues Geschäft anfangen, eine Partnerschaft wäre nur mit einer entsprechenden Einlage möglich gewesen …, fünfhunderttausend Euro …, dem Partner …«
Sie atmete tief durch, schloss die Augen, dann brach es aus ihr heraus.
»Ich habe die Unterschriften gefälscht, um Frieder zu helfen. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen …, der Partner hat kalte Füße bekommen und ist ausgestiegen … Dummerweise wurde die Bürgschaft durch einen Kollegen, der mich vertreten hat, weiter gegeben …, und so ist alles ins Rollen gekommen … Es …, es tut mir … leid.«
Bettina schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, sie konnte erst einmal überhaupt nichts sagen.
Zum Glück war Thomas an ihrer Seite, der äußerte sich dazu.
»Es tut Ihnen leid. Das ist ein bisschen wenig für das, was Sie gemacht haben … Urkundenfälschung, Unterschriftenfälschung, das sind nicht unbedingt Kavalliersdelikte. Das sind kriminelle Handlungen.«
Nele begann zu weinen, und Bettina bekam schon ein wenig Mitleid mit ihr.
»Ich hatte doch alles unter Kontrolle, normalerweise wäre es gutgegangen«, flüsterte sie.
»Gutgegangen?« Thomas war richtig aufgebracht. »Wenn dieser Geschäftspartner nicht abgesprungen wäre, dann hätte man die Bürgschaft in Anspruch genommen. Eine halbe Million, Sie als Bankerin wissen mehr als alle anderen, dass das kein Spielgeld ist. Was haben Sie sich dabei gedacht?«
Jetzt begann sie am ganzen Körper zu zittern.
»Ich habe mir … nichts dabei gedacht … Frieder hat geglaubt, dass ich es für ihn drehen kann, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. In seinen Unterlagen habe ich die Unterschriften von Ihnen gesehen, Frau Fahrenbach. Auf einmal war es so leicht, die nachzumachen, und auf einmal …«
»Hören Sie auf«, sagte Thomas. »Ich kann es nicht mehr hören. Im Grunde genommen gehören Sie angezeigt.«
»Das würde mich meinen Job kosten.«
»Darüber hätten Sie früher nachdenken sollen, wir verzichten …«, Thomas blickte zu Bettina hinüber. »Es ist doch auch in deinem Sinne, Liebes, dass wir das jetzt nicht an die große Glocke hängen, sondern versuchen, es so aus der Welt zu schaffen?«
Bettina nickte. Sie war froh, dass Thomas das jetzt regelte, vor allem in ihrem Sinne. Noch war sie nicht zu Schaden gekommen, sondern hatte nur Ärger gehabt. Eine Anzeige würde nichts bringen, zumal, wenngleich das auch keine Entschuldigung war, diese junge Frau aus Liebe zu Frieder gehandelt hatte.
»Also, Frau Rosskamp, veranlassen Sie, dass diese Bürgschaft zurückgezogen wird, wie man das handhabt, werden Sie ja wohl wissen. Und in Zukunft begehen Sie keine kriminellen Handlungen mehr. So glimpflich wie jetzt wird es nämlich nicht immer abgehen.«
Nele wischte sich die Tränen mit ihrem Handrücken aus dem Gesicht, dabei verwischte sie ihre Wimperntusche, die tiefe schwarze Gräben in ihrem Gesicht hinterlassen hatte.
»Danke«, murmelte sie. »Tausend Dank … Ich habe allerdings noch eine Bitte. Verraten Sie Frieder nichts davon … Er hat, was Hilfe in finanzieller Hinsicht angeht, eine hohe Meinung von mir … Das ist auch ein festes Bindeglied zwischen uns … Ich möchte ihn nicht verlieren, weil ich ihn liebe.«
Jetzt mischte Bettina sich ein.
»Frau Rosskamp, ich wünsche Ihnen wirklich Glück mit meinem Bruder. Und ich will auch die ganze Bürgschaftsgeschichte vergessen. Aber Abhängigkeit ist keine Basis für eine Liebe, und Unaufrichtigkeit ist es auch nicht. Sie sollten reinen Tisch machen und Frieder die Wahrheit sagen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann verlässt er mich«, ihre Stimme bebte vor innerer Anspannung.
»Wenn er Sie liebt, dann nicht. Wenn er sich durch Sie nur Vorteile erhofft, dann sollten Sie diese Beziehung beenden und sich zu schade sein, nur benutzt zu werden.«
»Aber ich liebe ihn, und mir ist der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach. Ehe Frieder und ich zusammenkamen, war ich lange Zeit allein, weil es mir nicht so leicht fällt, Anschluss zu finden und ich außerhalb der Bank ziemlich schüchtern bin. Es ist schöner mit einem Mann zusammenzusein, der mir etwas Gefühl entgegenbringt als gar keinen zu haben.«
Das war eine Einstellungssache, und weder Bettina noch Thomas wollten das kommentieren. Sie konnten es ja auch überhaupt nicht, denn ihre Verbindung basierte auf hundertprozent Liebe und hundertprozentigem Vertrauen.
»Wo ist Frieder eigentlich?«, fragte Bettina stattdessen, vielleicht würde sie erfahren, ob das Gerücht mit Südamerika stimmte.
Nele zuckte hilflos die Achseln.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er weiht mich nicht in alles ein, da ist er ziemlich eigenbrödlerisch. Aber er wird wohl irgendwo im Ausland sein, denn er hat seinen Reisepass mitgenommen, und ich habe gesehen, wie er ein Flugticket in seine Jackentasche gesteckt hat.«
»Und da haben Sie nicht gefragt?«, entschlüpfte es Bettina, die das nicht glauben konnte.
Nele schüttelte den Kopf.
»Nein, das habe ich mir abgewöhnt. Frieder kann sehr ungehalten werden …, vielleicht erzählt er es mir nach seiner Rückkehr.«
»Na ja, so wichtig ist es nicht«, bemerkte Bettina, und das war es auch nicht für sie.
Die junge Frau tat ihr jetzt wirklich leid. Denn man konnte förmlich daran fühlen, dass diese Liebe zu Frieder nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Und mit Frieder zusammenzusein, das war auch nicht unbedingt eine Offenbarung. Der drehte sein Ding, und diese Charaktereigenschaft hatte er eindeutig von ihrer gemeinsamen Mutter Carla geerbt. Die tat auch nur das, was sie wollte und was gut für sie war.
Obschon die Sonne schien und es warm war, fröstelte Bettina.
Frieder …
Ihre Mutter Carla …
Das waren unliebsame Erinnerungen, die sie vergessen wollte.
Sie stand auf.
»Frau Rosskamp, ich habe dem, was mein Verlobter gesagt hat, nichts hinzuzufügen. Bringen Sie die Angelegenheit in Ordnung, dann wollen wir Sie vergessen, und tun Sie so etwas niemals wieder …, für nichts und für niemanden.«
Auch Nele Rosskamp erhob sich.
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, murmelte sie, griff nach ihrer Tasche, die sie auf dem Nebenstuhl abgelegt hatte. »Und …, es tut mir wirklich leid …, ich …«
Thomas stand auf, reichte ihr die Hand. »Auf Wiedersehen«, sagte er.
»Ich bringe Sie noch zur Tür«, bemerkte Bettina.
Dann begleitete sie Nele hinaus.
»Sie sind so ganz anders als Frieder Sie beschrieben hat«, sagte Nele zum Abschied. »Es ist schade, dass Sie sich nicht miteinander verstehen.«
»Ja, das ist es wirklich«, gab Bettina zu, »aber erzwingen kann man nichts. Es ist, wie es ist.«
Sie reichte Nele die Hand.
»Gute Heimfahrt«, sagte sie, dann ging sie ins Haus zurück und sah ihrer Besucherin nicht, wie es sonst der Fall war, nach, und sie begleitete sie auch nicht bis zum Parkplatz.
Nele Rosskamp war keine Freundin, die mal zu Besuch gekommen war. Sie hatte ein Verbrechen begangen, und ein Verbrechen war es. Das konnte man sich nicht schön reden.
In der Diele traf sie mit Thomas zusammen, der das benutzte Geschirr in die Küche bringen wollte.
»Eine ganz schön harte Nummer«, sagte er. »Sie macht doch eigentlich einen netten, vernünftigen Eindruck. Es ist unglaublich, was Frauen aus Liebe nicht alles tun.«
»Männer bestimmt auch«, bemerkte Bettina. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass es so ausgegangen ist und dass Frieder an diesem Betrug nicht beteiligt ist. Das macht die Sache für mich einfacher.«
»Kann ich verstehen, mein Herz«, sagte er. »Was hältst du denn von einem Spaziergang? Ich finde, den haben wir uns jetzt verdient.«
Bettina zögerte.
Arbeit wartete in der Destille auf sie.
Aber, was sollte es. Die würde sie auch so schaffen, da musste sie eben mehr reinklotzen.
Der Gedanke, Hand in Hand mit Thomas zum Fluss zu laufen, war einfach zu verführerisch. Sie konnte von ihm, von seiner Nähe, einfach nicht genug bekommen. Und daran würde sich niemals etwas ändern, dessen war sie sich absolut sicher.
»Eine großartige Idee«, antwortete sie und strahlte ihn an, was ihn wiederum veranlasste, sie erst einmal in die Arme zu nehmen und sie zu küssen.
»Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«, erkundigte er sich, nachdem er sie nach einer ganzen Weile losgelassen hatte.
Sie nickte.
»Ja, bestimmt mehr als tausend Mal«, bestätigte sie, »aber ich kann es immer wieder hören.«
Er nickte zufrieden.
»Und du?«, wollte er schließlich wissen. »Hast du mir denn gar nichts zu sagen?«
»Doch«, antwortete sie, »ich liebe dich auch.«
Na, wenn das kein Grund für einen weiteren Kuss war …
*
Bettina kam gerade über den Hof gelaufen, als sie sah, wie Babette ächzend versuchte sich zu bücken, um etwas aufzuheben.
Mit wenigen Schritten war sie bei ihr.
»Halt, lass das, Babette, ich kann es für dich aufheben«, rief sie.
Babette drehte sich um.
»Bettina …, ja, das wäre furchtbar nett. Es fällt mir immer schwerer, mich zu bewegen. Ich habe das Gefühl, das Kleine explodiert in mir, und, was so komisch ist, es wächst total nach vorne hinaus. Bei Marie war das anders, da war ich ringsherum rund, und auch die kleine Laura hat sich irgendwie ringsherum verteilt.«
Bettina hatte das Schlüsselmäppchen aufgehoben, reichte es Babette, die aber, abgesehen einmal von ihrer zunehmenden körperlichen Fülle, was bei einer Schwangerschaft normal war, blendend und strahlend aussah.
»Wer weiß«, sagte sie, »vielleicht ist es das untrügliche Zeichen dafür, dass es diesmal ein Sohn wird.«
Babette und Toni wussten noch nicht, welches Geschlecht ihr Kind haben würde. Nach dem tragischen Verlauf der Schwangerschaft mit der kleinen Laura, die vor ihrer Geburt gestorben war, weil ein rasender Autofahrer auf dem Bürgersteig gelandet und in Babette gefahren war, war diese abergläubisch und wollte weder das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes wissen, noch wollte sie sich um einen Namen Gedanken machen. Laura hätte das kleine Mädchen heißen sollen wie Tonis tote Verlobte. Doch nachdem alles schiefgegangen war, hatte Babette sich eingeredet, es habe mit dem Namen zu tun gehabt, der mit soviel Trauer und Tragik behaftet gewesen war. Und nachdem auch diese Schwangerschaft beinahe schief gegangen wäre, weil Wehen vorzeitig eingesetzt hatten, sprach niemand sie mehr darauf an, was es werden würde und was sie sich wünschte.
Das mit dem Sohn war Bettina einfach so herausgerutscht, und am liebsten hätte sie es rückgängig gemacht. Aber Babette nahm es erstaunlich gelassen hin.
»Kann sein«, antwortete Babette. »Ich glaub, Toni würde es freuen. Männer wollen doch immer, auch wenn sie es nicht zugeben, einen Sohn haben, um selbst wieder mit der elektrischen Eisenbahn spielen zu dürfen.«
»Ach, Toni ist nicht so einer«, nahm Bettina ihren alten Freund in Schutz, der auch ihr engster Mitarbeiter war, ein unersetzlicher zudem. »Der ist auch ein guter Mädchen-Vater.«
Sie sah doch, wie liebevoll Toni mit der kleinen Marie umging, dabei war die nicht einmal seine leibliche Tochter, aber er hatte sie mittlerweile adoptiert, und er liebte sie als sei sie von ihm.
»Mein Toni ist nicht nur ein herzensguter Vater, er ist auch ein wundervoller Mensch, der beste Mann, den man sich wünschen kann. Manchmal kann ich mein Glück noch immer nicht fassen, dass mir nach all dem Schlamassel, den ich schon in meinem Leben hatte, so ein Goldstück über den Weg gelaufen ist.« Sie hielt inne, lachte. »Na ja, das stimmt so nicht ganz. Ich bin dir über den Weg gelaufen, und du hast mich mit Toni bekannt gemacht. Doch, wie auch immer, mein Toni und ich, wir sind einander vorbestimmt, ebenso wie du und Thomas, aber Yvonne und Markus, auf die trifft es auch zu … Fahrenbach scheint wohl ein Ort der glücklichen Paare zu sein, denn Leni und ihr Arno, die gehören ja wohl auch zusammen wie Pott und Deckel.«
»Es traf aber auch auf Linde und Martin zu«, sagte Bettina. »Wenn dieser Geisterfahrer nicht gewesen wäre …«
»Daran knappt sie noch immer, stimmt’s?«, erkundigte Babette sich.
»Ja, und das macht es ihr auch so schwer, sich neu zu binden.«
»Dabei wären Christian und sie ein schönes Paar gewesen«, meinte Babette. »Aber dieser Zug ist ja jetzt wohl abgefahren. Dein Halbbruder ist glücklich mit Miriam …, ist auch eine ulkige Sache. Er fährt nach New York, um sich für einen Chefarztposten vorzustellen, sie holt ihn, um dir einen Gefallen zu tun, vom Flughafen ab und …, es ist von der ersten Sekunde an der Urknall der Liebe … Wer wäre dir denn eigentlich lieber? Deine Freundin Linde oder Miriam?«
Bettina lachte.
»Hör auf damit, Babette, es kommt doch nicht darauf an, wen ich für Christian besser finde. Es ist sein Leben, wichtig ist doch nur, dass er glücklich ist. Und das scheint er mit Miriam zu sein, die hat aber auch keine Altlasten, sondern war emotional frei, als sie sich begegneten. Mit Linde war es mehr so eine rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln-Beziehung. Ich glaub nämlich, Christian war ziemlich genervt davon, nicht zu wissen, woran er eigentlich bei Linde ist. Für mich waren sie nicht nur optisch ein schönes Paar, ich finde, sie passten auch in ihren Ansichten gut zusammen. Ich hätte Christian auch lieber in Fahrenbach gesehen als in New York, wohin er nach seiner Zeit bei den Ärzten ohne Grenzen gehen wird.«
»Linde wäre klüger dran gewesen, ihn festzuhalten. Gute Männer laufen nicht scharenweise herum. Und eine Mutter mit zwei Kindern, dazu noch Zwillingen, die hat wohl eher eine Chance, von einem Terroristen erschossen zu werden als einen gescheiten Partner zu bekommen.«
»Linde ist eine Superfrau«, widersprach Bettina, »sie ist sehr klug, geschäftstüchtig, nicht arm …, ein liebenswerter Mensch, sie wird schon jemanden finden, wenn es an der Zeit ist. Außerdem, Toni hat dich auch genommen, obschon du gerade Mutter geworden warst.«
»Stimmt, aber Toni ist auch ein ganz besonderer Mann.«
Jetzt musste Bettina lachen.
»Ist er, meine Liebe, aber die Welt ist groß, es laufen viele Menschen herum. Ich glaub schon, dass es da noch den einen oder anderen besonderen Mann geben wird.«
Sie hatten beide nicht bemerkt, dass Linde über den Hof gelaufen kam. Sie trug eine beige Bermuda und ein weißes großes T-Shirt, ihre Füße steckten in beigen Tevas, jenen amerikanischen Trekking-Sandalen, mit denen man über Geröll laufen, durchs Wasser gehen konnte, die äußerst bequem waren, aber leider nicht besonders schön aussahen, weil sie doch recht klobig waren. Doch da war Linde schmerzfrei, es machte ihr nichts aus, wie andere Leute etwas fanden, es kam ihr einzig und allein auf ihre Bequemlichkeit und ihren Wohlfühlfaktor an, und der war dabei groß.
»Na, ihr zwei Hübschen, tratscht ihr herum?«, erkundigte Linde sich gut gelaunt, nachdem sie Bettina und Babette begrüßt hatte.
»Ja«, gab Babette unumwunden zu.
»Hoffentlich nicht über mich«, bemerkte Linde.
»Doch«, war Babettes ehrliche Antwort, was Linde ein wenig aus der Fassung brachte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass man ihre so zwanglos in den Raum gestellte Bemerkung bestätigen würde und das so vollkommen offen.
»Wie bitte?«, erkundigte sie sich gedehnt. »Das glaube ich jetzt nicht.«
Sie wandte sich an Bettina.
»He, du bist meine allerbeste Freundin«, rief sie scheinbar entsetzt, »und da machst du bei so was mit?«
Bettina winkte ab.
»Entspann dich, eigentlich haben wir über ganz andere Dinge gesprochen, über dich nur am Rande.«
»Und in welchem Zusammenhang, bitte schön?«
Da wollte sich Bettina erst einmal eine Antwort überlegen, sie hatten ja wirklich nicht böse über Linde geredet, aber die konnte sehr schnell eingeschnappt sein.
Aber Babette kam ihr zuvor.
»Wir sprachen über glückliche Paare, über Männer, dabei meinen Toni ganz besonders, und dann
kamen wir auf dich und Christian. Und da sagte ich, dass du ihn besser nicht aufgegeben hättest, weil ihr wunderbar zusammengepasst habt. Zufrieden mit der Antwort?«
»Wenn es mehr nicht war, dann ja …, und ich muss dir auch recht geben, Babette. Christian ist ein ganz wunderbarer Mann, und weil es so ist, dann hat er auch etwas Besseres verdient als jemanden, der ihm maximal einen halben Platz in seinem Herzen anbieten kann. Ich denke, mit Miriam hat er den Jackpot bekommen, die ist ohne jegliche Verpflichtung, vor den beiden liegt das, was ich bereits hinter mir habe. Im übrigen denke ich, dass es so kommt wie es kommen soll. Und jetzt, meine Freundinnen, entschuldigt mich. Die Leni wartet auf mich, und ich muss dann schleunigst zurück in den Gasthof, eine Invasion von Reisebussen erwartet mich.«
»Und dann musst du ausgerechnet vorher zu Leni? Was willst du denn so wichtiges von ihr?«, erkundigte Bettina sich.
Linde deutete auf den Beutel in ihrer linken Hand, den bislang niemand bemerkt hatte.
»Ich bringe ihr das Kleid, das ich auf deiner Hochzeit anziehen will, liebe Bettina, damit sie es ein zweites Mal weitermacht, was hoffentlich noch geht. Ich habe leider wieder an Hüftgold zugelegt. Also, verschieb deine Hochzeit bitte nicht noch einmal, dann habe ich nämlich nichts zum Anziehen.«
»Du könntest aufhören, dich mit Süßigkeiten vollzustopfen«, bemerkte Bettina. »Dann hättest du dieses Problem nicht.«
Linde begann zu kichern.
»Tut mir leid, aber das geht nicht. Das brauche ich als Nervennahrung in meinem anstrengenden Job. Außerdem lasse ich für ein Stück Sahnetorte jedes Filetsteak stehen.«
»Dann beklage dich nicht, und nimm dein Hüftgold hin. Im übrigen kokettierst du ganz schön damit. Du hast eine Superfigur mit Rundungen an den richtigen Stellen. Also, ehe es zu kippen droht, da kannst du noch eine ganze Menge an Schokolade, Pralinen und Torten in dich hineinstopfen.«
»Ich stopfe nicht, sondern ich verspeise es voller Hingabe und Genuss.«
»Wie du auch gleich bei der Leni voller Hingabe und genussvoll in die Keksschale greifen willst«, sagte Bettina, die ihre Freundin und deren Vorlieben sehr genau kannte.
Lindes Kichern verstärkte sich.
»Und ob ich das tun werde. Leni hat da etwas Neues ausprobiert …, ich glaube, es sind Moccabällchen oder so ähnlich. Auf jeden Fall müssen die grandios sein und im Mund eine Geschmacksexplosion verursachen.«
»Das stimmt«, mische Babette sich ein. »Ich bevorzuge, so wie Bettina, eher Herzhaftes. Aber da konnte auch ich nicht widerstehen. Diese Bällchen sind wirklich ein Knaller. Zum Glück hat Leni an uns gedacht und welche für uns mitgebacken. Toni kann man ja mit so was auch überglücklich machen.«
»Hoffentlich hat sie auch an mich gedacht«, rief Linde aus.
»Bestimmt«, beruhigte Bettina ihre Freundin, »Leni weiß doch, womit sie dich glücklich machen kann.«
Linde verabschiedete sich von den beiden Frauen, weil sie es wirklich eilig hatte, aber auch Babette und Bettina trennten sich.
Babette musste sich um ihr Essen kümmern, und Bettina hatte Sehnsucht nach ihrem Tom, mit dem sie sich einen Film in Steinfeld ansehen wollte, der nur noch heute lief.
*
Obschon doch alles geklärt war, wunderte Bettina sich, warum Ursula Mannebach unbedingt nochmals auf den Hof kommen wollte, um mit ihr zu reden.
Sie war mit der jungen Sonja abgereist, Filou befand sich jetzt in einem Turnierstall, in dem er auch viel besser aufgehoben war. Bettina hatte frohen Herzens das Pferd zurückgegeben, nachdem sie dahintergekommen war, welches Klassedressurpferd Filou war und welch großartige Reiterin die junge Sonja.
Ursula hatte es ein wenig geheimnisvoll gemacht, indem sie ihr erklärt hatte, unbedingt persönlich mit ihr reden zu wollen, weil das, was sie ihr zu sagen hatte, für ein unverbindliches Telefongespräch nicht geeignet war.
Was war es wohl, was Ursula Mannebach mit ihr persönlich besprechen wollte?
Bettina hatte keine Ahnung, aber sie wartete schon vor der verabredeten Zeit neugierig auf ihre Besucherin.
Da das Wetter noch immer fantastisch war, hatte Bettina beschlossen, Ursula auf ihrer Terrasse zu empfangen, und pünktlich wie ein Maurer kam sie auch, von Thomas nach draußen geführt, der sich aber sofort diskret wieder zurückzog.
Ursula Mannebach hatte sich verändert, dachte Bettina, während sie ihren Gast freundlich begrüßte. Die Schwere war von ihr abgefallen, ebenso die Starre in ihrem Gesicht, das leicht gerötet war, sie wirkte im Gegensatz zu sonst lebhaft, und Bettina war ganz verwundert, als Ursula sie kurzerhand umarmte und sagte:
»Schön, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, ich weiß ja, wie sehr Sie beschäftigt sind, und das noch so kurz vor Ihrer Hochzeit.«
»Für Sie habe ich immer Zeit«, bemerkte Bettina höflich, und nachdem sie Platz genommen hatte, servierte Bettina Tee, weil sie von Leni wusste, dass es ihr bevorzugtes Getränk war. Diese Aufmerksamkeit wusste ihre Besucherin auch sehr zu schätzen.
Ursula trank genüsslich, stellte ihre Tasse wieder ab, dann schaute sie Bettina an.
»Ich bin noch mal hergekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Es grenzt fast an ein Wunder, aber durch Sonja habe ich meine Lebenskraft wiedergefunden, und auch meinem Mann geht es so viel besser, weil Sonja sich nicht nur für Pferde interessiert, sondern auch für den Betrieb. Sie stellt sehr kluge Fragen und hat erstaunlich gute Ideen für betriebliche Veränderungen, und das trotz ihrer Jugend …, sie, vielleicht halten Sie mich für verrückt, weil es ja ganz anders war, weil Sonja zu Ihnen kam und Sie es waren, die uns zusammengebracht hat. Aber in meinem Inneren bin ich überzeugt davon, dass unsere Melanie, wenn auch auf Umwegen, sie auf unseren Weg geschickt hat.«
Es war unglaublich!
Die Veränderung, die mit dieser Frau vonstatten gegangen war, war nicht zu beschreiben!
Da spielte es keine Rolle, was sie glaubte. Entscheidend war, dass die junge Sonja sowohl ihr als auch ihrem Mann gut tat. Konnte es etwas Schöneres geben?
»Ich freue mich für sie«, sagte Bettina einfach, »ich freue mich von ganzem Herzen.«
»Mein Leben hat wieder einen Sinn. Ich besuche Sonja im Stall, sehe zu, wie sie reitet. Es war ein Glücksfall, dass Melanies alter Trainer sie angenommen hat. Sie hat fantastische Fortschritte gemacht. Und es ist ein Genuss, ihr zuzusehen, sie und Filou … Wenn ich ehrlich bin, dann passen Sonja und er besser zusammen, als es mit Melanie der Fall war. Sonja ist ausgeglichener, aber sie ist energischer, mit ihr kann Filou nicht die Spielchen treiben, die er manchmal mit Melanie gemacht hat. Der Trainer sagt, dass sie ein großes Potential hat und beim nächsten Turnier auf jeden Fall vorn mitreiten wird. Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, es hört sich großartig an, Frau Mannebach. Ich freue mich für Sonja, dass sie jetzt eine solche Chance bekommt. Aber ich freue mich auch für Sie. Sie haben sich verändert …, sehr zum Guten hin.«
Sie nickte.
»Ja, es geht aufwärts mit ihr, aber der Schmerz um Melanie tobt noch immer in mir. Ich kann jetzt aber auch wieder Freude zulassen, und das verdanke ich …, das verdanken wir Sonja.«
Ursula Mannebach redete ohne Punkt und Komma, und Bettina kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
In kürzester Zeit war ein Wunder geschehen, aber so etwas war vermutlich auch nur möglich, wenn die Herzen der Menschen berührt wurden, und das war im Fall Mannebach und Sonja ganz eindeutig der Fall.
Ursula erzählte von tiefgreifenden Gesprächen, um dann ohne Übergang wieder auf Filou und Sonjas Reitkünste zurückzukommen, und das war wohl ihre ganz besondere Passion, weil sie halt auch mit ihrer Tochter Melanie so viel Zeit im Reitstall, in der Halle oder auf Turnieren verbracht hatte.
Bettina war auch eine ganz passable Reiterin, aber natürlich waren ihre Dressurleistungen eher mäßig. Aber vom Zusehen kannte sie einiges, und sie hatte sich auch vieles angelesen, weil es sie interessierte.
Doch jetzt rauchte ihr der Kopf, weil Ursula mit Begriffen nur so um sich schmiss.
Grand Prix Special …
Natürlich wusste Bettina, dass das hohe Kunst des Dressurreitens war, aber dann verfolgte sie es nicht mehr, sondern ließ Ursulas begeisterte Worte nur noch an sich vorüberrauschen.
Zweier-Wechsel …
Wechsel Passage und Piaffe …
Piaffe fast auf der Stelle …
Galopp-Pirouetten …
Und …, und …, und …
Irgendwann hörte Ursula mit ihren Erklärungen auf.
»Entschuldigung«, sagte sie, »aber ich bin so hingerissen, Sonja reitet auf höchstem Niveau, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie zügig in den Championatskader berufen wird. Man ist schon aufmerksam geworden. Aber es ist ein Genuss, Ross und Reiterin zuzusehen, ein Schritt ist wie der andere, die Pirouetten sicher und gekonnt, die Passagen nach dem Einerwechsel fantastisch, der Mitteltrab wie geölt … Ach, Melanie hätte auch ihre Freude daran, und sie würde es Sonja nicht neiden, dass sie eine bessere Reiterin ist. Melanie stand über solchen Dingen, und Neid war ihr fremd.«
Abrupt brach Ursula ab, starrte in ihren Tee, begann sinnlos darin herumzurühren.
Bettina verhielt sich still. Sie wusste, dass Ursula nun wieder bei ihrer Tochter war und der Schmerz übermächtig in ihr brannte.
Es war lange noch nicht vorbei, vermutlich würde es niemals aufhören, weil es nicht die Regel war, dass Kinder vor ihren Eltern starben.
Und bei den Mannebachs war es ja von besonderer Tragik.
Melanie war nicht gestorben, weil sie krank gewesen war. Nein, die war in falsche Gesellschaft geraten und ganz jämmerlich an einer Überdosis gestorben. Ein vollkommen sinnloser Tod!
»Darf ich Ihnen noch etwas Tee einschenken, Frau Mannebach«, erkundigte Bettina sich, nachdem das Schweigen bedrückend geworden war.
Ursula Mannebach richtete sich auf, starrte Bettina an. Die wollte ihre Frage schon wiederholen, als dann doch eine Antwort kam. Ihre Besucherin hatte sie schon verstanden.
»Ja, gern«, sagte sie, »der Tee schmeckt köstlich …, aber danach breche ich auch wieder auf. Ich will noch einige Besorgungen machen, und danach bin ich mit meinem Mann zum Essen in Bad Helmbach im Parkhotel verabredet. Der Geschäftsführer dort scheint darauf zu bestehen, seine Lieferanten ab und zu zu sehen. Er hat seine Fleischbestellungen nach unserem letzten Besuch dort sofort erhöht und demzufolge vermutlich einen weiteren Fleischlieferanten ausgeschaltet … Na ja, ich werde es hinter mich bringen … Eine Herzensangelegenheit war für mich nochmals bei Ihnen vorbeizuschauen, um Ihnen nochmals zu danken und Sie zu informieren … Wenn richtig Ruhe in unser Leben eingekehrt sein wird, dann machen wir mal einen richtigen Urlaub auf dem Fahrenbach-Hof und lassen unsere Seele baumeln. Meinem Mann würde es auch guttun. Für weite Urlaubsreisen ist er nicht zu haben, weil er Angst hat, seine Firma könnte während seiner Abwesenheit zusammenbrechen. Was für ein Unsinn. Ich glaube, das schiebt er eh nur vor. Er will keine großen Reisen mehr machen, weil ihn das an die Ferien mit unserer Melanie erinnern würde. Aber, wer weiß, vielleicht fahren wir irgendwann mal mit Sonja weg. Die hat überhaupt noch nichts von der Welt gesehen. Doch das ist Zukunftsmusik. Hierherzukommen ist daher realistischer, und von hier aus könnte Rudi sein Imperium auch kontrollieren und eingreifen, falls erforderlich.«
»Sie sind jederzeit herzlich willkommen«, sagte Bettina, »das wissen Sie. Und es würde mich auch sehr freuen, Ihren Mann bei uns als Gast begrüßen zu dürfen. Und falls dann auch Sonja bei Ihnen sein sollte …, das geht, wie Sie wissen, mit Pferd. Auch wenn es nicht so komfortabel ist wie in einem richtigen Turnierstall.«
»Es hört sich alles wunderbar an«, sagte Ursula. »Aber jetzt haben wir genug über mich, meine Familie …, äh …, meinen Mann und Sonja geredet«, korrigierte sie sich sofort.
»Reden wir über Sie. Der Termin Ihrer Hochzeit rückt immer näher. Sie können es doch ganz gewiss kaum mehr erwarten.«
»Das ist wahr«, bestätigte Bettina, »dieser dritte Anlauf muss jetzt einfach klappen. Für Tom und mich ändert sich nicht viel. Wir leben ja bereits zusammen. Aber wir möchten gern geordnete Verhältnisse haben. Da sind wir ziemlich altmodisch.«
»Das kann ich verstehen, für mich wären diese neuen Formen des Zusammenlebens auch nichts. Zusammengehörigkeit muss auch nach außen hin sichtbar sein, und das beinhaltet auch den Namen, den man dann trägt … Sie …, Sie werden doch auch den Namen Ihres Mannes annehmen?«
»Ja«, antwortete Bettina sofort, »ich kann es kaum erwarten, dann Bettina Sibelius zu heißen. Das wollte ich schon immer, und ich glaube, ich war keine fünfzehn Jahre alt, als ich schon immer geübt habe den Namen zu schreiben.«
Ursula Mannebach begann zu lachen.
»Das habe ich auch gemacht, ich kenn’ den Rudi ja auch schon mein Leben lang. Wir sind bereits zusammen zur Schule gegangen und haben uns verliebte Zettelchen zugeworfen während des Unterrichts. Aber das macht man ja heute alles nicht mehr … Ich weiß nicht, früher war alles schöner, weil es persönlicher war.«
»Das sehe ich auch so«, entgegnete Bettina, zu mehr kam sie nicht, denn ihr Telefon klingelte. Einer ihrer Lieferanten, der Herr Schaapendonk aus den Niederlanden, der ganz köstlichen Eierlikör produzierte, war auf der Durchreise und wollte ihr, samt Familie, einen Besuch abstatten.
Das passte Bettina nicht so sehr, weil es ihren ganzen Tag durcheinander brachte. Aber Schaapendonk war nicht nur ein wichtiger Lieferant, sondern auch ein netter Mensch mit einer netten Familie, da würde ihr das Opfer nicht so schwer fallen.
Ursula Mannebach, die Bruchteile des Gesprächs mitbekommen hatte, stand auf.
»Sie werden gebraucht«, sagte sie, »und das ist für mich das Zeichen aufzubrechen … Danke, dass Sie mir zugehört haben, Frau Fahrenbach. Sie sind ein ganz wunderbarer Mensch.«
Wieder umarmte sie Bettina, die ganz gerührt die Umarmung erwiderte. Dann begleitete sie Ursula hinaus, winkte ihr zu, danach ging sie ins Haus zurück, um Thomas, der in seinem Arbeitszimmer war, von Schaapendonks unverhofftem Besuch zu erzählen. Außerdem wollte sie Thomas bitten, sie zu begleiten. Und, vielleicht hatte der ja eine Idee, was sie mit den Schaapendonks machen konnten. Vielleicht einen kleinen Segeltörn unternehmen und dann im Gasthof essen? Das mit dem Essen in der ›Linde‹ würde ihnen gefallen, da war sie bereits einmal mit ihm gewesen, und es hatte ihn total begeistert, sowohl das Essen als auch das Ambiente. Aber Segeln? War vielleicht nicht so prickelnd, es jemandem anzubieten, der aus einem Land kam, in dem es Wasser satt gab.
Ach, was sollte sie sich deswegen jetzt den Kopf zerbrechen. Sie würde die Schaapendonks einfach fragen, die würden ohne zu zaudern sagen was sie wollten.
Als sie ins Zimmer schaute, musste sie feststellen, dass Thomas nicht an seinem Platz war.
Vielleicht war er bei Arno oder Leni, vielleicht auch bei Markus.
Irgendwo würde er schon sein, und sie hatte auch keine Sorge, dass er nicht wiederkommen würde.
Dumm war nur, dass sie jetzt die Schaapendonks allein übernehmen musste. Aber das war im Grunde genommen auch nur gerecht. Schließlich waren es ihre Geschäftspartner, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern.
Thomas hatte sich jetzt schon ganz fabelhaft in die Belange der Hermann-Fahrenbach-Stiftung eingearbeitet, und das würde er in Zukunft noch verstärkt tun.
Die Likörfabrik Fahrenbach, ihre Destille, würde weiterhin ihr Arbeitsfeld sein, zumindest solange sie noch keine Kinder haben würde. Danach würde sie mit sehr viel Freude und ohne zu murren in die Rolle der Ehefrau und Mutter schlüpfen, und es würde ihr sehr gefallen. Das wusste sie schon jetzt. Und davon hatte sie auch immer geträumt.
Die Werbung würde sie weiter machen, aber sich ansonsten auf Toni verlassen, dessen Kompetenzen sie auch jetzt schon ständig erweiterte.
Toni …
Klar, vielleicht konnte sie dem die Schaapendonks auf’s Auge drücken. Er und Herr Schaapendonk waren ein Herz und eine Seele. Schaapendonk hatte Toni sogar schon mal in die Niederlande eingeladen, damit der sich seine Fabrikation ansehen konnte, und sie hatten dabei sehr viel Spaß gehabt, denn der gute Ruud Schaapendonk war ein sehr geselliger Mensch.
Unter diesem Aspekt würde es ihnen gewiss Spaß machen, ein paar Stunden miteinander zu verbringen, denn ein paar Stunden würden die Holländer bestimmt bleiben.
*
Bettina verließ eilig ihr Haus und eilte über den Hof. Sie wollte gerade den Abzweig hinauf zur Destille nehmen, weil sie die Schaapendonks dort vermutete. Das allerdings war ein gewaltiger Irrtum.
Sie saßen, und Toni war auch schon bei ihnen, unter den Apfelbäumen, und die gute Leni servierte gerade Kaffee, Kuchen und Gebäck und für die Jugendlichen kalte Getränke, wie Bettina sehen konnte, war auf jeden Fall auch Cola dabei, das Getränk, das bei jungen Leuten einen ganz hohen Stellenwert hatte, obwohl es erwiesenermaßen nicht gerade gesund war, dafür hatte es aber Kultstatus.
Ach, die gute Leni …
Das Schöne war, dass dank ihr jederzeit unverhoffter Besuch kommen konnte. Leni zauberte immer ein paar Köstlichkeiten aus ihrer Aservatenkammer.
Ruud Schaapendonk hatte Bettina entdeckt und kam auf sie zugeeilt. Er war ein mittelgroßer, quirliger Typ mit einem unverkennbaren Bauchansatz und ebenso unverkennbar ausgedünnten Haaren. Über kurz oder lang würde er eine Glatze haben. Doch wie sie ihn kannte, würde ihm das nicht das Geringste ausmachen. Ruud Schaapendonk war ein cleverer Geschäftsmann, aber er war vollkommen uneitel.
»Mevrouw Fahrenbach …, schön, Sie zu sehen«, begrüßte er sie überschwänglich und schüttelte ihre rechte Hand so stark, dass Bettina schon befürchtete, er würde sie ihr abreißen wenn er so weitermachte. »Heute können Sie meine Familie kennenlernen, meine Frau und ook de kinderen.«
Ruud Schaapendonk sprach sehr gut Deutsch, vermischte es aber hier und da mit ein paar niederländischen Brocken, was alles einem gewissen Charme gab.
Die meisten Niederländer sprachen mehr oder weniger Deutsch, was man umgekehrt nicht gerade behaupten konnte.
Sie waren überhaupt sprachbegabt oder lernten andere Sprachen zwangsläufig, weil die meisten Fernsehfilme nicht synchronisiert werden und in der Originalsprache mit Untertiteln laufen.
Außerdem sind sie ein reiselustiges Völkchen und eine alte Seefahrernation.
Bettina hatte sich einige Worte Niederländisch angeeignet, und Ruud freute sich, wenn sie die anwandte.
Leni sagte immer, es sei eine Sprache für Halskranke.
Ruud Schaapendonk führte sie an den Tisch, wo seine Frau und die beiden halbwüchsigen Kinder zur Begrüßung aufgestanden waren.
»Greetje, meine Frau, dat is Bart und hier mijn Dochter Anneke.«
Bettina begrüßte die Familie. Sohn und Tochter kamen nach Greetje. Sie waren allesamt blond, blauäugig, hatten eine gesunde Gesichtsfarbe. Sie sahen genau so aus, wie man sich die ›Holländer‹ vorstellte. Dabei war das so irrig, denn so sahen sie nicht alle aus, wie überall gab es braun-, schwarz-rothaarige Menschen. Aber man machte sich halt so gern eine klischeehafte Vorstellung, und in dieses Klischee passten Greetje, Bart und Anneke. Es fehlten nur noch die Holzschuhe, und fertig war ein Postkartenmotiv.
»Wir sind auf dem Weg nach Süden«, sagte er, »und da Bart nach seinem Studium in meine Firma einsteigen soll, dachte ich, dass es nicht schaden kann, ihm zu zeigen, wo unser Eierlikör und unsere anderen Produkte verkauft werden. Und ich denke, es wird Bart auch interessieren, Ihren Betrieb zu sehen, wo Sie Ihr fantastisches Kräutergold produzieren.«
Bettina blickte den jungen Mann an, der machte nicht den Eindruck, als sei er heiß darauf. Das konnte sie sogar verstehen. Bestimmt wäre er lieber eher am Urlaubsort angekommen, anstatt sich eine Firma anzusehen.
Und Anneke langweilte sich so sehr, dass sie gähnte. Sie hatte nur zwei, drei Kekse gegessen und die herrliche Torte ignoriert. Aber sie war jetzt in einem Alter, wo man dünn sein wollte und eine panische Angst davor hatte, nicht mehr in die hautenge Jeans zu passen.
»Magst du Pferde?«, erkundigte sie sich, und da hatte Bettina ins Schwarze getroffen.
Anneke begann zu strahlen.
»Ja, ik … mag paarden.«
»Wir haben hier welche, Bondadosso, den nenn’ ich nur Bondi, Blacky und Mabelle … Wenn du da hinten bei dem Haus um die Ecke biegst, dann kannst du sie nicht verfehlen. Und wenn du auf die Stallgasse kommst, ist links die Futterkammer, da findest du Möhren und Äpfel, kannst dir was wegnehmen. Die Pferde werden wahrscheinlich auf der Koppel sein. Aber das siehst du dann schon.«
Anneke blickte ihre Eltern an, redete schnell auf sie ein, was Bettina natürlich nicht verstand. Aber sie hatte auf jeden Fall Erfolg, denn sie stand auf und lief in die angegebene Richtung.
»Sie ist verrückt nach paarden«, sagte Greetje, die sich ansonsten ziemlich zurückhielt, zumindest, was das Gespräch anbelangte. Kuchen und Keksen sprach sie ungeniert zu, und Bettina vernahm hier und da ein entzücktes »lecker« oder »was herrlijk«.
Schade, dass Leni das nicht hörte, sie war bereits gegangen. Leni hätte an der Begeisterung ihre helle Freude gehabt.
Während Toni und Ruud übers Geschäft redeten, Bart sich aus Langeweile das dritte Glas Cola einschüttete, versuchte Bettina sich mit Greetje Schaapendonk zu unterhalten, was nicht so einfach war. Sie kannte die Frau nicht, wusste nichts über deren Interessen. Bei Anneke hatte sie einen Knaller gelandet mit den Pferden, doch das war nicht schwer gewesen, weil sich in diesem Alter fast alle jungen Dinger für Pferde interessierten, gar nicht genug davon bekommen konnten.
Später dann, wenn die erste ernsthafte Verliebtheit kam, änderte sich das.
»Es ist so schön hier«, sagte Greetje in ihre Gedanken hinein. »Ruud hat mir erzählt, dass deze bezit seit Generationen den Fahrenbachs gehört.«
Bettina dankte dem Himmel!
Ein Gesprächsthema war gefunden, das über das Wetter hinausging. Greetje schien interessiert zu sein, sonst hätte sie davon nicht angefangen, und Bettina liebte Fahrenbach, den Hof, einfach alles, so sehr, dass sie stundenlang darüber reden konnte.
Das wäre in dem Fall ein wenig übertrieben gewesen, und dazu kam es auch nicht, weil Ruud Schaapendonk unbedingt nach oben in die Destille wollte, Bart mit musste und Greetje, was Bettina erstaunte, mit wollte.
»Da Toni sich da oben besser auskennt als ich, schlage ich vor, dass ich mal nach Anneke sehe. Wenn sie mag, dann komme ich mit ihr auch nach oben.«
Greetje lachte und zeigte dabei schöne weiße Zähne.
»Das wird sie nicht wollen«, sagte sie, »ich kenn mijn dochter, die wird bei den paarden blijven.«
»Dann bleib ich auch dort und leiste ihr Gesellschaft«, sagte Bettina rasch.
Damit waren alle einverstanden und gingen in verschiedene Richtungen davon.
Bettina sprang noch rasch bei Leni vorbei, damit die den Tisch abräumen und vor allem den Kuchen ins Haus bringen konnte, von dem allerdings nicht mehr viel übrig geblieben war, denn auch Ruud Schaapendonk hatte ganz ordentlich zugeschlagen.
Die Reste der Torte hatte Bettina vorsichtshalber schon mitgenommen, denn die begann sich allmählich in ihre Bestandteile aufzulösen.
»Sie sind weg?«, erkundigte Leni sich.
»Nein, die Kleine ist bei den Pferden, die anderen haben sich gerade in Richtung Destille in Bewegung gesetzt.«
»Likörfabrik«, korrigierte Leni, wie konnte es auch anders sein. Sie hasste es, wenn Bettina etwas anderes als Likörfabrik sagte und würde sich daran niemals gewöhnen.
Natürlich hätte Bettina es abstellen können, aber es machte ihr Spaß, Leni ein wenig zu necken.
»Sind nette Leute, ich mein’ die Frau und die Kinder. Ihn kannte ich ja bereits. Er kann heilfroh sein, dass sie ihr gleichen.«
»Leni, so was sagt man nicht.«
»Aber stimmt doch, ein Ausbund an Schönheit ist er wahrhaftig nicht.«
»Ach, und das sagst ausgerechnet du? Du, die immer predigt, dass es auf Äußerlichkeiten nicht ankommt, dass die inneren Werte zählen.«
Leni fühlte sich ertappt, aber sie lachte dabei.
»Er könnte von überall herkommen, aber sie und die Kinder sehen so schön holländisch aus. Ich finde, die Maxima, die Kronprinzessin, könnte auch glatt als Holländerin durchgehen, wenn man es nicht wüsste, dass sie aus Südamerika kommt … Die ist auch immer so gut gelaunt, lacht und strahlt.«
»Wenn die Fotografen in der Nähe sind«, wurde sie von Bettina unterbrochen, »es gibt keinen Menschen auf der ganzen Welt, der immer nur gut drauf ist, aber ich gebe dir recht. Maxima entspricht dem Bild, das man sich von den Niederländern macht.«
»Warum sagst du nicht einfach Holländer?«, wollte Leni wissen.
»Weil Holland nur eine der niederländischen Provinzen ist und man fälschlicherweise das ganze Land oftmals so bezeichnet. Das ist falsch.«
Leni winkte ab.
»Ach, die Holländer sind ein tolerantes Volk, die können damit leben.«
»Auch wieder so ein Vorurteil«, bemerkte Bettina. »Doch ich will jetzt unbedingt mal nach dem meisje sehen.« Sie umarmte Leni ganz spontan. »Du bist die Allerbeste, in jeder Hinsicht, und dein Kuchen und deine Kekse sind der Super-Knaller. Du hättest mal sehen sollen, wie Greetje und Ruud Schaapendonk zugeschlagen haben. Die haben von allem was in sich hineingeschaufelt.«
»Und die Kinder nicht?«
»Doch, entspann dich, Leni. Bart hat von allem probiert, die Kleine nur von den Keksen. Aber das bedeutet nichts, du weißt doch, in dem Alter fängt man an, auf seine Linie zu achten und hungert lieber als sich dem Genuss hinzugeben.«
»Töricht, die Eltern sind beide schlank, sieht man mal von seinem Bäuchlein ab. Aber das hat er bestimmt nur, weil er immerfort von seinem Eierlikör und seinen anderen Produkten probieren muss. Die haben Kalorien, das haut ordentlich rein. Das muss die Kleine jedoch nicht, ist ja auch viel zu jung dazu. Also wird sie schlank bleiben ohne hungern zu müssen. Das sollte man ihr mal sagen.«
»Nun, vielleicht hat sie aber die Gene von einer üppigen Großmutter geerbt«, lachte Bettina, ehe sie sich eilig auf den Weg machte, um nach Anneke zu sehen.
*
Nach der Besichtigung der Likörfabrik, der Produktionsstätte des Kräutergoldes und des einzigen freien Appartements im ehemaligen Gesindehaus waren die Schaapendonks wieder abgefahren. Ihr Zwischenstop hatte ihnen gefallen, und als Bonbon sozusagen war auch noch ein dicker Auftrag eines Konzerns hereingekommen mit einem ganz gehörigen Anteil an Eierlikör!
Das hatte sie so sehr beflügelt, dass sie überlegt hatten, auf der Rückreise nochmals vorbeizukommen. Die Kinder hatten allerdings protestiert, und Bettina wünschte sich insgeheim, dass Bart und Anneke sich durchsetzen würden.
Wenn nicht …
Dann sollte es ihr auch egal sein. Sie würde dann ohnehin nicht da sein, sondern mit ihrem Tom irgendwo flittern, an einem Ort, den er ihr nicht verraten wollte. Sie wusste nur eines, dass sie Badesachen und luftige Kleidung brauchen würde, da war es nicht schwer, sich da etwas zusammenzureimen. Und so träumte Bettina schon jetzt von einem Sternenhimmel, wie man ihn nur im Süden fand.
Sie und Tom …
Ihre erste Reise als Ehepaar …
Sie glaubte, vor lauter Glück zu zerspringen und war so sehr in Gedanken, dass sie nicht auf den Weg achtete und hingeschlagen wäre, wenn kräftige Arme sie nicht aufgehalten hätten.
»Von was träumst du, mein Herz?«, erkundigte er sich. »Es muss ja etwas Schönes sein, wenn du dabei alles um dich herum vergisst.«
Sie lehnte sich an ihn.
Verrückt!
Sie hatte intensiv an Thomas gedacht, und nun war er es gewesen, der sie vor einem Sturz bewahrt hatte.
»Ach, ich musste an unsere Flitterwochen denken, und da habe ich mich in Träumereien verloren … Tom, ich zerspringe fast vor Glück und kann es kaum erwarten. Und diesmal darf nichts dazwischenkommen. Niemand darf sterben wie die arme Christina, nichts darf abbrennen so wie das Standesamt. Jetzt darf es nur noch eitel Sonnenschein geben, keinen einzigen Zwischenfall mehr.«
»Ich fürchte …«, sagte er, »dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird.«
Sie wurde in seinen Armen stocksteif.
»Was willst du damit sagen?«, ächzte sie. »Es darf nichts mehr passieren.«
»Doch, und deswegen war ich auf dem Weg zu dir, um es dir sofort und persönlich zu sagen.«
Am liebsten hätte sie sich jetzt die Ohren zugehalten, um es nicht hören zu müssen.
Er sah, wie angespannt sie auf einmal war.
»Es ist nichts Schlimmes«, sagte er beruhigend. »Nur schade …«
Sie blickte zu ihm hoch.
Schade?
»Ich habe vorhin mit Nancy telefoniert. Sie kann leider nicht zu unserer Hochzeit kommen. Ihr wurde ein fantastisches Forschungsprojekt angetragen, auf das sie auch ganz scharf war. Es bedeutet allerdings, dass sie an dem Tag, an dem wir heiraten, schon auf einem Kahn irgendwo im Südchinesischen Meer sein muss.«
»Wie schade«, rief Bettina, die Nancy wirklich gern bei ihrer Hochzeit dabei gehabt hätte, auch wenn das manche Leute nicht verstehen konnten, weil Thomas einmal mit Nancy verheiratet gewesen war. Aber diese Leute kannten nicht die ganze Wahrheit, die wussten nicht, dass es keine Liebesheirat gewesen war, sondern eine reine Zweckverbindung unter guten Freunden, und all diese Leute wussten ebenfalls nicht, dass Nancy es gewesen war, die sie beschworen hatte, sich wieder mit Thomas auszusöhnen. Sie hatte ihr erzählt, dass Thomas und sie sich kurz nach der Eheschließung wieder getrennt hatten und eigene Wege gegangen waren, und dafür war sie extra aus Amerika angereist.
Auch wenn Nancy ihr gesagt hatte, dass sie, Bettina, immer nur die eine, die wahre Liebe von Thomas gewesen war, hatte es schließlich doch noch eine Weile gedauert, ehe sie ihren Widerstand aufgegeben hatte, auch deswegen, weil sie mittlerweile mit Jan van Dahlen liiert gewesen war.
Aber gegen die Liebe kann man nicht ankämpfen. Doch verrückt war es schon. Sie und Thomas waren das, was man ein Traumpaar schlechthin nannte, sie waren Seelenpartner, und dennoch hatte es so viele Widerstände auf ihrem Weg gegeben. Erst hatte ihre Mutter, die selbstherrliche Carla, ihre Liebe zerstört. Wenn Bettina an all die einsamen Jahre zurückdachte, an ihren Schmerz, weil sie sich von Tom verraten geglaubt hatte.
Nein, darüber wollte sie nicht mehr nachdenken!
Aber dennoch …
Warum hatte es denn danach nicht reibungslos verlaufen können? Warum hatte Christina von Orthen so unverhofft vor ihrer Hochzeit sterben müssen? Und warum hatte beim zweiten Versuch der Aktenkeller des Rathauses gebrannt und hatte auch das Standesamt in Mitleidenschaft gezogen?
Sie glaubte nicht, dass der liebe Gott, dass eine höhere Macht ihre Hochzeit verhindern wollte.
Warum aber geschah das alles?
Und nun auch Nancys Absage. Gut, die würde die Hochzeit zum Glück nicht verhindern. Aber bedauerlich war es schon, denn Bettina hatte sich sehr auf Nancy gefreut.
»Wir können Nancy allerdings sehen«, fuhr Thomas fort. »Sie hat einen Kurzaufenthalt in London, wo ihr eine große Ehre zuteil wird. Sie bekommt eine Urkunde, Medaille und ein recht beachtliches Preisgeld. Das allerdings ist für Nancy nicht das Wichtigste. Durch diese Ehrung ist dann ganz offiziell, dass Nancy zu den wichtigsten, anerkanntesten Meeresbiologen weltweit zählt. Sie hat es geschafft, ganz nach vorn an die Spitze zu kommen.«
»Das ist fantastisch«, rief Bettina, und sie freute sich ehrlich für Nancy. Dann fuhr sie im neckenden Tonfall fort: »Du hast einen Fehler gemacht, sie zu verlassen, eine Berühmtheit gegen ein unbedeutendes Landei einzutauschen.«
Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.
»Und wenn Nancy den Nobelpreis bekäme, würde mich das nicht tangieren, ich wollte niemals eine andere als dich. Du bist die Erfüllung all meiner Träume.«
Sie lehnte sich an ihn.
»Ach, Tom, du findest immer so wunderbare Worte, manchmal kann ich mein Glück noch immer nicht fassen, manchmal glaube ich zu träumen.«
»Träume sind immer gut«, sagte er galant, »an unserem Beispiel siehst du ja auch, dass man Träume leben kann.«
»Ja, Tom, unser Leben ist ein Traum …, doch zurück zu Nancy«, besann sie sich. »Wie soll ein Treffen mit ihr denn vonstatten gehen?«
»Nun, sie hat sich das folgendermaßen gedacht. Da gibt es zwei Optionen. Wir nehmen zusammen mit ihr an der ganzen offiziellen Geschichte, einschließlich des Galadinners teil oder wir machen den offiziellen Teil mit, und danach seilt Nancy sich ab, und wir verbringen ein paar schöne Stunden miteinander, die den Abend beinhalten, aber auch noch den nächsten Tag bis zum Mittagessen.«
»Hört sich gut an«, sagte Bettina, »aber so kurz vor der Hochzeit noch auf einen Sprung nach London?«
»Liebes, wo ist das Problem? England liegt nicht aus der Welt, es gibt täglich mehrere Verbindungen nach London, und für die Hochzeit sind alle Vorbereitungen doch längst getroffen. Alles ist perfekt geplant. Um dein Aussehen musst du dir keine Sorgen machen …, in deinem Kleid siehst du aus wie eine Märchenprinzessin, wie ein Wesen von einem anderen Stern.«
Das hätte er jetzt nicht sagen dürfen, sie hatte es tapfer verdrängt.
»Erinnere mich nicht daran«, rief sie entsetzt, »du hättest mich in dem Kleid nicht sehen dürfen, das war unmöglich.«
Wie schon damals, als er sie zufällig gesehen hatte, lachte Thomas belustigt auf, gab ihr einen zärtlichen Nasenstüber.
»Jetzt komm aber bitte nicht wieder mit diesem Aberglauben, dass es Unglück bringt, wenn der Bräutigam seine Braut vor der Hochzeit in Weiß sieht. Ich kann und will diesen Unsinn nicht hören …, ich bin auf jeden Fall froh, dass ich dich gesehen habe, unsere Leni würde jetzt sagen – Vorfreude ist die schönste Freude, dem kann ich nur beipflichten … Ich habe täglich dieses wundervolle Bild vor Augen und in meinem Herzen allemale … Also, genug davon. Was ist, besuchen wir ganz spontan die gute Nancy oder nicht? Sie wartet auf eine schnelle Nachricht, weil es da für sie auch noch einiges zu arrangieren gibt.«
Bettinas Gedanken begannen fieberhaft zu kreisen.
Was sollte sie tun?
Ganz einfach mal spontan sein?
Warum eigentlich nicht, außerdem würde sie Nancy wirklich gern treffen und sich auch noch mal bei ihr dafür bedanken, dass sie auf den Fahrenbach-Hof gekommen war, um sie und Tom wieder zusammenzubringen.
Nancy war jemand, den sie gern in ihrem Leben behalten wollte, und sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, sie sogar zur Patentante von einem ihrer Kinder zu machen.
Halt!
Stop!
Diese Entscheidung stand jetzt nicht an. Es ging um etwas ganz, ganz einfaches.
Ja oder Nein! Mehr musste sie für den Augenblick nicht sagen.
»Ja«, sagte sie aus diesen Gedanken heraus.
Mit einem so klaren, spontanen Ja hatte Thomas ganz offensichtlich nicht gerechnet.
»Das heißt, dass wir ganz einfach so nach London fliegen werden, um Nancy zu treffen? Ohne weitere Diskussionen?«
Sie begann zu kichern.
»Mein Gott, ich muss ja ganz furchtbar sein, Tom. Zerrede ich immer alles?«
»Nicht immer«, lachte nun auch er. »Aber manchmal schon, aber das haben die Fahrenbachs so an sich. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass auch dein Vater bei wichtigen Entscheidungen total spontan war, bei Nebensächlichkeiten oftmals das Für und Wider erörtern musste, und du bist halt eine Fahrenbach durch und durch.«
»Nicht mehr lange«, erinnerte sie ihn. »Dann bin ich eine Sibelius …«
»Richtig, aber im Herzen wirst du immer eine Fahrenbach bleiben, und das ist auch gut so … Ich freue mich auf jeden Fall über deine spontane Entscheidung und werde Nancy sofort kontaktieren … Was wollen wir machen, die ganze offizielle Nummer mitmachen, oder soll Nancy sich diskret zurückziehen, wenn man sie hinreichend gewürdigt hat?«
»Also, wenn schon, denn schon, einmal im Leben will ich auch das mal erlebt haben. Außerdem finde ich, ist es Nancys Tag, den soll sie von vorn bis hinten mitmachen und genießen.«
»Mein Herz, du kennst Nancy nicht. Aus so was macht sie sich nicht für fünf Cent was. Aber warum nicht, meinen dunklen Anzug kann ich auch mal wieder ausführen, und du siehst im kleinen Schwarzen hinreißend aus … Also, die volle Nummer.«
»Das ganze Programm«, bestätigte sie. »Weißt du was, Tom? Jetzt freue ich mich sogar darauf. Ist eine tolle Abwechslung, und wer weiß, wie das alles mit Nancy noch weiter geht. Vielleicht bekommt sie ja wirklich mal den Nobelpreis, und da können wir sagen, dass wir bei einer anderen wichtigen Preisverleihung dabei waren und Nancy gut kennen.«
Er umarmte sie.
»Bettina Fahrenbach, sehr bald Bettina Sibelius, manchmal bist du ein richtiger Kindskopf, und wenn du so redest, dann nimmt niemand dir ab, dass du eine gestandene Geschäftsfrau bist und die Erbin des traditionsreichen Fahrenbach-Hofs und der Likörfabrik Fahrenbach.«
Sie nickte.
»Dafür bekomme ich zwar keinen Nobelpreis, aber es ist auch was, die Tradition fortsetzen zu dürfen.«
Er wurde wieder ernst.
»Mein Liebling, das ist nicht was, sondern sehr, sehr viel und etwas ganz Besonderes. Es macht mich stolz und glücklich, dass ich bei der Erfüllung dieser Aufgabe der Mann an deiner Seite sein darf.«
»Danke, Tom«, sagte sie ernst, denn es war nicht selbstverständlich, dass ein Mann so dachte.
Mit Jan van Dahlen wäre es nicht so reibungslos gelaufen, der hatte sie geliebt, liebte sie vielleicht sogar noch immer.
Aber mit der Tradition hatte er es nicht so und sich selbst von seinen Wurzeln gelöst, um sein eigenes Ding zu machen.
Merkwürdig, dass sie jetzt in dem Zusammenhang an Jan denken musste, was sonst kaum noch der Fall war. Er war nicht mehr als eine angenehme Erinnerung.
Aber vermutlich war er ihr in den Sinn gekommen, weil er immer weiter seinen Job als freier Journalist gemacht und durch die Welt gereist wäre.
Wie wundervoll, dass sie sich um so etwas keine Gedanken mehr machen musste. Sie musste um ihren Tom nicht bangen wie damals um Jan, als er in die Hände der Taliban geraten war.
Mit Tom war es so herrlich einfach, weil nicht nur ihre Herzen im Gleichklang schlugen, sondern ihre Lebensplanung absolut identisch war.
Konnte es etwas Schöneres geben?
Nein, das konnte Bettina sich nicht vorstellen.
»Ich liebe dich«, sagte sie voller Inbrunst.
Darauf gab er ihr sofort eine Antwort, allerdings nicht durch Worte, sondern einen langen leidenschaftlichen Kuss, der mehr sagte als alle Worte der Welt.
*
Bettina war bei den Pferden gewesen und bog überglücklich um die Ecke. Es war einfach jedes Mal schön, die Tiere zu sehen, ihr Vertrauen zu spüren.
Sie hatte erst geglaubt, dass Filou eine Lücke hinterlassen würde, aber das war nicht der Fall. Vielleicht lag das daran, dass er nicht lange genug auf dem Hof gewesen war und mit ihm alles so unproblematisch verlaufen war.
Bondadosso, ihr Bondi, hatte das Vertrauen zu Menschen verloren gehabt, war von seiner Vorbesitzerin falsch behandelt worden, und er wäre auf dem Schlachthof gelandet, wenn Martin, der ihn als Tierarzt behandelt hatte, das nicht verhindert hätte.
Und Blacky und Mabelle hatten sie auch vor dem Schicksal bewahrt, als Sauerbraten im Topf zu landen. Die hatten Arno und sie auf dem Fohlenmarkt freigekauft, leider nur diese beiden.
Wie prachtvoll hatten sie sich entwickelt, Bettina hatte ihre helle Freude an ihnen, wenn sie sie über die Koppel galoppieren sah. Klar, es war im Vergleich zu den eleganten Bewegungen eines Filou ein unbeholfenes Gehoppel. Aber sie waren schließlich auch keine Dressurpferde. Sie waren jedoch charakterstark und als Freizeitpferde zum Ausreiten alle Male geeignet.
Und ihr Bondi, der war ein Superpferd mit hervorragenden Papieren, ein Pferd, das ihren Ansprüchen vollkommen genügte und mit dem man auf Turnieren auch ganz ordentlich Preise einheimsen konnte. Das wollte sie jedoch nicht.
Ja, es war gut so, wie es war. Bei Filou hätte sie immer ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er einfach zu schade dazu gewesen wäre, longiert und hier und da geritten zu werden. Sonja und Filou, das war das perfekte Paar.
Bettina überlegte gerade, ob sie noch bei den Dunkels vorbeigehen sollte oder direkt nach Hause, als lautes Gezetere sie innehalten ließ.
Ein Mann mittleren Alters rannte über den Hof, zog einen Koffer hinter sich her.
Eine junge Frau rannte ihm hinterher, versuchte ihn an der Jacke festzuhalten.
»Das kannst du nicht machen«, rief sie.
»Und ob ich das kann«, schrie er. »Lass mich los, wir zwei sind fertig miteinander. So was Verlogenes wie dich habe ich noch niemals zuvor kennen gelernt.«
»Warte, lass es dir erklären«, versuchte sie es.
»Da gibt es nichts mehr zu erklären, ich weiß, woran ich bin. Alles, was jetzt noch aus deinem Mund käme, wäre eine weitere Lüge. Und davon habe ich genug. Du bist hinterhältig und gemein. Und nun lass mich endlich los.«
Sie begann zu weinen.
»Dann nimm mich wenigstens mit … Was soll ich allein hier? Ich bin nur deinetwegen mitgekommen.«
»Und das bedaure ich auch. Du hast mir den Urlaub hier gründlich versaut … Aber du bleibst jetzt hier, bis du von meinen Anwälten hörst, verstanden? In mein Haus kommst du nicht mehr. Wage es bloß nicht, dort aufzutauchen … Ich lasse eh sofort die Schlösser entfernen. Und wenn du von mir noch was haben willst, dann wird das Spiel jetzt nach meinen Regeln gespielt, verstanden?«
Sie sagte etwas, aber davon fing Bettina nur noch Wortfetzen auf wie: »… liebe dich …, großer Fehler …«
Was war das denn gewesen?
Kopfschüttelnd ging sie weiter, aber jetzt wusste sie wohin.
Natürlich zu den Dunkels!
Sie musste Leni von diesem Erlebnis der besonderen Art erzählen, und vielleicht erfuhr sie ja, um wen es sich bei diesem Paar handelte, von dem zumindest der männliche Teil abreisen würde, das stand für Bettina fest.
So wie der Mann sich gebärdet hatte, war nicht damit zu rechen, dass es der jungen Frau gelingen würde, ihn bis zum Erreichen des Parkplatzes umzustimmen.
Was da wohl vorgefallen war?
Hatte sie ihn betrogen, und er war dahintergekommen?
Recht geschah ihm, dachte sie, warum hatte er sich nicht eine Frau passenden Alters gesucht?
Bettina stürmte ins Haus der Dunkels.
Leni saß an ihrer Nähmaschine, und Bettina erkannte Lindes Kleid, das sie bei ihrer Hochzeit anziehen wollte.
»Geht gerade noch«, sagte Leni, »weil da eine ordentliche Nahtzugabe war. Aber mehr zunehmen kann die gute Linde nicht mehr …, da muss sie sich dann was Neues kaufen.«
Das kommentierte Bettina nicht, sie hätte sonst gesagt, dass Linde in kürzester Zeit nicht mehr zunehmen würde, da die Hochzeit vor der Tür stand.
»Du glaubst nicht, was ich gerade erlebt habe«, sagte sie statt dessen. »Ein Mann mittleren Alters ist schimpfend mit seinem Koffer über den Hof Richtung Parkplatz gerannt, und eine junge Frau ihm hinterher. Sie hat verzweifelt versucht, ihn zurückzuhalten, allerdings mit wenig Erfolg.«
Leni, sonst für Neuigkeiten jeder Art zu haben, schien das nicht weiter zu berühren.
»Also hat er es doch wahr gemacht«, sagte sie, schnitt einen Faden ab, stellte die Maschine ab und schob das Kleid beiseite.
»Wie …, was …, du warst doch gar nicht draußen?«, stammelte Bettina.
»Musste ich auch nicht sein«, bemerkte Leni, »ich habe Akt eins und zwei des Dramas schon vorher mitbekommen. Und zudem hat Herr Lummerich mir vorher sein Herz ausgeschüttet … Ich bin froh, dass er es geschafft hat sie zu verlassen. Er ist ein feiner Kerl, und dieses Luder hat ihm übel mitgespielt. So was macht man einfach nicht.«
Bettina wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Normalerweise solidarisierte Leni sich immer mit den Frauen, das war jetzt genau das Gegenteil.
»Was ist passiert?«, wollte Bettina schließlich wissen.
»Lummerich hat einen mittleren Druckereibetrieb, er ist aber ansonsten von Hause aus recht vermögend. Sein sehnlichster Wunsch war ein Kind, am liebsten einen Sohn, zu bekommen.«
»Davon träumen wohl alle Männer«, bemerkte Bettina, aber dazu sagte Leni nichts.
»Weil seine Frau keine Kinder kriegen konnte, hat er sie verlassen.«
»Das macht ihn nicht sympathisch, so was tut ein Gentleman nicht.«
»Kannst du mal mit dem Dazwischenreden aufhören, Bettina?«, beschwerte Leni sich.
»Ja, ist ja schon gut, ich bin jetzt still.«
»Sie war nämlich froh darum, weil sie einen anderen kennengelernt hat, mit dem sie jetzt glücklich ist … Der Herr Lummerich hat dieses junge Ding geheiratet, die hat ihm was vom Pferd erzählt von wegen Kinderliebe, einen ganzen Stall voller Kinder haben zu wollen. Er ist voll darauf abgefahren. Nur, es hat sich nichts getan. Sie wurde nicht schwanger, obschon die Ärzte sowohl ihm als auch ihr bescheinigt haben, dass einem Kindersegen nichts im Wege steht. Diese künstliche Befruchtung, die meine Yvonne auch wie eine Verrückte versucht hat … Ich hab’ den Namen vergessen …«
»In vitro«, wandte Bettina ein.
»Ja, richtig … Nun, davon wollte sie nichts wissen, sondern sie hielt ihn hin … Hier nun ist die Bombe hochgegangen …«, Leni machte eine Pause, »du glaubst nicht, was er zufällig erfahren hat.«
»Dass sie gelogen hat, dass sie auch nicht schwanger werden kann.«
Wieder winkte Leni ab.
»Nö, nö, da hat sie nicht gelogen, sie könnte Kinder ohne Ende bekommen. Aber das will sie nicht. Sie findet Kinder grässlich und hat Angst, dass durch eine Schwangerschaft ihre Superfigur in Mitleidenschaft gezogen wird … Sie hat sich an den Guten nur herangemacht, weil er Kohle hat und ihr ein luxuriöses Leben bieten kann.«
»Und das hat sie ihm jetzt gestanden, und er ist deswegen ausgerastet«, sagte Bettina.
»Wieder falsch«, meinte Leni.
Sie sollte es nicht so spannend machen, dachte Bettina und erkundigte sich deswegen ein wenig ungeduldig: »Wie ist er also dahintergekommen?«
Leni grinste.
»Sie war blöd genug, die Anti-Babypille offen herumliegen zu lassen, und die hat er gefunden … Da konnte sie sich nicht herausreden, das Indiz war zu eindeutig … Natürlich hat sie alle Register gezogen, ihm versprochen, die Pille jetzt wegzulassen, und fast schien es, als wolle er umkippen. Aber wenn er jetzt abgereist ist, dann hat er sich wohl doch besonnen … Na ja, er wird mich anrufen, und dann erfahre ich den Rest.«
»Sie soll auf jeden Fall hierbleiben, bis er eine Entscheidung getroffen hat … Ehrlich, ich kann seine Wut verstehen. Es ist schon heftig, jemanden so zu hintergehen und ihm ein solches Theater vorzuspielen … Auf welche Ideen manche Frauen kommen. So was würde mir im Traum nicht einfallen.«
»Du heiratest deinen Thomas auch aus Liebe. Wer aus materiellen Erwägungen heraus eine Ehe eingeht, hat andere Ziele und die versucht er durchzusetzen. Und ich finde, wenn ein großer Altersunterschied zwischen den Partnern besteht, muss man sich schon die Frage stellen, ob da Berechnung oder Liebe im Spiel ist, wenngleich …, wir haben hier auch schon andere Fälle erlebt, wo die ungleichen Partner sich wirklich geliebt haben, und unsere Inge mit ihrem jungen Ami, die sind auch nur aus Liebe zusammen … Hoffentlich geht das gut mit denen, ich würde es Inge wünschen, sie hat schon genug Krempel hinter sich.«
»Ich glaube schon, dass es gut gehen wird, sie gehen sehr nett miteinander um, und eines ist ihm gelungen und gelingt ihm immer wieder – er kann sie zum Lachen bringen, und sie können gemeinsam lachen.«
»Das ist wahr«, wandte Leni ein, »das ist schon die halbe Miete, aber schöner wäre es schon, sie bliebe hier und würde nicht mit ihm nach Amerika gehen … Ich weiß nicht, ob es richtig ist, alle Zelte abzubrechen, schon die Marlene Dietrich hat gesungen – ich hab’ noch einen Koffer in Berlin … Sie könnte für alle Fälle einen hier in Fahrenbach lassen, wenn ich an ihrer Stelle wäre.«
»Das findet er aber nicht so prickelnd, weil er darin ein Zeichen mangelnden Vertrauens sieht, und irgendwie kann ich das verstehen.«
»Mal andersherum, Bettina. Könntest du einfach so gehen? Angenommen mal, nicht Thomas hätte seine Zelte abgebrochen und wäre hierher zu uns gekommen, sondern er wäre in New York geblieben, und du hättest mit ihm nach Amerika gehen müssen. Wäre das so einfach gegangen?«
Bettina wurde bei einem solchen Gedanken abwechselnd heiß und kalt.
Hätte sie es gekonnt?
Einfach zu gehen?
Bettina wusste darauf keine Antwort, und sie wollte sich da auch nicht hinein vertiefen, weil sie tief in ihrem Inneren wusste, dass sie Fahrenbach, den Fahrenbach-Hof niemals verlassen hätte.
»Ich muss dazu nichts sagen«, wich sie aus, »Tom ist hier, und hier werden wir leben …, bis das der Tod uns scheidet …«
Sie begann zu frösteln, spürte in sich ein Gefühl tiefster Beklemmung, dabei war ihr doch nichts anderes in den Sinn gekommen als genau das, was glücklich liebende Paare nur trennen konnte, nämlich der Tod.
Warum fühlte sie sich immer so unbehaglich, wenn ihr das in den Sinn kam?
Sie wusste darauf keine Antwort.
»Und damit hat es Zeit«, entgegnete Leni, »ihr beide seid jung und gesund … Außerdem habt ihr es verdient, viele Jahre glücklich miteinander zu sein, nach allem, was ihr schon hinter euch habt.«
Bettina atmete erleichtert auf, Leni hatte recht. Wenn jemand ein Glück ohne Ende verdient hatte, dann sie und ihr Tom.
Draußen wurde geklingelt, dann die Tür geöffnet, jemand kam herein, das konnte nur ein Mensch sein, der sich hier auskannte, priviligiert war, einfach hereinkommen zu dürfen.
Vermutlich jemand vom Hof.
»Bestimmt Babette«, vermutete Leni, »die ist im Augenblick ziemlich vergesslich und hat Maries Lieblingsteddy hier liegen lassen, und jetzt schreit das Kleinchen und will ohne den Teddy nicht schlafen.«
Sie hatte sich geirrt, es war nicht Babette, sondern Lenis Tochter Yvonne.
Yvonne sah gut aus, sie trug ein hübsches Kleid mit einem weitschwingenden Rock. Der sanfte Cremeton machte es sehr edel, und die kleinen Blümchen in abgestuften hellen Brauntönen sehr weiblich. Außerdem hatte Yvonne sich eine neue Frisur zugelegt, das kinnlange glatte Haar stand ihr sehr gut.
Bettina und Leni hätten beinahe vergessen, Yvonnes freundlichen Gruß zu erwidern. Und das lag nicht daran, weil sie ausnehmend hübsch aussah, sondern weil sie allein gekommen war und nicht die kleine Bettina im Schlepp hatte wie sonst, seit die Kleine bei ihr und Markus war.
»Ist Bettinchen krank?«, erkundigte Leni sich deswegen auch sofort.
Irritiert blickte Yvonne ihre Mutter an.
»Nein, wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sie sich.
»Na ja, weil du ohne sie hergekommen bist. Das habe ich bisher noch niemals zuvor erlebt.«
Yvonne wurde rot.
Sie wusste vor lauter Verlegenheit nicht, was sie dazu sagen sollte, weil es nämlich stimmte und sie deswegen auch ein bisschen betroffen machte.
»Ich …, äh …«, begann sie zu stammeln, aber Leni half ihr aus der Verlegenheit.
»Willst du dich nicht setzen? Kann ich dir was anbieten?«, wollte sie wissen.
Yvonne schüttelte den Kopf, aber immerhin setzte sie sich.
Bettina wollte aufstehen, die beiden Frauen allein lassen, auch wenn das Verhältnis zwischen Leni und Yvonne noch immer ein bisschen unterkühlt war, hoffte sie, dass jedes Beisammensein die beiden einander näherbringen konnte. Und daher konnte bei solchen Begegnungen ein Dritter nur stören.
Leni sah das wohl anders.
»Kannst ruhig bleiben«, forderte sie Bettina auf, »so oft trefft ihr ja nun auch nicht zusammen.« Und das stimmte auch. Seit die kleine Bettina in ihrem Leben war, hatten Yvonne und Markus sich ziemlich abgekapselt.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen, bis es schließlich Yvonne war, die es brach.
»Markus hat eine Einladung zur Hochzeit eines alten Studienfreundes bekommen, zu dem er noch immer engen Kontakt hat, auch wenn sie sich nicht mehr oft sehen … Er möchte auf jeden Fall zu dieser Hochzeit fahren, und ich …, ich möchte ihn begleiten.«
Bettina und Leni glaubten, sich verhört zu haben.
Yvonne wollte mit ihrem Mann verreisen?
»Und Bettinchen?«, rief Leni, die sich nur schlecht vorstellen konnte, dass Yvonne die Kleine zu einem solchen Fest mitnehmen würde. Die war ja so achtsam mit dem Kind, beinahe ängstlich, dass sie schon fürchtete, das Brummen eines Insekts könnte die Kleine stören. Ein lautes, fröhliches Hochzeitsfest …, unvorstellbar!
»Deswegen bin ich hier … Ich wollte fragen, ob Arno und du …, ob ihr die Kleine vielleicht für zwei Tage nehmen könnt.«
Nach diesen Worten war es so still, dass man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können.
Bettina starrte zu Yvonne.
Leni tat es mit weit aufgerissenen Augen ebenfalls.
Was hatte Yvonne da gesagt?
Bislang war es so gewesen, dass Leni, eigentlich jeder, um Audienz hatten bitten müssen, wenn sie die Kleine hatten sehen wollen.
Und nun wollte Yvonne sie für zwei Tage hergeben?
Ein Bombeneinschlag hätte nicht erschütternder sein können, es hatte Bettina und Leni ganz einfach die Sprache verschlagen.
Yvonne interpretierte das Schweigen der beiden Frauen allerdings vollkommen anders.
»Wenn es …, wenn es zu viel wird …, ich kann es verstehen«, sagte sie aus ihren Gedanken heraus.
Jetzt erwachte Leni aus ihrer Erstarrung.
»Zu viel? Bist du verrückt? Ich kann es kaum glauben, natürlich nehme ich Bettinchen … Sie hat doch die erste Zeit ihres Lebens auch bei Arno und mir verbracht, nachdem Veronika die Kleine der Bettina vor die Tür gelegt hatte … Aber sag mal, Yvonne, wie kommt es, dass du die Kleine auf einmal anderen Leuten überlassen willst?«
Wieder wurde Yvonne rot.
»Du bist nicht andere Leute …, du bist meine Mutter, und ich weiß, dass du die Kleine wie deinen Augapfel hüten wirst … Ich habe mir das zu Herzen genommen, was Linde mir mehr als einmal an den Kopf geknallt hat und was du«, sie wandte sich an Bettina, »mir auch gesagt hast … Ich darf mich nicht nur auf die Kleine fixieren, sondern ich soll auch daran denken, dass es in meinem Leben einen Ehemann gibt. Markus ist sehr großzügig, und er hat sehr, sehr viel Geduld mit mir, aber ich darf die nicht übermäßig strapazieren … Ich hab’ ja gesehen, wie sehr er sich gefreut hat, als ich ja sagte …, und es stimmt auch, dass ich Bettina nicht nur auf mich fixieren darf. Das ist egoistisch, damit tue ich ihr keinen Gefallen. Es gab da vorgestern so ein Schlüsselerlebnis … Linde und ich waren mit den Kleinen zum Kinderturnen, und während Amalia und Frederic munter alles mitmachten, andere Kinder schubsten, sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließen, klebte Bettina an mir und fing an zu brüllen, wenn ich auch nur einen Schritt von ihrer Seite wich … Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Alles, was ich während meiner Tätigkeit als Kinderärztin den überbesorgten Müttern gepredigt habe, habe auch ich falsch gemacht.«
»Einsicht ist der Weg zur Besserung«, sagte Bettina, »ich freue mich wirklich sehr, dass du endlich einsichtig geworden bist. Und ich freue mich, dass du wieder was mit Markus unternehmen willst.«
Leni sagte noch immer nichts.
Ihr rollten Tränen über das Gesicht.
»Leni, warum weinst du denn?«, erkundigte Bettina sich alarmiert.
Es dauerte eine Weile, bis Leni etwas sagen konnte.
»Weil ich mein Glück noch immer nicht fassen kann … Ich darf Bettinchen für zwei Tage … Sie darf … Oh, mein Gott …«, wieder brach sie ab. Sie war emotional vollkommen erschüttert.
Bettina sprang auf, ging um den Tisch herum und nahm die so sichtlich bewegte Leni in die Arme, etwas, was eigentlich Yvonne hätte tun müssen, aber die saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Nun, auch wenn Leni ihre leibliche Mutter war, waren die Bindungen an ihre verstorbenen Adoptiveltern einfach noch enger. Aber im Laufe der Zeit würde sie sich besinnen, ein erster Schritt in die richtige Richtung war getan – sie wollte ihrer leiblichen Mutter ihren Augapfel, die kleine Bettina, anvertrauen, und das war schon ungeheuer viel.
Leni beruhigte sich nach einer Weile wieder, was Bettina zum Anlass nahm, zu gehen.
*
Bettina hatte sich gerade einen Stapel Bücher gekauft, die sie zwar in der nächsten Zeit ganz bestimmt nicht lesen würde, aber irgendwann würde sie es bestimmt tun. Sie hatte dem netten Herrn Arnold, ihrem Buchhändler, einfach nicht absagen können, der eifrig das für sie gesammelt hatte, wovon er glaubte, es könne sie interessieren.
Und das war auch der Fall gewesen. Er kannte ihren Buchgeschmack so genau, dass sie gerade mal ein einziges Buch aussortiert hatte, von dem sie wusste, dass das Thema sie nicht interessieren würde. Alles andere war perfekt, und sie freute sich schon auf kuschelige Herbst- und Wintertage, die sie mit ihrem Tom, gemütlich lesend, in ihrer Bibliothek verbringen würde.
Welch ein Glück, dass auch Tom gern las, dass auch er Abende vor dem Kamin liebte.
Natürlich hatte sie nicht nur für sich Bücher gekauft, sondern auch für Thomas und natürlich Amalia und Frederic, die schließlich ihre Patenkinder waren. Und die kleine Marie durfte auch nicht benachteiligt werden.
Es gab aber auch zu schöne Bilderbücher für die Kleinen, da konnte man ganz einfach nicht widerstehen.
Bettina freute sich jetzt schon darauf, für ihre eigenen Kinder Bücher zu kaufen, denn dass sie, umgeben von vielen Büchern, aufwachsen würden, das stand jetzt schon fest.
Eigentlich hatte sie Lindes Kindern die Bücher erst am Abend mitnehmen wollen, weil sie dann zusammen mit Tom eh im Gasthof sein würde. Aber da würde sie die Freude der Kleinen nicht miterleben, wie die jauchzend auf den dicken bunten Büchern herumpatschen würden, weil sie dann schliefen.
Kurz entschlossen bog sie auf den Marktplatz ein, parkte direkt vor dem Gasthof, nahm die Tüte mit den Bilderbüchern in die Hand und stieg aus dem Auto.
Linde hatte ihre Ankunft bemerkt und kam ihr bereits entgegen.
»Und …, was gibst du mir dafür?«, erkundigte sie sich ohne jede Begrüßung.
Irritiert blickte Bettina ihre Freundin an.
»Wofür? Was meinst du?«
»Na, Yvonne …«, in Lindes Stimme klang leichte Ungeduld, weil Bettina so schwer von Begriff war.
»Was ist mit Yvonne?«
»Nichts, ich mein, dass sie der Leni die Kleine für zwei Tage überlassen will, das ist doch mehr, als beim Papst eine Audienz zu bekommen.«
Ach, das meinte Linde.
»Ja, es hat mich auch erstaunt, aber es freut mich ungemein für Leni.«
»Mich auch, die Gute ist noch immer vollkommen durcheinander, weil sie ihr Glück nicht fassen kann. Aber das Yvonne so sehr über ihren Schatten gesprungen war, das freut mich ebenfalls sehr.«
»Nun, dahin hast du sie schließlich gedrängt.«
Linde nickte.
»Und darauf bin ich stolz. Ich bin glücklich darüber, dass es bei ihr endlich klick gemacht hat. So wäre es auch nicht weiter gegangen. Du hättest mal sehen sollen, was für ein Theater die kleine Bettina gemacht hat, als Yvonne sich ein paar Zentimeter von ihr entfernte … Sie hat wie am Spieß geschrien.«
»Das hat Yvonne uns erzählt.«
»Nein«, rief Linde, »das glaube ich nicht. Was ist da geschehen? Jemand muss ihr vom Wasser der Erkenntnis was in den Kaffee geschüttet haben.«
»Nein, es war kein Hokuspokus, Yvonne ist schließlich nicht blöd, sie hat selbst die Reißleine gezogen, aber lass uns nun nicht mehr länger darüber reden. Hoffentlich hält es an. Wo sind denn meine beiden kleinen Lieblinge? Ich habe ihnen neue Bücher mitgebracht.«
»Na klar, sie haben ja auch noch keine«, bemerkte Linde lachend, »ich muss bald ein neues Bücherregal kaufen, wenn das so weitergeht. Du hast Pech, Cilly Herzog hat sie abgeholt und geht mit ihnen spazieren. Wer weiß, vielleicht hat sie ja demnächst auch mal eine Chance, mit der kleinen Bettina wenigstens mal spazieren gehen zu dürfen. Schließlich ist sie Markus’ Tante.«
Bettina hatte überhaupt nicht richtig zugehört. Sie war so enttäuscht, die Kleinen nicht sehen, sich an ihrer Freude nicht ergötzen zu können.
»Nun mach’ nicht so ein Gesicht«, sagte Linde. »Ich find’ es gut, dass sie nicht da sind, da kann ich mich wenigstens ungestört mit dir unterhalten. Es gibt nämlich Neuigkeiten … Setzen wir uns an den Stammtisch? Draußen auf der Terrasse ist es im Moment zu laut und zu voll … Was willst du denn trinken?«
»Ein Wasser«, antwortete Bettina, und während Linde zur Theke ging, um Getränke zu holen, setzte Bettina sich an den Stammtisch auf ihren Platz.
Wenig später war Linde wieder da, sie hatte auch für sich nur ein Wasser mitgebracht, dafür hielt sie allerdings in der anderen Hand einen dicken Umschlag.
»Angebote eines Maklers«, sagte sie, »Traumhäuser sag ich dir, die allerdings für meine Bedürfnisse nicht unbedingt in Frage kommen, aber eines ist dabei, das könnte mir schon gefallen, und dazu möchte ich gern deine Meinung hören.«
Bettina schluckte.
Seit sie wusste, dass Linde sich mit den Kindern für ein paar Jahre nach Portugal zurückziehen wollte, hatte sie tapfer alle Gedanken daran unterdrückt. Nun wurde sie mit aller Macht mit dieser Tatsache konfrontiert, und das legte sich ihr ganz schön auf’s Gemüt, so sehr, dass sie sich die Angebote am liebsten überhaupt nicht angesehen hätte. Aber das ging natürlich auch nicht.
Linde holte aus dem Umschlag einen Packen Exposés hervor, legte einige davon achtlos beiseite, dann schob sie Bettina ein Exposé über den Tisch.
Die trank erst mal umständlich ein wenig von ihrem Wasser, schob langsam das Glas beiseite, ehe sie mit spitzen Fingern nach den zwei zusammengehefteten Blättern griff.
»Das ist ja ein Reihenhaus mitten in einer Stadt«, sagte sie nach flüchtigem Betrachten.
»Ja«, antwortete Linde, »das ist in Evora, der Hauptstadt vom Alentejo, von der Unesco zum Weltkulturgut erklärt.«
»Da warst du mit Martin, ich kann mich an eine Ansichtskarte mit ähnlichen Häusern und einem ähnlichen Brunnen erinnern … Willst du deswegen dorthin?«
Linde winkte ab.
»Ich hab’ mich überhaupt noch nicht entschieden, das Haus gefällt mir ganz einfach, und ebenso finde ich den Gedanken gut, dort vielleicht hinzugehen. Evora ist ungefähr hundertfünfzig Kilometer von Lissabon entfernt und ungefähr hundert Kilometer von der Granze Caia, also ziemlich zentral gelegen. Es ist dort wunderschön, es gibt viele Paläste, Kirchen und Klöster und eine ungeheure Vielfalt von Stilen, Romanisch, Gotisch, Renaissance, Barock … In 1559 gründete Prinz Kardinal Heinrich die Universität Espirito Santo, die Jahrhunderte lang den Jesuiten unterstand, aber seit 1979 eine moderne, staatliche Bildungsanstalt ist. Der römische Tempel mit seinen korintischen Säulen aus dem zweiten, dritten Jahrhundert nach Christus ist …«
Bettina unterbrach ihre Freundin.
»Stop, Linde, ich habe keine Reise dorthin geplant, und du musst es mir nicht schönreden. Ich bin jetzt ein bisschen irritiert. Du wolltest doch eigentlich immer an die Küste oder immerhin in die Nähe des Wassers. Dieses Haus sieht schön aus und sehr freundlich mit seinen doppelflügeligen Fenstern, den schmiedeeisernen Ballustraden und den bemalten Kacheln und das Weiß und sanfte Gelb des Anstrichs machen einen einladenden Eindruck. Aber das Haus ist nicht so breit und hat drei Stockwerke … Deine Kinder sind klein, denkst du auch an die vielen Stufen? Ein Fahrstuhl wird da bestimmt nicht eingebaut sein.«
Bettina schob die Blätter beiseite, ohne alles durchgelesen zu haben.
Sie griff wieder nach ihrem Glas, diesmal so hastig, dass sie etwas von dem Wasser verschüttete. Rasch zog sie ein Papiertaschentuch aus der Tasche ihrer Jeans und tupfte die Tropfen weg.
»Was ist los, Bettina«, erkundigte Linde sich, »was ist dein Problem? Dass ich mit den Kindern nach Portugal gehen will, um mir eine Auszeit zu nehmen?«
Mit diesen Worten hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Bettina widersprach überhaupt nicht.
»Das ist vermutlich ein Problem, aber ich finde, ganz ehrlich, ein solches Haus eher geeignet für ein Paar, oder eine Familie mit größeren Kindern, nicht für eine alleinstehende junge Frau mit zwei kleinen Dötzen.«
»Die Kinder werden größer«, entgegnete Linde, »und hier habe ich sie auch eine Treppe hochzuschleppen … Ich könnte es so einrichten, dass ich auch dort nicht höher steigen müsste.«
»Und die Etagen darüber?«, erkundigte Bettina sich.
»Das könnten meine Gästezimmer werden«, lachte Linde. »Ich würde zum Beispiel eine Etage ganz für dich allein und deinen Thomas reservieren.«
Bettina sagte nichts dazu, deswegen ergriff Linde nach einer Weile wieder das Wort.
»Weißt du, Bettina, es wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Ich mag nicht daran denken, wie es ohne dich, meine anderen Freunde, ohne Fahrenbach und all seine Bewohner sein wird, die mich von Kindesbeinen an kennen. Ich werde auch meine Arbeit im Gasthof vermissen, aber wenn ich gehen will, dann jetzt. Später, wenn die Kinder erst einmal in der Schule sein werden, geht es nicht mehr, allenfalls in den Ferien, und danach, wenn sie das Haus verlassen, um zu studieren, eine Ausbildung anzufangen, dann bin ich in einem Alter, in dem man nicht mehr abenteuerlustig ist, da will man seine Ruhe haben.«
»Deine Eltern sind im Alter auf die Kanaren gegangen, nachdem du den Gasthof übernommen hast, und dort gefällt es ihnen so gut, dass sie nicht einmal besuchsweise zurückkommen wollen. Und du, meine Liebe, du bist ein so aktiver Typ, da kann ich mir vorstellen, dass du noch mit achtzig zu einer Rundreise durch Alaska aufbrechen würdest.«
Linde stand auf, holte eine neue Runde Wasser.
»Kann alles sein, aber Portugal ist für mich auch wichtig, dass ich Martin nahe sein kann. Er ist zu plötzlich und unerwartet verstorben, und wir waren in Portugal einfach zu glücklich. Ich glaube, dort kann mein Herz zur Ruhe kommen … Martin und ich hatten den Traum, unseren Lebensabend dort zu verbringen. Von diesem Gedanken habe ich mich verabschiedet, ohne ihn möchte ich, wenn ich alt bin, nicht in Portugal, in überhaupt keinem anderen Land sein, dann möchte ich in Fahrenbach leben, da kenne ich mich aus und kann auch noch, selbst wenn ich nicht mehr so gut zu Fuß sein werde, ein Stückchen um den See laufen und seine unvergleichliche Schönheit genießen… Ich werde nur ein Haus mieten, und dieses Stadthaus ist ein Mietobjekt und hat einen angemessenen Preis. Aber, wie gesagt, ich werde es mir ansehen und weitere andere Häuser auch, um ein Gefühl zu bekommen, wo ich leben möchte. Ich war mit Martin überall, und es hat uns überall gut gefallen, und an all den Orten hängen diese wundervollen Erinnerungen …«, ihre Stimme hatte einen verträumten Klang angenommen, sie war für einen Augenblick überwältigt von dem, was sie mit Martin erlebt hatte.
Bettina sagte deswegen nichts, erst nach einer ganzen Weile begann sie zu reden: »Du sprichst so, als wolltest du dein Leben lang allein bleiben. Du bist eine attraktive Frau, und es wird ganz bestimmt irgendwann einen Mann an deiner Seite geben.«
Linde nickte.
»Kann sein, aber ich glaube, das war es für mich. Manchen Frauen ist nur ein einziges großes Glück im Leben beschieden, und zu diesen Frauen scheine ich zu gehören, denn deswegen hatte Christian auch keine wirkliche Chance. Tief in meinem Inneren habe ich ihn immer mit meinem Martin verglichen, und gegen den hat einfach niemand eine Chance.«
»So denkst du im Augenblick, aber Leben verändert sich ständig, Ansichten und Einsichten tun es auch. Und was heute wichtig und richtig für dich ist, ist morgen schon Schnee von gestern. Martin wird niemand ersetzen, aber einen Platz neben ihm wird irgendwann ganz bestimmt ein anderer Mann einnehmen. Mein Bruder Christian ist halt zu früh in dein Leben getreten, da war die Zeit noch nicht reif. Und du kennst doch den Satz – die Dinge geschehen, wenn die Zeit reif ist.«
Linde winkte ab.
»Du weißt, was ich von solchen Sprüchen halte …, nichts. Jetzt mal andersrum gefragt, angenommen einmal, Thomas würde ein Schicksal wie Martin erleiden, irgendein wahnsinniger Geisterfahrer würde in selbstmörderischer Absicht in ihn hineinrasen, oder bei einem Gewitter würde der Blitz in ihn einschlagen, bei einem Sturm ein Baum auf ihn fallen oder er würde an einer unheilbaren Krankheit sterben … Egal, was auch immer … Kannst du dir das Leben an der Seite eines anderen Mannes vorstellen?«
Für einen Augenblick hatte Bettina sich die Ohren zugehalten.
»Sag so was nicht«, rief sie mit bebender Stimme, »ich will das nicht hören.«
»Mein Gott, Bettina, reg dich ab. Es ist rein hypothetisch gesprochen, es kann immer was passieren.«
Bettina wollte daran aber nicht denken.
»Bei dir hat es Anzeichen für ein Unglück gegeben«, sagte sie, »der schwarze Vogel, der sich bei deiner Hochzeit auf dich stürzte, die Roma, die dir nicht aus der Hand lesen wollte und …«
»Hör auf damit, Bettina, ob Anzeichen oder keine, in jedem Leben kann unvorhergesehen etwas passieren, auch wenn vorher alles Friede, Freude, Eierkuchen war, auch wenn es keine schwarzen Vögel gab …, und du musst dich jetzt auch in nichts hineinsteigern. Es ist nichts passiert, und aller Wahrscheinlichkeit wird es das auch nicht. Es geht doch jetzt nur darum, ob du dir vorstellen kannst, nach Thomas noch einen Mann zu lieben.«
Bettina schüttelte den Kopf.
»Nein, das kann ich nicht«, sie beruhigte sich allmählich wieder. Sie hatte wirklich geradezu hysterisch reagiert. »Und du hast recht, nach einer großen Liebe ist es nicht einfach, sich einem anderen Mann zuzuwenden.« Sie hatte sagen wollen, Ersatz zu finden, aber das hatte sie gelassen, denn das war töricht. In emotionaler Hinsicht war niemand zu ersetzen, wie in einem Schachspiel, wo man an die Stelle eines Turms ein Pferd setzte oder beliebig andere Steine austauschte.
Vreni kam an den Tisch, die Kellnerin, die zusammen mit ihrem Mann während Lindes Abwesenheit die Chefrolle im Gasthof übernehmen sollte.
»Entschuldigung, Frau Gruber. Das Busunternehmen Schmitz will eine Änderung vornehmen, zum Frühstück wollen sie morgen mit sechzig Leuten kommen, mittags sollen es dann hundertzwanzig Personen sein, also vierzig mehr. Schaffen wir das noch? Der Herr Schmitz wartet auf den Rückruf. Ich hab’ schon mal mit der Küche gesprochen, aber die sind reinweg hysterisch geworden und haben gesagt, dass es nicht geht.«
Lachend erhob Linde sich.
»Tut mir leid, Bettina, dass ich unseren Plausch abbrechen muss. Ich muss mit den Jungens in der Küche mal Tacheles reden, die nehmen sich immer zu wichtig, dabei schaffen sie es hinterher doch, wenn man ihnen wie einem kranken Pferd gut zuredet und sie und ihre Fähigkeiten lobt.«
»Das kann die Frau Gruber wirklich«, sagte Vreni voller Bewunderung, »sie dahin zu bringen, dass sie ihr aus der Hand fressen. Aber sie ist halt die Chefin, während ich nur eine Bedienung bin, also ihresgleichen, nein, was rede ich da, eine Bedienung ist auf jeden Fall weniger als ein Koch, die rennt sich ja bloß die Hacken ab und hat abends lahme Arme, während Köche zu den Kreativen zählen.«
Linde klopfte ihrer besten Kraft auf die Schulter.
»Nicht mehr lange, Vreni, da werden Sie dir auch aus der Hand fressen, nämlich dann, wenn sich das Blatt gewendet hat und du die Chefin sein wirst.«
Vreni nickte.
»Auf der einen Seite freue ich mich darauf, auf der anderen habe ich aber auch einen ganz gehörigen Bammel davor.«
»Sie schaffen das schon«, meinte Bettina, dann umarmte sie ihre Freundin. »Wir sehen uns dann heute Abend«, sagte sie, ehe sie den Gasthof verließ.
Lindes letzte Worte verfolgten sie so sehr, dass sie wusste, dass sie ihren Seelenfrieden erst nach einem kleinen Abstecher in der Kapelle wiederfinden würde.
Sie musste unbedingt ein paar Kerzen anzünden und darum bitten, dass ein solches Unglück, wie es Martin widerfahren war, oder etwas Ähnliches ihr und Thomas niemals widerfahren würde.
Ein paar Kerzen?
Nein, sie würde ein ganzes Meer von Kerzen anzünden als Symbol dafür, dass ihr Weg mit Thomas immer voller Licht sein möge.
Allmählich beruhigte sie sich, und als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz unterhalb der Kapelle abstellte, war sie wieder ganz ruhig.
Sie eilte den Hügel hinauf, entlang an dem gurgelnden Bach, warf oben einen Blick auf die verschwenderisch blühenden Hortensienbüsche, ehe sie das schwere Eichenportal aufstieß und in die Kapelle ging, die Fahrenbach-Kapelle, denn einer ihrer Vorfahren hatte sie erbaut, zum Wohle seiner Familie und zum Wohle aller Fahrenbacher.
Zum Glück war niemand da, aber es waren Menschen hier gewesen, um zu beten, still zu verweilen. Es brannten mehrere Kerzen. Als Bettina in das Fach griff, fand sie nur noch fünf Kerzen. Aber das machte nichts. Sie alle anzünden zu wollen, war vielleicht ein wenig übertrieben gewesen, denn wenn Nachschub da war, da lagen mindestens fünfzig Kerzen im Fach.
Bettina beschloss, gleich Arno Bescheid zu sagen, der stets dafür sorgte, dass immer genügend Kerzen da waren. Früher hatten die Dorfbewohner hier und da Kerzen mitgebracht, aber nun kamen immer mehr Fremde, und die Idee eines Feriengastes, eine Spendenbox anzubringen, hatte sich in jeder Hinsicht bezahlt gemacht. Die Kerzen wurden nun von diesem Geld gekauft, aber die Leute trauten sich jetzt auch Kerzen anzuzünden, was vorher nicht der Fall gewesen war, da hatten sie ein Problem damit gehabt, einfach eine Kerze wegzunehmen.
Dann nahm sie die letzten Kerzen in die Hand, steckte sie auf den extra dafür vorgesehenen Metallkasten und zündete sie an. Danach setzte sie sich auf die Bank in der ersten Reihe und schloß die Augen.
Lieber Gott, betete sie, bitte lass Thomas und mich ein langes, langes Leben glücklich sein.
Frieden breitete sich in ihr aus, und auch das letzte Zipfelchen Angst verflog.
Sie schaute in die ruhig abbrennenden Flammen und verlor sich in Träume, in Träume, die in wenigen Tagen Realiät sein würden, wenn sie und ihr Tom gemeinsam vor dem schlichten Altar stehen würden, um den Segen für ein glückliches Zusammenleben als Mann und Frau zu bekommen.
Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, und nun würde es endlich so weit sein.
Als Vermählte grüßen Thomas Sibelius und Bettina Sibelius, geborene Fahrenbach, stand auf den Büttenkarten in edlem Stahlstich.
Tränen des Glücks rollten über ihr Gesicht, aber die hielt sie nicht auf.
*
Es war mitten in der Nacht, als Bettina das Klingeln des Telefons hörte.
Früher hatte sie es, um nur ja keinen Anruf zu verpassen, mit ans Bett genommen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Sie musste auf nichts mehr warten, denn sie hatte das Glück stets an ihrer Seite.
Dass sie das Klingeln jetzt gehört hatte, war reiner Zufall.
Wer mochte um diese Zeit anrufen?
War etwas passiert?
Thomas schlief tief und fest, sie beeilte sich, aus dem Bett zu kommen, dann eilte sie aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter.
Der Anrufer war sehr beharrlich. Es dauerte eine Weile, ehe sie unten war, ein anderer hätte schon längst aufgelegt und es am nächsten Morgen erneut versucht.
Sie griff zum Telefon und meldete sich.
Es war ihre Schwester Grit.
»Na endlich …«, sagte sie, »hat ja Ewigkeiten gedauert, bis du ans Telefon gegangen bist.«
Schon nach den ersten beiden Worten hatte Bettina erkannt, dass sie getrunken hatte, und das nicht zu knapp.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, erkundigte sie sich.
Darauf antwortete Grit nicht.
»Ich bin so unglücklich«, lallte sie, »Robertino ist weg.«
Sei doch froh, hätte Bettina am liebsten gesagt, doch das sprach sie lieber nicht aus, sie wusste aus der Vergangenheit, wie ihre Schwester reagieren konnte, nämlich durch abruptes wütendes Auflegen des Telefonhörers. Und danach war dann wochenlanges Schweigen angesagt. Das wollte Bettina einfach nicht riskieren. Seit Grit wieder mit diesem italienischen Saucenkellner zusammen war, war das Verhältnis zwischen ihnen wieder merklich abgekühlt, dass sie sich ganz verlieren würden, wollte sie nicht riskieren.
»Wie weg?«, erkundigte sie sich deswegen nur.
Grit begann unkontrolliert zu weinen, was Bettina ein wenig an das Geheule eines Koyoten erinnerte.
»Er hat … ein paar Sachen gepackt und ist in … ein Hotel gezogen«, schluchzte sie schließlich.
Natürlich in ein Luxushotel, dachte Bettina, und er würde frech die Rechnung mit einer von Grits Kreditkarten bezahlen.
»Und warum?«, fragte Bettina.
»Wir hatten … Streit … Er will nicht, dass ich …, dass ich …« Sie brach ihren Satz ab, weinte erneut.
Bettina wartete einen Moment, aber das Weinen hörte nicht auf.
»Grit, was will er nicht?«, erkundigte sie sich, und sie musste diese Frage dreimal wiederholen, ehe sie eine Antwort bekam.
»Er will nicht, dass ich Niels und Merit treffe, ich soll mich zwischen ihnen und ihm entscheiden … Bettina, das kann ich doch nicht. Es sind meine Kinder, und wenn Holger mit der Familie wieder nach Deutschland zieht, dann ist es doch normal, wenn ich als ihre Mutter sie auch mal sehen will. Ich leide ohnehin darunter, dass sie durch meine Schuld bei ihrem Vater leben … Was soll ich denn jetzt machen, Bettina?«
Ihn zum Teufel jagen, hätte die am liebsten gesagt, schluckte aber auch das herunter.
»Grit, du kannst deine Kinder nicht aufgeben, wenn dieser Mann dich vor eine solche Alternative stellt, dann gibt es nur eines – du musst dich für deine Kinder entscheiden, was denn sonst?«
Wieder ein Aufheuler.
»Aber ich liebe ihn«, schluchzte sie, »ich kann doch ohne ihn nicht leben …, und er …, er liebt mich auch …, er versucht halt nur Druck zu machen …, damit ich …«
Stille.
Nach einer Weile erkundigte Bettina sich vorsichtig.
»Grit, bist du noch da?«
Sie war es, hatte sich offensichtlich noch etwas zu trinken eingeschenkt, ganz bestimmt kein Wasser.
»Ja«, war die Antwort.
»Grit, ein Mann, der eine Frau wirklich liebt«, sie hielt es wissentlich ganz allgemein, damit sie nicht auflegte, »der stellt die Geliebte nicht vor eine solche Alternative, die herzlos und egoistisch ist … Hast du schon mal darüber nachgedacht, ihn zu verlassen? In der Zeit, in der du nicht mit ihm zusammen warst, da befandest du dich in einer wesentlich besseren seelischen Verfassung.«
»Ich weiß, dass du Robertino nicht leiden kannst, aber er hat auch seine guten Seiten.«
Jetzt konnte Bettina nicht anders, jetzt musste es heraus, sonst würde sie ersticken.
»Ach …, und welche?«
»Er …, er … ist leidenschaftlich, ein fantastischer Liebhaber. Er …, er …«
Sie brach ab, mehr fiel ihr wohl nicht ein, aber da war auch nichts, und einen fantastischen Liebhaber konnte Grit auch haben, wenn sie sich einen Callboy nahm, der kostete weniger als dieser Schmarotzer Roberto, genannt Robertino, der ihrer Schwester nichts weiter als Stress machte.
Bettina hatte einen unbändigen Zorn auf diesen Menschen, den sie am liebsten in die Wüste geschickt hätte. Ach, wenn sich doch bloß wieder eine noch reichere Frau fände, die ihm ein noch schöneres Leben böte. Einmal hatte es ja schon geklappt, aber diese Frau hatte beizeiten seinen wahren Charakter erkannt und ihn dorthin geschickt wohin Bettina ihn wünschte …, nämlich in die Wüste.
Und dann hatte dieser Mensch doch wahrhaftig die Dreistigkeit besessen, wieder bei Grit aufzutauchen, der er fast das Herz gebrochen, für den sie Mann und Kinder verlassen hatte. Und ihre Schwester, dieses dumme Suppenhuhn, hatte ihn mit offenen Armen wieder aufgenommen. Welch verfahrene Kiste!
»Grit, schieß ihn in den Wind«, sagte sie, ohne Rücksicht auf Verluste, »bei dem kriegst du kein Bein auf die Erde, du machst dir nur die Nerven kaputt und vertrödelst deine besten Jahre.«
»Sag das nicht, er macht mich glücklich«, schrie Grit ins Telefon, das machte sie immer, wenn sie wusste, dass sie im Unrecht war.
Bettina atmete tief durch.
»Grit, ich will dir mal was sagen, und leg jetzt bitte nicht auf«, warnte sie ihre Schwester vor, »sonst bin ich nämlich höllisch sauer … Er macht dich nicht glücklich, er macht dich, ganz im Gegenteil, unglücklich. Wenn du glücklich wärst, dann würdest du mich nicht mitten in der Nacht anrufen, wärest kreuzunglücklich und würdest weinen«, sie zögerte einen Moment, dann sprach sie auch das aus. »Und, Grit, du würdest dich nicht betrinken.«
Es war still.
Hatte Grit aufgelegt?
Nein, es kam stoßweises Atmen durch die Leitung, dann ein klägliches: »Ich bin … nicht … betrunken.«
Das machte Bettina wütend.
»Hör auf, dir was vorzumachen, Grit«, rief sie, »du hast ganz schön getankt … Heute, damals, als du mit ihm zusammen warst und ganz schlimm, nachdem er dich verlassen hatte … Hast du vergessen, dass du im volltrunkenen Zustand Auto gefahren und mir hier wie ein nasser Sack in die Arme gefallen bist? Grit, bitte, bitte, bringe dich wegen dieses Mannes nicht wieder in eine solche Situation. Er ist es nicht wert … Wenn er sich eine Auszeit nimmt und ins Hotel geht, nimm dir auch eine, komme schon jetzt auf den Hof, du kannst bei mir im Haus wohnen, im Gesindehaus oder dem kleinen Häuschen, das ich für Christina hergerichtet hatte, die ja leider verstorben ist, ehe sie dort einziehen konnte … Du kommst ja ohnehin zu meiner Hochzeit her, dann kommst du eben ein paar Tage früher.«
Überdachte Grit ihre Worte oder war sie eingeschlafen? Es kam nämlich keine Antwort.
»Grit …«, erkundigte Bettina sich, »Grit …, bist du noch da?«
»Ja, ja …, es …, nun …«, diesmal ließ nicht der Alkohol sie stammeln, sondern es war ihr peinlich, es Bettina sagen zu müssen. »Es …, nun, es geht nicht. Du willst ja nicht, dass Robertino an den Feierlichkeiten teilnimmt, deswegen wird er mich begleiten und im Parkhotel in Bad Helmbach auf mich warten … Er hat nichts dagegen, dass ich am Trauungszeremoniell teilnehme, an der anschließenden Feier aber nicht, wenn ich das mache, kriege ich den allergrößten Krach … Ich kann also nur ganz kurz dabeisein.«
Jetzt konnte Bettina nichts mehr sagen.
Das, was sie da gehört hatte, war so ungeheuerlich, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte.
Diesmal war es Grit, die sich erkundigte: »Bettina …, bist du noch in der Leitung?«
Die riss sich zusammen.
»Klar, es hat mich nur sprachlos gemacht. Was bist du eigentlich, Grit? Seine Leibeigene? Merkst du nicht, wie unwürdig er dich behandelt? Du, solche Erniedrigungen machen was mit dir, die rauben dir das letzte bisschen von Selbstwertgefühl, das du noch hast. Herrgott noch mal, du kannst dich doch behaupten, kannst deine Forderungen durchsetzen. Denk doch bloß mal daran, was du mit deinem Exmann gemacht hast, obwohl du die Schuldige warst, obwohl du ihn verlassen hast, hast du ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, ihm sogar sein Elternhaus genommen, und bei diesem Habenichts, den du unterhalten musst, der dich wie ein Blutegel aussaugt, bei diesem Typen bist du wie ein kleines eingeschüchtertes Mäuschen. Grit, werde wach, was muss denn noch passieren, damit du endlich zur Besinnung kommst? Muss er dich schlagen? Körperlich auf dir herumtrampeln? Seelisch tut er das längst … Ich sage es dir noch einmal. Bitte, mach’ Schluss mit ihm, tue es um deiner selbst willen, wegen deiner Würde.«
»Ach, Bettina, das verstehst du nicht.«
»Nein, Grit, da hast du recht, ich verstehe es nicht, und ich will es auch nicht verstehen. Ich habe es dir schon mal gesagt. Am liebsten würde ich diesen Schmarotzer abknallen, aber er ist nicht einmal die Kugel wert, und wegen eines solchen Typen will ich auch nicht im Knast landen. Aber weißt du was, wohin du kommst, wenn du das weiter mit dir machen lässt? Ich sage es dir, du landest in der Irrenanstalt, weil er dich um den Verstand bringt, und dann brauchst du nicht einmal ihn, der dich von deinen herrlichen Kindern abbringt, das machst du dann ganz allein. Willst du das?«
Wieder Stille, dann ein zögerliches: »Bettina, ich möchte das Gespräch jetzt beenden …, sorry, dass ich dich mitten in der Nacht angerufen habe.«
Sie hatte nicht einfach aufgelegt, das war doch schon mal ein Fortschritt, und deswegen sagte Bettina mit sanfter Stimme: »Du kannst mich jederzeit anrufen, Grit. Ich bin deine Schwester, und ich …, ich habe dich sehr lieb und möchte, ganz besonders, weil ich es selbst auch bin, dass du glücklich wirst … Geh jetzt ins Bett und versuche zu schlafen, morgen ist ein neuer Tag, und da sieht schon alles anders aus. Und wenn du mich brauchst, ich bin immer für dich da.«
»Danke, Bettina, das weiß ich … Du bist die Beste von uns allen, und du hast dein Glück auch verdient … Gute Nacht.«
Sie wartete Bettinas Antwort nicht mehr ab, sondern legte auf, doch das war okay.
Bettina war innerlich viel zu aufgewühlt, um jetzt wieder ins Bett zu gehen. Sie würde ohnehin nicht schlafen können.
Sie ging in die Bibliothek und kuschelte sich mit hochgezogenen Beinen in ihren Lieblingssessel.
Arme, arme Grit, dachte sie, die war von diesem Mann wie von einem Dämon besessen. Nur weil mit ihm das Laken bebte ließ sie sich alles gefallen? Irgendwo gab es doch Grenzen, selbst wenn dieser Robertino eine Granate im Bett war, konnte das nicht alles andere aufwiegen. Grit war ihm in jeder Hinsicht überlegen und ließ sich dennoch behandeln wie ein Hündchen an der Leine.
Was sollte sie bloß machen?
Am liebsten hätte sie mit Holger geredet, Grits Exmann, der Grit besser kannte als jeder andere, er war lange Jahre mit ihr verheiratet gewesen, und sie hatten zwei wunderbare Kinder miteinander. Holger hatte sehr darunter gelitten, von seiner Frau zuerst betrogen und hernach verlassen zu werden. Aber halt, das stimmte so auch nicht mehr. Holger kannte die Grit von früher, die heutige Grit konnte er nicht mehr verstehen. Außerdem war er neu verheiratet, war mit seiner Irina glücklich. Und durfte sie mit ihm über Grit reden? Wäre das nicht ein Verrat an ihrer Schwester?
Holger war ein wunderbarer Mann, den sie mochte, und mit dem sie sich auch während der ganzen Scheidungsaffäre gut verstanden hatte. Aber jetzt gehörte er nicht mehr zur Familie, und sie hatten früher schon mal über Grit und ihren Lover gesprochen, damals, als sie noch nicht einmal geschieden gewesen waren, und da war Holger auch nur ratlos gewesen.
Nein!
Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte. Grit musste da allein hindurch, das einzige was sie tun konnte, war, sie aufzufangen, wenn sie wieder mal am Ende war wie damals, als sie unglücklich, verzweifelt und total betrunken bei ihr gelandet war.
Nur hoffentlich würde sie sich ein zweites Mal nicht wieder total betrinken.
Der Schutzengel half einem nur ein Mal, ein zweites Mal nicht mehr, und was das für Folgen haben konnte, darüber wollte Bettina besser nicht nachdenken.
Ihre Geschwister!
Über ihren Bruder Frieder hatte sie sich hinweggesetzt, oder richtiger gesagt, sie hatte alles verdrängt. Die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, waren einfach zu groß gewesen, und eines Tages hatte sie aufgegeben um seine Gunst zu kämpfen. Sie war nur froh, dass er nicht in den Bürgschaftsskandal verwickelt war, denn das hätte den breiten, beinahe unüberbrückbaren Graben zwischen ihnen noch mehr vergrößert.
Welch ein Glück, dass es bei ihrem Bruder Jörg im Augenblick gut lief. Er und seine geschiedene Frau Doris hatten sich wieder zusammengerauft, sein Flugzeugabsturz, den er mit Miriam überlebt hatte, hatte ihn ein wenig geläutert. Bettina war glücklich darüber, dass er sein Erbe, das prachtvolle Weingut Chateau Dorleac nicht mehr verkaufen wollte, dass er von dem Gedanken, dass Besitz nur belaste, abgekommen war. Um Jörg und Doris musste sie sich keine Sorgen mehr machen, und sie freute sich wahnsinnig darauf, sie schon sehr bald wiederzusehen.
Grit war das Sorgenkind. Sie würde auf jeden Fall alles daran setzen, dass sie bei der Hochzeit nicht nur eine Stippvisite machen würde. Sie hatte Jörg und Doris auch seit Ewigkeiten nicht gesehen, und wenn Doris und sie nicht die allerbesten Freundinnen waren, so verstanden sie sich doch recht gut, und zu Jörg hatte Grit ein gutes Verhältnis. Vielleicht konnte der ihr ja ins Gewissen reden.
Frieder hatte sie auch eine Einladung geschickt, aber ob der kommen würde, das stand in den Sternen. Sie glaubte eher nicht und hatte sich in ihrem Inneren damit auch schon abgefunden. Das ersparte ihr eine Enttäuschung.
Es war so schade, dass sie nach dem Tod ihres Vaters alle auseinandergedriftet waren. Er hatte halt alles zusammengehalten.
Ach, ihr Vater. Wie glücklich wäre er über ihre Wahl, und was gäbe sie nicht darum, ihn und Christina, seine letzte große Liebe, bei ihrem schönsten Tag im Leben dabei zu haben. Aber ihr Vater und Christina waren tot und ruhten jetzt Seite an Seite im Familiengrab der Fahrenbachs. Wenn sie schon im Leben nicht vereint sein konnten, so doch wenigstens im Tod. Das war ein tröstlicher Gedanke.
Bettina wollte gerade aufstehen, um sich etwas zu trinken zu holen, als Thomas in die Bibliothek kam.
»Sag mal, Schatz, was machst du denn hier?«, wollte er wissen. »Weißt du nicht, wie spät es ist? Außerdem – du hast doch bereits tief und fest geschlafen, warum geisterst du jetzt hier herum?«
»Weil Grit angerufen hat. Sie war vollkommen durch den Wind. Dieser grässliche Robertino setzt sie wieder unter Druck. Stell dir vor, er verlangt doch wahrhaftig von ihr, dass sie den Kontakt zu ihren Kindern abbricht. Und um das zu erreichen ist er einfach, auf ihre Kosten natürlich, in ein Hotel gezogen. Ist das nicht ein starkes Stück?«
Er ging zu ihr, legte seinen Arm um sie.
»Tut mir leid, mein Herz, aber dazu sage ich nichts mehr. Das mit deiner Schwester und diesem Italiener ist eine unendliche Geschichte. Du solltest dich da auch nicht so hineinsteigern, Grit ist stur, die macht ohnehin was sie will, und du hast den Katzenjammer. Du bist wirklich nicht auf der Welt, um die Hüterin deiner Schwester zu sein. Also, mein Liebling, vertreib all die trüben Gedanken und komm jetzt mit ins Bett.«
Thomas hatte ja so recht, aber andererseits …
»Tini, du kannst wirklich nichts für sie tun, zumindest nicht jetzt. Du kannst ihr ja nach der zweiten Bauchlandung helfen, und dass die kommen wird ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.«
Er zog sie zu sich empor, umschloss sie zärtlich und beschützend zugleich.
Bettina fühlte sich so unendlich wohl und geborgen und wünschte sich, auf ewig so mit ihm stehen bleiben zu können, nur sie zwei. Aber das ging natürlich nicht, denn dafür sorgte schon Thomas.
Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, dann zog er sie sanft, aber bestimmt mit nach draußen, löschte das Licht, dann führte er sie die Treppe hinauf.
Nur wenige Minuten später kuschelte sie sich in seine Arme und war, obwohl es kaum zu glauben war, kurz darauf eingeschlafen.
*
Bettina kümmerte sich normalerweise nicht um die Gäste, doch vom Gesindehaus her kam ein so jammervolles Weinen, dass sie unwillkürlich in diese Richtung blickte.
Sie entdeckte eine junge Frau, die einen Brief in den Händen hielt, den sie wohl gerade erst bekommen hatte und durch den das Weinen hervorgerufen worden war.
Beim näheren Hinsehen erkannte sie die Frau. Es war die junge Frau Lummerich, die ihren Ehemann so hintergangen hatte. War das bereits ein Brief seiner Anwälte, wie von ihm im Zorn angekündigt? Dann hatte er sich aber wirklich sehr beeilt, und die Anwälte hatten auch direkt reagiert.
Bettina überlegte, was sie tun sollte.
Das Weinen einfach ignorieren und weitergehen? Schließlich hatte sich die Frau alles selbst zuzuschreiben, sie war an ihrem Elend selbst schuld.
Aber Bettina hatte ein viel zu mitfühlendes Herz, um über alles einfach so hinwegzugehen. Sie kannte die Frau zwar nicht persönlich, aber das tat jetzt nichts zur Sache.
Entschlossen ging sie zu ihr, blieb vor der Bank stehen.
»Hallo, Frau Lummerich«, sagte sie, schließlich wusste sie ja, wer die Frau war. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau blickte auf.
»Wer sind Sie denn?«, wollte sie wissen. Das war eine berechtigte Frage.
»Ich bin Bettina Fahrenbach, die Besitzerin des Fahrenbach-Hofes«, stellte sie sich vor. »Wir sind uns bisher nur einmal flüchtig begegnet.« Sie sagte ihr nicht, bei welcher Gelegenheit, nämlich bei dem dramatischen Abgang des Herrn Lummerich.
Frau Lummerich konnte sich nicht erinnern, aber sie war auch nur auf ihren Mann fixiert gewesen und hatte sich um sonst nichts gekümmert.
»Also, wenn ich etwas für Sie tun kann«, versuchte Bettina es nochmals.
Die Frau zerknüllte ärgerlich den Brief.
»Mir kann niemand helfen, ich muss mich fügen, sonst bekomme ich gar nichts, so soll ich mit einem lächerlichen Betrag abgespeist werden. Das ist eine solche Unverschämtheit, ich war immerhin mehr als drei Jahre verheiratet.«
»Nicht gerade lange«, bemerkte Bettina.
»Pah, seien Sie das mal mit einem alten Mann, das kommt Ihnen wie eine Ewigkeit vor, keine Party mehr, kein Vergnügen, nur die Gesellschaft seiner ebenfalls alten Freunde, so was ist Horror.«
»Aber es hat Sie doch niemand gezwungen, diesen Mann zu heiraten. Warum haben Sie es getan? Er war bei der Eheschließung auch nicht mehr der Jüngste.«
»Weil er nett ist und mir ein komfortables Leben geboten hat. Ich musste nicht mehr arbeiten und konnte mir kaufen was ich wollte.«
Bettina schauderte es!
Das waren Gründe um jemanden zu heiraten?
»Wenn Ihnen das alles so wichtig ist, Frau Lummerich, dann sollten Sie nochmals mit Ihrem Mann reden. Allerdings werde ich nicht so richtig schlau aus Ihrem Reden. Einerseits finden Sie das Leben an seiner Seite … gruselig, andererseits wollen Sie es behalten.«
»Ja, weil es schön ist, ohne finanzielle Probleme leben zu können. Wenn man arbeitet, da hat man streckenweise Chefs mit denen man es auch nicht kann, die alt und unausstehlich sind. Da muss man auch durchhalten. Dann doch lieber bei meinem Mann, der hat nette Seiten. Aber darüber muss ich mir jetzt eh keine Gedanken mehr machen. Der Anwalt schreibt, dass all meine Sachen bereits aus der Villa transportiert wurden in eine kleine Zweizimmerwohnung in einem der Häuser meines Mannes. Dort kann ich, solange die Scheidung noch nicht durch ist, wohnen. Danach muss ich eben Miete bezahlen oder ausziehen … Ich habe damals einen Ehevertrag unterschrieben und ihn mir nicht genau durchgelesen. Es ist wohl so, dass wir Gütertrennung vereinbart haben, er hat seins, ich hab’ meines. Im Klartext bedeutet das …, er hat alles, ich hab’ nix …, das ist schreiend ungerecht.«
Wieder begann sie zu weinen.
Bettina blieb eine Weile ratlos stehen, dann versuchte sie die Frau nochmals anzusprechen, doch als die nicht reagierte, sagte sie nur noch: »Ich lass Sie jetzt allein. Wenn Sie reden wollen, dann sagen Sie einfach der Frau Dunkel Bescheid, die kennen Sie ja.«
Dann ging sie und war sich nicht einmal sicher, ob Frau Lummerich das überhaupt bemerkt hatte. Die weinte herzzerreißend um ihr komfortables Leben, das nun auf immer verschwunden war.
Wäre sie eine ältere Frau, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance hätte, einen Job zu finden, dann wäre Bettina jetzt voller Mitleid, trotz allem.
Aber diese Frau war jung, konnte arbeiten. Außerdem sah sie fantastisch aus, das musste man neidlos zugeben. Die würde schon wieder ein neues Opfer mit viel Geld finden. Solche Frau Lummerichs oder wie sie auch immer hießen, fielen immer wieder auf die Füße, weil die in gewisser Weise skrupellos waren und nur auf ihren Vorteil bedacht waren.
So, und jetzt genug davon.
An diese Dame musste sie keine Gedanken mehr verschwenden, da gab es wirklich andere Dinge, um die sie sich jetzt kümmern musste.
Die Reise nach London stand an, morgen würden sie fliegen, und danach …
Am liebsten hätte sie ihr Glück laut herausgeschrien, denn danach gab es etwas, was durch nichts mehr zu toppen war, ihre Hochzeit, der größte, der schönste Tag ihres Lebens.
Und dann …
Bettina blickte auf den schlichten Ring an ihrem linken Ringfinger.
Dieser Ring würde dann von der linken Hand auf die rechte wandern, und jeder konnte sehen, dass sie eine verheiratete Frau war, eine glückliche dazu. Das allerdings konnte man nicht vom Ring ablesen, wohl aber von ihrem glücklichen Gesichtsausdruck, den sie niemals mehr verlieren würde, dachte sie zumindest in diesem Moment. Wenn man, so wie sie jetzt, auf der Wolke des Glücks schwebte, konnte man sich nicht vorstellen, dass es auch einen grauen Alltag geben konnte.
Egal, was auch immer kommen würde, gemeinsam waren sie stark, gemeinsam würden sie alles schaffen, schafften es auch jetzt schon.
Bettina hüpfte über den Hof und murmelte glücklich vor sich hin: »Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn …«
Zum Glück befand sich nur die weinende Frau Lummerich am anderen Ende des Hofes. Wenn nämlich jemand sie beobachtet hätte, der hätte glauben müssen, sie habe den Verstand verloren, weil eine Frau in ihrem Alter sich einfach nicht so gebärdete.
Ach, die Leute hatten doch überhaupt keine Ahnung, aber die kannten ja auch nicht ihren Tom, den tollsten, den wunderbarsten, den zärtlichsten, den liebevollsten Mann auf der ganzen Erde.
Und sie …, sie würde ihn heiraten, endlich, endlich, endlich …
*
Bettina hatte das Gefühl, nicht in ihrem Haus zu sein, sondern in einer Telefonzentrale zu sitzen, weil unaufhörlich das Telefon klingelte. Fast schien es, als hätten sich alle verabredet, mal kurz bei ihr anzurufen. Da es aber alles Menschen waren, die ihr nahe standen, blieb es nicht bei einem kurzen Telefonat. Das wollte sie auch überhaupt nicht, denn selbst wenn sie alle Anrufer in kürzester Zeit bei ihrer Hochzeit wiedersehen würde, so ganz ohne dieses wie geht es dir?, was machst du?, und so fort ging es halt nicht.
Der erste Anrufer war Holger gewesen, total im Stress, denn nicht nur die Hochzeit stand an, sondern auch der Umzug der Familie von Vancouver nach Deutschland. Sie hatten ein wunderschönes Haus gefunden, nach anfänglichem Murren freuten sich Niels und Merit, ganz besonders auch deshalb, weil sie dann öfters auf den Fahrenbach-Hof kommen konnten, den sie sehr liebten, ganz besonders natürlich die Bewohner.
So hätte für Holger eigentlich alles wunderbar sein können. Ein Superjob auf der Vorstandsetage, das Wohnproblem gelöst, wenn da nicht seine Frau Irina wäre, die schon jetzt vom Heimweh geplagt wurde. Dabei waren sie noch nicht einmal abgereist.
Holger hatte viel Verständnis für seine Frau, und auch Bettina konnte sie verstehen. Irina war zwar in Kanada geboren worden, aber ihre Familie waren russische Emigranten, die schon von Hause aus sehr liebevoll und eng miteinander gewesen waren, etwas, was sich natürlich durch das Leben in der Fremde noch verstärkt hatte. Sie waren noch enger zusammengerückt, und diesen Hort der Geborgenheit musste Irina nun verlassen, um auch in eine fremde Welt einzutauchen. Natürlich liebte sie Holger über alles, auch Niels und Merit waren für sie ihre Kinder. Doch das Zusammenleben hatte sich bislang in einer ihr vertrauten Umgebung abgespielt.
Bettina hoffte inständig, dass Holgers und Irinas Glück an äußeren Umständen nicht zerbrechen würde. Er hatte ja lange gezögert, ob er den Job annehmen, auf die Chefetage aufsteigen sollte. Aber Irina hatte ihm keine Steine in den Weg gelegt, und in Vancouver hätte er überhaupt keine Aufstiegschancen mehr gehabt, im Gegenteil, es war noch immer nicht klar, ob diese Auslandsfiliale nicht aufgelöst werden würde. Und dann hätte er überhaupt keinen Job mehr gehabt und sich einen suchen müssen. Das wäre weit unter seinem bisherigen Niveau gewesen, denn im Ausland wartete man nicht auf einen Deutschen, um mit genau dem eine Spitzenposition zu besetzen.
Aber jetzt war es müßig, darüber weiterzureden oder nachzudenken. Der Stein war ins Rollen gekommen, und nun konnte man nur hoffen, dass sie es packen würden, ganz speziell natürlich die reizende Irina.
Während des Telefonats hatte Bettina nicht an ihre Schwester gedacht, und Holger hatte auch nicht, was manchmal schon der Fall gewesen war, an seine Ex gedacht.
Jetzt freuten sie sich alle erst mal auf die Hochzeit, und am aufgeregtesten war Merit, die ein tolles Prinzessinnenkleid bekommen hatte, von dem sie kaum erwarten konnte, es endlich anziehen zu dürfen. Sie war halt ein Mädchen, und die sollten alle gern Prinzessin sein. Nicht nur die Kleinen, dachte Bettina belustigt. Sie konnte es doch auch kaum erwarten, ihr Prinzessinnenkleid zu tragen.
Die nächste Anruferin war Doris gewesen, die sofort angefangen hatte ohne Punkt und Komma zu reden, in erster Linie natürlich über das Kleid, das sie sich in einem chicen Laden in Bordeaux gekauft hatte. Also auch eine Prinzessin!
»Weißt du, Bettina, was komisch ist?«, hatte sie ihr entgegengeschmettert. »Als ich mich in diesem Kleid sah, das wirklich ein Traum ist, wurde mir klar, dass mein Aussehen nur noch durch ein einziges anderes Kleid zu toppen ist, ein Brautkleid nämlich …, und deswegen habe ich beschlossen, Jörg nun doch ein zweites Mal zu heiraten.«
So typisch Doris, die Entschlüsse fasste, sie wieder umwarf, impulsiv etwas tat, was sie hinterher bereute.
»Und was sagt Jörg dazu?«, war Bettinas Frage gewesen, die sie lachend beantwortet hatte: »Der ist froh, dass er mich wieder sicherstellen kann, und das ist ja auch gut so, denn ich weiß eh, dass dein Bruder mein Schicksal ist. Wir können nicht immer miteinander, aber ohne einander können wir überhaupt nicht. Also, liebe Schwägerin, du kriegst mich zurück, auch wenn das für uns zwei nur eine Formsache ist. Wir hatten auch kein Problem miteinander, als Jörg und ich getrennt, geschieden waren, wir hatten es auch nicht, als ich drei Mal andere Männer heiraten wollte. Du lieber Himmel, was wäre ich unglücklich geworden. Zum Glück ist mein Prinz Jörg im rechten Moment wieder aufgetaucht und hat mich auf sein weißes Pferd gehoben und ist mit mir auf sein Schloss geritten.«
Der Anruf von Doris war erfrischend und wohltuend gewesen. Kein Mensch war natürlich immer nur gut drauf, von Doris konnte man aber sagen, dass sie es meistens war. Sie hatte jetzt eine sehr pragmatische Einstellung zum Leben und nahm es so wie es kam.
Vielleicht hatte Doris durch die Hölle gehen müssen, damals, als sie mit Jörg nach Frankreich gegangen war, um das Erbe anzutreten. Die anfängliche Euphorie war rasch verflogen gewesen, und während Jörg sein Ding gemacht hatte, nämlich Musikevents zu veranstalten, von denen er keine Ahnung gehabt und die ihn an den Rand des Ruins gebracht hatten, war Doris ständiger Begleiter der Alkohol geworden. Welch ein Glück, dass sie aus diesem Teufelskreis herausgefunden hatte und ihre Probleme jetzt anders löste.
Ja, auf Jörg und Doris freute sie sich auch sehr. Schade, dass sie erst am Abend vor der Hochzeit anreisen würden, weil ein wichtiger Geschäftstermin sie an einem früheren Kommen hinderte. Dafür hatte Bettina vollstes Verständnis. Sie war selbst Geschäftsfrau und wusste, dass man manchmal sein Privatleben in den Hintergrund stellen musste.
Dann hatte ihr Neffe Linus angerufen, Frieders Sohn. Wie bedauerlich, dass der nicht zur Hochzeit kommen konnte. Aber der lebte immer noch versteckt irgendwo im Ausland, Bettina vermutete in England, und er würde keinen Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag zurück in die Heimat kommen. Er war noch immer voller Panik, seine Eltern könnten ihn finden. Dabei war Bettina sich nicht sicher, ob die überhaupt noch an ihren Sohn dachten. Mona, ihre Exschwägerin, ganz bestimmt nicht, deren Lebensinhalt waren Klamotten und in erster Linie Schönheitsoperationen. Wovor andere Leute sich fürchteten, nämlich wegen einer Krankheit operiert zu werden, schien Mona geradezu ein Vergnügen zu bereiten. Sie ließ andauernd etwas an sich machen und war bestimmt mittlerweile schon mehr als zweimal runderneuert. Operationen, die sie nicht schöner machten, sondern Bettina ein wenig an Frankensteins Gruselkabinett erinnerten.
Also, Mona interessierte sich nicht die Bohne für ihr einziges Kind.
Und Frieder?
Bettina hatte keine Ahnung. Aber damals, als Linus mit Hilfe von Freunden ins Ausland geflohen war, hatte er sich unmenschlich seinem Sohn gegenüber verhalten. Anstatt sich um seine seelischen Nöte zu kümmern, ihn nach Hause zu holen, hatte er ihn von einem schrecklichen Internat in ein noch schrecklicheres gesteckt, weil auch ihm sein Kind lästig gewesen war. Frieder hatte zu diesem Zeitpunkt reicher Erbe gespielt, war mit seinem heißen Porsche durch die Gegend gebrettert und hatte sich eine jugendliche Gespielin zugelegt, so einen Monaverschnitt in jung.
Bettina war glücklich darüber, dass Linus zu ihr den Kontakt hielt, auch wenn sie sich gewünscht hätte, öfters von ihm zu hören. Aber da war Linus einfach zu ängstlich. Er wusste, dass sein Vater Bettina den Kontakt zu seinem Sohn per Anwaltsbeschluss untersagt hatte und war wohl, was natürlich töricht war, der Meinung, sein Vater könne Bettina überwachen lassen und über sie an ihn herankommen, um ihn nach Deutschland zurückzuholen. Das war fast paranoid, aber Linus war jung, fantasievoll, da reimte man sich halt schon mal was zusammen.
Bettina war stolz auf ihn, dass er tapfer sein Heimweh unterdrückte und bemüht war, einen ordentlichen Schulabschluss zu machen, das sollte ihm mal einer nachmachen. Dieser dumme Frieder, hatte einen so prachtvollen Sohn und war an ihm nicht interessiert. Oder jetzt doch? Nun, wenn das so war, dann war es auf jeden Fall zu spät. Für Linus war der Zug abgefahren. Er hatte mit seinen Eltern gebrochen, und die Kluft war zu tief, um noch mal überbrückt werden zu können.
Zu ihr würde Linus kommen, und darauf freute sie sich schon jetzt. Vor allem konnte Frieder vor Wut kochen, sich die Haare raufen, was auch immer. Linus war dann volljährig und konnte über sein Leben selbst entscheiden, frei und ohne sich verstecken zu müssen.
Die nächste Anruferin war eine alte Schulfreundin gewesen, die sie zu einem geplanten Klassentreffen einladen wollte. Es war schön gewesen, auch mit Ursel zu plaudern, die ihr einiges über alte Schulfreundinnen und Schulfreunde erzählen konnte, zu denen sie noch immer in Kontakt stand.
Bettina trank etwas von ihrem Wasser und hatte das Glas gerade abgestellt, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es Leni.
»Dein Telefon ist ja doch in Ordnung«, sagte sie, »ich wollte schon den Stördienst anrufen, denn ich habe mir die Finger wundgekurbelt, und immer war besetzt. Was ist denn los bei dir? Musst du heute noch so viele Leute anrufen, um dich zu verabschieden? Du fliegst doch nur für knappe anderthalb Tage nach London.«
Bettina lachte.
»Liebe Leni, nicht ich habe herumtelefoniert, sondern ich wurde angerufen. Ich weiß auch nicht, warum sie ausgerechnet heute mit mir reden wollten.«
Dann erzählte sie ihr von den Anrufern und war sich nicht sicher, ob sie das alles bewusst wahrgenommen hatte, denn, wie konnte es auch anders sein, war sie bei der Erwähnung der Namen Niels und Holger wie elektrisiert gewesen. Und ganz besonders die Erwähnung des Namens Merit, die in einem Prinzessinnenkleid bei der Hochzeit dabei sein würde, hatte sie zum Schmelzen gebracht. Leni liebte Niels auch, aber Merit war von Anfang an ihr Superstar gewesen. Und Bettina war sich sicher, dass Leni da ganz gehörig kompensiert hatte. Sie hatte ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben müssen, weil es anders nicht gegangen war, und diesem Kind hatte sie ihr Leben lang nachgetrauert. Dank Bettina war es ja mit sehr viel Glück möglich gewesen, Yvonne ausfindig zu machen, und danach hatte Yvonne sich lange geweigert, ihre leibliche Mutter zu sehen, sie zu akzeptieren. Eigentlich war das nur geschehen, weil sie es vor dessen Tod ihrem geliebten Adoptivvater versprochen hatte.
Nun war Yvonne in Lenis Leben, aber Merit war noch immer in ihrem Herzen. Und so brauchte Bettina auch überhaupt nichts mehr zu sagen, denn für die nächsten fünf Minuten schwärmte Leni nur von der Kleinen, was für ein wunderbares Kind sie doch war.
Erst als Leni anfing über Grit herzuziehen, ergriff Bettina wieder das Wort.
Nicht, um ihre Schwester in Schutz zu nehmen. Nein, sie würde alles, was Leni da zu sagen hatte, blind unterschreiben. Sie hatte einfach nur keine Lust darauf, sich ihre gute Laune verderben zu lassen. Und das sagte sie Leni auch.
»Hast ja recht, Kind«, sagte die sofort. »Es bringt eh nichts, deine Schwester muss erst durch Schaden klug werden. Sie hat alles falsch gemacht, und das verlorene Vertrauen ihrer Kinder bekommt sie nicht wieder zurück. Die haben sich von ihrer Mutter abgewandt, schade, schade für alle Beteiligten … Aber nun zu dir. Hast du auch die richtigen Sachen eingepackt? In London soll es ja andauernd regnen.«
Diese Bemerkung brachte Bettina zum Lachen.
Wieder so ein typisches Vorurteil.
»Leni, es ist richtig, dass es dort mehr regnet als an anderen Orten, aber ich habe dort auch schon wundervolle, sonnige Tage erlebt. Wenn es dich beruhigt …, der Wetterbericht sagt gutes Wetter voraus. Doch selbst wenn es nicht so wäre. Wir haben nicht viel Zeit. Morgen früh geht unser Flieger, ehe wir dann im Hotel sind, ist es fast schon Mittag … Wir werden ein wenig herumlaufen, schoppen, und dann ist es auch schon Zeit, uns für den feierlichen Moment umzukleiden. Wir werden Nancy eine Stunde vor dem offiziellen Beginn treffen, und darauf freue ich mich schon sehr. Auch auf die Verleihung und das anschließende große Bankett, da ist wirklich alles vertreten, was in der Meeresbiologie Rang und Namen hat. Dazu natürlich, um das Bild bunter zu machen, Größen aus Wirtschaft und Kunst …, alle Wichtigs sind halt eingeladen. Und Thomas und ich mittendrin. Ist das nicht aufregend? Wahrscheinlich werden wir unter all den geladenen Gästen die unbedeutendsten sein.«
Davon wollte Leni nun aber überhaupt nichts wissen.
»Wie kannst du so etwas sagen«, widersprach sie sofort ganz energisch. »Du bist eine Fahrenbach, das waren immer wichtige Leute, ein Ort wurde sogar nach ihnen benannt. Wer kann das schon von sich behaupten.«
»Leni, gewöhne dich daran, dass ich nur noch wenige Tage eine Fahrenbach sein werde. Danach bis ans Ende meiner Tage eine Sibelius.«
»Ja, ja, ist schon gut, das weiß ich«, entgegnete Leni, sagte dazu aber nichts mehr. Einmal hatte sie versucht, Bettina zu überreden, ihren Namen zu behalten, danach niemals mehr, weil sie deren konsequentes Nein nicht vergessen würde.
»Also«, fuhr sie fort, »ich wünsche dir und Thomas einen schönen Aufenthalt in London. Macht es euch nett, und du halte mal Ausschau, ob besonders Prominente unter den Geladenen sind, ich meine solche, die man aus den Gazetten kennt. Wer überreicht eigentlich diesen Preis? Die Königin?«
»Nein, die ganz bestimmt nicht, aber jemand aus dem Königshaus könnte es durchaus sein. Vielleicht sogar einer von den beiden jungen Prinzen, die nehmen ja immer öfter öffentliche Termine wahr.«
Dann aber beeilte Bettina sich, das Thema sofort zu wechseln. Sie kannte Leni und deren Vorliebe für ›Königs‹. Davon konnte sie nicht genug bekommen. Und wenn sie erst einmal anfing, sich darüber auszulassen, konnte es dauern. Und darauf hatte Bettina jetzt wirklich keine Lust.
»Leni, ich muss jetzt aufhören, sonst gibt mein Tom noch eine Vermisstenmeldung nach mir auf. Er ist vor einer ganzen Weile schon geflohen, als das Telefon anfing zu klingeln. Eigentlich hatten wir einen gemütlichen Abend zu zweit geplant, um uns auf England einzustimmen, aber das ist gründlich in die Hose gegangen, nein«, korrigierte sie sich sofort, »das kann man so auch nicht sagen, ich habe mich ja über all meine Anrufer gefreut. Ab sofort gehe ich aber nicht mehr an den Apparat, wer jetzt noch anruft, soll mir gefälligst was auf den AB sprechen … Also, meine Gute, das gilt auch für dich. Schluss jetzt …, ich hab’ dich lieb, und grüß den Arno von mir, deinen Goldschatz.«
»Guten Flug, mein Kind«, antwortete Leni, »und macht es euch schön. Hier läuft alles in den richtigen Bahnen, du musst also an gar nichts denken, sondern einfach nur genießen.«
Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann legte Bettina ihr Telefon auf die Station zurück, und dort würde es auch bis zu ihrer Rückkehr bleiben. Dann machte sie sich auf die Suche nach Tom …
*
Es war verrückt, es war doch nur eine Nacht, die sie wegbleiben würden, dennoch war Bettina total aufgeregt. An diesem großen Bankett konnte es nicht liegen, an derartigen Veranstaltungen hatte sie bereits mehrfach an der Seite ihres Vaters teilgenommen, und auch wegen Nancy war sie nicht in heller Aufregung, auf die freute sie sich ja.
Nein, es lag wohl eher daran, dass sie sich auf diesen kurzen Trip an der Seite von Tom freute.
Seit sie wieder zusammen waren hatten sie zwar eine ganze Menge unternommen, aber keine gemeinsame Reise gemacht.
Eigentlich hatte es so etwas, wo sie zusammen gefahren und zusammen angekommen waren, kaum gegeben.
Aber das würde sich jetzt alles ändern. Das Leben lag vor ihnen, und nach diesem Londonausflug würden sie auf Hochzeitsreise gehen, und danach …
Sie hatten keine Eile, danach würden sie viele gemeinsame Reisen unternehmen, zuerst allein, dann mit ihrem ersten Kind, dann mit zwei Kindern, dann mit dreien, dann …
»He, mein Schatz, wo bist du mit deinen Gedanken?«, erkundigte er sich. »Ich habe dich jetzt bereits zweimal etwas gefragt ohne eine Antwort zu bekommen.«
Bettina kam in die Wirklichkeit zurück.
»Entschuldige, ich war wirklich weit weg. Zuerst dachte ich an unsere kurze Englandreise, dann die Hochzeitsreise und dann an all die Reisen, die wir künftighin miteinander unternehmen werden, erst nur wir zwei, dann Familienurlaube mit unseren Kindern.«
»Oh, mein Herz, da rast du aber mit Riesenschritten der Zeit voraus. Aber ja, so wird es kommen, und darauf freue ich mich ebenso wie du. Wir zwei mit einer Riesen-Kinderschar.«
»Was höre ich da?«, erkundigte sie sich mit scheinbarem Entsetzen in der Stimme. »Riesige Kinderschar? Davon war niemals die Rede. Bislang sprachen wir über drei, vier Kinder. Habe ich da was verpasst?«
»Nein, Tini-Herz, hast du nicht. Aber für die meisten Leute sind drei, vier Kinder schon eine riesige Kinderschar, für manche Menschen ist man dann sogar schon asozial.«
»Das sind Leute, die nicht wissen, was sie da verpassen, als erstes werden wir auf jeden Fall einen Sohn haben«, sagte sie.
Er schenkte ihr noch etwas Kaffee ein.
»Versteif dich nicht darauf, ist doch egal, was es wird, Hauptsache gesund, und im übrigen müssen wir darüber nun wirklich noch nicht reden. So weit ist es noch lange nicht, wenngleich ich zugeben muss, dass es verlockend sein muss, so eine kleine, süße Bettina in Miniaturausgabe in den Armen halten zu dürfen.«
»Das mit dem Mädchen sagst du jetzt nur, um mich zu ärgern. Tief in deinem Inneren wünschst du dir einen Sohn. Das wollen alle Männer so, schon allein, um mit dem Knaben Fußball spielen zu können, oder die elektrische Eisenbahn ist auch etwas, was dann zurück in das Leben eines Mannes kommt.«
»Ist alles richtig, aber es kommt, wie es kommen soll, es ist mir alles recht. Am wichtigsten ist, dass ich die Kinder mit der Frau haben werde, die ich über alles liebe, die meine einzige große Liebe ist.«
Er wurde auf einmal ganz ernst.
»Tini, ich kann es dir nicht immer sagen, weil ich ja nicht immer bei dir sein werde …, vergiss es nicht. Du hast einen Platz in meinem Herzen, den niemals eine andere einnehmen wird, den niemals eine andere inne hatte. Da warst immer nur du, und da wirst immer nur du bleiben, bis ans Ende meiner Tage.«
Er hatte ihr eine wunderbare Liebeserklärung gemacht, das hätte sie froh machen müssen, aber auf einmal hatte Bettina das Gefühl, als griffe eine eiskalte Hand nach ihr. Sie begann zu frösteln.
»Tom …, Tom«, ächzte sie, »warum hast du das jetzt gesagt?«
Ein wenig irritiert blickte er sie an.
»Na, weil es die Wahrheit ist, weil mir jetzt danach war. Ich weiß nicht, warum dich das irritiert …«
Sie wusste es selbst nicht, was auf einmal los war. Sie waren doch so unbeschwert gewesen, allerbester Laune, ein wenig aufgeregt …, zumindest war sie es gewesen. Diesen plötzlichen Stimmungsumschwung konnte sie sich selbst nicht erklären.
Krampfhaft versuchte sie, sich von diesem plötzlichen Stimmungstief zu befreien.
»Mir …, mir war auf einmal so, so …, wie soll ich es ausdrücken …, seltsam zumute … Ich …, ja, ich glaube …, ich hatte auf einmal eine unerklärliche Angst.«
Das brachte ihn zum Lachen.
»Das habe ich allerdings noch niemals zuvor gehört, dass eine Liebeserklärung einem Partner Angst macht. Soll ich solche Aussagen künftighin unterlassen?«
Sie atmete tief durch. Er hatte ihre Angst nicht ernst genommen, sich sogar lächerlich darüber gemacht. Das löste auch ihre Anspannung.
»Untersteh dich«, widersprach sie deswegen sofort, »ich kann nicht genug davon bekommen, aber lass mich etwas ergänzen. Mir geht es wie dir, mein Liebling. Du warst immer in meinem Herzen, und auch du wirst dort für immer bleiben, Tom. Das, was uns miteinander verbindet, ist eine schicksalshafte Liebe, ein Einklang der Seelen, und so etwas bleibt für immer.«
Sie hatte eigentlich noch mehr sagen wollen, aber da war es wieder, dieses unerklärliche Gefühl der Angst.
Was war denn bloß los mit ihr?
Warum rutschte sie schon wieder in dieses Stimmungstief ab? Das war doch nicht normal.
Zum Glück durchbrach Toms Stimme ihre trüben Gedanken.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, erkundigte er sich. »Wir sitzen hier herum, machen uns gegenseitige Liebeserklärungen. Wenn wir uns jetzt nicht sputen, dann fliegt der Flieger ohne uns los … Du hast ja einen direkten Draht nach oben«, er deutete mit dem Finger in diese Richtung, »dann bitte darum, dass wir unterwegs keinen Stau haben, sonst sehe ich nämlich schwarz.«
Automatisch blickte auch Bettina auf ihre Uhr.
Tom hatte recht.
»Du liebe Güte«, rief sie entsetzt, »da haben wir uns aber wirklich verplaudert.«
Sie sprang auf.
»Wir können alles stehen und liegen lassen, Leni kommt eh gleich rüber, um aufzuräumen, die stellt dann alles in den Kühlschrank.«
Er winkte ab.
»Auf diese Minute kommt es nun auch nicht an, lass uns wenigstens die verderblichen Sachen wegräumen.«
»Okay, wenn du das machst, dann schminke ich mir nur noch schnell die Lippen«, sagte Bettina und lief schon nach draußen.
Normalerweise legte sie darauf keinen Wert.
Aber wenn sie wegging, dann machte sie sich schon zurecht. Und jetzt ging sie nicht nur weg, sondern jetzt machte sie sogar eine Flugreise, da durfte sie nicht aussehen wie Else Plüsch.
Sie blieb gleich unten, kramte aus ihrer Tasche den Lippenstift, zog ihre Lippen nach, dann trat sie vor den wunderschönen alten Spiegel, um sich kritisch zu betrachten.
Ja, sie konnte mit ihrem Aussehen zufrieden sein.
Bettina trug eine braune Jeans, ein schlichtes beiges T-Shirt und hatte vorsichtshalber eine leichte Jacke übergezogen, die genau das Braun der Hose hatte. Ihre flachen Schuhe waren bequem, denn nichts war qualvoller als Schuhe an den Füßen zu haben, die zu eng waren oder zu unbequem.
Sie fuhr sich noch einmal durch die Haare, die sie glatt heruntergebürstet hatte.
Sie wusste, dass Tom es so am liebsten hatte, und sie wollte ihrem Liebsten gefallen.
Ihre Angst war zum Glück wie weggeblasen, es war nur noch ganz viel Vorfreude in ihr, was sich auch in ihrem Gesicht abzeichnete, das eine rosige Farbe angenommen hatte.
»Fertig«, rief sie, und da kam auch schon Thomas in die Diele hinaus. Auch er konnte sich sehen
lassen in seiner khakifarbenen Baumwollhose, dem am Hals offenem weißem Hemd und dem khakifarbenen Pullover, den er sich lässig um die Schulter geschlungen hatte.
»Du siehst zauberhaft aus«, rief er und nahm sie in die Arme.
»He, Tom, wir sind in Eile, schon vergessen?«, erinnerte sie ihn.
»Nein, ich habe es nicht vergessen, mein Herz. Aber so viel Zeit muss sein, ich muss dich jetzt einfach erst mal küssen, dann trete ich eben gleich etwas stärker auf’s Gaspedal.«
Er küsste sie leidenschaftlich, dann ließ er sie los.
»So, mein Herz, nun können wir.«
Er griff nach den beiden Reisetaschen, Bettina nach ihrer Tasche, dann verließen sie das Haus.
Nun war es aber allerhöchste Zeit!
Bettina lief neben ihm her zum Parkplatz, aufgeregt und fröhlich.
Der Himmel war strahlend blau, und eigentlich konnte sie mit ihm nur um die Wette strahlen.
Was war vorhin nur mit ihr los gewesen?
Es gab nirgendwo eine graue Wolke, und ihre Liebe zu Tom stand auf einem Dauerhoch.
Wahrscheinlich lag es nur daran, dass sie nicht genug geschlafen hatte. In solchen Fällen sah man, weil man müde war, Gespenster wo es keine gab.
»Ach, Tom, ich bin ja so glücklich«, rief sie und hakte sich bei ihm ein, um ihn im nächsten Augenblick wieder loszulassen.
»Du liebe Güte«, rief sie, »welch ein Glück, dass mir das jetzt noch eingefallen ist … Ich habe das Geschenk für Nancy vergessen.«
»Ist doch nicht so wichtig. Wir können es ihr auch schicken«, meinte er.
»Ach, und wohin? Sie ist doch dauernd unterwegs und treibt sich auf irgendwelchen Schiffen auf sämtlichen Weltmeeren herum, um ihrer Forschungsarbeit nachzugehen.«
»Na gut, du gibst ja ohnehin keine Ruhe«, gab er nach. »Also lauf zu, ich starte schon mal und komm zum Haus gefahren.«
Bettina gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange, dann lief sie zum Haus zurück, dort angekommen, fiel ihr ein, dass sie ihren Schlüssel ja überhaupt nicht mitgenommen und dass Tom abgesperrt hatte.
Wie dumm, dass sie das vergessen hatte. Aber wenn man alles auf den letzten Drücker machte, ging alles auch schief.
Sie drehte sich schnell um, ihr linker Fuß schlug um, und sie spürte einen stechenden Schmerz, der sie laut aufschreien ließ.