Читать книгу Bettina Fahrenbach Staffel 7 – Liebesroman - Michaela Dornberg - Страница 7
ОглавлениеBettina verspürte in ihrem linken Fuß einen so starken Schmerz, dass sie aufschrie, obschon sie sonst eigentlich hart im Nehmen war. Sie blickte hinunter und sah, wie ihr Knöchel beim Zusehen anschwoll.
Das war’s dann wohl, schoss es ihr durch den Kopf, denn man musste kein Arzt sein um zu wissen, dass es nun aus dem Kurztrip nach London, auf den sie sich so sehr gefreut hatte, nichts werden würde.
Das war ein zusätzlicher Grund zu weinen.
Sie war so sehr mit sich, ihrem Schmerz beschäftigt, dass sie für einen Augenblick Thomas vergessen hatte.
Erst als das Auto unmittelbar vor ihr hielt, er ausstieg, sich erkundigte: »Tini, wo bleibst …«
Alle weiteren Worte blieben ihm im Hals stecken, denn er hatte gesehen, dass da etwas geschehen war.
Mit wenigen Schritten war er bei ihr.
»Tini, Liebes, um Gottes willen, was ist denn geschehen?« Seine Stimme klang besorgt.
»Ich …, ich …«, sie konnte vor lauter Schluchzen erst einmal nicht sprechen, statt dessen deutete sie mit ihrer rechten Hand auf ihren lädierten Fuß.
»Du liebe Güte«, rief er bestürzt, »wie ist das denn passiert?«
»Einfach so«, schluchzte sie.
Er half ihr wieder auf die Beine, was ihr, weil es wirklich höllisch weh tat, einen weiteren Schmerzensschrei entlockte. Auftreten konnte sie nicht, das machte ein erster Versuch klar.
»Wir müssen hierbleiben«, bestimmte er, »und du musst sofort zu einem Arzt. Hoffentlich hast du dir nichts gebrochen. Dein Knöchel ist ja gigantisch angeschwollen.«
Hierbleiben?
Ja, sie würde nicht fliegen können, das stand fest, aber Tom musste doch deswegen nicht dabei bleiben. Er konnte eh nichts für sie tun. Und zum Arzt fahren konnten sie Leni, Arno oder Toni oder wer auch immer.
»Du musst fliegen«, sagte sie, »Nancy freut sich doch schon so, da sollte wenigstens einer von uns bei diesem großen Augenblick dabei sein.«
»Nein«, wehrte er sofort ab, »das kommt überhaupt nicht infrage. Ich hätte doch keine ruhige Minute.«
Sie hatten nicht bemerkt, dass Leni über den Hof gekommen war, um im Haus wieder Ordnung zu schaffen. »Hallo, ihr Zwei«, sagte sie munter, »warum seid ihr denn noch immer hier? Ihr hättet doch längst weg sein müssen … Flugzeuge warten nicht.«
Bettina deutete nur auf ihren linken Fuß. Es bedurfte keiner Worte.
Leni sah das Malheur auch direkt.
Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: »O Gott, o Gott, o Gott …, was hast du denn angestellt, Bettina? Du bist doch sonst nicht so tolpatschig.«
»Nein, bin ich nicht, aber geschehen ist geschehen, und es ist nichts mehr daran zu ändern.«
»Wir lassen als erstes Yvonne kommen, schließlich hat sie ein ganz normales Medizinstudium abgeschlossen, ehe sie sich als Kinderärztin weitergebildet hat. Und die wird uns sagen, was zu tun ist. Vorher mache ich dir auf jeden Fall erst mal kalte Umschläge, das kann in keinem Fall schaden, und du«, wandte sie sich an Thomas, »mach dich endlich auf die Socken. Du musst nicht hierbleiben, um Bettinas Händchen zu halten. Du störst uns nur.«
»Ich rufe Nancy an und sag ihr, was passiert ist, sie wird Verständnis dafür haben. Leni, du glaubst doch wohl nicht, dass ich meine Tini in einer solchen Situation allein lasse.«
»Sie ist nicht allein«, sagte Leni resolut. »Wenn es dich beruhigt, dann hole ich sie zu uns rüber, oder aber ich schlafe die eine Nacht bei euch im Haus … Du siehst, es geht ohne dich.«
Sie hatten mittlerweile Bettina ins Haus zurückkomplimentiert, was unglaublich schmerzhaft war. Aber tapfer unterdrückte Bettina einen Ausruf des Schmerzes, denn dann würde Thomas wirklich nicht fahren. Und es war doch wirklich töricht, dass er hierblieb. Er konnte ihr den Schmerz nicht nehmen und sie auch nicht heilen. Und es ging ja wirklich nur um eine Nacht, die er weg sein würde.
»Tom, Leni hat recht, du kannst nichts für mich tun, aber wenn du nach London fliegst, kannst du mir wenigstens hinterher berichten, wie die Veranstaltung gelaufen ist, was das für ein Forschungsauftrag ist, der Nancy ins Südchinesische Meer führt, und vor allem, wer ihr den Preis überreicht, vielleicht doch die Königin.«
Thomas zögerte noch immer. Ihm war anzusehen, dass er seine große Liebe nicht allein lassen wollte. Aber Leni und Bettina redeten immer weiter auf ihn ein, dass er schließlich nachgab. Schon allein, um seinen inneren Frieden wieder zu gewinnen. Und es stimmte ja auch, was sie sagten, tun konnte er nichts, und morgen würde er eh wieder zu Hause sein. Was auch stimmte – Nancy wäre schon enttäuscht, wenn nicht wenigstens einer käme um bei der Preisverleihung dabei zu sein, durch die ihr schwarz auf weiß bestätigt wurde, dass sie weltweit zu den besten Meeresbiologen gehörte.
Er und Nancy waren als Studenten kurz miteinander verheiratet gewesen, eine Ehe, die nicht aus Liebe, sondern aus rein rationalen Erwägungen geschlossen worden war. Sie waren vorher Freunde geblieben, gute Freunde.
Ja, es würde Nancy schon etwas bedeuten, einen guten Freund dabei zu haben.
»Tom, mein Liebling, bitte flieg nach London«, drang Bettinas Stimme in seine Gedanken.
Er hörte Leni sagen: »Thomas, es wäre Schwachsinn, wenn du jetzt nicht fliegen würdest. Du kannst hier für Bettina nichts tun, wirklich nicht.«
Er gab sich einen Ruck.
»Also gut, dann flieg ich, wenn auch ungern. Aber ich sehe schon, dass ich gegen euch ohnehin nichts ausrichten kann. Eine Bitte habe ich … Haltet mich ununterbrochen auf dem Laufenden.«
Das versprachen die beiden Frauen.
»Leni, kommst du mit raus, damit ich dir Bettinas Reisetasche geben kann? Die muss ich ja wohl nicht mit nach London nehmen.«
Er wandte sich Bettina zu.
»Ihr zwei habt mich überredet …, allein macht es keinen Spaß. Ich hatte mich so auf diesen Kurztrip mit dir gefreut. Versprich mir, dass du wirklich zum Arzt gehen wirst.«
Sie nickte und versuchte krampfhaft ihre Tränen zurückzuhalten. Sie fühlte sich auf einmal so elend, verlassen. Am liebsten hätte sie ihn doch gebeten, bei ihr zu bleiben, nicht zu fliegen, aber das wäre ganz schön egoistisch gewesen. Warum nur hatte sie nicht aufgepasst, warum war sie so schusselig gewesen? Das alles wäre nicht passiert, wenn sie ihre Gedanken beisammen gehabt und Nancys Geschenk eingepackt hätte.
»Tom, das Geschenk für Nancy«, rief sie. »Es liegt in der Diele auf der Kommode …, bitte nimm es mit.«
»Am liebsten würde ich es hierlassen«, brummelte er, »denn nur deswegen ist das alles passiert.«
Als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, fuhr er fort: »Ist schon okay, ich nehme es mit.«
Dann beugte er sich zu ihr herunter, nahm sie zärtlich in die Arme, küsste sie sanft. »Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr, ehe er sich wieder aufrichtete, ihr über das Haar strich, sie anschaute.
Ihm war anzusehen, dass er nicht die geringste Lust hatte sie allein zu lassen.
Erst als Bettina sagte: »Du musst los, mein Schatz, sonst verpasst du den Flieger wirklich«, wandte er sich seufzend ab und verließ den Raum.
Bettina hörte, wie er sich noch mit Leni unterhielt, die die Reisetasche in Empfang genommen hatte.
Als der Motor aufheulte und sie sicher sein konnte, dass Thomas nicht mehr zurückkommen würde, brach sie weinend zusammen.
Wie sehr hatte sie sich auf die Reise gefreut, auf Nancy, auf das festliche Bankett, auch auf London, obschon sie von der Stadt nicht viel gesehen hätte.
Warum war ihr das ausgerechnet jetzt passiert?
Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal einen solch unsinnigen Unfall gehabt zu haben.
Bettina versuchte ihren geschwollen Fuß zu bewegen, doch das ließ sie sofort sein, weil wieder ein unerträglicher Schmerz sie durchzuckte.
*
Als Leni hereinkam und das Häufchen Elend vor sich sah, war sie mit wenigen Schritten bei Bettina, umarmte sie und sagte: »He, davon geht die Welt nicht unter. Irgendwann wirst du Nancy mal sehen, und London bleibt auch stehen und verflüchtigt sich nicht … Wer weiß, wofür es gut ist. Auf jeden Fall bist du jetzt einmal gezwungen dich auszuruhen, damit du für die Hochzeit fit bist.«
Hochzeit …
Sofort begann Bettina erneut zu weinen.
»Was ist denn nun schon wieder los?«, erkundigte Leni sich, während sie einen kalten Umschlag um den lädierten Fuß machte.
»Meine Hochzeit«, jammerte Bettina, »bis dahin ist mein Fuß doch noch nicht in Ordnung … Ich sehe mich schon vor den Altar humpeln … Das darf doch nicht wahr sein!«
Leni klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.
»Jetzt entspann dich mal, es gibt wahrhaftig Schlimmeres im Leben. Und wer sagt denn, dass bis dahin dein Fuß noch nicht in Ordnung sein wird? Vielleicht geht die Schwellung zurück, mittels einer Spritze oder Tabletten geht der Schmerz vorbei. Und im übrigen, dein Kleid ist bodenlang, da sieht man weder einen dicken Fuß noch welche Schuhe du anhaben wirst. Und humpeln? Kein Mensch wird das bemerken oder darauf achten, weil sie alle nur in dein glückstrahlendes Gesicht sehen werden … Und nun hole ich mal das Telefon und rufe Yvonne an, damit die vorbeikommt und es sich mal anschaut oder uns sagt, was zu tun ist.«
Lenis Resolutheit brachte Bettina wieder ein wenig runter. Sie sah zu, wie Leni umständlich anfangen wollte, die Telefonnummer der Herzogs zu wählen, als das Telefon klingelte.
Leni reichte den Hörer zu Bettina, weil das ganz bestimmt kein Anruf für sie sein konnte. Bettina meldete sich, sie begann zu strahlen.
»Tom«, rief sie so überschwänglich, als habe sie ihn nicht erst vor kurzem zum letzten Male gesehen, sondern bereits vor einer Ewigkeit.
»Tini, irgendeine Stimme in mir sagt mir, dass ich umkehren soll. Es ist doch bescheuert, dass ich jetzt allein nach London fliege, während ich mir wahnsinnige Sorgen deinetwegen mache. Ich nehme die nächste Ausfahrt und drehe um.«
»Nein, mein Liebster, das musst du wirklich nicht. Lass es uns so machen wie besprochen. Leni hat mich bereits gut versorgt. Die Umschläge, die sie mir macht, verschaffen mir Linderung, und sie war gerade dabei Yvonne anzurufen, als das Telefon klingelte und du es warst … Du siehst, wir haben hier alles im Griff.«
»Ich weiß nicht …«
»Doch, mein Liebling. Wie Leni bereits sagte, kannst du mir ohnehin nicht helfen, da muss ich allein durch. Wenn ich nicht so schusselig gewesen wäre, wäre es auch überhaupt nicht passiert.«
»Ist es aber, und ich möchte lieber bei dir sein als in einem fremden Land unter fremden Menschen an so einer offiziellen Nummer teilzunehmen. Von Nancy werde ich ohnehin nicht viel haben, und wenn jemand Verständnis für die veränderte Situation haben wird dann sie. Wahrscheinlich wird sie mich zusammenstauchen, weil ich ohne dich angedackelt komme. So war es nicht geplant.«
»Aber so haben wir es doch besprochen, mein Schatz, und lass es uns auch so machen. Du fliegst nach London, ich warte auf dich und auch darauf, dass du mich nach deiner Rückkehr sehnsuchtsvoll in die Arme schließen wirst.«
»Dafür muss ich nicht vorher nach London fliegen, ich habe jetzt schon Sehnsucht nach dir.«
»Dann bewahr sie dir auf«, versuchte sie heiter zu sein, »um so schöner ist die Wiedersehensfreude.«
Sie war jetzt nicht ganz ehrlich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie ihm nämlich jetzt gesagt, ja, mach es wahr, kehr um, komm zurück.
Aber Bettina wusste, dass er es nur ihretwegen machen würde, und das wollte sie nicht. So egoistisch durfte sie nicht sein. Deswegen redete sie ihm noch solange zu zu fliegen, bis er sich schließlich geschlagen gab und einwilligte.
»Also okay, aber bitte ruf mich sofort an, wenn Yvonne bei dir war oder wenn ein Arzt sich deinen Fuß angesehen hat, versprichst du mir das?«
»Ja, das verspreche ich … Ach, Tom, hoffentlich ist es bis zu unserer Hochzeit besser, damit ich nicht vor den Altar humpeln muss.«
Er begann leise zu lachen.
»Musst du nicht«, beruhigte er sie, »wenn du nicht richtig laufen kannst, dann trage ich dich eben zum Altar, so einfach ist das. Wenn es ginge, würde ich es ohnehin am liebsten tun, dich auf Händen durchs Leben tragen.«
Bettina wurde ganz warm ums Herz. Er fand immer so wunderbare Worte, um seine Liebe auszudrücken. Ein unvorstellbarer Gedanke, durchs Leben getragen zu werden …
Aber auf Dauer würde das vermutlich total langweilig sein, ganz besonders für jemanden wie sie, der mit festen Beinen im Leben stand, nun, die meiste Zeit wenigstens, jetzt war sie erst einmal gehandicapt.
»Lass uns Hand in Hand durchs Leben gehen, mein Liebster«, antwortete sie. »Ein solcher Gedanke gefällt mir besser, aber es ist tröstlich zu wissen, dass ich mir für unseren Hochzeitstag keine Sorgen machen muss.«
»Du musst dir nicht nur da keine Sorgen machen, liebste Tini. Du hast doch jetzt einen Mann an deiner Seite, der dich …«, er beendete den Satz nicht, und es dauerte einen Moment ehe er wieder zu sprechen begann. »Du, ich muss jetzt aufhören, da auf der rechten Fahrspur ist was los, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren … Also, um es noch einmal klar auszudrücken …, ich fliege nach London, okay?«
»Ja, du fliegst nach London, und ich warte auf deine Rückkehr«, bestätigte sie. »Ich warte mit einem Herzen, aus dem die Liebe fast schon überquillt, so viel Gefühl ist da für dich drin.«
»Tini, ich …«
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, aber das musste auch überhaupt nicht sein. Er hätte ihr noch ein paar zärtliche, liebevolle Worte ins Ohr geflüstert, egal, welcher Art. Was aus seinem Mund kam, klang immer ganz wundervoll.
Mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen legte Bettina das Telefon beiseite.
»Es war Thomas«, sagte sie unnötigerweise.
»Das hab ich mitbekommen«, bemerkte Leni trocken, »welch ein Gesäusel … Muss Liebe schön sein.«
Für einen Augenblick vergaß Bettina ihren Kummer, ihren unverändert stark schmerzenden Fuß.
»Ist sie auch«, antwortete sie, »ganz besonders wenn man einen Mann hat wie meinen Tom, der ist das Beste, was es gibt auf Erden. Mit niemandem als ihm könnte ich glücklicher sein.«
Das kommentierte Leni nicht, stattdessen sagte sie: »Schieb mir mal das Telefon rüber, damit ich endlich Yvonne anrufen kann. Von selber wird dein Fuß nämlich nicht heile, und angesichts deiner bevorstehenden Hochzeit haben wir nämlich auch überhaupt keine Zeit zu verlieren.«
Das ließ Bettina sich nicht zweimal sagen, sie gab dem Telefon einen gehörigen Schubs, dass es nur so über den blanken Holztisch schlidderte.
*
Yvonne hatte daheim wohl alles stehen und liegen lassen, denn sie war unglaublich schnell auf dem Fahrenbach-Hof, um sich Bettinas Fuß anzusehen. Sie betastete ihn, drehte ihn behutsam hin und her, dann richtete sie sich auf.
»Vermutlich ist es eine Bänderzerrung«, sagte sie, »aber vorsichtshalber solltest du den Fuß röntgen lassen. Sicher ist sicher.«
Bettina winkte ab.
»Du, ich vertrau dir, Yvonne. Sag, was ich machen soll, vielleicht bandagieren?«
»Schön, dass du mir vertraust, Bettina, aber so, wie du dir das vorstellst, geht es nicht. Ein kompetenter Kollege muss sich das ansehen. Es gibt doch in Steinfeld den Herrn Dr. Schrader, von dem halte ich sehr viel. Markus hat dort auch seinen Arm mit großem Erfolg behandeln lassen. Wenn du willst, bringe ich dich hin.«
»Und die Kleine?«, erkundigte Bettina sich.
»Markus passt auf sie auf.«
»Also, und dein Mann hat auch nicht alle Zeit der Welt seine Arbeit macht sich auch nicht von selbst. Leni oder Arno werden mich fahren. Aber vielleicht kannst du vorher mit diesem Dr. Schrader telefonieren und ihm sagen, was du selbst bereits diagnostiziert hast?«
Yvonne begann zu lachen.
»Ich kann ihn anrufen und ihm auch meine Vermutung sagen, aber wir Ärzte sind da sehr eigen, wir stellen unsere Diagnosen lieber selbst … Sag mal, wie ist das denn überhaupt passiert? Hast du eine Stufe übersehen?«
Bettina erzählte es ihr.
»Und durch meine eigene Schusseligkeit habe ich mich um eine wunderschöne Reise gebracht«, schloss sie ihren Bericht.
»Das ist wirklich ärgerlich«, sagte Yvonne, »aber wer weiß, wofür das gut ist.«
Bettina richtete sich ein wenig auf.
»Wie meinst du das?«, erkundigte sie sich alarmiert.
Yvonne wusste im ersten Moment überhaupt nicht, was Bettina wollte.
»Wie meine ich … was?«, erkundigte sie sich deswegen.
»Na, mit der Bemerkung, wer weiß, wofür es gut ist.«
Yvonne begann zu lachen.
»Ach so, das …, das hat überhaupt keine Bedeutung, es ist so dahergesagt, wie man es manchmal eben so macht … Leg doch nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage … Weißt du was, ich geb dir jetzt eine Tablette gegen deine Schmerzen und dann noch eine halbe, die dich ein wenig wieder runterholt. Du bist ja vollkommen durch den Wind.«
Das musste gerade Yvonne sagen, dachte Bettina, die war doch richtig mimosenhaft und hörte gleich die Flöhe husten.
»Ich frage mich mal, was du in meiner Situation gewesen wärst, hättest dich auf London, auf ein gesellschaftliches Ereignis gefreut, und dann wäre dir so was passiert.«
»Vermutlich wäre ich durchgeknallt«, gab Yvonne zu. »So was ist aber auch zu ärgerlich … Mich wundert’s nur, dass Thomas allein fliegt oder schon geflogen ist.«
Leni mischte sich ein.
»Das wollte er nicht, aber wir haben ihn mit vereinten Kräften beschwatzt es zu tun. Sag mal ehrlich, was soll er denn hier? Bettinas Händchen halten? Dazu hat er ein ganzes, langes Leben lang hinreichend Zeit.«
»Stimmt. Und besser ist es im Grunde genommen auch, wenn man anfangs allein ist und seine Wunden lecken kann. Im übrigen hast du Leni, die wird sich hingebungsvoll um dich kümmern und dir den Hintern nachtragen.«
Bettina blickte Yvonne an.
Hatte aus deren Worten so etwas wie Neid geklungen?
Yvonne wusste, wie gut Leni und Bettina sich verstanden, dass sie ein geradezu herzliches Verhältnis zueinander hatten. Doch das konnte Yvonne auch haben, jederzeit. Leni wartete nur darauf, ihrer Tochter all ihre aufgespeicherte Liebe schenken zu dürfen.
Aber ob das einmal kommen würde?
An Leni lag es nicht, doch Yvonne war in dieser Beziehung unheimlich stur. Obschon sie wusste, dass Leni seinerzeit überhaupt keine andere Wahl gehabt hatte, dass sie gezwungen gewesen war, ihr geliebtes neugeborenes Kind zur Adoption freizugeben, akzeptierte sie zwar ihre Mutter. Aber sie liebte sie nicht, was Leni fast das Herz brach.
Wenn Yvonne von ihren Eltern sprach, dann von den Wiedemanns, und dann war ihre Stimme auch stets voller Liebe.
Diese Bemerkung jetzt war also reichlich unpassend.
»Ich lasse mir von Leni den Hintern gern nachtragen, weil ich nämlich weiß, dass sie das gern tut.«
»Klar, weil sie mich mag … Für dich würde sie es im übrigen auch tun, Yvonne. Noch mehr als für mich, weil du ihre Tochter bist.«
Das war wohl schon wieder zuviel gewesen, Yvonne stand auf.
»So, jetzt nimmst du brav deine Tablette, und dann gib mir mal dein Telefon, und ein Telefonbuch dazu, damit ich meinen Kollegen anrufen kann, ich habe seine Telefonnummer nämlich nicht im Kopf.«
Leni holte stumm ein Glas Wasser, dann ging sie hinaus, um das Telefonbuch zu holen, was für sie kein Problem war, sie kannte dieses Haus hier wie ihre Westentasche.
Bettina schluckte brav ihre Pille.
»Danke, Yvonne, danke für alles«, sagte sie. Sie konnte nicht Schicksal spielen und auch nichts erzwingen, wenngleich sie natürlich am liebsten Mutter und Tochter in Liebe vereint sähe.
Yvonne winkte ab, griff nach dem Telefonbuch, das Leni ihr vor die Nase gelegt hatte.
»Gern getan«, antwortete sie nur knapp, dann wählte sie die Nummer ihres Kollegen und schilderte ihm, was sie bei Bettina vermutete.
Keine fünf Minuten später war das Telefonat beendet, und Bettina hatte für sofort einen Termin.
Wenigstens etwas Positives. Sie ging ungern zu Ärzten, weil sie es hasste, Ewigkeiten in überfüllten Wartezimmern zu sitzen. Das blieb ihr nun, dank Yvonne, zum Glück erspart.
»Arno und ich werden dich fahren«, sagte Leni. »Ich hole ihn rasch.«
»Und ich fahr wieder nach Hause. Für mich gibt es nichts mehr hier zu tun. Bettina, ich kann dir nur anraten, dich an die Anweisungen meines Kollegen zu halten. Was dein Fuß jetzt braucht ist Ruhe, Ruhe und abermals Ruhe, verstanden?«
Bettina nickte. Klar würde sie sich an jede Anweisung halten, sie wollte schließlich an ihrem Hochzeitstag wenigstens wieder ein wenig laufen können, auch wenn es im Augenblick nicht danach aussah.
»Ruf mich an und sag mir, was die Untersuchung gebracht hat«, sagte Yvonne, und das versprach Bettina sofort zu tun. Sie bedankte sich noch einmal bei Yvonne, dann war sie allein. Allein mit ihren Gedanken, die sich allesamt nur um einen einzigen Punkt drehten.
Warum war ihr das passiert?
Sie wusste keine Antwort darauf, sie merkte aber, dass sie, je mehr sie sich da hineinvertiefte, den Tränen schon wieder verdächtig nahe war. Und wozu sollte die Heulerei gut sein? Zu überhaupt nichts.
Sie hangelte nach dem Telefon, dann wählte sie Thomas’ Handynummer. Vergebens, er hatte sein Handy abgeschaltet und saß wahrscheinlich bereits im Flieger, der ihn nach London bringen würde, ihn allein, der Platz an seiner Seite würde leer bleiben.
Jetzt schossen ihr doch wieder die Tränen in die Augen, die sie allerdings rasch wegwischte, als Leni mit Arno ins Zimmer kam.
»Kind, Kind, was machst du bloß für Sachen?«, brummelte er und strich ihr liebevoll übers Haar. »Musst du denn immer gleich hier schreien, wenn was Unangenehmes passiert?«
»Mann, mach sie nicht verrückt«, tadelte Leni ihren Mann, »es ist halt wie es ist, und es hätte auch Thomas passieren können oder dir oder mir. Jedem anderen auch. Jetzt müssen wir das Beste aus der Situation machen. Am besten holst du dein Auto bis vor die Haustür und dann buxieren wir Bettina hinein.«
Er nickte und ging wieder hinaus, um den Wunsch seiner Frau zu erfüllen.
»Und wir zwei versuchen jetzt zusammen bis zur Haustür zu kommen«, schlug Leni resolut vor. »Du legst einen Arm um meine Schulter und hüpfst wie ein kleines Häschen neben mir her.«
Diese Worte belustigten Bettina ein wenig.
»Kleines Häschen ist gut, ich denke, dass ich bereits eine ausgewachsene Häsin bin. Aber klar, wir können es so versuchen, zu dritt kämen wir ohnehin nicht durch die Tür.«
Bettina stützte sich am Tisch ab, dann tat sie wie geheißen, und langsam bewegten sie sich vorwärts.
Es war mühsam, und obschon sie den verletzten Fuß hoch hielt, verspürte sie in ihm einen Schmerz, was vermutlich an der Erschütterung lag, die beim Hüpfen durch ihren Körper ging.
Verflixt!
Es war so unnötig!
Warum hatte sie denn nicht aufgepasst?
Sie musste mit diesen Selbstvorwürfen aufhören, die überhaupt nichts brachten, sondern sie nur quälten.
Was geschehen war, war geschehen, und Leni hatte recht, sie mussten jetzt das Beste daraus machen.
Das Beste?
Nun, das war wohl nicht das richtige Wort.
Sie musste sehen, wie sie mit ihrem Elend fertig wurde.
Arno war mit dem Auto angekommen und ersparte ihr weitere Wortklaubereien.
Gemeinsam mit Leni half er Bettina ins Auto, die einen erneuten Schmerzensschrei ausstieß, weil sie dummerweise mit dem kranken Fuß gegen die Autotür gestoßen war.
*
Yvonne war eine gute Diagnostikerin. Ihr Kollege bestätigte die Diagnose, und auch er sagte ihr, dass sie nichts anderes tun konnte als den Fuß zu schonen. Aber dank einer Fußstütze, die er ihr verpasste, konnte sie wenigstens auftreten.
Ihre wunderschönen Schuhe würde sie an ihrem Hochzeitstag nicht anziehen können, und sie musste sich damit abfinden, humpelnd vor den Traualtar zu treten. Aber das war ihr jetzt auch schon egal. Ein gebrochener Arm wäre schlimmer gewesen.
Allmählich beruhigte Bettina sich und fand sich mit ihrem Schicksal ab. Sie konnte ja doch nichts daran ändern. Sie konnte jammern, weinen, mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Es würde nichts ändern.
Leni und Arno hatten sie gerade zu Hause abgeliefert, Leni hatte ihr rasch noch einen Kaffee zubereitet, als das Telefon klingelte.
Es war Thomas.
»Warum höre ich nichts von dir?«, erkundigte er sich besorgt. »Ist der Fuß gebrochen?«
Seine Besorgnis tat gut!
»Wir sind gerade erst vom Arzt zurück gekommen, mein Schatz, und ich hätte in den nächsten Minuten versucht dich zu erreichen … Nein, gebrochen ist nichts. Es ist eine ziemlich schlimme Bänderzerrung, mein Fuß steckt jetzt in so einem komischen Gestell, und das werde ich auch für einige Wochen tragen müssen … Ich werde an deinem Arm ins Standesamt humpeln, ebenso in die Kapelle, und den Hochzeitswalzer, den können wir uns abschminken …, aber jetzt will ich darüber nicht reden. Bist du gut angekommen? Wie ist das Wetter in London? Regnet es? Und wann wirst du Nancy treffen.«
Er lachte. »Ganz schön geschickt, auf diese Weise abzulenken. Aber gut, ich bin erst mal froh, dass nichts gebrochen ist … Ich bin bereits im Hotel, einem wunderschönen Zimmer mit alten englischen Möbeln, und es tut richtig weh, mir vorzustellen, die Nacht ohne dich in diesem riesigen Bett mit einem Baldachin verbringen zu müssen … London zeigt sich von seiner allerschönsten Seite. Es ist strahlender Sonnenschein, und da das Hotel direkt am Hyde-Park liegt, werde ich wahrscheinlich gleich einen kleinen Spaziergang machen, um dann in etwa einer Stunde Nancy zu treffen. Sie ist auch schon angekommen, hat aber im Augenblick eine Besprechung mit irgendwelchen wichtigen Leuten. Sie bedauert sehr, dass du nicht mitkommen konntest und lässt dich ganz herzlich grüßen. Vielleicht tröstet es dich ein wenig, dass sie fest versprochen hat mal Urlaub bei uns zu machen.«
Darüber musste Bettina lachen.
»Hört sich gut an, aber glaubst du daran?«, fragte sie. »Nancy ist von ihrem Beruf doch so besessen, dass sie das Wort Urlaub aus ihrem Vokabular gestrichen hat … Aber ist ja schon mal gut, dass sie wenigstens den guten Vorsatz hat. Grüß sie von mir zurück und macht euch ein paar schöne Stunden … Meinetwegen musst du dir wirklich keine Sorgen mehr machen. Es geht mir den Umständen entsprechend gut, und ich bin froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.«
Thomas war erleichtert.
»Prima, dass du es jetzt so siehst. Schon dich, pass gut auf dich auf, morgen werde ich ja wieder bei dir sein. Bleibt denn die Leni über Nacht bei dir?«
»Tom, das muss sie nicht, dank dieses grässlichen Dings an meinem Fuß kann ich mich recht gut bewegen, sie schaut nach mir, bringt mir was zu Essen, hilft mir ins Bett, aus dem Bett, was ich im übrigen auch recht gut allein könnte. Aber du kennst ja Leni, wenn die sich was in den Kopf gesetzt hat ist sie davon nicht abzubringen.«
»Oh, da kenne ich aber noch jemanden … In dieser Hinsicht könntest du glatt Lenis Tochter sein, mein Herzblatt.«
»Wogegen ich überhaupt nichts einzuwenden hätte. Leni als Mutter wäre mir alle Male lieber als meine eigene, diese egoistische, selbstherrliche Person. Ich werde ihr niemals verzeihen, dass sie uns durch infame Lügen getrennt hat und wir so viele Jahre ohne einander sein mussten.«
»Tini, Liebes, hör auf damit. Es ist vorbei und eh nicht mehr zu ändern. Wir sind wieder zusammen, und das werden wir für immer sein. Vor uns liegt ein langes, glückliches, gemeinsames Leben, da werden wir doch ein paar Jahre verschmerzen, in denen wir getrennt waren. Sieh es doch einfach mal anders herum, genieße den Triumph, dass es ihr nicht gelungen ist uns zu trennen, weil das, was zusammengehört, immer zusammen kommt.«
Thomas hatte recht. Sie durfte nicht immer wieder in der Vergangenheit herumgraben, aber wenn sie an ihre Mutter dachte, dann kam es einfach immer wieder ans Tageslicht, dann musste sie an die schreckliche Zeit der Trennung denken, an das Leben ohne ihren Tom, an all die einsamen Jahre in denen sie sich von ihm verraten gefühlt hatte.
»Ich will auch gar nicht mehr an Carla denken«, sagte sie deswegen rasch. »Sie kann uns nichts mehr anhaben, und du hast ja so recht, mein Liebling. Das Leben liegt erst vor uns, es lässt sich zwar nichts nachholen, aber wir können die Zeit miteinander intensiv genießen, und das tun wir ja auch. Es ist so wunderschön mit dir, ich genieße jeden Augenblick, und ich kann es schon jetzt, obschon wir erst ein paar Stunden voneinander getrennt sind, kaum erwarten, dich wieder bei mir zu haben … Deine Umarmungen, deine Küsse zu spüren, und all die wunderbaren Worte zu hören, die du immer findest und die mich vor lauter Glück erschauern lassen. Ach, Tom, wenn du wüsstest wie sehr ich dich liebe, so sehr, dass es für dieses Glück überhaupt keine Worte gibt.«
»Geliebte Tini, für das, was zwischen uns ist, da braucht’s auch keine Worte. Unsere Herzen sprechen zueinander, und die haben ihre eigene Sprache.«
Bettina konnte diese Worte weder genießen noch eine Antwort darauf geben, denn hinter ihr war auf einmal ein richtiges Getöse, Linde kam in den Raum gestürmt.
»Sag mal, was hast du denn angestellt«, rief sie, sah, dass Bettina telefonierte, »oh, entschuldige bitte.«
Thomas hatte es mitbekommen.
»Linde ist da, richtig?«, lachte er, »die ist so laut, dass man es bis London hören kann. Grüß sie von mir. Ich melde mich später noch einmal … Tini, ich liebe dich, für immer, forever …, bis später.«
»Bis später«, sagte sie, dann legte sie das Telefon weg.
»Tut mir leid«, sagte Linde nochmal, »hoffentlich habe ich kein wichtiges Gespräch unterbrochen?«
»Es war Thomas«, sagte Bettina.
Da winkte Linde lachend ab.
»Ach so, nur der, das ist nicht so wichtig, ihr seid ja schon so was wie ein altes Ehepaar.«
Typisch Linde, die manchmal ziemlich schnodderig sein konnte.
»Und wenn auch«, antwortete Bettina, »so wird Thomas doch immer der wichtigste Mensch in meinem Leben bleiben, und das werde ich auch nach fünfzig Jahren noch sagen.«
»Und das glaube ich dir sogar«, meinte Linde und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Du und dein Thomas, das ist wirklich eine ganz besondere Liebe, ihr ward schon früher wie Pott und Deckel. Mein Gott, was haben wir alle euch um diese Liebe beneidet. Aber dieses Thema haben wir schon tausendmal durchgekaut. Mich interessiert jetzt mehr, warum du gerade heute diese Pirouetten drehen musstest. Du bist doch eigentlich ein sportlicher Typ, konntest du dich denn nicht auffangen?«
Bettina schüttelte den Kopf.
»Ging leider nicht, es war alles viel zu schnell … Aber mich interessiert jetzt, warum du hier bist. Die Buschtrommel hat doch überhaupt nicht so schnell funktionieren können. Wir sind ja grad mal wieder gekommen.«
»Zufall, die Kinderfrau ist mit den Zwillingen unterwegs, im Gasthof herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Ab heute Nachmittag sind wir ausgebucht, und da wollte ich mir das von Leni geänderte Kleid abholen, das ich auf deiner Hochzeit anziehen werde. Na, und da hat sie mir von deinem Unglück erzählt, ich wäre ja überhaupt nicht bei dir reingekommen, weil ich dich in London wähnte … Aber, ehrlich mal, Bettina, mich wundert, dass Thomas allein geflogen ist … Bei jedem Anderen hätte ich das ja normal gefunden, ich wäre im übrigen auch geflogen, aber er behandelt dich wie ein rohes Ei, und nach diesem Missgeschick … Also, ich hätte darauf gewettet, dass er die Reise absagt.«
»Wollte er auch, Leni und ich hatten alle Mühe ihn davon zu überzeugen zu fliegen. Es wäre Nancy gegenüber nicht nett gewesen, und er hätte mir doch nicht helfen können. Er ist kein Wunderheiler, der mir die Verletzung wegzaubern kann, wenn das der Fall wäre, hätte ich alles dran gesetzt, ihn hierzubehalten … Nein, es ist schon gut so wie es ist. Morgen ist er eh wieder daheim, und dann habe ich ihn wieder, meinen geliebten Tom.«
»Manchmal frage ich mich wirklich, wie ihr die Jahre ohne einander überhaupt überleben konntet. Martin und ich haben uns auch sehr geliebt, er war meine große Liebe und ich seine auch. Aber dennoch war es anders mit uns.«
»Linde, jede Liebe ist anders, weil wir Menschen auch unterschiedlich sind, glücklicherweise. Doch es stimmt schon, dass mit Martin und dir, das war auch etwas Besonderes, es war halt die große Liebe.«
Linde nickte.
»Und so wäre es auch geblieben. Martin und ich, wir wären ebenfalls bis ans Ende unserer Tage glücklich gewesen. Wir hatten unsere Lebensplanung, unsere Träume, diesen Geisterfahrer hatte ich allerdings nicht eingeplant …«, ihre Stimme war immer leiser, immer bitterer, aber nun auch hasserfüllt geworden. »Ich werde ihn bis ans Ende meines Lebens hassen«, sprach sie es auch aus, »und ich hoffe nur, dass er jetzt in der Hölle schmort …, guck nicht so. Ich weiß, dass du der Meinung bist, dass man verzeihen soll. Aber das kann ich nicht. Er hat mir den Mann genommen, meinen Kindern den Vater. Martin hatte sich so sehr auf die Beiden gefreut, es war ihm nicht einmal vergönnt gewesen sie zu sehen. Hätte dieser Typ nicht für sich allein sterben können? Warum, zum Teufel, hat er Martin mit in den Tod nehmen müssen?«
»Weil der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Weißt du, Linde, ich denke, wir können unserem Schicksal nicht entrinnen, wenn unsere Uhr abgelaufen ist, dann müssen wir gehen. Sieh mal, Martin wäre normalerweise daheim gewesen. Er hatte sich aber spontan bereit erklärt, für einen Kollegen einzuspringen. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre er daheim geblieben, es hätte einen anderen getroffen.«
Linde winkte ab.
»Dazu kennst du meine Meinung«, sagte sie. »Und wir können noch tausendmal darüber diskutieren, ich seh das anders … Wenn deine Theorie stimmen würde, dann müsste dein Sturz ja auch eine tiefere Bedeutung haben.«
»Nö, das war nichts weiter als eine Dusseligkeit von mir«, wehrte Bettina ab. »Im übrigen kann man nicht jeden kleinen Zwischenfall als schicksalhaftes Ereignis interpretieren. Ich war blöd, und jetzt sitz ich hier und werde zum Altar humpeln, keine so tolle Vorstellung.«
»Ein Armbruch wäre schlimmer, dann könntest du nämlich dein Prinzessinnenkleid nicht anziehen, und das wäre ein Drama.«
»Und genau das habe ich mir auch schon gesagt«, stimmte Bettina ihr zu.
Das Telefon klingelte.
Wieder Tom?
Hastig griff Bettina danach, er war es nicht, sondern Yvonne, die sich erkundigte:
»Warum meldest du dich nicht? Was hat mein Kollege gesagt? Die Diagnose bestätigt?«
»Entschuldige, Yvonne, dich hätte ich gleich angerufen, aber erst hat Thomas sich gemeldet, und jetzt ist Linde bei mir.«
Die stand auf.
»Ich bin schon weg«, sagte sie. »Ich melde mich später wieder bei dir.«
Sie winkte Bettina zu, wirbelte aus dem Zimmer, wenig später schlug die Haustür zu.
»Du hast es mitbekommen, Yvonne. Linde war hier.«
Dann erzählte sie, was Yvonnes Kollege gesagt und wie er sie verarztet hatte …
*
In den nächsten Stunden ging es bei Bettina zu wie in einem Bienenhaus.
Natürlich hatte Leni dafür gesorgt, dass alle von Bettinas Missgeschick erfuhren, und so gaben sich alle Hofbewohner die Türklinke in die Hand.
Es war zwar schön, dass alle so sehr an ihrem Missgeschick Anteil nahmen, aber ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie ein wenig Ruhe gehabt hätte. Außerdem war es langweilig immer wieder beinahe gebetsmühlenartig alles herunterzuleiern. Wann es geschehen war, wie es geschehen war, was sie gedacht hatte, was Thomas dabei empfunden hatte …
Als eine der letzten kam Inge Koch zu ihr.
»Bettina, jetzt habe ich ein so schlechtes Gewissen, dass ich gerade jetzt nach Amerika gehe, wo dir das mit deinem Fuß widerfahren ist. Wenn ich könnte, würde ich alles aufschieben, aber der Spediteur ist bestellt, und die Flüge sind gebucht. Kein so gutes timing …«
»Inge, es war nicht geplant, und mach dir jetzt um Gottes willen kein schlechtes Gewissen. Nur mein Fuß ist verletzt, was ärgerlich ist, weil ich dieses Ding da«, sie deutete auf die Gehstütze, die sie vom Arzt angepasst bekommen hatte, »auch während der Flitterwochen tragen muss. In der Firma wäre ich so oder so aufgefallen. Ich finde den Gedanken nicht prickelnd, so verpackt irgendwo unter südlicher Sonne herumsitzen und herumhumpeln zu müssen … Aber es ist wie es ist. Es gibt Schlimmeres im Leben. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Freue dich auf dein neues Leben in Amerika an der Seite von Bob. Und belaste dich nicht mit Gedanken an mich. Das geht alles vorüber … Bist du denn schon sehr aufgeregt?«
Inge nickte.
»Das kann man wohl sagen. Manchmal kann ich nicht fassen, dass ich es bin, die diese Entscheidung getroffen hat. Ich war mein Leben lang nicht abenteuerlustig, und ausgerechnet ich gehe dieses Wagnis ein. Das liegt an Bob. Der ist so unglaublich optimistisch, sieht alles so einfach, dass man überhaupt nicht anders kann als sich seine Denkweise anzueignen … Ich bin nicht so blauäugig zu glauben, dass ich forthin auf Wolke sieben leben werde, dass es keine Probleme geben wird. Doch wenn ich anfange darüber zu reden, wischt er meine Bedenken einfach weg, und das macht er mit einer solchen Überzeugung, dass ich ihm glaube.«
»Und genau darauf kommt es an, Inge. Man muss zu seinem Partner Vertrauen haben.«
»Hab ich, aber manchmal kommen mir doch Bedenken. Es gibt schon einige gravierende Dinge zwischen uns. Ich bin älter als er, ich bin Deutsche. Es gibt zwischen uns und den Amis doch erhebliche Unterschiede. Dann frage ich mich – wie werden seine Eltern mich aufnehmen? Für sein einziges Kind wünscht man sich nicht unbedingt so was wie mich.«
Lachend hielt Bettina sich die Ohren zu. »Inge, hör auf so zu reden. Wie sich das anhört …, so was wie mich. Du bist eine ganz wunderbare Frau, sie können dem lieben Gott auf Knien danken, dass du ihren Bob nimmst. Im übrigen bist du nicht mit seinen Eltern zusammen, sondern mit ihm.«
»Richtig, aber er hat zu ihnen eine enge Bindung. Was, wenn durch mich diese Bindung einen Riss bekommt?«
»Wird sie nicht, du hast doch gesagt, dass sie am Telefon unheimlich nett zu dir sind, dass sie sich auf dich freuen …, sie wissen alles über dich. Was also sollte sich ändern, wenn ihr euch seht? Du bist eine attraktive Frau, die, ich finde es zwar blöd, so was zu sagen, aber vielleicht beruhigt es dich ja, also …, du bist eine Frau, die wesentlich jünger aussieht als sie ist, und Bob sieht älter, reifer aus. Nur wenn man es weiß, da erkennt man einen Altersunterschied zwischen euch, Außenstehende sehen das nicht. Und selbst wenn es so wäre …, was gehen euch die Leute an?«
»Nichts, du hast recht. Aber, Bettina, jetzt bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen. Ich bin hergekommen, um dich zu bedauern, dich zu fragen, ob ich was für dich tun kann. Und was ist? Wir reden über mich.«
»Was auf jeden Fall interessanter ist als über eine Bänderzerrung«, lachte Bettina.
Inges Handy klingelte, das sie vorsichtshalber mitgenommen hatte. Sie meldete sich.
»Ja, ich komme«, sagte sie, nachdem sie zugehört hatte.
»Es war Toni«, erklärte sie, »der Herr Brodersen hat angerufen. Der kommt mit einer Position in unserer Umsatzaufstellung nicht klar. Aber die ist richtig, wahrscheinlich hat er wieder mal nicht richtig hingeschaut.«
»Dazu neigt er«, lachte Bettina. »Der greift lieber zuerst zum Telefon als sich alles in Ruhe ein zweites Mal anzusehen. Ach, Inge, ich werde dich vermissen, weil du eine so nette Person bist. Aber du wirst mir in der Firma auch sehr fehlen, so leicht bist du nicht zu ersetzen, zum einen, weil du unheimlich schnell arbeiten kannst, zum anderen, weil du so korrekt bist, dass man sich tausendprozentig auf dich verlassen kann.«
Ein wenig verlegen wehrte sie ab.
»Mehr als hundertprozentig geht nicht, und …, jeder Mensch ist zu ersetzen, Bettina, auch ich … Ihr werdet mir auch alle fehlen, denn ihr ward meine Heimat, ihr habt mich aufgenommen, als ich wirklich am Boden war, das werde ich niemals vergessen. Warum ist Bob nicht jemand aus einem der Nachbarorte? Er wäre dann bei mir eingezogen, es hätte alles viel einfacher gemacht.«
»Inge, man kann es sich nicht aussuchen. Er ist halt jemand aus Amerika, und er hat dort andere Perspektiven als hier. Ich habe großes Glück, dass Thomas, obschon er viele Jahre in den USA gelebt hat, mit wehenden Fahnen nach Deutschland zurückgekommen ist und dass er Fahrenbach und den Hof hier liebt, nicht nur das, dass er glücklich hier ist. Das ist in der Tat so etwas wie ein Hauptgewinn in einer Lotterie.«
»Thomas ist als Mensch ein Hauptgewinn, er ist ganz wunderbar, und ihr zwei … Wenn man euch zusammen sieht, dann ist es, als ginge die Sonne auf, und …«
Sie brach ihren Satz ab, sprang auf.
»Du liebe Güte, der Brodersen, den hatte ich doch jetzt ganz vergessen. Ich muss weg, werde auf jeden Fall nochmals bei dir vorbeischauen. Soll ich dann Bob mitbringen?«
»Ja, gern. Er ist ein so fröhlicher Mensch, der kann mich bestimmt aufheitern, falls ich irgendwann doch noch einmal das arme Tier bekommen sollte.«
Inge ging, und Bettina war allein.
Doch für wie lange?
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen.
Dabei dachte sie an Thomas. Was der wohl jetzt machte?
Wie gern wäre sie bei ihm. Welchen Spaß sie jetzt miteinander hätten …
Nein!
Halt!
Jetzt keine Gedanken, die traurig machten. Sie durfte sich nicht wieder da hineinsteigern.
Sie wollte nach einem Buch greifen, doch dann besann sie sich.
Jetzt zu lesen würde überhaupt nichts bringen, weil ihre Gedanken permanent anderswo hinwandern würden.
Sie angelte sich vom Tisch eine Mappe mit Kalkulationen, holte ihren Taschenrechner hervor, dann versuchte sie, sich darauf zu konzentrieren, was ihr schließlich nach einer Weile auch gelang.
Toni war der Meinung, dass sie noch eine ganze Menge Kosten sowohl bei der Produktion als auch beim Versand sparen konnten und hatte bereits gute Vorarbeit geleistet und ihr die Unterlagen schon vor einigen Tagen zur Überprüfung gegeben.
Und Bettina hatte keine Lust gehabt, sich das anzusehen, weil sie immer mit anderen Sachen beschäftigt gewesen war. Das jetzt war der richtige Augenblick, sich darum zu kümmern.
Zwei, drei Stunden würde alles schon in Anspruch nehmen, und das bedeutete, dass Toms Rückkehr um genau diese Zeit näherkam.
*
Sie hatte die Unterlagen gerade beiseite gelegt. Toni hatte alles perfekt vorbereitet, und sie hatte an seinen Ausarbeitungen überhaupt nichts auszusetzen. Alles war perfekt, und wieder einmal wurde Bettina bewusst, wie wichtig Toni für die Destille war. Wenn er gehen würde …, das wäre in der Tat ein herber Verlust.
Aber zum Glück musste sie solche Gedanken nicht weiter verfolgen.
Toni würde niemals gehen.
Auch Leni und Arno würden den Fahrenbach-Hof niemals verlassen, und das lag nicht daran, dass ihr Vater ihnen lebenslanges kostenloses Wohnrecht auf dem Fahrenbach-Hof eingeräumt hatte, sondern daran, dass sie den Fahrenbachs wohl gesonnen waren, dass sie, das konnte man so ausdrücken, die Fahrenbachs liebten, ihren verstorbenen Vater und sie, auf die sie ihre Liebe übertragen hatten.
Es war schön und beruhigend zugleich, so etwas zu wissen.
Aber bei ihr war es ja nicht anders.
Die Hofbewohner waren mehr ihre Familie als ihre eigene.
Was hatten sie nicht schon alles für sie getan, und heute morgen, da war Leni sofort da gewesen, und Arno hatte sie, ohne zu murren, sofort zusammen mit seiner Frau zum Arzt gefahren.
Wie schön es doch war, zu wissen, dass man nicht allein war.
Seit Thomas in ihrem Leben war, hatte sich einiges verändert. Er war ihre erste Bezugsperson, aber es war auch ganz wundervoll, dass sie ihn auch mochten, schon gemocht hatten, als er noch jung gewesen war, ehe er mit seinen Eltern nach Amerika gegangen war.
Sie hatten ihn immer in ihrem Herzen behalten, und als er zurückgekommen war, war es so gewesen, als sei er niemals weg gewesen.
Thomas war eben ein besonderer Mensch, der auch auf die unterschiedlichsten Leute eingehen konnte. Er war aufrichtig, hilfsbereit, nett …
Das Telefon klingelte, und ehe sie den Hörer abnahm wusste sie, dass Thomas der Anrufer sein würde.
Sie hatte sich nicht geirrt.
»Hallo, mein Herz, wie geht es dir? Wie hast du die letzten Stunden verbracht? Hast du Schmerzen? Ich musste immerfort an dich denken und war so unaufmerksam, dass Nancy mich jetzt in mein Zimmer geschickt hat mit dem Auftrag, dich sofort anzurufen. Etwas, was ich liebend gern in die Tat umgesetzt habe. Ich vermisse dich so sehr, wenngleich es mit Nancy kurzweilig ist. Sie führt ein geradezu abenteuerliches Leben, du glaubst überhaupt nicht, was auf einem Forschungsschiff oder auf einer festen Forschungsstation so alles passiert …, aber ich will nicht ablenken. Also sag mir, was bei dir los ist?«
»Es geht mir einigermaßen gut, und über Langeweile kann ich mich nicht beklagen. Erst einmal waren alle Hofbewohner schon bei mir, sogar die hochschwangere Babette mit der kleinen Marie auf dem Arm. Und dann habe ich mir längst überfällige Unterlagen aus der Destille angesehen.«
»Wie schrecklich, du quälst dich mit Zahlen, während ich es mir hier schön mache … Aber nein, schön ist es nicht wirklich, mit dir an meiner Seite wäre es das. Es ist interessant, und Nancy ist so froh, dass sie jemanden an ihrer Seite hat, den sie mag. Das lässt mich die nächsten Stunden, so hoffe ich, einfacher überstehen. Ich habe übrigens in einem der Hotelshops hier etwas ganz Wunderbares entdeckt, das musste ich für dich kaufen, weil es wie für dich gemacht ist.«
Sie wäre keine Frau, wenn sie jetzt nicht neugierig fragen würde: »Was ist es denn, Tom?«
»Wird nicht verraten, aber ich weiß, dass es dir gut … Nein, dass es dir sehr gut gefallen wird. Nancy ist auch der Meinung, dass es haargenau zu dir passt.«
»Ach, war sie dabei?«
»Ja, sie hat es auch entdeckt, Frauen haben für solche Dinge eher ein Auge. Ich gehöre nicht zu den Männern, die an Schaufenstern vorbeischlendern und sich da die Nase platt drücken. Aber nachdem sie mich darauf hingewiesen hatte, war ich auch sofort der Meinung – das muss zu meiner Tini und zu sonst niemandem.«
Er machte es so richtig spannend.
»Mach wenigstens eine Andeutung …«
»Nein, geht nicht, dann würdest du es erraten.«
»Ist es … ein Schmuckstück?«
»Wird nicht verraten.«
»Was zum Anziehen?«
»Wird nicht verraten.«
Es hatte keinen Sinn, er würde es ihr nicht sagen.
»Tom, das ist nicht fair, nur eine Andeutung zu machen und nun nichts mehr zu sagen.«
»Warte es ab, morgen um diese Zeit werde ich wieder bei dir sein … Nein, nicht genau, aber zwei Stunden später, und da bekommst du dein Präsent als erstes …, noch vor dem Begrüßungskuss.«
»Also, weißt du, mein Liebling, ich ziehe den Begrüßungskuss vor, der ist mir wichtiger als alle Geschenke dieser Welt.«
Das verschlug ihm für einen Augenblick die Sprache.
»Was soll ich dazu sagen?«, meinte er schließlich. »Ich glaub, darauf muss ich mir was einbilden, oder?«
»Ja, kannst du. Du bist mir das Allerwichtigste. Für dich gäbe ich alles her …, sogar den Fahrenbach-Hof.«
Wieder konnte er nichts sagen.
»Tini, ich …«
»Tom, es stimmt. Ich weiß gar nicht, was los ist. Aber ich habe das Gefühl, dass ich dir andauernd sagen muss wie sehr ich dich liebe, was du mir bedeutest. Kann eine so kurze Trennung einen solchen Gefühlsausbruch auslösen? Ich bin verrückt vor lauter Sehnsucht und Liebe und habe das Gefühl, es dir an einem Streifen sagen zu müssen, geradezu so, als würde ich etwas verpassen.«
»Mir geht es ähnlich«, gab Thomas zu, »ganz offensichtlich sind wir so fest miteinander verbandelt, dass wir ohne einander nicht sein können. Lass es uns eine Lehre sein, allein nichts mehr zu unternehmen. Es macht wirklich keinen Spaß, ohne dich hier zu sein, und, ehrlich mal, Tini, ich bedaure es, auf dich und Leni gehört zu haben. Ich hätte bei meinem Nein bleiben sollen und die ganze Reise absagen. Nancy hätte es verstanden. Aber, was hilft’s, ich bin hier und fiebere dem Augenblick entgegen, dass ich den Rückflug antreten kann.«
»Und ich fiebere dem Moment entgegen, dich wieder bei mir zu haben.«
Bettina hörte Geräusche, die Haustür wurde geöffnet, Leni kam wenig später ins Zimmer, beladen mit einem Tablett.
»Leni ist gerade gekommen«, sagte Bettina, »um mich zu versorgen. Du siehst, du kannst ganz beruhigt sein. Es fehlt mir an überhaupt nichts.«
»Das beruhigt mich, sag ihr, dass ich auch für sie etwas entdeckt habe, was sie sehr erfreuen wird.«
»Natürlich wirst du mir das auch nicht verraten«, bemerkte Bettina und hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen, denn seine Reaktion war ein Nein, dem er hinzufügte: »Du würdest es ja doch ausplaudern, und dann wäre es keine Überraschung mehr, mein Herz … Ich melde mich später noch mal, ehe das ganze Spektakel losgeht, okay?«
»Einverstanden«, rief sie, »ich freue mich darauf.«
Dann war das Gespräch beendet und sie konnte sich Leni zuwenden, die kopfschüttelnd das Tablett abgestellt hatte.
»Ich glaube es nicht, schon wieder Thomas«, sagte sie, »das kann doch nicht wahr sein. Ihr seid doch erst ein paar Stündchen getrennt. In dieser kurzen Zeit kann ja überhaupt nicht so viel geschehen sein, um andauernd miteinander zu telefonieren. Was habt ihr euch denn so Wichtiges zu sagen?«
Bettina schielte auf den Teller. Leni hatte ihr einen köstlichen Salat zubereitet mit leckeren Putenstreifen oben drauf. Genau so, wie sie es gern mochte. Und genau das, worauf sie im Augenblick Lust hatte.
»Wir haben uns das Wichtigste zu sagen, was Menschen sich überhaupt sagen können«, antwortete sie und wandte sich wieder Leni zu, »nämlich, dass wir uns lieben, dass wir uns vermissen und niemals mehr ohne einander verreisen werden.«
Lachend winkte Leni ab.
»Das seht ihr im Moment so. Aber warte mal ab, wenn die Werbewochen erst mal vorbei sind, da werdet ihr froh sein, trotz aller Liebe, einfach mal Zeit für euch allein zu haben.«
Entschieden schüttelte Bettina den Kopf. »Das wird niemals eintreten«, sagte sie im Brustton der Überzeugung.
»Warten wir’s ab«, entgegnete Leni, »wenngleich ich allerdings zugeben muss, dass du und Thomas … Na ja, vielleicht wird es bei euch die Werbewochen überdauern.«
»Ganz gewiss«, war Bettinas Antwort.
Leni stellte ihr den Teller zurecht, legte das Besteck beiseite und brachte Bettina etwas zu trinken.
»Wie geht es dir jetzt?«, wollte sie wissen, nachdem sie sich ebenfalls an den Tisch gesetzt hatte.
»Besser«, sagte Bettina, »allerdings weiß ich nicht, ob das so bleiben wird, wenn die Wirkung der Schmerzmittel nachlässt. Aber ich bin ja auch eine ganz brave Patientin, die sich an alle Anweisungen des Doktors hält. Vielleicht kann ich ja doch an meinem Hochzeitstag die wunderschönen neuen Schuhe anziehen, wenigstens für den Gang in die Kapelle.«
Leni winkte ab.
»Bettina, vergiss es, es geschehen über Nacht in einem solchen Fall keine Wunder. Du hast eine arge Bänderzerrung, und bis das ausgeheilt ist, dauert es seine Zeit. Wenn du so eitel bist und leichtfüßig zum Standesamt und in die Kapelle gehen willst, dann musst du eben die Hochzeit verschieben.«
Voller Entsetzen blickte Bettina die getreue Seele an. Das konnte Leni doch jetzt nicht wirklich ernst gemeint haben, oder?
»Leni, die Hochzeit verschieben? Niemals im Leben, das ist unfreiwillig bereits zweimal geschehen. Ein drittes Mal? Nein, und wenn ich auf allen Vieren in die Kapelle krauchen müsste. Ich möchte endlich Frau Sibelius werden, möchte endlich mit Thomas verheiratet sein. Also werde ich mich wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen müssen, humpelnd vor den Traualtar zu treten. Ein Glück ist ja, dass man auf den Hochzeitsfotos von dem Handicap nichts sehen wird.«
»Und selbst wenn es so wäre, dann wäre das kein Beinbruch, wie bereits gesagt. Sei froh, dass alles so glimpflich ausgegangen ist. Du hättest so unglücklich stürzen können, dass du dir das Genick hättest brechen können.«
»O Gott, Leni, jetzt fährst du aber starke Geschütze auf. Du liest eindeutig zu viele von den Horrorgeschichten in deinen bunten Blättchen.«
»Es handelt sich dabei nicht um Horrorgeschichten, sondern um Tatsachen«, widersprach Leni.
»Klar, Tatsachen, die der Feder irgendwelcher Journalisten entsprungen sind, damit die Auflagen der Zeitungen gesteigert werden. Jetzt mal ehrlich, Leni, so viele Unfälle kann es gar nicht geben, wie sie in diesen Blättern andauernd in epischer Breite beschrieben werden.«
»Denk ich aber doch, das Leben ist kein schillernd bunter Traum, und denk doch bloß mal daran, was in unserer unmittelbaren Umgebung in kürzester Zeit schon geschehen ist. Und das betrifft nur Fahrenbach …, es gibt viele andere Orte auf der Welt. Also, rechne jetzt mal hoch …«
»Leni, bitte erspar mir das, dazu habe ich keine Lust, weil es nämlich überhaupt nicht wichtig ist … Lass uns mal über ein Drama reden, das sich hier auf dem Hof abgespielt hat, bei dem es allerdings nur um den Verlust von Geld und einem Status geht. Ist die Frau Lummerich heute abgereist wie von ihrem Noch-Ehemann verlangt?«
Leni nickte.
»Ja, ist sie, sie hatte ja keine andere Wahl, denn wenn sie der Aufforderung des Anwalts nicht gefolgt wäre, hätte sie gar nichts bekommen. Ja, ja, so tief kann man fallen, wenn man jemanden hintergeht, wenn man nicht ehrlich ist und sich nur wegen eines schönen Lebens mit einem älteren Mann zusammentut.«
»Der Altersunterschied ist ja nicht der Grund der Trennung«,
sagte Bettina, »sondern ihre Dusseligkeit, weil sie vergessen hat, die Anti-Babypille wieder wegzupacken, sonst wäre es mit den Beiden ja noch ewig weiter gegangen. Sie hätte ihm weiter etwas vorgespielt, und er wäre weiter fast daran verzweifelt, kein Vater zu werden.«
»Na ja, das können wir abhaken, aber ich glaube, ein neues Drama bahnt sich an.«
»Ein neues Drama? Wie kommst du denn darauf, Leni?« Leni konnte sich nämlich manchmal in etwas hineinsteigern, und da bekam ihre Fantasie Flügel.
»Nun, vor ein paar Tagen ist doch dieses nette Ehepaar Holzner angekommen.«
Bettina zuckte die Achseln.
»Kann sein, bewusst weiß ich nicht, worum es sich da handelt, es kommen, zum Glück muss man sagen, so viele Gäste, die lerne ich nicht alle kennen … Also, was ist mit dem netten Ehepaar Holzner? Belügen und betrügen die sich auch?«
»Nein, die gehen eigentlich nett miteinander um, aber …«, Leni machte eine bedeutsame, kurze Pause, »heute kamen neue Gäste an, wiederum ein Ehepaar. Die heißen Grasshoff, und was glaubst du, ist passiert?«
Bettina stopfte sich einen Putenstreifen in den Mund, zerkaute ihn genüsslich, ehe sie sich erkundigte: »Ich weiß es nicht, aber du wirst es mir sagen.«
Leni nickte.
»Ja, das werde ich. Also, stell dir vor, die Holzners kommen aus dem Gesindehaus, die Grasshoffs will ich hineinführen, als der Herr Holzner stehen bleibt, die neuen Gäste anstarrt, nicht die Gäste, sie, er starrt sie an. Und andersherum ist es ebenso. Sie geht keinen Schritt weiter, starrt mit weit aufgerissenen Augen den Holzner an.«
»Nun gut«, Bettina fand das nicht dramatisch, »sie haben sich erkannt.«
Leni winkte ab.
»Erkannt? Die waren wie von Blitz und Donner gleichzeitig getroffen … Er stammelte Ulli, und sie hauchte ein Oliver … Ich sag dir was, die hatten mal was miteinander, und dieses zufällige Treffen hier hat sie aus den Puschen gehauen, die waren total neben der Spur.«
»Und dann?«, erkundigte Bettina sich mit mäßigem Interesse. Sie fragte eigentlich nur, um Leni einen Gefallen zu tun, die offensichtlich darauf brannte, ihr von dieser so brisanten Story zu berichten.
»Dann haben sie sich miteinander bekannt gemacht, er hat ihr seine Frau vorgestellt, sie ihm ihren Mann. Aber ich sage dir, die waren nicht bei der Sache, in Wirklichkeit waren sie nur auf sich fixiert, das andere war Formsache.«
»Und dann?«, fragte Bettina erneut.
»Na, dann haben sie sich getrennt, die Holzners sind zu einem Spaziergang oder was weiß ich aufgebrochen, und den Grasshoffs habe ich das Appartement gezeigt, das sie im übrigen wunderschön finden, das ihre Erwartungen bei weitem übertroffen hat.«
»Und wo ist das Drama dabei?«, wollte Bettina wissen und ärgerte sich eigentlich sofort, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, weil sie die ganze Geschichte absolut nicht interessierte.
»Noch gibt es kein Drama«, erklärte Leni, »aber es bahnt sich an. Man kann dran fühlen, dass der Holzner mit der Grasshoff wieder was anfangen wird, die waren so was von fummelig aufeinander, die können gar nicht anders, und dann, na dann wird es einen Krach geben, eine Abreise, vielleicht sogar zwei Abreisen.«
»Oder es wird überhaupt nichts passieren, sie werden vielleicht sogar miteinander was unternehmen, weil die Geschichte, wenn es denn überhaupt eine gegeben hat, zwischen den beiden längst vorbei ist und sie mit ihren jeweiligen Ehepartnern glücklich sind.«
Leni schenkte Bettina noch etwas zu Trinken nach.
»Also wirklich, Bettina, machmal hast du wirklich keine Ahnung.«
»Auf dem Gebiet, liebe Leni, muss ich sie auch nicht haben. Ehe sich die Situation zuspitzt, wohlgemerkt, falls das in der Tat geschehen wird, werden noch ein paar Tage vergehen, und so werde ich es nicht miterleben, weil ich dann bereits mit Tom auf Hochzeitsreise sein werde. Aber du kannst es mir ja
hinterher berichten. Doch soll ich dir mal was sagen? Ich glaube nicht, dass etwas geschehen wird … Sollen wir eine Wette abschließen?«
Das wollte Leni nun auch nicht, denn die Wetten, die sie mittlerweile mit Bettina schon abgeschlossen hatte, hatte sie meistens verloren.
»Nö, lass mal.«
»Gut«, lachte Bettina, »dann lass uns mit diesem Thema aufhören …, der Salat ist übrigens köstlich. Du hast heute ein neues Dressing gemacht, das ist superlecker. Das möchte ich jetzt immer haben.«
Leni war vor lauter Freude rot geworden.
»Das hast du bemerkt? Trotz deiner Schmerzen? Ja, es ist richtig, ich hab da was ausprobiert. Schön, dass es dir schmeckt.«
»Leni, mir schmeckt immer alles, was du zubereitest, du bist einfach begnadet, was das Kochen und Backen anbelangt. Manchmal habe ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, wie du deine Talente hier auf dem Hof an uns verschwendest. Wenn du deine Karriere als Köchin weiter fortgesetzt hättest, würden deine Regale unter all den Pokalen und Auszeichnungen zusammenbrechen.«
»Ich bin glücklich hier und mit meinem Leben. An mein früheres Leben will ich nicht mehr denken, es hat mir kein Glück gebracht. Karriere ist nicht alles. Trotz meines Könnens, trotz aller Auszeichnungen hat Yvonnes Vater mich gnadenlos fallen lassen, um eine reiche Frau zu heiraten. Ich musste meinen kleinen Sonnenschein abgeben, denn auf einmal war niemand mehr da, und alle, die mich sonst vorher hochgelobt hatten, ließen mich fallen wie eine heiße Kartoffel … Nein, Bettina, ich traure nichts nach, und ich brauche keine Bestätigung für das was ich mache. Für euch da zu sein, das macht mich glücklich, und Arno an meiner Seite zu haben … Etwas Besseres kann es für mich nicht geben. Er würde mich niemals verlassen, das ist so beruhigend, so schön.«
Bettina glaubte Leni, aber dennoch fand sie es manchmal schade, dass Leni ihr Können nicht vor einem größeren Publikum zeigen konnte. Denn Spaß machte es ihr schon, es hier und da an den Mann zu bringen, dass sie durchaus in der Lage war, ein mehrgängiges, erlesenes Menü zu zaubern ohne dabei ins Schwitzen zu geraten.
»Arno weiß, was er an dir hat«, sagte Bettina und pickte sich ein Blättchen Rucola heraus. »Ihr zwei passt aber auch fantastisch zusammen, und so stelle ich es mir auch mit meinem Tom vor, nach vielen gemeinsamen Ehejahren noch zu wissen, was man aneinander hat, genau zu wissen, wie der andere tickt und ganz ruhig und gelassen auch einen Krach zu überstehen, weil man weiß, das nichts passieren kann, dass ein Gewitter die Luft reinigt und hernach wieder alles gut ist.«
»Manchmal geht das Gewitter aber auch nur so schnell vorbei, weil einer der Klügere ist und nachgibt, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich sagen, dass ich es bin, weil mein Arno nämlich ein ganz schöner Sturkopf sein kann, und bei dem könnte ein Krach andauern, weil er einfach nicht nachgeben kann. Dabei sehe ich doch, dass es ihn beinahe zerreißt.«
Bettina lachte.
»Ich glaub, bei uns wäre es umgekehrt. Bei uns würde Tom zuerst nachgeben, weil er einfach ein so verträglicher, liebevoller Mensch ist. Aber zum Glück werden wir das vermutlich niemals erfahren, weil ich mir einen richtigen Krach zwischen uns nicht vorstellen kann.«
»Das glaubt niemand, aber glaub mir, Bettina, nirgendwo kann immer nur eitel Sonnenschein sein, so viel Harmonie würde krank machen, und das ist nicht von mir. Das habe ich gelesen, das ist wissenschaftlich erwiesen.«
»Dann widerlegen Tom und ich eben die Wissenschaft«, sagte Bettina und griff nach ihrem Glas, um etwas zu trinken.
Dann lehnte sie sich zurück.
»Leni, mir geht es jetzt so gut, dass ich, wäre da nicht doch der immer wieder spürbare Schmerz in meinem Fuß, glauben könnte, es sei nichts geschehen.«
»Na, da kann man mal sehen, was so ein Salat alles ausmacht, vielleicht sollte ich ihn mir als Anti-Schmerzmittel patentieren lassen.«
»Keine schlechte Idee«, rief Bettina lachend aus, »aber du könntest ihn nicht so frisch und knackig verschicken, da müssten die Leute auf den Hof kommen, und einen solchen Andrang, nein, den könnte ich wahrlich nicht verkraften, dann ginge es hier zu wie in einem Taubenschlag, und das würde unsere himmlische Ruhe hier arg stören. Das mit dem ehemaligen Gesindehaus reicht mir.«
»Kommst du deswegen mit der Gestaltung der Remise, der Tenne und den anderen Gebäuden nicht in die Puschen?«, wollte Leni wissen. »Trotz vorliegender Pläne?«
»Nein, nein, das ist nicht der Grund«, wehrte Bettina sofort entschieden ab.
»Ich habe es vielmehr zurückgestellt, weil Thomas jetzt der Mann an meiner Seite ist. Er soll mitentscheiden, was hier auf dem Hof noch alles passieren, gebaut, umgebaut, restauriert werden soll.«
»Aber der Fahrenbach-Hof gehört dir allein, Bettina«, erinnerte Leni sie.
»Letztlich hast du hier das alleinige Sagen.«
Entschieden schüttelte Bettina den Kopf.
»Klar, auf dem Papier gehört mir alles. Aber ich sehe eine Ehe als ein Miteinander. Da gibt es für mich kein das ist mein, das ist dein, und das gehört uns gemeinsam. Es ist alles unser, und ehrlich mal. Thomas ist ein sehr vernünftiger, besonnener Mann, der käme niemals im Leben auf die spinnerte Idee, hier irgendwo ein Luxushotel hinzusetzen oder einen Golfplatz zu bauen oder wer weiß was sonst. Dem gefällt es in seiner Ursprünglichkeit, und eines weiß ich, auch für ihn muss der Fahrenbach-See in seiner Ursprünglichkeit erhalten bleiben. Da wird nicht das Zipfelchen eines Grundstücks verkauft. Er ist zum Glück auch nicht geldgeil. Ihn kann Geld nicht locken.«
»Nö, das stimmt«, sagte Leni sofort, »der Thomas ist bodenständig, der freut sich eher an einem Baum als dass er ihn abholzen lassen würde, um damit Geld zu machen oder wegen einer besseren Aussicht. Sei froh, dass er so ist wie er ist und nicht so einer wie dein Bruder Frieder, der hier alles verscherbelt oder zugebaut hätte.«
»Also, Leni, meinen Thomas in einem Atemzug mit Frieder zu nennen … Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Die beiden sind ja nun wirklich wie Tag und Nacht. Die stimmen aber auch gar nicht überein. Das war früher schon so, Frieder und Thomas hatten sich nichts zu sagen, ich will sogar weiter gehen, sie konnten sich nicht leiden.«
»Weil dein Bruder schon früher spinnert war und den großen Max markierte. Der ist wie eure Mutter. Glauben beide, sie seien der Nabel der Welt und alles müsse sich um sie drehen.«
»Ja, Leni, stimmt schon, doch ich möchte darüber nicht reden, wirklich nicht.«
»Weil es dir tief in deinem Inneren noch immer weh tut?«
»Nein, Leni«, Bettinas Stimme klang entschieden, »weil ich mit Carla und auch Frieder abgeschlossen habe. Alles geht nur bis zu einem gewissen Punkt, und wenn der überschritten ist, dann ist es halt aus und vorbei. Mit Carla hatte ich längst schon abgeschlossen, mit Frieder jetzt auch, und ich bin froh, dass es nicht mehr so weh tut.«
»Klar tut es noch weh, Bettina, du willst es nur nicht wahrhaben. Du bist ein viel zu sensibler Mensch um dich einfach über Gefühle hinwegsetzen zu können. Es schmerzt dich, dass sowohl dein ältester Bruder als auch deine Mutter bei deiner Hochzeit nicht dabei sein werden. Eine Hochzeit ist etwas Besonderes, etwas Einmaliges im Leben. Es ist ein Tag ganz besonderen Glücks, das will man doch auch mit seiner Familie teilen.«
»Okay, Leni, wenn Frieder kommen würde, dann …, ja, das würde mir gefallen. Eine Einladung hat er bekommen, ob er sie annimmt, wird sich zeigen. Aber meine Mutter? O nein, die hat sich egoistisch von ihrer Familie abgewandt, um diesen reichen Südamerikaner zu heiraten. Und in all den Jahren hat sie kein Lebenszeichen von sich gegeben, uns lediglich einmal sozusagen zur Audienz zu sich gebeten, um sich und ihren unermesslichen Reichtum zu präsentieren. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich das kaum eine Stunde ertragen konnte, weil sie mich unentwegt angemacht hat? Das war immer so, mich konnte sie noch nie leiden, weil ich eine Fahrenbach bin und auch so aussehe wie die Fahrenbachs. Das war und ist ihr ein Greuel.«
»Aber den Hermann Fahrenbach konnte sie schon heiraten und sich an seiner Seite ein schönes Leben machen«, rief Leni empört aus.
»Sie hat Papa nie geliebt, sondern er war für sie nichts weiter als eine Kuh, die sie melken konnte. Sie hat ihn doch fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, als sich ihr die Chance bot, noch mehrere Stufen höher zu steigen.«
»Sie wird ihre Quittung dafür bekommen«, sagte Leni, »so ein Verhalten straft der liebe Gott früher oder später.«
Bettina winkte ab.
»Das sagst du immer wieder, aber passiert ist bislang nichts. Carla ist wie eine Schlange, die windet sich überall durch, wenn jemand so gestrickt ist wie sie, dann fürchtet er sich auch nicht vor einer Strafe Gottes. Diese Carlas kommen immer ungeschoren davon, es trifft immer nur die, von denen man sich fragt, warum ausgerechnet sie.«
»Es wird sie einholen«, widersprach Leni, »und wenn sie mal nicht sterben kann.«
»Das wäre für Carla auch keine Strafe, die kann eh nicht loslassen und würde ihren Reichtum am liebsten mit ins Grab nehmen … Komm, Leni, lass uns nicht über sie reden. Sie ist es nicht wert. Wenn sie mein Glück mit Thomas nicht durch ihre Lügereien und Intrigen zerstört hätte, dann wäre ich mit ihm längst verheiratet. Aber auch das habe ich schon hundertmal erzählt und kann es mittlerweile fast schon singen. Die Vergangenheit ist passé. Es gibt nur noch eine wundervolle Gegenwart, die in eine ebenso wundervolle Zukunft münden wird. Nur noch ein paar Tage, dann findet meine Liebe ihre Krönung, dann erfüllt sich mein größter Traum.«
Sie schaute auf ihr linkes Handgelenk, in das, noch immer deutlich erkennbar, ein T eingeritzt war. Thomas und sie hatten sich die Anfangsbuchstaben ihrer Namen im Überschwang der Gefühle auf ewig mit einem Messer eingeritzt. Während der Zeit der Trennung hatte sie das verflucht, hätte es sich am liebsten wegätzen lassen.
Doch nun machte alles wieder einen Sinn.
B + T in die Handgelenke geritzt, in die Rinde von Bäumen, in die Rückenlehnen von Bänken geschnitzt.
Es würde andauern, genau wie ihre Liebe, die ein langes Leben halten würde.
Bettina war erfüllt vor lauter Liebe, in diesem Augenblick mehr denn je.
»Leni, ich könnte zerspringen vor Glück«, rief sie im Überschwang ihrer Gefühle aus.
»Lass es bleiben, Kind, ich bin mir nicht sicher, ob wir die Scherben dann wieder alle zusammenbekommen. Und du sollst doch heile sein an deinem allerschönsten Tag im Leben.«
»Leni, du nimmst mich nicht ernst. Mich nicht und auch nicht meine Gefühle«, beschwerte Bettina sich.
»Doch, das tue ich, mein Kind, aber ich kann nicht andauernd darüber reden. Ich freue mich mit dir über dein Glück, es ist auch schön, dass du mich und die anderen daran teilhaben lässt. Nur …, es gibt noch etwas anderes als bloß dich und deinen Thomas.«
Bettina lachte.
»Ich weiß, dass ich schrecklich bin, was meine Liebe zu Tom anbelangt, da bin ich, im Gegensatz zu sonst, die reinste Plaudertasche. Aber ich hör jetzt wirklich davon auf.«
Sie veränderte ihre Haltung und verzog sogleich ihr Gesicht, weil ein höllischer Schmerz sie durchzuckt hatte, trotz der Schmerzmittel, die sie genommen hatte.
»Du musst vorsichtiger sein«, mahnte Leni. »Der Arzt hat doch gesagt, dass du keine abrupten Bewegungen machen darfst.«
»Tut mir leid, aber ich hatte für einen Augenblick vollkommen vergessen, dass ich lädiert bin.«
Bettina pickte ein letztes Stück Salat vom Teller, fand noch ein Krümelchen Fleisch, dann schob sie den Teller zurück.
»Nochmals tausend Dank, Leni, es war köstlich.«
»Ach, Kind, Kind, du kannst dich so herzlich bedanken, so herrlich freuen, selbst über einen ollen Salat. Du hast dich doch bereits bedankt.«
»Doppelt hält halt besser«, lachte Bettina. »Durch diese Mittel stehe ich irgendwie neben mir. Wenn ich lese, muss ich immer wieder von vorne anfangen, weil ich Zusammenhänge nicht begreife.«
»Dann setz dich vor den Fernseher oder telefoniere ein bisschen herum. Irgendwie wirst du die Zeit schon totschlagen. Und morgen ist er ja wieder da, dein geliebter Thomas. Du kannst aber auch gern zu uns kommen, aber das willst du ja nicht, du willst ja hierbleiben.«
»Ja, ich komme zurecht. Eine Bitte habe ich allerdings noch, Leni, würdest du mir helfen in das hintere Gästezimmer zu kommen?«
»Und was willst du dort?«
»Na, dort hängt doch mein Brautkleid, ich will es mir vorhalten und sehen, ob es lang genug ist, um dieses fürchterliche Gestell zu verdecken.«
»Es ist lang genug«, antwortete Leni. »Aber wie ich dich kenne, gibst du ja doch keine Ruhe … Du musst dich allerdings nicht durch das ganze Haus quälen, um das festzustellen. Ich hol das Kleid und bringe auch gleich den großen Spiegel aus der Diele mit, da kannst du dir das Kleid vorhalten.«
»Oh, danke, Leni, du siehst, was diese Schmerzmittel aus mir machen. Von selbst wäre ich jetzt nicht darauf gekommen. Und Tom ist ja auch nicht hier …, aber selbst wenn er es wäre«, winkte sie ab. »Er hat mich in dem Kleid ja schon gesehen, leider.«
»Wieso leider? Er war total entzückt und hat mir erzählt, dass du noch niemals zuvor so wundervoll ausgeschaut hast.«
»Leni, der Bräutigam darf eine Braut vor der Hochzeit nicht im Brautkleid sehen, das bringt Unglück …, es hätte also nicht passieren dürfen.«
Ebenso wie Thomas begann Leni zu lachen.
»Und wo hast du einen solchen Unsinn gehört oder gelesen? Das ist doch nichts weiter als ein dummer Aberglaube, etwas, was sich mal jemand ausgedacht hat. Also wirklich, Bettina, dass du nun schon wieder davon anfängst. Das ist wirklich albern. Aber na ja, vielleicht sind es ja wirklich die Schmerzmittel.«
Nach diesen Worten verließ sie den Raum, kam als nächstes mit dem großen Spiegel zurück, den sie vorsichtig vor einen Schrank stellte, und nicht viel später brachte sie das Kleid, das sie behutsam an sich gedrückt hielt.
»Es ist wirklich ein Traum, Bettina«, sagte sie. »Ich hab es seit damals, als wir es zusammen kauften, nicht mehr gesehen. Es ist perfekt für dich, wie für dich gemacht … Soll ich dir aufhelfen?«
Davon wollte Bettina nichts wissen, sie zog sich am Tisch hoch, dann humpelte sie in Lenis Richtung, die das wunderschöne Kleid um sie herum drapierte.
Natürlich blickte Bettina sofort nach unten und atmete erleichtert auf. Von dieser Geh- und Stützhilfe war so gut wie nichts zu sehen. Und Leni hatte recht, das Kleid war ein Traum und sie würde darin aussehen wie eine Prinzessin.
»Danke, Leni«, sagte sie, betrachtete sich noch einen Moment, dann humpelte sie zurück zu ihrem Platz, weil das Stehen ein wenig mühsam war. »Jetzt bin ich zufrieden. Ist wirklich alles nur halb so schlimm.«
»Klar, hab ich doch gesagt«, bemerkte Leni, »hoffentlich hat jetzt die liebe Seele Ruh.«
»Hat sie«, lachte Bettina, »tut mir leid, Leni, dass ich dir so viel Mühe mache, aber jetzt bin ich zufrieden, denn du hast schon recht, die Leute werden mir nicht unbedingt auf die Füße gucken. Und wenn, dann ist es mir auch wurscht. Wegen dieser Bänderzerrung werde ich die Hochzeit auf keinen Fall verschieben.«
»Es gibt auch keinen Grund dafür, und jetzt bringe ich erst mal das Kleid wieder weg, und ehe du mir Anweisungen gibst, meine Liebe, dann sage ich es von mir aus. Ich werde es ganz behutsam wieder an seinen Platz hängen, damit nichts drankommt.«
»Danke, Leni«, lachte Bettina, »wie gut du mich doch kennst, das hätte ich so oder so ähnlich wirklich gesagt.«
Sie setzte sich wieder, und während Leni nach draußen ging, schloß sie die Augen.
Ja, sie würde großartig aussehen, und wegen dieses kleinen Malheurs würde sie sich jetzt keine Gedanken mehr machen. Tom würde sie humpelnd nicht weniger lieben.
Bedauerlich war eigentlich nur, dass sie ihn nicht nach London begleiten konnte. Aber das war jetzt auch nicht mehr zu ändern.
*
Nachdem Leni gegangen war, versuchte Bettina zu lesen, doch das gelang ihr auch jetzt nicht, deswegen befolgte sie Lenis Rat und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte sich durch alle Programme, aber es war überhaupt nichts dabei, was sie interessierte, deswegen machte sie den Fernseher aus und griff zu ihrem Telefon.
Sie würde Doris anrufen, und sollte zufälligerweise ihr Bruder Jörg am Telefon sein, so würde sie herzlich gern auch mit dem sprechen. Jörg war von ihren Geschwistern derjenige, zu dem sie das engste Verhältnis hatte, und das war noch enger geworden, nachdem er den Flugzeugabsturz in Australien wie durch ein Wunder überlebt hatte.
Ja, es war wirklich ein Wunder gewesen, nur Jörg und Miriam hatten überlebt, und Miriam war jetzt mit ihrem Halbbruder Christian verbandelt.
Wie das Leben so spielte, das, was Jörg und Miriam erlebt hatten, was sich danach ereignet hatte …, es war wie in einem Roman. Nur da hätte es zwischen den beiden Hauptakteuren ein Happy-End gegeben, im wahren Leben war das nicht der Fall gewesen, da hatte es zwischen Jörg und Miriam wohl geknistert, dann waren sie jedoch wieder auseinandergedriftet. Jörg war wieder mit seiner Exfrau Doris zusammen und Christian hatte einen Umweg über Linde genommen, um dann in den Armen von Miriam zu landen. Bei Miriam und Christian war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, sie waren am New Yorker Flughafen Kennedy Airport wie magnetisch angezogen aufeinander zugegangen.
Schade!
Christian und Miriam würden an ihrer Hochzeit nicht teilnehmen können. Christian war für Ärzte ohne Grenzen in Malawi und bekam bis zum Ende seiner Zeit dort keinen Urlaub mehr, obwohl man es ihm eigentlich zugesagt hatte. Aber vielleicht waren die Bosse dort ein wenig sauer, dass Christian seinen Vertrag nicht verlängern, sondern einen Chefarztposten in New York annehmen würde. Gewiss leistete Christian in Malawi großartige Arbeit, aber seinen Fähigkeiten entsprechend war er in New York auf jeden Fall besser aufgehoben.
Bettina mochte überhaupt nicht mehr darüber nachdenken, wie sie sich ausgemalt hatten, Christian könne sich als ganz einfacher Landarzt in Fahrenbach niederlassen. Er hatte es ernsthaft in Erwägung gezogen, und ja sogar schon damit begonnen, die ehemalige Tierarztpraxis Martins für seine Zwecke umzubauen.
Wäre er auf Dauer glücklich damit geworden?
Mittlerweile zweifelte Bettina daran, wenngleich sie es schön gefunden hätte, Christian in ihrer Nähe zu haben, der erst als Erwachsener in ihr Leben getreten war, nach dem Tod seiner vermeintlichen Mutter, die ihm gestanden hatte, dass Carla Fahrenbach seine leibliche Mutter war, Carla Fahrenbach, die jetzt Carla Aranchez de Moreira hieß und niemandem etwas von ihrer eineiigen Zwillingsschwester erzählt hatte und schon gar nicht von ihrem Sohn Christian, der seiner Tante untergeschoben worden war.
Sie war die einzige aus der Familie, die Christian sofort in ihr Herz geschlossen hatte, Jörg tolerierte ihn, Grit interessierte sich nicht, und Frieder hatte sich geweigert, mit seinem Halbbruder auch nur ein Wort zu reden. Und Carla? Seine wirkliche Mutter? Die hatte ihn davonjagen lassen wie einen Straßenköter …
Bettina wischte sich über die Stirn, als könne sie dadurch all die Gedanken wegwischen, die wild durcheinanderpurzelten. Sie kam jetzt aber wirklich vom Hölzchen aufs Stöckchen, dabei hatte sie nur Doris anrufen wollen, um sich ein wenig abzulenken.
Und genau das tat sie jetzt.
Sie hatte Glück, Doris war sogar direkt am Apparat.
»He, wie komme ich zu der Ehre, heute von dir angerufen zu werden. Was ist passiert? Bist du der Queen Elizabeth begegnet und sie hat zugesagt zu deiner Hochzeit zu kommen?«, erkundigte Doris sich, die natürlich von dem Kurztrip nach London wusste. »Also, ich finde es wirklich ganz reizend, dass du im mondänen London an deine Schwägerin in der verschlafenen Provinz in Frankreich denkst.«
War es eine gute Idee gewesen, Doris anzurufen?, schoss es Bettina durch den Kopf.
»Ich bin nicht in London, Doris, sondern sitze daheim in meiner Bibliothek.«
»Das glaube ich nicht. Hattest du doch keinen Bock, mit der Ex von Thomas zusammenzutreffen und hast einen Rückzieher gemacht?«
»Nein, Doris, ich hätte Nancy sehr gern gesehen. Dass ich nicht fliegen konnte, war sozusagen höhere Gewalt.«
Dann erzählte sie ihrer Schwägerin was geschehen war.
»Ach, du gütiger Himmel«, rief Doris aufgeregt, »dann wirst du ja zum Altar humpeln, wie schrecklich.«
Das hätte sie jetzt besser nicht gesagt, denn die Fassade, die Bettina mühsam errichtet hatte, brach wieder zusammen. Sie begann zu schluchzen. Doris sagte es auch, sie fand es ebenfalls schrecklich.
Weil Bettina nichts sagte, begriff Doris, was sie da angerichtet hatte.
»Tut mir leid, Bettina, war töricht von mir, so etwas zu sagen. Aber ich plappere manchmal etwas daher ohne zu denken …, es ist nicht so schlimm.«
»Doch, es ist … schlimm«, schluchzte Bettina. »Ich sehe es auch so. Und diesen Tag hätte ich mir wirklich anders vorgestellt. Vor allem, kannst du mir mal sagen, wie ich mit Thomas den Hochzeitswalzer tanzen soll, den wir wochenlang eingeübt haben? Rosen aus dem Süden …, so was tanzt man leicht und beschwingt … Wie soll das denn, bitte schön, jetzt gehen?«
»Dieser Walzer ist nicht zwingend notwendig«, wandte Doris ein. »Vielleicht erinnerst du dich daran, dass es den damals bei unserer Hochzeit auch nicht gab, weil Jörg sich beharrlich geweigert hat.«
Das stimmte, und damals hatte es zwischen Doris und Jörg den ersten Krach gegeben, denn sie hatte sich ausgemalt, in seinen Armen dahinzuschweben, und er hatte nach der dritten Tanzprobe einfach abgebrochen, weil ihm das lächerlich vorgekommen war.
Die Hochzeit war auch ohne den Hochzeitswalzer wunderschön gewesen, und ihr Vater hatte sich köstlich amüsiert.
An Jörgs Hochzeit war er wenigstens noch dabei gewesen. Was gäbe sie nicht darum, ihn auch bei ihrer Hochzeit dabei zu haben. Das ging jedoch nicht, er war tot, und Christina von Orthen, seine letzte große Liebe, war auch nicht mehr am Leben. Sie war kurzfristig und unerwartet verstorben, und Bettina hatte deswegen ihre Hochzeit zum ersten Male verschoben.
Wenn es einen Zauber gäbe, ihren Vater und Christina für nur diesen einen Tag zum Leben zu erwecken, was gäbe sie nicht darum! Sie würde eine zweite Bänderzerrung am anderen Fuß in Kauf nehmen und ohne zu jammern an zwei Stöcken zum Altar gehen.
Doris deutete ihr Schweigen falsch.
»Bettina, dieser Tanz bedeutet wirklich nicht die Welt, das ist wieder auch nur etwas, was wir uns in unserem Kopf zurechtlegen, und wenn der Plan nicht aufgeht, sind wir zu Tode betrübt. Dabei ist dieser Tanz doch nur eine Äußerlichkeit, im Grunde genommen auch das Kleid. Es ist ebenfalls kein Garant für andauerndes Glück. Es kommt auf was anderes an, und davon hast du reichlich, mehr als die meisten Menschen – du liebst, du wirst geliebt und kannst dir sicher sein, dass dir und deinem Thomas ein dauerhaftes Glück beschieden sein wird. Er hat damals, als ihr wieder zusammengekommen seid, nicht nur hunderte von roten Rosen aus einem Helicopter auf den Hof abwerfen lassen, an seiner Seite wirst du ein Leben lang auf Rosen gebettet sein. Mein Gott, Bettina, was bist du zu beneiden.«
Bei diesen Worten beruhigte Bettina sich wieder, weil sie allesamt zutrafen. Es gab wirklich weit und breit nicht das kleinste Fitzelchen einer grauen Wolke, und die würde es in ihrem Leben auch nicht geben. Sie passten eben perfekt zusammen, ihr Tom und sie, und sie waren so eng, dass kein Löschblatt zwischen sie passte, oder, wie Linde es immer ausdrückte, sie waren wie Pott und Deckel.
Und sie jammerte, weil sie ihre feinen Schühchen nicht tragen konnte, weil es den Walzer nicht geben würde …
Doris hatte ja so recht. Darauf kam es nicht an.
»Du hast recht, Doris, mit Thomas habe ich wirklich das große Los gezogen, und ich verspreche dir hiermit feierlich, nicht mehr jammervoll zu sein.«
»Das ist gut«, bemerkte Doris zufrieden. »Aber mal was anderes. Es wundert mich, dass Thomas allein geflogen ist. Ich mein …, versteh das nicht falsch. Jemand wie er, der dich auf Händen trägt, der dir jeden Wunsch von den Augen abliest, der sich für dich ein Bein ausreißen lassen würde … Ich find, es passt nicht zu ihm, allein zu fliegen. Jeder andere hätte das getan, weil das im Grunde genommen auch normal ist, aber er, ehrlich, ich hätte gewettet, dass er alles absagt, um bei dir zu bleiben.«
»Das wollte er auch, aber Leni und ich haben es ihm ausgeredet und ihn mehr oder weniger gezwungen zu reisen.«
Doris begann zu kichern.
»Ach so, das ist was anderes. Ich bin nur froh, dass meine Menschenkenntnis mich nicht getrübt hat, dass ich ihn richtig eingeschätzt habe. Aber es ist schon richtig, helfen kann er dir nicht, und so hat er ein paar schöne Stunden bei einem Ereignis von internationaler Bedeutung, sie haben sogar im Fernsehen darüber berichtet.«
»Du, Doris, ich glaube, schöne Stunden hat er nicht, er ist sehr sehnsuchtsvoll und ruft mich andauernd an, und mir geht es nicht anders, ich kann es kaum erwarten, ihn wieder bei mir zu haben.«
»Aber aus den Werbewochen seid ihr doch eigentlich schon raus«, wunderte Doris sich.
Bettina begann zu kichern.
»Nö, sind wir nicht, werden wir niemals sein. Obschon …, diesmal ist es irgendwie anders. Tom und ich können voneinander nicht genug bekommen, können uns andauernd sagen, wie sehr wir uns lieben. Es ist verrückt, doch so sehnsuchtsvoll wie heute waren wir eigentlich noch nie.«
»Ach, das hat bestimmt mit eurer Hochzeit zu tun, die unmittelbar vor der Tür steht«, sagte Doris. »Das ist ein bedeutsamer Schritt, das ist ein Ereignis, auf das ihr schon viele Jahre wartet, dass es nun endlich wahr wird … So was kann auch einen Mann aus den Puschen hauen. Übrigens Puschen hauen, da muss ich dir noch was sagen, der Hubert Brodersen hat mir geschrieben.«
»Was?«, konnte Bettina nur rufen.
»Ja, stell dir vor …, einen ganz herzlichen, wunderbaren Brief.«
»Ich mein, das ist ja schön, aber du hast ihn verlassen, um zu Jörg zurückzukehren, was will er noch von dir?«
»Oh, er hat sich für die wundervolle Zeit bedankt, die wir miteinander hatten, er hat mir geschrieben, dass er mich niemals vergessen wird und dass, wenn ich Hilfe brauche, ich mich jederzeit an ihn wenden kann … Und er hat geschrieben, dass er nicht aufhören wird mich zu lieben, weil ich ein besonderer Mensch bin, der sehr viel Wärme in sein Leben gebracht hat … Ich war ganz gerührt. So nett zu schreiben, er hat doch schließlich allen Grund gehabt sauer auf mich zu sein. Ich habe ihn Knall auf Fall kurz vor der Hochzeit verlassen, aber nein, er ist nur nett … Aber das ist er auch, Hubert ist ein Gentleman, anders kann man es nicht nennen.«
Hubert Brodersen war wirklich ein sehr netter Mensch, den Bettina sehr schätzte. Er war schon ein guter Geschäftspartner ihres Vaters gewesen.
Und sie würde niemals vergessen, wie er ihr geholfen hatte einen eigenen Vertrieb aufzubauen, nachdem Frieder in seiner Selbstherrlichkeit nicht nur ihn als Lieferanten aufgegeben hatte, weil ihm die Produkte nicht zeitgemäß erschienen, sondern auch sie sofort am nächsten Tag, nachdem er Erbe geworden war, aus der Firma herausgekickt hatte.
Brodersen hatte ihr andere Lieferanten besorgt, und dass sie Finnmore eleven, diesen exquisiten Whisky im Programm hatten, war letztlich auch nur ihm zu verdanken, denn er hatte für sie die Wege nach Schottland geebnet.
Doris und Hubert Brodersen …
Sie hatte sich für die beiden gefreut, wenngleich sie einige Bedenken wegen des Altersunterschiedes gehabt hatte.
Aber so, wie es letztlich gekommen war, dass Doris sich wieder mit ihrem geschiedenen Mann zusammengetan hatte, das war ihr auf jeden Fall lieber.
Sie mochte Doris, und sie waren auch nach der Scheidung miteinander befreundet gewesen. Aber jetzt war es wieder enger. Und für Jörg war sie auf jeden Fall die richtige Partnerin.
»Und Jörg?«, erkundigte Bettina sich aus diesen Gedanken heraus. »Weiß er von diesem Brief?«
»Na klar«, gab Doris unumwunden zu, »er hat ihn sogar gelesen.«
»Und was hat er dazu gesagt? War er eifersüchtig?«
Ein schallendes Lachen war die Antwort.
»Sag mal, Bettina, kennst du deinen Bruder eigentlich immer noch nicht? Jörg und eifersüchtig … Der weiß doch noch nicht einmal, wie man das Wort Eifersucht schreibt. Nein, zuerst hat er gelacht, dann aber zugegeben, dass es ein sehr berührender Brief ist. Und damit war für ihn der Kuchen gegessen, und er hat sich wieder anderen Dingen zugewandt, ganz genau der Frage nämlich, ob wir uns einen Labrador oder einen Airdale-Terrier kaufen sollen.«
»Also, wenn ihr euch schon einen Hund zulegt, dann holt euch auf jeden Fall einen aus dem Tierheim, da gibt es auch – wenn es denn sein muss – Rassehunde. Nur darauf würde ich mich nicht so fixieren, eine Promenadenmischung kann auch euer Herz berühren. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, und wenn ihr einem herrenlosen Tier eine Heimat gebt, dann tut ihr auch noch was Gutes.«
»Mir wäre es egal, aber du kennst doch deinen Bruder, wenn der sich was in den Kopf gesetzt hat, dann muss es so und nicht anders sein.«
»Okay, in den nächsten paar Tagen wird er keinen Hund kaufen. Ich werde mit ihm reden, vielleicht hört er ja sogar auf mich. Wir haben übrigens hier ganz in der Nähe ein wunderbares Tierheim, da könnt ihr auch schon mal gucken.«
»Bettina, ich gern, ich kann noch einmal nur sagen – dein Bruder macht was er will.«
»Welch ein Glück, dass du es trotzdem mit ihm aushältst, Doris«, lachte Bettina.
»Ich liebe ihn halt«, antwortete Doris ernsthaft, »und daran wird sich nichts ändern. Auch als wir getrennt waren, musste ich immerfort an ihn denken. Daraus habe ich gelernt, ich nehme ihn mit all seinen Macken, denn das ist besser, als ohne ihn zu sein.«
»Hoffentlich weiß Jörg das auch wirklich zu schätzen«, bemerkte Bettina, die manchmal auch ganz schön sauer auf ihren Bruder war, in erster Linie deswegen, dass er sich so wenig meldete, um einfach nur Hallo zu sagen. Ein wenig besser geworden war es schon im Vergleich zu früher, da hatte er sie nur angerufen, wenn sie als Feuerwehr gebraucht worden war. Zum Glück kümmerte Jörg sich mittlerweile um Chateau Dorleac, sein Erbe, und zum Glück redete er auch nicht mehr davon, es verkaufen zu wollen, weil Besitz belastete. Da war vieles besser geworden, aber nicht nur bei ihm, sondern auch bei Doris, die die französische Sprache erlernt hatte und auf dem Chateau mitarbeitete.
»Ich denke schon«, war Doris’ Antwort. »Aber Jörg macht nicht gern viele Worte, und er würde aus einem Heli auch keine Rosen für mich abwerfen lassen. Jeder Mensch ist halt anders, ich bin schließlich auch nicht wie du.«
»Jeder hat auch andere Bedürfnisse«, bemerkte Bettina, »die ganz romantische Tour wäre auch nichts für dich.«
»Nö, das würde mir tierisch auf den Senkel gehen, also ist es gut so wie es ist, eure Leni würde sagen: jedem Tierchen sein Pläsierchen, und dem stimme ich voll zu … Weißt du was, Bettina, ich freue mich unbändig auf deine Hochzeit, und soll ich dir was verraten? Ich habe mir bereits dreimal Kleider für diesen Anlass gekauft, Jörg hat sich schon an den Kopf gefasst. Aber jetzt habe ich eines gefunden, das ist der Knaller. Ein schlicht gearbeitetes Kleid aus lichtgrauer Spitze und Satin gearbeitet, das unglaublich edel aussieht. Jörg hat vor lauter Begeisterung auch gequietscht als er mich darin sah und mich ermuntert, es zu nehmen. Du wirst hin und weg sein, hoffentlich stehle ich dir nicht die Show.«
Bettina kicherte.
»Kannst du nicht, mit keinem Kleid der Welt, ich bin jetzt einfach mal so vermessen zu sagen, dass ich die Schönste sein werde. Und das steht mir an diesem Tag auch zu, denn ich bin schließlich die Braut.«
»Okay, dann trete ich zurück und gebe mich mit der Rolle der Zweitschönsten zufrieden«, gab Doris nach.
Dann sprachen sie noch ein wenig über das Chateau, die Köchin Marie, die sich zum Glück jetzt voll auf Doris’ Seite geschlagen hatte. Doris lobte Marcel, den eigentlichen Chef des Weingutes, der ihr ein hervorragender Lehrmeister war.
Bettina freute sich wieder einmal, dass alles so gut in Frankreich lief und legte nach einer ganzen Weile zufrieden den Hörer auf.
Es war eine gute Idee gewesen, Doris angerufen zu haben. Sie fühlte sich jetzt richtig froh, nachdem Doris ihr nochmals versichert hatte, dass diese Bänderzerrung schmerzhaft war, aber den Ablauf des Hochzeitstages in keiner Weise beeinträchtigen würde, weil ein wenig Humpeln oder kein Hochzeitswalzer die Welt wirklich nicht zusammenbrechen ließen.
*
Bettina war gerade ein wenig eingenickt, als das Klingeln des Telefons sie aufschreckte.
Sie richtete sich mühsam auf, verzog schmerzhaft das Gesicht, weil sie ihren kranken Fuß vergessen hatte, dann griff sie zum Telefon und meldete sich.
Im Nu war aller Schmerz vergessen.
Es war ihr Tom!
»Welch ein Glück, dass ich dich noch erreiche«, sagte er. »Ich habe mir schon die Finger wund gekurbelt. Mit wem hast du denn so lange telefoniert?«
»Mit Doris.«
»Das hätte ich mir eigentlich denken müssen, denn wenn ihr zwei miteinander redet, dann dauert es immer. Es wundert mich stets aufs Neue, dass Frauen sich innerhalb kürzester Zeit immer wieder so viel zu sagen haben. War es denn wenigstens ein schönes Gespräch?«
»Ja, Doris hat mich aufgemuntert, und jetzt empfinde ich mein Handycap nicht mehr als so schlimm, und ich bin auch überhaupt nicht traurig, dass unser Hochzeitstanz ausfallen muss, weil ich nur herumhumpeln kann.«
»Wir werden ihn tanzen, mein Herz«, versprach er, »oder hast du meine starken Arme schon vergessen? Wir werden zwar nicht beschwingt herumwirbeln, aber die Rosen aus dem Süden bekommst du, das ist ein Versprechen.«
So war er, und dafür liebte sie ihn so sehr. Sie konnte sich zwar im Augenblick nicht vorstellen, wie das mit diesem unförmigen Gerät an ihrem Fuß gehen sollte, aber sie vertraute Tom. Er würde einen Weg finden, weil er immer einen fand.
Weil sie nicht sofort etwas sagte, und weil er sie kannte, erkundigte er sich: »Tini, du hast doch wohl jetzt keine Tränen in deinen wunderschönen blauen Augen?«
Selbst so was erriet er.
Schnell presste sie sich ein: »Doch, Tom«, hervor, »ich muss einfach vor Glück weinen.«
»Schade, meine geliebte Tini, dass ich jetzt nicht bei dir sein kann, um dir die Tränen wegzuküssen. Das jetzt ist ohnehin mein letzter Anruf, denn gleich geht der ganze Zirkus los. Im Augenblick ist ein kleiner Sektempfang, den ich mir erspart habe, die Verleihung und das anschließende Galadiner reichen mir. Aber die Leute haben sich alle ganz schön aufgebrezelt, ganz besonders die Frauen, aber eines kann ich dir sagen, in deinem kleinen Schwarzen wärst du allemale die Aller-, Allerschönste gewesen. Du hättest sie mit deiner strahlenden Schönheit alle in den Schatten gestellt, und ich wäre stolz wie ein Gockel neben dir hergeschritten und hätte mein Glück nicht fassen können, der Begleiter dieser wunderschönen Frau sein zu dürfen. Aber ich kann mein Glück ohnehin kaum fassen, dass es nur noch ein paar Tage sind bis unser Traum wahr wird.« Er war auch ganz gerührt. »Tini, ich liebe dich, ich liebe dich über alles, und daran wird sich niemals etwas ändern, weil du mein Leben bist.«
Sie hätte ihm jetzt auch so gern gesagt, wie sehr sie ihn liebte, dass sie ohne ihn nicht sein konnte, aber da war auf einmal eine Stimme zu hören, die ihn veranlasste, das Gespräch zu beenden: »Tini, ich muss jetzt Schluss machen, hier ist gerade ein Herr, der mich zu meinem Platz begleiten wird, wenn man in der ersten Reihe sitzt, geht es wohl ganz besonders formell zu, da haben sie wahrscheinlich Angst, dass sich dort jemand einschleichen kann, der nicht dahin gehört … Ich werde an dich denken, bei jedem Wort, bei jedem Bissen, bei jedem Schluck Wein. Und ich werde in diesem gigantischen Himmelbett unter dem prachtvollen Baldachin von dir träumen und mir wünschen, du wärest bei mir … Ich liebe dich, ich …«
Die Verbindung war unterbrochen, sie war ohnehin ziemlich schlecht gewesen. In manchen Räumen hatte man eben keinen guten Empfang. Doch was sollte es, sie hatte ihn verstanden, jedes seiner Worte in sich aufgesogen, und morgen, morgen würde sie ihn wiedersehen.
Bettina legte das Telefon weg und schloss die Augen, diesmal aber nicht um zu schlafen, sondern um von ihrem Tom zu träumen.
Sie lehnte sich zurück, achtete darauf, ihren Fuß in die richtige Position zu bringen, dann flüsterte sie: »Ich liebe dich auch über alles, und … du bist auch mein Leben.« B + T forever hatte er einst in ein wunderschönes Tiffanyarmband eingravieren lassen, und so sollte es sein – forever, für immer.
Sie trug das Armband nicht mehr unterbrochen wie damals, als sie es von ihm bekommen hatte.
Zwischen damals und heute hatte sich vieles verändert. Sie war nicht mehr in der Warteschleife und musste darauf warten, dass er kam. Er war immer da, und so würde es bleiben, ein langes, glückliches Leben lang.
Tom … Tom … Tom…
Sie war glücklich, unbeschreiblich glücklich und dankbar, unendlich dankbar, dass es Thomas Sibelius in ihrem Leben gab, dessen Frau sie in ein paar Tagen sein würde – Bettina Sibelius, ihr Herz klopfte wie verrückt – vor Liebe, vor Freude und vor Dankbarkeit.
Morgen …
Er würde wieder bei ihr sein, sie in die Arme nehmen, ihr das Geschenk überreichen, das wie für sie gemacht zu sein schien. Dann würde er ihr von Nancy erzählen, von dem ganzen Event und sie würde zuhören und dabei unendlich glücklich und zufrieden in seinen Armen liegen und seine Nähe genießen … Morgen, ja, morgen …
*
Bettina hatte sich gerade mühsam die Treppe hinaufgehangelt und dabei geärgert, dass sie nicht doch Leni zur Hilfe gerufen hatte, als ihr Telefon klingelte.
Thomas?
Ungeachtet der Schmerzen, die sie dabei hatte, schleppte sie sich in ihr Schlafzimmer, wo ein weiterer Apparat stand.
Thomas hatte ihr zwar gesagt, dass er nicht mehr anrufen würde. Aber vielleicht hatte sich doch eine Gelegenheit gefunden und er wollte noch ein paar Worte mit ihr wechseln, ihr ein paar zärtliche Worte ins Ohr flüstern. Seinen Anruf wollte sie auf keinen Fall verpassen, sie würde sich ja zu Tode ärgern.
Bettina ließ sich aufs Bett fallen, stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus, dann meldete sie sich.
Es war Linde!
Schön, dass ihre Freundin nochmal anrief, aber zunächst mal musste Bettina ihre Enttäuschung vor ihr verbergen und sagte außer einem Hallo nichts weiter, was Linde aber offensichtlich nicht störte.
»Na, du krankes Hühnchen, wie geht es dir? Ich hatte den Laden bis jetzt rappelvoll, deswegen konnte ich mich nicht früher melden.«
»Ach, es geht schon. Es ist zwar nicht angenehm, und es tut auch ganz schön weh, aber es hätte mich wirklich schlimmer treffen können. Ich finde mich allmählich damit ab, dass ich eine Weile herumhumpeln muss.«
»Das ist gut, weil du ja ohnehin nichts ändern kannst. Heute waren Gäste zum Essen da, die Frau hat es viel schlimmer getroffen als dich. Sie hat sich beide Schlüsselbeine gebrochen bei einem ganz dummen Sturz vom Fahrrad und ist nun total eingegipst. Die Ärmste kann überhaupt nichts allein machen, sondern sie ist vollkommen auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen, der sie sogar füttern muss, was er allerdings auf sehr liebevolle Weise macht.«
»Wie schrecklich«, rief Bettina, »aber das würde Tom auch für mich tun, ohne zu murren.«
»Ja, das glaub ich auch, aber die Geschichte dieses Ehepaares ist noch nicht zu Ende. Das Dumme nämlich ist, dass es direkt am ersten Urlaubstag passierte. Sie waren bei einem Fahrradverleih und dabei, die geeigneten Fahrräder für sich zu finden. Ihr Mann und auch der Verleiher rieten ihr zu einem einfacheren Hollandfahrrad, weil sie lange nicht auf einem Rad gesessen hatte. Sie wollte aber partout ein ganz chices Rad mit allen technischen Finessen haben. Der Verleiher bat sie aber dann doch wenigstens eine kurze Probefahrt damit zu machen, und da passierte es. Sie saß kaum auf dem Fahrrad als sie auch schon stürzte. Es war kein spektakulärer Sturz, doch er war so unglücklich, dass sie sich halt beide Schlüsselbeine gebrochen hatte.«
»Es ist traurig, aber doch die eigene Schuld der Frau, warum war sie so uneinsichtig«, bemerkte Bettina.
»Und warum warst du so unachtsam und bist auf einer Treppe gestolpert, die du tausendfach gegangen bist?«, wollte Linde wissen.
»Du hast recht, Linde«, gab Bettina kleinlaut zu. »Es ist wohl vermutlich wirklich so, dass das passiert, was passieren muss und dass man dagegen nichts tun kann. Aber danke, dass du mir diese Geschichte erzählt hast. So was hätte mir auch passieren können, aber dann hätte ich die Hochzeit abgesagt. Es ist schon schlimm genug, dass ich meine wunderschönen Schuhe nicht anziehen kann, zumindest einen davon nicht. Mein Kleid nicht tragen zu können, nein, das kann ich mir nicht vorstellen, will es auch nicht.«
»Musst du auch nicht«, ergänzte Linde, »denn zum Glück bist du glimpflich davongekommen.«
»Hast du mit dem Ehepaar geredet?«, fragte Bettina. »Für die ist der Urlaub doch gelaufen.«
»Nein, so sehen sie das nicht. Die Frau hat wohl einen sehr anstrengenden Job voller Hektik und Stress. Den kann sie für die nächste Zeit erst mal vergessen. Sie sieht es als einen Wink des Schicksals, kürzer zu treten und wird sich erst mal eine Auszeit nehmen, in der sie auch überdenken möchte, ob sie so wie bisher weitermachen möchte. Sie hat zwar eine Menge Geld verdient, doch ihr Privatleben ist auf der Strecke geblieben, ohne dass sie weiter darüber je nachgedacht hat. Jetzt, da sie so abhängig von ihrem Mann geworden ist, wurde ihr erst mal so richtig klar, dass es ihn auch noch in ihrem Leben gibt und wie wichtig es ist, einen Menschen zu haben, auf den man sich verlassen kann.«
Bettina antwortete nicht sofort, sondern überdachte für einen Moment Lindes Worte.
»Die Frau hat recht«, sagte sie schließlich. »Manchmal muss wohl erst was Drastisches, Dramatisches geschehen, ehe das Weltbild eines Menschen wieder zurechtgerückt wird. Sie wurde, wenn auch unsanft, vom Schicksal dazu ermahnt, sich um ihr Privatleben zu kümmern, weil Karriere und Job nicht alles sind. Und sie hat es akzeptiert und wird ganz bestimmt etwas in ihrem Leben verändern. Aber, wenn es so ist, dass man manchmal auf mehr als unerfreuliche Weise in eine andere Richtung geführt werden soll. Welche Lehre soll ich aus meinem Fehltritt auf der Treppe ziehen, der mir diese üble Bänderzerrung beschert hat?«
»Keine«, entgegnete Linde, »weil man nicht in alles etwas hineininterpretieren kann. Und wenn, dann sollst du dich vor der Hochzeit ausruhen, damit du an deinem großen Tag ausgeruht und schön bist … Thomas hat mir übrigens schon verraten, wohin eure Hochzeitsreise gehen soll, und ich kann nur sagen, du bist zu beneiden. Es wird dir hundertprozentig gefallen, und ich kann nur immer wieder sagen, dein Thomas errät wirklich jeden deiner noch zu geheimen Wünsche.«
»Du weißt es?«, rief Bettina ganz aufgeregt. »Dann gib mir einen kleinen Hinweis … Ich möchte es so gern wissen, damit ich mich jetzt schon freuen kann.«
Linde lachte.
»Sorry, du kannst quengeln wie du willst, über meine Lippen kommt kein Sterbenswörtchen, ich habe Thomas mein altes Indianerehrenwort gegeben … Du weißt ja nicht so genau, was das bedeutet, weil du ja nicht in Fahrenbach aufgewachsen bist, sondern früher nur in den Ferien hier warst. Aber Thomas, Markus und ich, wir haben uns geschworen, bei einem gegebenen Indianerehrenwort nichts, aber rein gar nichts zu verraten. Und daran haben wir uns immer gehalten. Wir können uns noch heute alle Geheimnisse anvertrauen, weil wir wissen, dass sie bei dem anderen gut aufgehoben sind.«
»Hey, Linde, findest du das nicht ein wenig kindisch? Ihr seid erwachsen geworden, da ein Indianerehrenwort zu geben ist schon ein bisschen albern.«
»Ist es nicht«, widersprach Linde. »Höre ich da so etwas wie ein bisschen Neid aus deiner Stimme, weil du zu diesem erlesenen Kreis nicht gehörst? Aber tröste dich, Martin war auch nicht dabei, obschon er auch ein Freund aus frühesten Kindertagen war und wir viel gemeinsam mit ihm unternommen haben. Der harte Kern waren immer Markus, Thomas und ich.«
»Dass ihr dicke Freunde wart, das wusste ich, nur das mit diesem dummen Indianerehrenwort …, davon hatte ich bislang keine Ahnung. Aber also gut, wenn das so ist, will ich auch nicht länger drängen. Du hast ja gesagt, dass es mir auf jeden Fall gefallen wird, das Ziel unserer Hochzeitsreise.«
»Gefallen? Nein, du wirst vor lauter Begeisterung und Freude laut quietschen, aber mehr sage ich jetzt nicht dazu. Ich kenne dich, du lockst mich mit ein paar harmlos dahingeworfenen Worten in die Falle, und ich fange an zu plaudern. Das würde ich mir niemals verzeihen, und Thomas wäre sauer auf mich, und das will ich vermeiden.«
»Okay, ich sage dazu nichts mehr. Weiß Markus auch Bescheid?«, erkundigte Bettina sich weiter. Sie wusste, dass sie Markus leichter zum Sprechen bringen würde. Aber sie hatte sich zu früh gefreut.
»Nö, der weiß es nicht«, entgegnete Linde. »Thomas hat es nur mir anvertraut, nicht einmal die Leute bei euch auf dem Hof wissen Bescheid, und das ist gut so. Also, krieg die Gedanken aus dem Kopf, und ich rede auch nicht mehr darüber … Soll ich morgen früh nach dir schauen? Brauchst du etwas? Und vor allem, wie kommt Thomas vom Flughafen zurück?«
»Er ist mit dem Auto hingefahren und hat es dort bei den Langzeitparkern abgestellt, so teuer ist das nicht bei der kurzen Dauer seiner Reise. Er wird also mit dem eigenen Auto zurückkommen. Und du? Es ist furchtbar nett, dass du dich so sorgst, Linde, aber ich komme zurecht. Außerdem umsorgt Leni mich wie eine Glucke ihre Küken. Du hast genug Stress im Augenblick, verbringe deine freie Zeit lieber mit Amalia und Frederic.«
»Die kommen schon nicht zu kurz, doch wenn du mich nicht da oben brauchst, Arbeit ist hinreichend da. Es waren noch nie zuvor so viele Gäste zum Essen da, ich mein nicht nur die Busse, die mir ganze Scharen von Gästen bescheren. Es scheint sich immer mehr herumzusprechen, wie wunderschön unser verträumtes Fahrenbach ist, wie herrlich die Umgebung, in der man wandern und radeln kann, und der See. Etwas Schöneres gibt es weit und breit nicht. Unberührte Natur pur. Das wollen sich mittlerweile sogar die Schicki-Mickis ansehen, die allerdings ihre prachtvollen Autos vorn auf dem Parkplatz abstellen müssen, was dazu führt, dass sie allenfalls ein paar Meter bis zum See zurücklegen, um mal aufs Wasser zu sehen.«
»Und die Frauen können auf ihren hohen Absätzen auch nicht weit laufen. Für die ist einmal Wasser gucken auch okay, denn es gibt kein spektakuläres Restaurant oder Café, wo man gesehen wird. Ehrlich gesagt, meinetwegen können sie wegbleiben, wenn zu viele von ihnen kommen, dann gibt es nur Unruhe. Gegen die Wanderer und Radfahrer habe ich nichts einzuwenden, denn die kommen, um sich an den Tieren und der Natur zu erfreuen, und die sind auch nicht laut. Das sind dann vermutlich auch deine Gäste, denn sonst gibt es ja nichts, abgesehen einmal von dem Italiener oben im Neubau-Gebiet.«
»Der hat aber tagsüber nicht auf, hat sich wohl nicht gelohnt. Aber was soll man da oben auch besichtigen. Die neuen Häuser? Den Supermarkt? Abends, wenn er seine Pforten öffnet, sind die Wanderer und Radfahrer längst weg. Du hast schon recht, Bettina, ich bin die Gewinnerin, mir beschert das Mehr an Menschen ein gutes Geschäft. Das macht mich einesteils froh, andererseits weiß ich natürlich auch, dass es was aus unserem Fahrenbach macht, das immer mehr von seiner Beschaulichkeit verliert. Aber wir können den Zug der Zeit nicht aufhalten. Den letzten Bauernhof, der zu erwerben war, hat Markus gekauft und wohnt jetzt mit seiner Familie darin. Er ist erhalten geblieben, schöner geworden durch die liebevolle Restaurierung.
Wenn nun der Nächste den Verlockungen des Geldes erliegt und verkauft, weil ringsum alles Bauland geworden ist? Die Immobilienhaie umkreisen das Dorf noch immer wie gierige Geier, und der eine oder andere wird bestimmt noch schwach und verkauft. Das können wir nicht verhindern, weil wir selbst nicht alles aufkaufen können, und wenn dann nochmals so ein Neubaugebiet entsteht … Der Gedanke ist nicht prickelnd … Der Huberhof lag ein wenig abseits, die neuen Häuser, der Supermarkt und das Restaurant tangieren uns nicht so. Die anderen Höfe liegen näher am Ort. Du bist nicht betroffen, weil du da oben mit deinem Fahrenbach-Hof dein eigenes, kleines Königreich hast und genug Land besitzt, dass sich dir keiner vor die Nase setzen kann …, aber vielleicht haben wir auch Glück. Einige der neuen Hausbesitzer haben sich ja ganz gehörig verspekuliert, die darauf setzten, Fahrenbach würde auch so was wie Bad Helmbach. Noch ist deren Rechnung nicht aufgegangen.«
»Und wird sie auch nicht«, wandte Bettina ein. »Die Hauptattraktion Fahrenbachs ist der See, und der gehört zum Glück mir …, uns«, korrigierte sie sich sofort, denn sie würde ihren Besitz ja mit Thomas teilen, im Grunde genommen tat sie das schon jetzt, es war nur noch nicht amtlich besiegelt.
»Ja, das ist das Ass, das wir im Ärmel haben, Markus, du und ich … Uns gehört das meiste Land, und zum Glück sind wir uns einig, dass keiner von uns auch nur ein Stückchen davon verkaufen wird. Ein Wackelkandidat ist für mich allerdings der Fänger. Der dreht da ein Ding, das mir nicht ganz koscher ist. Ich frage mich nämlich, warum er auf einmal all seine Rinder verkauft hat. Mit Viehzucht hat er sein Geld verdient.«
»Ja, aber Leni und Arno hat er gesagt, dass ihm das alles zu viel an Arbeit ist, seit seine Tochter weggezogen ist. Er will den Hof aber für seinen Sohn erhalten.«
»Wollte der Huber auch, und dann hat er Knall auf Fall verkauft, ohne jemandem etwas zu sagen, nachdem er erfahren hatte, dass sein Sohn in Australien bleiben wird.«
Bettina hatte keine Lust mehr auf solche Spekulationen, die ja doch nichts bringen würden, und auch wenn sie sich anfangs dagegen gewehrt hatte, mittlerweile war sie bereit, Veränderungen hinzunehmen. Die waren ja nicht immer allesamt schlecht. Ihr ehemaliges Gesindehaus war in einem Dornröschenschlaf gelegen, jetzt war es ein wunderschönes Appartementhaus, das nahezu ausgebucht war und schneller als gedacht die Investitionen zurückbringen würde.
»Linde, noch steht nichts an. Wenn uns etwas zu Ohren kommen sollte, können Markus, du und ich überlegen, ob es Sinn macht, ein Angebot abzugeben, um zu verhindern, dass viele neue Häuser gebaut werden wie auf dem ehemaligen Huber-Hof. Wenn es wieder jemand klammheimlich macht wie der Huber und wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden, können wir eh nichts tun … Die Gemeinde müsste halt beschließen, dass solche Großprojekte nicht verwirklicht werden dürfen. Aber die arbeitete gegen uns, die haben ja fast alle Grundstücke zu Bauland erklärt, weil sie aus Fahrenbach so was machen wollen wie Bad Helmbach, um ganz ordentlich Steuern kassieren zu können.«
»Ja, das ist es. Aber eines weiß ich, wäre dein Vater noch am Leben, der hätte das nicht zugelassen.«
»Linde, Papa hat doch überhaupt nicht mehr in Fahrenbach gewohnt, sondern kam nur hier und da mal her.«
»Aber seine Stimme hatte in der Gemeinde Gewicht. Hermann Fahrenbach war noch immer der erste Bürger der Gemeinde, weil er nämlich auch das Wichtigste und Beste in die Waagschale zu werfen hatte, den See und die Kapelle … Du könntest in seine Fußstapfen treten, denn du bist schließlich seine Erbin, und wenn du, was du kannst, den Zugang zum See sperrst, dann sind sie alle gelackmeiert.«
Bettina musste lachen.
»Hör auf, erstens würde ich das nicht tun, und zweitens habe ich keine Lust, in irgendwelchen Gemeinderäten oder so was zu sitzen oder mich herumzustreiten. Vielleicht hat Thomas ja Lust dazu, ein Wörtchen mitzureden. Als mein Mann ist er nicht weniger wichtig. Aber das muss er allein entscheiden, und wie ich ihn kenne, kümmert er sich lieber um die Stiftung meines Vaters, für die er schon sehr viele Verbesserungen erreicht hat.«
»Ja, aber Thomas liegt Fahrenbach auch sehr am Herzen«, widersprach Linde. »Und er ist bei den Fahrenbachern angesehen, er ist hier aufgewachsen, seine Eltern waren sehr beliebt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er mitmischt, Markus tut es zwar auch, aber nur halbherzig, und das bringt nichts.«
»Ach, sag das nicht, er hat auch das alte Haus am Marktplatz gekauft, ohne einen Verwendungszweck dafür zu haben. Aus der Kinderarztpraxis wird es ja nun nichts, weil Yvonne sich um die Erziehung der kleinen Bettina kümmern will und allenfalls nur noch kurze Jobs für Ärzte ohne Grenzen in irgendwelchen Ländern annehmen will. Der Job in Malawi hat ihr sehr gut gefallen, und da war sie immerhin mittlerweile bereits zwei Mal.«
»Irgendwann wird Markus schon einen Verwendungszweck für das Haus finden, und ich schwöre dir, er wird gut dabei verdienen. Was Markus anfasst, macht er zu Geld.«
»Er arbeitet auch fleißig«, wandte Bettina ein.
»Ach, und wir, tun wir das nicht?«, wollte Linde wissen.
»Klar tun wir das auch. Wir sind halt so erzogen worden, dass von nichts nichts kommt und dass man seine Pflicht tun muss.«
»Stimmt, Markus, du, ich, Martin, wir sind aus diesem Holz geschnitzt. Aber deine Geschwister? Tut mir leid, die müssen da was nicht mitbekommen haben. Na ja, vielleicht bis auf Jörg, der kriegt allmählich die Kurve.«
»Stop«, rief Bettina, »das ist jetzt der Augenblick für mich, das Gespräch zu beenden. Ich habe nämlich jetzt überhaupt keine Lust, über meine Geschwister zu reden. Außerdem bin ich müde, mein Fuß schmerzt. Es wird Zeit, dass ich die Horizontale einnehme und mich noch mit einem Schmerzmittel dope. So viele Pillen wie heute habe ich in den letzten drei Jahren nicht geschluckt. Aber es ist mir egal, die Schmerzen sind mit Tabletten noch stark genug, ich habe keine Lust auszuprobieren, wie es ohne ist. Heldenhaft bin ich nämlich nicht. Freilich, wenn Tom hier wäre …«
»Der hat auch keine magischen Kräfte«, wurde sie von Linde unterbrochen, »er könnte dich bedauern, dir liebevoll das Händchen streicheln, den Schmerz nehmen könnte er dir nicht. Also, liebste Freundin, hab kein schlechtes Gewissen, schluck deine Pille, dann kannst du wenigstens davon ausgehen, gut schlafen zu können. Dann bist du morgen fit und trittst deinem ach so geliebten Tom nicht mit schmerzverzerrtem Gesicht und zerknittert entgegen, weil du keinen Schlaf gefunden hast.«
»Also, eines möchte ich dir zum Abschluss sagen, meine Liebe«, ereiferte Bettina sich. »Auch wenn ich übernächtigt bin, sehe ich noch immer attraktiv aus, schließlich bin ich eine Frau in der Blüte meiner Jahre, da steckt man eine schlaflose Nacht noch locker weg.«
»Klar, aber nicht mehr lange. Sei froh, dass du unter der Haube bist, dem Verfallsdatum entgehen wir nämlich auch nicht. Es kommt schneller als man denkt.«
»Herzlichen Dank für diese tröstlichen Worte«, sagte Bettina, »jetzt lege ich nämlich auf, ehe du in dieser Richtung noch mehr sagst.«
»Tja, meine Liebe, die Wahrheit ist halt nur schwer zu ertragen«, dann aber lachte sie. »Nimm es nicht ernst, wir haben noch hinreichend Zeit, schließlich sind wir, um bei der stolzesten der Blumen zu sein, noch nicht einmal so was wie halberblühte Rosen, deren wahre, prachtvolle Schönheit man nur erahnen kann.«
»Linde Gruber, schöner hättest du es nicht ausdrücken können«, lachte nun auch Bettina. »Lass das so was wie das Wort zum Sonntag sein. Vielen Dank für deinen Anruf, deine angebotene Hilfe …, und danke auch dafür, dass du mir geholfen hast die Zeit totzuschlagen … Es ist schön, wenn man Freunde wie dich hat.«
Bettina wusste, dass solche Worte die oftmals schnodderige Linde ganz verlegen machten, aber manchmal mussten sie einfach ausgesprochen werden. Und das war jetzt ein solcher Moment.
Linde war wirklich ihre aller-, allerbeste Freundin, und mit ihr machte es auch Spaß, über Banalitäten zu reden, herumzualbern, zu klatschen, weil ihre ernsthaften Gespräche überwiegten und weil sie voneinander wussten, dass sie sich in allen Lebenslagen aufeinander verlassen konnten. Das hatten sie in der Vergangenheit bereits mehr als nur einmal bewiesen, und das war ein ganz wunderbares, ein ganz beruhigendes Gefühl.
*
Nach dem Telefonat mit Linde schleppte Bettina sich in ihr Badezimmer, um sich für die Nacht fertig zu machen, und wieder einmal bereute sie, Leni nicht zur Hilfe gerufen zu haben. Die hätte ihr doch gern geholfen, und es wäre für sie einfacher gewesen.
Sie war froh, als sie endlich in ihrem Bett lag. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon ganz schön spät geworden war. Aber das machte sie richtig froh, denn jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, die verging, bedeutete, dass sie ihren Tom um genau diese Zeit früher sehen würde.
Sie legte sich in ihr zusammengerolltes Kopfkissen.
Wie es ihm wohl gerade jetzt erging?
Die Preisverleihung war längst vorüber, jetzt saß man vermutlich noch immer im großen Festsaal zusammen und plauderte. Hoffentlich hatte er angenehme Gesprächspartner am Tisch und langweilte sich nicht. Thomas konnte schnell von etwas und jemandem gelangweilt sein.
Aber vielleicht hatte er sich auch schon diskret verabschiedet und war im Hotel.
Doch nein, das konnte nicht sein, denn sonst hätte er sie unweigerlich noch einmal angerufen.
Es wäre schön, seine Stimme noch einmal zu hören, dann würde sie ihm auch sagen können, wie sehr sie ihn liebte, wie sehr sie ihn vermisste. Dazu war es ja nicht gekommen. Außerdem durfte sie sich keine Hoffnung auf einen Anruf machen. Er hatte doch gesagt, dass es der letzte Anruf sei. Deswegen folgte sie nun auch nicht ihrem Impuls zu versuchen ihn auf seinem Handy zu erreichen.
Die paar Stunden ohne ihn würden auch vergehen, außerdem war es töricht, sich in diese Sehnsucht nach ihm so sehr hineinzusteigern. Das hatte sie noch niemals zuvor gemacht, aber da war sie auch nicht krank gewesen.
Sehnsuchtsvoll-jammervoll wurde man immer nur, wenn einem was fehlte. Das war bei Kindern so, aber bei Erwachsenen nicht minder.
Bettina, reiß dich zusammen, wies sie sich selbst zurecht, weil sie sich im Grunde genommen schon selbst auf die Nerven ging, weil sie unter dieser kurzen Trennung schier zusammenzubrechen drohte, das war doch verrückt.
Sie wollte gerade ihre Nachttischlampe ausknipsen, als das Telefon läutete.
Sie schoss nach oben.
Thomas …
Na klar, er musste es sein, wer sonst sollte um diese Zeit noch anrufen. Also ging es ihm auch nicht anders, war es ihm ja auch die ganze Zeit über nicht anders ergangen. Er war es gewesen, der andauernd angerufen hatte, sehr zu ihrer Freude allerdings.
Schon wollte sie sagen, wie schön, dass du mich noch einmal anrufst, mein Liebster, aber das hielt sie zum Glück zurück, denn nicht Thomas war der Anrufer.
Es war Leni!
Zum Glück hielt sie auch ein ach, du bist es, zurück, denn das wäre gemein gewesen, ganz besonders, nachdem Leni sich geradezu angstvoll erkundigte: »Geht es dir gut, Bettina? Ich hab grad gesehen, dass bei dir noch immer Licht brennt. Ist alles in Ordnung?«
Angesichts dieser Besorgnis schluckte Bettina ihre Enttäuschung rasch herunter und war ganz gerührt. Die gute Leni, machte sich ihretwegen solche Gedanken.
»Mach dir keine Sorgen, Leni, es geht mir gut, ich liege im Bett und werde gleich das Licht löschen. Ich hab ganz lange mit Linde telefoniert, sonst würde ich längst schon schlafen, die wollte auch wissen, ob sie etwas für mich tun kann.«
»Ist ja nett, sie ist schließlich deine Freundin, aber sie kann sich doch wohl denken, dass du hier Hilfe genug hast. Wir kümmern uns schon um dich, und morgen hast du deinen Thomas wieder. Also gut, wenn du nichts brauchst, dann lege ich mich auch wieder hin. Aber Bettina, lass das Telefon neben dir liegen und scheue dich nicht anzurufen, wenn du Schmerzen bekommst oder wenn sonst was ist. Versprichst du mir das? Ich werde mein Telefon auf jeden Fall auch mit ans Bett nehmen.«
»Danke, liebe Leni«, sagte Bettina mit deutlicher Rührung in ihrer Stimme, »aber mach dir wirklich keine Sorgen. Es geht mir gut, ich habe meine Schmerztablette genommen und eine halbe von diesen Beruhigungspillen. Ich werde gleich schlafen wie ein Murmeltier. Bei mir wirken Medikamente doch sofort, weil ich so selten welche nehme. Aber eines verspreche ich dir …, sollte was sein, werde ich dich sofort anrufen, wen denn sonst?«
»Das ist gut so, also schlaf gut, mein Kind und freue dich auf morgen. Mehr als die Hälfte der Trennungszeit hast du ja nun schon hinter dir.«
»Mach dich nur lustig über mich, Leni«, beschwerte Bettina sich.
»Ich mach mich doch nicht lustig, ich habe dir nur die Wahrheit gesagt und gedacht, dass du dich darüber freust, weil du es kaum erwarten kannst, deinen Thomas wieder zu haben. Du warst heute ganz schön nervig, so kenne ich dich überhaupt nicht. Aber vielleicht liegt es ja wirklich an deiner Verletzung, die dich so wehmutsvoll oder wie immer man es nennen mag, gemacht hat. Aber jetzt genug, schlaf jetzt und träum was Schönes, meinetwegen von deinem Thomas …, wird vermutlich eh so sein.«
»Hoffentlich, Leni. Danke für deinen Anruf und deine Besorgnis, schlaf du auch gut, und du kannst ja von deinem Arno träumen.«
Leni lachte.
»Ganz bestimmt nicht, ich lieb ihn zwar sehr, aber nachts muss ich ihn nicht auch noch haben. Neben mir schon, aber nicht im Traum.«
»Ich will das aber«, bemerkte Bettina. »Tag und Nacht, im Traum, Tom soll immer um mich herum sein.«
Lenis Lachen verstärkte sich.
»Jetzt noch, meine Liebe, jetzt noch. Lass uns darüber in ein paar Jahren nochmals reden. Ich könnte wetten, dass sich da auch bei dir einiges verändert haben wird. Aber weil ich weiß, dass du jetzt ein protestierendes, lautes Nie ins Telefon brüllen wirst, komme ich dir zuvor. Es wird sich ändern, aber das müssen wir jetzt nicht mehr in epischer Breite diskutieren. Also nochmals, diesmal endgültig, gute Nacht und schlaf gut.« Das mit den Träumen ließ sie vorsichtshalber weg.
»Gute Nacht, liebe Leni«, war Bettinas Antwort, dann beendeten sie das Telefonat.
Ganz gerührt legte Bettina das Telefon weg und löschte gehorsam das Licht.
Welch ein Schatz Leni doch war, und wie unendlich besorgt. Aber so war sie halt, ein durch und durch liebevoller Mensch.
Bettina wollte sich, wie gewohnt, zur Seite schmeißen, aber da durchzuckte sie ein gewaltiger Schmerz, trotz der Schiene um ihr Fußgelenk.
Hatte sie doch schon wieder ihre Verletzung vergessen!
Wo hatte sie nur ihre Gedanken?
Bei Thomas natürlich, dachte sie, dann versuchte sie es erneut. Diesmal sorgsamer, und diesmal klappte es. Sie konnte sich zwar nicht so in ihre Decke kuscheln wie sonst, aber es ging besser als gedacht.
Ihre letzten Gedanken galten natürlich, wie konnte es auch anders sein, ihrem Thomas. An ihr tanzten Bilder vorbei von Situationen, die ganz besonders gewesen waren. Doch weil es, seit sie zusammen waren, eigentlich nur Schönes gegeben hatte, schlief sie darüber, mit einem beseeligten Lächeln auf ihren Lippen, ein.
Thomas …
Thomas …
Thomas …
Nur für ihn, für nichts anderes gab es Raum.
*
Bettina hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Irgendwann wachte sie auf, angsterfüllt, schweißgebadet, mit wild klopfendem Herzen.
Sie versuchte sich zurechtzufinden, an einen Traum zu erinnern, der dieses Gefühl in ihr ausgelöst hatte. Doch so sehr sie auch darüber nachdachte, so sehr sie versuchte sich zu erinnern.
Es hatte keinen Traum gegeben!
Warum war sie wach geworden?
Sie war so glücklich eingeschlafen, hatte an ihren Thomas gedacht, ihn mit in ihren Schlaf genommen. Alles, was mit Tom zusammenhing war schön, machte sie glücklich, es löste aber keine Albträume aus.
Woher also rührte diese Angst?
Bettina verspürte in sich einen dumpfen Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitete wie ein grauer Nebel, der ihr den Atem nahm, sie panisch machte.
Es war verrückt!
Was war los?
Bettina versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Es half nichts, sie kam gegen diese Angst, diesen dumpfen Schmerz oder wie immer man es auch nennen mochte, einfach nicht an.
Sie knipste das Licht an, schaute auf die Uhr.
Mitternacht war längst vorbei, somit auch die sprichwörtliche Geisterstunde.
Es war ganz genau ein Uhr morgens!
Sie legte sich wieder zurück, ließ das Licht aber an.
Mit geschlossenen Augen, versucht ruhigem Atem versuchte sie noch einmal sich zu erinnern.
Das gelang ihr bis zu dem Augenblick, da sie mit Gedanken an Tom eingeschlafen war. Was danach kam war ein tiefes schwarzes Loch.
Nein, sie war sich sicher, es hatte keinen Traum gegeben. Wenn sie nicht sicher sein könnte, dass Thomas in London in einem Hotel schlief, dass alle Hofbewohner sich bester Gesundheit erfreuten, dass niemand unterwegs war auf einer Landstraße oder sonstwo, hätte sie an eine Vorahnung geglaubt. Aber für so düstere Gefühle gab es keinen Grund. Und deswegen beruhigte Bettina sich allmählich auch wieder. Es musste ein schlechter Traum gewesen sein, einer von der Art, an die man sich nicht erinnern wollte. Und ausgelöst worden war er durch die Vorkommnisse des vergangenen Tages – ihre ungeschickte Bewegung mit fatalen Folgen, ihren Schmerz und ihre große Enttäuschung darüber, dass sie aus diesem Grund Tom nicht nach London hatte begleiten können.
Ja, so und nicht anders war es gewesen!
Das sagte sie sich selbst so oft vor, dass sie schließlich selbst daran glaubte, was zur Folge hatte, dass sie wieder einschlief, nicht so kuschelig und glückselig wie beim ersten Mal. Sie konnte keine schönen Bilder festhalten, nicht einmal welche an Tom …
*
Als Bettina das nächste Mal wach wurde, drang heller Sonnenschein durch die geöffnete Balkontür, und sie vernahm die Geräusche des beginnenden Tages, einschließlich des unermüdlichen Krähen eines Hahnes, der von irgendwoher heraufschallte, die Hunde bellten vergnügt. Vermutlich hatte Arno sie gerade herausgelassen und sie mussten erst mal etwas von ihrer aufgestauten Energie loswerden.
Bettina liebte es, auf diese Weise vom neuen Tag begrüßt zu werden.
Sie atmete tief durch, der Albtraum der Nacht war vergessen, sie freute sich, noch ein paar Stunden und Tom würde sie wieder in die Arme schließen.
Sie überlegte gerade noch, ob sie aufstehen oder noch ein wenig liegen bleiben und vor sich hin träumen sollte, als jemand die Treppe heraufgepoltert kam.
Ein Lächeln umspielte Bettinas Lippen. Das würde Leni sein, die Gute! Sie hatte als Letzte das Haus verlassen und war nun als Erste wieder hier. Wie fürsorglich Leni doch war und auf welch selbstlose Weise sie sich kümmerte.
Bettina wurde ganz warm ums Herz.
Leni war oben angekommen, jetzt stand sie vor Bettinas Schlafzimmertür, öffnete die ganz vorsichtig einen Spalt breit, um zu sehen, was ihr Sorgenkind machte.
»Kannst reinkommen, Leni«, rief Bettina, die das Ganze beobachtet hatte, »ich bin schon wach.«
Das ließ Leni sich nicht zweimal sagen, mit ein paar Schritten war sie bei Bettina, setzte sich auf die Bettkante.
»Und wie geht es dir heute, mein Kind? Hast du gut geschlafen?«, erkundigte sie sich und strich Bettina über das zerzauste Haar. »Was macht dein Fuß? Hat er dich in Ruhe gelassen, oder hattest du Schmerzen?«
Bettina schüttelte den Kopf.
»Nö, Schmerzen hatte ich zum Glück keine, und eigentlich habe ich ganz gut geschlafen, bis auf eine Sache … Um eins wurde ich durch meine eigene Angst geweckt, ich war so richtig panisch und schweißgebadet.«
Das nahm Leni überhaupt nicht ernst. »Hast schlecht geträumt«, sagte sie, »nach allem, was passiert ist, auch überhaupt kein Wunder.«
»Aber ich kann mich an keinen Traum erinnern«, erwiderte Bettina.
Leni tätschelte ihre Hand.
»Ist manchmal auch besser so. Jetzt geht es dir ja wieder gut. Magst du aufstehen? Dann helfe ich dir dabei, Kaffee gekocht habe ich auch schon, und es warten köstliche Croissants auf dich.«
»Dem kann ich nicht widerstehen … Nein, ich bin ausgeschlafen. Wenn du mir jetzt ein bisschen hilfst, will ich versuchen, aus dem Bett zu kommen. Wie das mit dem Duschen werden soll, weiß ich allerdings noch nicht. Diese Gerätschaft darf doch nicht nass werden.«
»Da werden wir schon eine Lösung finden«, meinte Leni, »aber für heute mache ich mal den Vorschlag, dass du auf das Duschen verzichtest und dich einfach nur wäschst, so wie es viele Leute seit Generationen gemacht haben und auch noch immer machen. Du hast doch nicht in einem Steinkohlenbergwerg gearbeitet und musst den ganzen Kohlenstaub abwaschen, sondern du hast den ganzen Tag nur still da gesessen. Sauberkeit ist gut, aber man kann auch übertreiben.«
»Ist ja schon gut, Leni, musst dich nicht weiter ereifern. Dann hilf mir bitte ins Badezimmer, und wenn du dann auch noch frische Sachen für mich herauslegst …«
»Mach ich alles, meine Liebe, keine Sorge, und wenn du mich entscheiden lässt, dann suche ich sogar etwas ganz besonders Hübsches heraus. Du musst deinem Thomas doch gefallen, oder?«
»Ja, Leni, das muss und das will ich. Ich weiß bloß noch nicht, wie ich in eine Hose hineinkommen soll.«
»Du hast den ganzen Schrank voller Röcke und Kleider, damit musst du dir halt in der nächsten Zeit behelfen. Thomas findet dich darin ohnehin hübscher. Und weißt du was, du solltest zur Feier des Tages das dunkelblaue Kleid mit den kleinen weißen Tüpfchen anziehen.«
Irritiert blickte Bettina zu Leni, sie wusste nämlich für den Moment nicht, wovon diese sprach.
»So ein Kleid hab ich doch gar nicht«, sagte sie deswegen auch.
»Und ob, ich hatte es in den Händen als ich Sachen von dir in den Schrank geräumt habe. Ich mein das Kleid, das du anhattest, als Thomas diese wunderschönen roten Rosen aus unserem Hof hatte abwerfen lassen. Darin siehst du ganz bezaubernd aus, und Thomas war hin und weg, als er dich darin erblickte.«
»Leni, das Kleid ist total alt.«
»Steht aber nicht dran, lass mich mal machen … Komm, jetzt helfe ich dir erst mal auf die Beine.«
Obschon Leni sehr behutsam war, bekam Bettina heftige Schmerzen, weil sie einfach noch nicht richtig mit ihrem Handicap umgehen konnte und es immer wieder vergaß. Sie würde sich zusammenreißen müssen, mit dem munteren aus dem Bett hüpfen war es erst mal vorbei.
Aber dann ging es doch, Leni brachte sie ins Badezimmer, vergewisserte sich, dass alles für sie parat lag, dann lief sie ins Schlafzimmer zurück, um die Sachen für Bettina zurechtzulegen.
Hätte sie es bloß allein gemacht, dachte Bettina und nicht zugelassen, Leni was heraussuchen zu lassen.
Dieses getupfte Kleid …
Warum hatte sie das nicht eigentlich schon längst ins Frauenhaus oder die Kleiderkammer gegeben? Sie hatte es seit damals nicht mehr angehabt, und ihr Kleidergeschmack hatte sich mittlerweile total geändert, war lässiger geworden.
Sie würde wie eine Trutsche herumsitzen und auf Thomas warten.
Andererseits, damals war er wirklich hin und weg gewesen. Vielleicht gefiel ihm auch jetzt noch eine lieblichere Version seiner künftigen Ehefrau. Männer standen ja auf so etwas.
Außerdem – sie musste sich darum nicht den Kopf zerbrechen. Das Schöne war nämlich, dass sie Thomas immer gefiel, egal, was sie anhatte. Bei ihrer ersten Begegnung nach all den Jahren war sie sogar dabei gewesen, eine Tür abzuschmirgeln und zu bearbeiten, da war sie vollkommen eingestaubt gewesen, hatte abgerissene Fingernägel und aufgeraute Hände gehabt. Und das alles hatte er nicht einmal bemerkt, sondern nur Augen für sie gehabt.
In Gottes Namen also, sie würde Leni den Gefallen tun und ohne zu murren in diesen Fummel steigen, aber danach, das schwor sie sich insgeheim, würde sie ihn weggeben, nicht nur ihn. Nein, nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise würde sie ihren Kleiderschrank so richtig ausmisten. Sie war sich sicher, dass da säckeweise von Bekleidungsstücken zutage kommen würden, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr getragen, die sie streckenweise sogar vergessen hatte, so wie dieses Kleid.
Warum fiel es Frauen eigentlich so schwer sich von etwas zu trennen?
Sie hatte eines der Probleme zum Glück nicht wie Linde beispielsweise. Bei der hingen Kleider im Schrank, in die sie niemals mehr hineinpassen würde, weil sie aus denen längst herausgewachsen war und die ehemalige Traumfigur niemals mehr bekommen würde. Aber sie hoffte noch immer darauf, und für diesen Fall wollte sie dann das eine oder andere Bekleidungsstück behalten. Dabei hatte sich die Mode längst geändert, und selbst beim Fall des Falles würde sie es nicht mehr tragen, weil sie nicht mehr die unbeschwerte Zwanzigjährige war. Vom Verstand her wusste Linde das, wussten all die Frauen es, die aus einem solchen Grund ihre Kleider horteten. Zum Glück war sie selbst davon nicht betroffen. Ihre Figur war seit sie zurückdenken konnte unverändert schlank, sie konnte essen und trinken was sie wollte ohne zuzunehmen. Das waren die Gene der Fahrenbachs, die sie offenbar, ebenso wie das äußere Aussehen, geerbt hatte. Grit hatte, im Gegensatz zu ihr, immer darauf achten müssen was sie zu sich nahm, aber als sie noch mit Holger verheiratet gewesen war, hatte sie nicht gehungert. Sie hatte eine sehr schöne Figur gehabt mit Rundungen an den richtigen Stellen. Seit sie mit diesem Robertino zusammen war hungerte sie. Es gab zum Frühstück ein kleines Töpfchen Magerjoghurt, mittags knabberte sie an etwas Rohkost herum, ansonsten ernährte sie sich von gegrillten Gambas, ein paar dürftigen Salatblättchen, weitestgehend ohne Dressing, hier und da gab es mageres Fleisch vom Grill natürlich. Wahrscheinlich war Grit deswegen so oft missmutig und nervenschwach. Grit hatte alle Kleidung entsorgt, sie wollte da nicht mehr hineinpassen, sondern lieber das anziehen, was im Grunde genommen nicht mehr war als eine Kindergröße.
Aus!
Punkt!
Was waren das denn nun schon wieder für Gedankensprünge gewesen, von einem dunkelblauen Tupfenkleid auf ihre Schwester Grit zu kommen?
Bettina beugte sich ein wenig vor, betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Ja, heute sah sie auf jeden Fall besser aus, weil sie auch besser mit ihrem Handicap und ihren Schmerzen umgehen konnte.
Auch wenn der Fuß weh tat, wollte sie versuchen, heute ohne Schmerzmittel auszukommen.
Das Handtuch um sich geschlungen, humpelte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Dort hatte Leni bereits alles ausgebreitet, was Bettina anziehen sollte.
Mit Lenis Hilfe zog Bettina sich an und schlüpfte zum Schluss geradezu gottergeben in das von Leni so sehr favorisierte Kleid.
»Toll siehst du aus«, rief Leni voller Entzücken, »und so jung. Ach, dieses Kleid steht dir so gut, du solltest es wirklich öfters anziehen. Häng es weiter vorn in den Schrank, damit du es nicht vergisst.«
Das würde sie natürlich nicht tun, denn diesem Kleid war ein anderes Schicksal auserkoren, doch das musste sie Leni jetzt nicht auf die Nase binden.
Sie sagte gar nichts.
Leni riss eine der Schranktüren auf, an deren Innenseite ein langer schmaler Spiegel angebracht war.
»Du kannst dich hier angucken«, sagte Leni, »dann musst du nicht auf den Flur oder ins Bad gehen … Los, schau hin, wie findest du dich?
Um Leni einen Gefallen zu tun schaute Bettina lustlos in den Spiegel. Aber dann war sie doch einigermaßen überrascht.
Sie sah in diesem lieblichen Kleidchen wirklich nett aus, gar nicht spießig, wie sie gedacht hatte. Vielleicht sollte sie es doch nicht aussondern, sondern hier und da wieder mal anziehen. Doch darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Leni hatte sie auf jeden Fall glücklich gemacht, die strahlte, als habe sie soeben ein besonders schönes Geschenk erhalten.
Sie würde Toms Reaktion abwarten und dann ihre Entscheidung treffen. Doch im Grunde genommen wusste sie jetzt schon, dass er begeistert sein würde. Er mochte sie in Kleidern, ganz besonders in welchen, die sie weich und fraulich erscheinen ließen.
»Ist okay«, sagte Bettina und wandte sich vom Spiegel ab, »jetzt habe ich Kaffeedurst und Lust auf eines deiner köstlichen Croissants. Mit denen kannst du nämlich jedem französischen Bäcker Konkurrenz machen.«
»So soll es auch sein«, sagte Leni stolz, dann ging sie neben Bettina her, um sie sofort auffangen zu können, falls diese straucheln sollte. Das war aber nicht der Fall, so wie sie sich am Geländer heraufgezogen hatte zog sie sich hinunter und war ganz glücklich darüber zu sehen, dass es mit jedem Schritt besser wurde.
*
Bettina und Leni waren mit dem Frühstück gerade fertig geworden, als es klingelte.
»Dass die Leute nicht kapieren, dass sie nicht sofort hier vorn anklingeln sollen sondern hinten bei uns. So steht es in den Prospekten, so steht es in den Reservierungen, und wenn sie anrufen, weise ich ausdrücklich auch nochmals darauf hin. Manche begreifen es eben nie. Bestimmt sind das diese fünf Männer, die vor ein paar Monaten schon mal hier waren, um zu wandern. Die haben sich für heute früh angesagt, weil sie gleich eine große Wanderung unternehmen wollen. Na, denen werde ich aber den Marsch blasen.«
Bettina lächelte in sich hinein. Das würde Leni natürlich nicht tun, sondern die Herren liebenswürdig begrüßen. Auf sie traf der Spruch – Hunde, die bellen, beißen nicht – voll und ganz zu.«
Aber welch ein Glück, dass Leni da war, um zur Tür gehen zu können. Das Gehen strengte sie selbst doch ganz schön an, sie war froh gewesen, als sie vorhin endlich unten angekommen war.
Leni kam zurück, hielt ein kleines Päckchen in der Hand, auf das sie ein wenig irritiert starrte.
»Es waren nicht die Männer, sondern ein Expressbote, der was für dich abgegeben hat, aus London …, hab’s auf dem Absender gelesen. Hast du dafür eine Erklärung? Ich mein, der Thomas kommt doch heute wieder, warum schickt der dir dann was durch einen Boten, ist doch die reinste Geldverschwendung, Express aus England, das muss doch tierisch teuer sein.«
Bettina hatte Leni überhaupt nicht zugehört, wie gebannt starrte sie auf das längliche Päckchen, das Leni noch immer in der Hand hielt.
»Gib es her«, rief sie ungeduldig, »ich muss sehen, ob es wirklich von Tom ist.«
Für Bettina war es nämlich ein bisschen unbegreiflich, etwas von ihm geschickt zu bekommen, wo er doch in ein paar Stunden wieder bei ihr sein würde.
»Wenn ich sage, dass es von Thomas ist, dann musst du mir es schon glauben«, Lenis Stimme klang ein wenig beleidigt. »Erst mal kenne ich seine Schrift, außerdem kann ich lesen. Es steht eindeutig sein Name darauf, aber ehe du jetzt aufspringst, falsch auftrittst und dir wieder weh tust. Hier hast du das Päckchen.«
Sie drückte es Bettina in die Hand, setzte sich hin und schaute neugierig zu, wie Bettina mit zitternden Fingern versuchte, den Umschlag zu öffnen. Das klappte nicht.
»So wird das nichts«, bemerkte Leni, nahm Bettina den Umschlag aus der Hand und öffnete ihn, dann reichte sie ihn wieder zurück.
Bettina vergaß vollkommen sich zu bedanken, sie griff in den Umschlag und musste erst einmal tief durchatmen und sich zusammenreißen, weil sie mit diesen zitternden Händen überhaupt nichts ans Tageslicht gebracht hätte. Dabei überschlugen sich ihre Gedanken, dieses Päckchen war tatsächlich von Thomas gekommen.
Was hatte das zu bedeuten?
Bettina beförderte schließlich eine kleinere eckige, und eine größere längliche Schachtel zu Tage, die beide in ein sehr schönes dunkelblaues Papier eingepackt waren, dazu versehen mit silbernen Schleifen aus Seide.
Dazu holte sie einen länglichen Umschlag hervor, auf dem Tini stand, und dieser Umschlag interessierte sie im Augenblick mehr als diese beiden Schachteln.
Sie riss ihn achtlos auf, zerrte das Blatt hervor, es war Briefpapier des Hotels, in dem er übernachtet hatte, in dem sie beide übernachtet hätten. Es war sehr edel, feinstes Bütten, Name und Adresse des Hotels in Stahlstich.
Doch darauf verschwendete sie im Augenblick kein Interesse, es waren die Zeilen, die sie überflog.
Meine allerliebste Tini,
ein bisschen verrückt ist es schon. Aber man hat mir versichert, dass mein Geschenk auf jeden Fall vor mir bei dir sein würde, und so bin ich das Risiko eingegangen und habe es abgeschickt.
So kannst du dich daran erfreuen, so hoffe ich. Und es verkürzt dir bis zu unserem Wiedersehen, das ich kaum erwarten kann, ein wenig die Zeit.
Eines weiß ich sicher, ohne dich gehe ich niemals mehr irgendwohin. Ich kann es kaum erwarten, dich in meine Arme zu schließen, dich zu küssen, die Wärme deines Körpers zu spüren, dich zu fühlen …
Wenn die Liebe Flügel hätte, dann wäre ich längst bei dir, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, das darfst du niemals vergessen.
Dein Tom.
Nachdem Bettina diese Zeilen einige Male gelesen hatte, ließ sie das Blatt sinken, schloss verträumt die Augen und hätte am liebsten angefangen zu weinen vor lauter Glück. Sie war ihm so nahe, und dennoch war gleichzeitig eine unerklärliche, leise Wehmut in ihr.
»Willst du nicht mal nachsehen, was er dir geschickt hat?«, drang Lenis Stimme wie aus weiter Ferne mitten in ihre Gedanken hinein.
Bettina zuckte zusammen, richtete sich auf, kam in die Gegenwart zurück. Sie warf einen letzten Blick auf den Brief, den sie am liebsten sofort noch einmal gelesen hätte, dabei kannte sie die wenigen Zeilen beinahe schon auswendig. Aber dann hätte sie Krach mit Leni bekommen, die ihre Neugier kaum mehr zügeln konnte. Und jetzt interessierte es sie auch, was Tom ihr da geschickt hatte und was in der Tat vor ihm angekommen war.
Es war das Geschenk, von dem er gesprochen hatte, da war sie sich absolut sicher, dieses Geschenk, an dem er nicht hatte vorübergehen können und von dem auch Nancy sich sicher gewesen war, dass es wie für sie gemacht war.
Jetzt war sie wirklich neugierig.
Sie starrte auf die beiden Päckchen. Eigentlich war es schade, die schöne Verpackung zu zerstören. Und …, welches sollte sie zuerst öffnen?
»Nun überleg doch nicht so lange, Bettina, mach endlich eines auf. Bist du denn nicht neugierig darauf, was du da bekommen hast?« Leni war kaum mehr zu halten, ihr war anzusehen, dass sie am liebsten für Bettina die Aufgabe des Auspackens übernommen hätte.
Bettina griff zögerlich nach dem länglichen Präsent, schob es zurück, um dem kleineren den Vorzug zu geben.
Sie hatte schon mal eine Express-Sendung erhalten, damals von Jan van Dahlen, und darin war ein Verlobungsring gewesen.
Wie lange lag das zurück. Und wie vergessen war es längst, weil es mittlerweile nicht einmal mehr Erinnerungen an Jan gab, der für eine Weile eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatte.
Nun, ein Verlobungsring würde es nicht sein, den trug sie an ihrem linken Ringfinger und in wenigen Tagen würde er auf die andere Hand wandern.
»Bettina …«
Bettina zuckte zusammen.
»Welches soll ich zuerst öffnen?«, erkundigte sie sich.
Leni seufzte.
»Du liebe Güte, das ist doch so was von wurscht, weil du sie schließlich eh beide aufmachen musst. Aber wenn du es nicht selbst entscheiden kannst, gut, nimm das längliche, sonst sitzen wir noch hier, wenn Thomas ins Zimmer gestürmt kommt.«
Das war ein Argument.
Bettina griff zwar nach dem kleineren Päckchen, ohne dass es ihr bewusst wurde, dann riss sie es voller Nervosität auf und kam sich dabei vor wie bei der Weihnachtsbescherung.
Es kam ein kleines ledernes Kästchen zum Vorschein, dem das Alter anzusehen war.
Bettina nestelte an dem Verschluss herum, ehe sie ihn auf hatte. Staunend blickte sie auf ein wunderschönes Schmuckstück, das auf dunkelblauem Samt lag und ihr verheißungsvoll entgegenfunkelte.
Es war ein wundervoller antiker Anhänger aus Diamanten und einem traumhaft schönen großen Aquamarin, der in einer schlichten Gliederkette hing, die vermutlich aus Weißgold oder Platin war. Die Kette war neueren Datums, aber einen ähnlichen Anhänger hatte Bettina bereits einmal in einem Antiquitätenbuch gesehen. Die vornehmen Damen trugen ihn früher nicht an einer Kette, sondern an einem Samtband. Das bedeutete also, dass der Anhänger sehr alt und kostbar war. Thomas war verrückt, er war wirklich verrückt, so etwas teures für sie zu kaufen. Aber er war der absolute Traum, dieser Anhänger.
Bettina starrte noch immer ganz entzückt darauf, als Lenis Stimme sie in die Wirklichkeit zurückrief.
»Nun schau, was in dem anderen Kästchen ist.«
Das tat Bettina.
Zum Vorschein kam ein dazu passendes Armband, dessen einzelne Glieder alle die Form des Anhängers hatten, also ringsum Diamanten, in der Mitte ein traumhafter Aquamarin, es war halt alles nur kleiner, aber von der Form her, vom Aussehen identisch. Und auch hier war der schlichte Verschluss neu, denn zu der damaligen Zeit hatte man auch Armbänder mit Samtbändern verschlossen, das kannte Bettina gleichfalls aus diesem Antiquitätenbuch.
Thomas musste ein Vermögen ausgegeben haben, aber … Bettina hatte noch niemals einen so wunderschönen Schmuck gesehen. Von den Fahrenbachs hatte sie auch viel Schmuck geerbt, schönen, alten. Aber der verblasste angesichts dieser herrlichen Stücke.
Bettina starrte darauf, sie war so nervös, dass sie den Umschlag, in dem alles angekommen war, warum auch immer, wieder in die Hand nahm, hineinlangte … Etwas raschelte, überrascht brachte sie ein Blatt zu Tage, diesmal allerdings ohne Umschlag.
»Hallo, mein Herz,
im Überschwang der Gefühle hatte ich vergessen es zu erwähnen.
Du sollst den Schmuck an unserer Hochzeit tragen, er passt nicht nur, so finde ich, zu deinem wunderschönen Brautkleid, sondern noch viel mehr zu deinen wunderschönen blauen Augen, die noch mehr funkeln als die Steine. Ich kann es kaum erwarten, dich so zu sehen.
Eines ist sicher, eine schönere Braut als dich wird es niemals mehr geben.
I.l.d., dein Tom.
Jetzt war Bettina komplett mit den Nerven fertig, das war einfach alles zuviel, sie konnte es nicht verhindern, dass Tränen über ihr Gesicht rollten, Tränen der Rührung, Tränen der Liebe, Tränen des Glücks.
Lenis Stimme brachte sie wieder einmal in die Realität zurück.
»Sag mal, ist das eigentlich eine Wundertüte, aus der du immer noch was Neues hervorholst?«, wollte sie wissen. »Lang noch mal hinein, wer weiß, was sonst noch zum Vorschein kommt.«
»Also, jetzt noch mehr zu erwarten, das wäre unverschämt, Leni, aber dass ich nochmals reingelangt habe, darum bin ich froh, denn sonst hätte ich Toms zweiten Brief nicht bekommen … Ich bin vollkommen durcheinander. Ist er nicht verrückt, mein Tom? Was sagst du dazu?«
»Nun, zum einen finde ich den Schmuck fantastisch, so was sieht man ja nur, wenn bei Königs was los ist und sie sich mit allem, was die Schatzkammer hergibt, schmücken. Aber nein, das ist falsch. Das, was Thomas dir geschickt hat, ist nicht protzig, sondern sehr edel, und dir wird beides sehr gut stehen, weil beides zu dir passt. Willst du diese Schätze nicht einmal anlegen?«
Doch davon wollte Bettina nichts wissen.
»Nein, Leni, das soll Thomas tun, solange kann ich warten, aber bis dahin werde ich mir den Schmuck ganz gewiss noch einige Male ansehen.«
»Du solltest ihn an deiner Hochzeit tragen«, schlug Leni vor.
»Das hat Tom auch gemeint, Leni, das hat er in dem zweiten Brief geschrieben, und natürlich werde ich es tun. Weißt du, was er auch noch geschrieben hat … Eine schönere Braut als dich wird es niemals mehr geben – er ist also nicht nur verrückt, was das Geldausgeben für mich angeht, sondern auch, was seine Liebe betrifft.«
»Ja, er liebt dich wirklich, der Thomas Sibelius. Das, was da zwischen euch ist, ist geradezu unheimlich, eine solche Liebe kann es auf Erden doch eigentlich überhaupt nicht geben.«
»Es gibt sie aber«, lachte Bettina, »Tom und ich stehen doch wohl ziemlich fest auf dem Boden der Tatsachen, oder?«
Leni wollte sagen, das schon, aber manchmal neiden die Götter einem das Glück. Sie kam aber nicht dazu, weil gerade in dem Moment ihr Handy klingelte.
Sie meldete sich.
Hörte zu, nickte.
»Ich komme«, sagte sie und steckte ihr Handy wieder weg.
»Die Wanderer sind eingetroffen«, sagte sie, »und sie sind schlauer als ich dachte, haben nicht bei dir geklingelt. Aber jetzt stehen sie vor dem Gesindehaus und warten auf ihre Schlüssel. Kann ich dich allein lassen?«
Bettina nickte heftig.
»Aber natürlich kannst du das, Leni, ich bin gut versorgt, und ich bin glücklich«, sie korrigierte sich sofort, »nein, ich bin überglücklich.«
»Das kannst du auch, so was wie den Thomas findest du nämlich niemals wieder.«
»Das weiß ich, und ich werde schon gut aufpassen auf mein Goldstück«, sagte Bettina.
Bettina war allein, nachdem Leni gegangen war, und das war ihr auch ganz recht so. Sie holte beide Briefe noch einmal hervor, las sie, Wort für Wort, dann zog sie den Schmuck wieder näher zu sich heran, um in Betrachtungen zu versinken, und in Träume. Auch wenn sie den Schmuck noch nicht angelegt hatte, weil Thomas das tun sollte, wusste sie, dass er prächtig an ihr aussehen würde, und zu ihrem Brautkleid würde er auch passen.
Sie hatte sich schon solche Gedanken darum gemacht, welchen Schmuck sie tragen sollte, hatte ihre Schmuckschatulle mehr als nur einmal durchwühlt, aber so richtig war sie mit nichts zufrieden gewesen.
Nun musste sie nicht mehr darüber nachgrübeln, das Problem war gelöst. Diese Kette und das Armband waren die perfekte Lösung.
Am liebsten hätte sie jetzt Linde angerufen und ihr davon erzählt. Aber ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass Linde um diese Zeit mit den Zwillingen beschäftigt war. Da wollte sie wirklich nicht stören, um ihre beinahe kindliche Freude mit Linde zu teilen. Die würde es schon früh genug erfahren und diese herrlichen Schmuckstücke früh genug sehen. Linde würde sich mit ihr freuen, weil sie eine richtige Freundin war und kein bisschen neidisch. Aber umgekehrt war es ja auch so.
Doris?
Nein, das wäre jetzt albern, in Frankreich anzurufen. Doris war eine Nachteule, konnte sehr gut sein, dass sie um diese Zeit noch schlief, und sie konnte ganz schön herumgranteln, wenn man sie weckte.
Außerdem, reichte es denn nicht, dass sie sich für sich allein freute?
Tom …
Nein, auch das ging nicht. Der frühstückte vermutlich gerade mit Nancy, und ganz bestimmt hatten die beiden sich eine Menge zu sagen. Da konnte und wollte sie nicht hineinplatzen. Wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte Thomas sie schon angerufen.
Die paar Stündchen bis zu ihrem Wiedersehen würde sie schon totschlagen.
Und womit sollte sie anfangen?
Womit denn wohl, doch selbstverständlich mit den Briefen. Und der Schmuck hatte es ebenfalls verdient, noch einmal ganz genau betrachtet zu werden.
Es war nett von Nancy gewesen, ihn darauf hinzuweisen, das war das eindeutige Indiz, dass zwischen Thomas und Nancy wirklich nichts anderes war als aufrichtige Freundschaft. Wenn es von ihrer Seite mehr wäre, dann hätte sie ihm ganz gewiss nicht den Tip gegeben, Bettina den Schmuck zu kaufen. So selbstlos war keine Frau. Schade, dass Nancy nicht bei ihrer Hochzeit dabei sein würde, aber sie konnte schon verstehen, dass sie einer großen beruflichen Herausforderung den Vorrang gab. Nancy war eine anerkannte Meeresbiologin, die sich ihrem Job mit Haut und Haaren verschrieben hatte, dafür nahm sie sogar in Kauf, kein Privatleben zu haben.
Bettina packte die beiden Schmuckstücke wieder sorgfältig in die Schachteln, sie konnten nicht bis zu Thomas’ Ankunft auf dem Tisch liegen bleiben, dann knüllte sie das Papier zusammen, brachte es in den Abfalleimer, die silbernen Seidenbänder strich sie glatt und steckte sie in eine Schublade. Die konnte man gut noch mal brauchen.
Also, für sie war das nichts. Sie würde dem Privatleben immer den Vorrang geben. Und ein Leben an Toms Seite, das würde sie für kein Königreich, für nichts würde sie das aufgeben, weil es nichts Schöneres geben konnte als ein gemeinsames Leben mit dem Mann, den man liebte.
*
Toni rief sie an, erkundigte sich, ob er mit ein paar Unterlagen auf einen Sprung bei ihr vorbeikommen dürfe, aber davon wollte sie nichts wissen.
Normalerweise hätte sie nichts dagegen gehabt, aber nicht heute. In ein paar Stunden würde Tom kommen, und bis dahin wollte sie nichts weiter tun als sich auf ihn freuen, seine beiden Briefe nochmals lesen, und den Schmuck würde sie auch, sie wusste nicht zum wievielten Male, hervorholen und ihn sich ansehen.
Das war auch gut so, denn erst bei mehrmaligem Betrachten wurde einem die hohe Goldschmiedekunst immer bewusster, fielen all die Feinheiten auf, die man vorher übersehen hatte.
Sie würde alles noch einige Male hervorkramen, doch Bettina hatte den Schmuck gerade wieder einmal weggepackt, als es an der Haustür klingelte.
Wieder ein Gast, der nicht wusste, wo er sich zu melden hatte.
Das kam zwar selten vor, aber hier und da war es der Fall, und das war ja auch kein Beinbruch.
Mühsam erhob Bettina sich und humpelte zur Tür. Das dauerte eine Weile. Doch das dauerte dem oder der draußen Stehenden wohl zu lange, denn es wurde erneut geklingelt, diesmal länger und fordernder.
»Hallo, ich komme ja schon«, rief Bettina. Sie war sich aber nicht sicher, ob das auch draußen gehört wurde, die Mauern des Hauses waren dick und die schwere Eichentür war es auch. »Alte Frau ist doch kein D-Zug«, fügte sie leiser hinzu.
Endlich hatte sie die Haustür erreicht. Öffnete.
Es war kein neu angekommener Gast. Zu ihrer Überraschung standen zwei uniformierte Polizisten vor der Tür. Sie kannte den einen oder anderen Polizisten mittlerweile, diese beiden jedoch hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Sie waren beide noch ziemlich jung, obschon der eine von ihnen auf der Rangordnung schon ganz schön weit nach oben gekommen war, was man an den Abzeichen erkennen konnte. Der andere war vermutlich erst am Anfang seiner Karriere, denn er hatte gerade erst ein Abzeichen und war bestimmt mit unterwegs, um zu lernen.
Was wollte die Polizei von ihr?
War wieder irgendwo jemand auf der Flucht?
Einen Geldräuber hatten sie schließlich schon mal hier oben gehabt, und das war eine ziemlich aufregende Sache gewesen, gefährlich gewesen war sie auch, denn der Mann war skrupellos gewesen, weil er nichts mehr zu verlieren gehabt hatte, und Leni und sie hatten in seiner Gewalt ganz schön gezittert.
Der Höherstehende nannte seinen Namen, den seines Kollegen auch, aber das rauschte an Bettina vorüber, weil sie sich noch immer fragte, weswegen sie wohl gekommen waren. Der beschauliche Fahrenbach-Hof war nicht unbedingt der Ort, an dem sich die Polizei die Klinke in die Hand gab.
»Frau Fahrenbach?«, erkundigte der Polizist sich.
Bettina nickte.
»Ja, die bin ich … Bettina Fahrenbach.«
Sollte sie etwas angestellt haben? Das war wohl eher unwahrscheinlich, sie war sich eigentlich sicher, und dennoch beschlich einen sofort ein Gefühl des Unbehagens, wenn man einen Polizisten vor sich sah, der dazu noch wusste, wer sie war und wo sie wohnte.
»Und Thomas Sibelius? Der wohnt auch hier?«, fragte der Uniformierte weiter.
Du liebe Güte!
Wollten sie jetzt vielleicht dem armen Thomas an den Kragen?
»Ja, richtig, Herr Sibelius ist mein Verlobter, in wenigen Tagen mein Ehemann …«
Schaute er sie mitleidig an, oder bildete sie sich das nur ein?
Der Jüngere der beiden blickte zur Erde und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Äh …, dürfen wir vielleicht eintreten?«, erkundigte sich der erfahrenere Polizist.
Bettina begann zu lachen.
»O ja, herzlich gern, aber Sie werden meinen Verlobten nicht vorfinden, der ist verreist. Wenn Sie Thomas sprechen wollen, dann müssen Sie schon noch mal wiederkommen … Was hat er denn verbrochen? Eine rote Ampel überfahren oder war er auf irgendeiner Landstraße zu schnell?«
Sie schaute die beiden Männer an.
»Wenn Sie wegen so einer Lächerlichkeit zu zweit heraufgekommen sind, dann muss ich sagen, dass die Polizei offenbar viel Zeit zu haben scheint. Mein Verlobter hat einen festen Wohnsitz, ist hier polizeilich gemeldet. Also er wird wegen einer Geldstrafe oder wegen eines Eintrages in der Verkehrssünderkartei in Flensburg ganz gewiss nicht die Flucht ergreifen.«
Bettina konnte sich nicht vorstellen, dass es einen anderen Grund für das Kommen der beiden Männer geben konnte als eine Verkehrsübertretung.
Humor schienen die zwei im übrigen nicht zu haben, denn sie verzogen bei ihren Worten nicht einmal ihre Gesichter. Wenn sie an deren Stelle gewesen wäre, sie hätte belustigt gelacht oder wenigstens belustigt das Gesicht verzogen.
Nun, es sollte ihr auch egal sein, die beiden sollten verschwinden, sie wussten doch nun, dass Thomas nicht daheim war.
Derjenige, der ohnehin die ganze Zeit über geredet hatte, ergriff wieder das Wort.
»Frau Fahrenbach, wir haben Ihnen etwas zu sagen. Es wäre besser, wenn Sie uns ins Haus hineinlassen würden.«
Jetzt wurde Bettina ein wenig mulmig zumute.
Sie trat beiseite.
»Bitte schön, kommen Sie herein«, sagte sie mit einer beinahe piepsigen Stimme.
Sie humpelte voraus, überlegte fieberhaft, wohin sie die Männer führen sollte, dann entschied sie sich für das Wohnzimmer.
Sie bot den Männern einen Stuhl an, blieb selbst aber stehen.
»Sie sollten sich auch setzen, Frau Fahrenbach«, forderte der Polizist sie auf.
Bettina setzte sich.
Einen Augenblick lang war es still, beklemmend still, die Stille war geradezu belastend, und Bettina hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, weil sie das, was sie vielleicht gleich erfahren würde, nicht hören wollte.
Es würde nichts Angenehmes sein, das ahnte sie.
»Frau Fahrenbach, wir müssen Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass Herr Thomas Sibelius …, äh, Ihr Verlobter, bei der Explosion eines Lear-Jets ums Leben gekommen ist. Alle vier Insassen und der Pilot haben die Explosion an Bord nicht überlebt.«
Normalerweise hätte Bettina jetzt angefangen zu schreien. Aber sie blieb ganz ruhig, richtete sich noch ein wenig mehr auf.
»Es tut mir leid, es muss sich hierbei um eine Verwechslung handeln. Mein Verlobter befindet sich in London, und er wird in«, sie blickte auf ihre Armbanduhr, »er wird in einer Stunde mit einer Linienmaschine in London abfliegen. Tut mir leid, dass Sie sich vergebens herbemüht haben. Es kann Thomas nicht sein, der in einem Lear-Jet gesessen hat. Er hat ein Hin- und Rückflugticket, und das weiß ich so genau, weil ich nämlich auch in der Maschine gesessen hätte, wenn ich nicht einen kleinen Unfall gehabt hätte.« Sie streckte ihren Fuß ein wenig nach oben, um es ihnen zu zeigen und nun wünschte sie sich nur noch, dass die Männer endlich gehen sollten.
Sie hatte die Verwechslung doch aufgeklärt, warum standen sie nicht auf, sondern blieben noch sitzen?