Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 6
ОглавлениеWas war das für ein Geräusch gewesen?
Professor Werner Auerbach lauschte angestrengt. Aber da war nichts mehr. Er hatte sich offensichtlich geirrt. Oder aber er hatte etwas hören wollen, weil die Stille im Haus unerträglich für ihn war.
Er war heimgekehrt wie immer, und wenn er ehrlich war, dann hatte er erwartet, dass man ihn begrüßen würde wie einen von einer langen Reise heimgekommenen Prinzen. So war es doch immer gewesen. Inge hatte sich gefreut, etwas Leckeres für ihn gekocht, und Pamela, das Nesthäkchen, war ihm lachend um den Hals gefallen.
Heute war es anders.
Von Inge keine Spur, sie hatte nichts gekocht, Pam war nur kurz hereingeschneit, hatte ihn kurz begrüßt und ihm gesagt, dass sie bei den Großeltern schlafen würde. Das hatte er bereits von seiner Schwiegermutter erfahren. Doch das wäre nicht nötig gewesen. Er war doch da.
Er hatte auch die bittere Wahrheit erfahren, dass Inge weggefahren war, nicht zu übersehen, mit einer kleinen Reisetasche.
Als wenn das nicht schon genug wäre, hatte ihm auch noch seine Tochter Ricky ganz gehörig die Leviten gelesen und hatte ihm vor Augen geführt, was für ein egoistischer Macho er doch war.
Und sie hatte ihm klar und deutlich gesagt, dass das längst überfällig gewesen war, sie habe sich schon gewundert, warum ihre Mutter nicht schon viel früher gegangen sei.
Dabei hatte er von ihr doch nur erfahren wollen, ob sie eine Ahnung hatte, wohin Inge gefahren sein könnte.
Werner Auerbach, der große Professor, war fix und fertig.
Inge gehörte zu seinem Leben!
Er liebte sie!
Gut, er hatte vielleicht ein wenig übertrieben, und er hätte, ganz wie versprochen, hin und wieder auch mal etwas mit seiner Frau unternehmen können. Doch er betrachtete sie doch nicht als so etwas wie eine unbezahlte Haushälterin. Was hatte Ricky sich eigentlich dabei gedacht, ihm so etwas an den Kopf zu werfen!
Es war schon bitter, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Das Bild, das er da sah, das gefiel ihm überhaupt nicht.
Wenn er nur wüsste, wohin sie gefahren war. So etwas passte nicht zu Inge. Sie war sein Fels in der Brandung, sie war das sichere Floß, auf dem er mit ihr zusammen durch das stürmischste, gefährlichste Wasser kam. Sie hatte ihm immer den Rücken freigehalten, sie war an seiner Seite gewesen, wenn er seine Verwirklichung an verschiedenen Orten in verschiedenen Ländern gesucht hatte. Sie hatte die Kinder erzogen, und wie prachtvoll sie alle geworden waren, auch Hannes, obschon der nicht den Weg eingeschlagen hatte, den er sich für diesen Sohn gewünscht hatte. Aber sie waren alle ehrliche Menschen geworden, die ihr Herz auf dem rechten Fleck hatten.
Inge … Inge … Inge … Wie blind war er eigentlich gewesen, nicht zu sehen, welch prachtvolle Frau er da an seiner Seite hatte?
Werner wurde von seinen Schuldgefühlen beinahe erdrückt, doch noch stärker war die Panik in ihm, sie könnte für immer gegangen sein.
Da war wieder ein Geräusch.
Diesmal hatte er sich nicht geirrt.
Ein Einbrecher?
Die kamen doch nicht, wenn jemand sich im Haus befand, oder? Wenn man allerdings den Medien Glauben schenken durfte, da nahmen einige von diesen Verbrechern darauf keine Rücksicht, im Gegenteil. Die quälten ihre Opfer, um Geheimverstecke für Geld, Gold und Schmuck zu erfahren. Und manchen gab es auch feinen Kick, die Angst in den Augen ihrer Opfer zu sehen.
Du liebe Güte, wohin verirrten sich denn seine Gedanken?
Der Professor war wirklich vollkommen durcheinander, so sehr, dass er seinem gesunden Menschenverstand nicht mehr vertraute.
Werner Auerbach stand auf, schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück, als könne das einen Einbrecher abschrecken und zur Flucht veranlassen, dann ging er in die Diele, denn von dorther war das Geräusch eindeutig gekommen. Er machte das Licht an, und dann blieb er für einen Augenblick vollkommen überrascht stehen, ganz so, als sähe er einen Geist. Dann jedoch kam Leben in ihn.
»Inge, mein Herz, warum stehst du denn im Dunklen da?«, rief er.
Es war wirklich Inge Auerbach, die da stand, stumm, mit der Reisetasche in der Hand, beinahe so, als wisse sie nicht, was sie tun solle.
Seine Überraschung hielt nur kurz an. Zeit für Erklärungen war jetzt nicht notwendig. Es gab nur eines, was jetzt zählte … Seine Inge war wieder da!
Werner hätte nicht zu sagen gewusst, wann er sich zum letzten Mal so sehr, so aufrichtig gefreut hatte.
Er rannte auf seine Frau zu, nahm ihr die Tasche aus der Hand, ließ sie achtlos zu Boden gleiten. Dann umarmte er sie wie ein Ertrinkender, der im allerletzten Moment das rettende Ufer erreicht hatte.
»Inge, Inge, mein Liebes …«
Er, der wortgewandte, stets souveräne Professor, war nicht in der Lage, mehr als immer wieder diese Worte zu stammeln. Er verstärkte den Druck seiner Arme so sehr, dass Inge kaum noch Luft bekam und aufstöhnte.
»Entschuldige, mein Herz.«
Er ließ sie los, starrte sie an, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Inge wusste nicht, was plötzlich mit ihrem Mann los war.
Er nahm sie bei der Hand, führte sie in die Küche, schob ihr einen Stuhl zurecht. Er blieb für einen Augenblick stehen, sah sie an, voller Liebe, in seinem Gesicht spiegelten sich die widerstreitendsten Gefühle wider.
Was war mit Werner los?
Ehe Inge ihm eine Frage stellen konnte, setzte er sich, und dann sprudelte es aus ihm nur so heraus. Er sprach von seiner Heimkehr, dem unangenehmen Gefühl, niemanden vorgefunden zu haben. Er erzählte von seinem Besuch nebenan, dass Pamela ihn kaum begrüßt hatte. Er ließ nicht aus, dass Ricky ihm vor Augen geführt hatte, dass er sich unmöglich und sehr egoistisch verhielt.
»Inge, ich hatte plötzlich riesige Angst, ich kann nicht ohne dich sein, du bist mein Leben …, ich … ich habe eine Einladung nach Oslo, auf die ich wirklich sehr gewartet habe, einfach zerrissen. Ich werde endlich mein Versprechen halten und mehr für dich da sein, denn du bist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt, die … die Blumen dort drüben, die sind für dich. Die Vase passt nicht so richtig, aber ich habe keine andere gefunden … Inge … Liebes, so sag doch was.«
Wie sollte sie denn etwas sagen, da er doch die ganze Zeit über redete?
Außerdem musste sie sich erst mal von der Überraschung erholen, was Werner ihr da alles erzählt hatte.
Er deutete ihr Schweigen falsch.
»Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe. Und ich bitte dich, verzeih mir. Ich will alles gutmachen. Aber bitte, bleib bei mir. Warum bist du überhaupt gegangen? Weil ich dir per Mail mitgeteilt habe, dass ich einen Tag länger bleiben werde? Und warum bist du zurückgekommen? Ich meine, es macht mich überglücklich, aber …«
Sie unterbrach ihn einfach.
»Werner, bei uns läuft schon lange etwas schief. Ich wollte es nur nicht wahrhaben, ich habe es immer verdrängt. Du hast dein Ding gemacht, ich habe funktioniert. Du hast kein einziges Versprechen gehalten, und du glaubtest, mit einem Blumenstrauß vom Flughafen sei alles wieder in Ordnung. Wer weiß, vermutlich hätte ich es weiter mitgemacht. Aber heute habe ich Rickys neuen Mieter kennengelernt, dieser Doktor Bredenbrock ist ein sehr angenehmer Mensch, und …«
Diesmal unterbrach er sie.
»Und in den hast du dich verliebt, mit dem wolltest du durchbrennen?«, erkundigte er sich eifersüchtig.
War man nicht eifersüchtig aus Liebe?
Inge war beinahe geneigt, sich zu freuen, doch dann wurde ihr bewusst, dass Werner bloß Angst hatte, an seinem bequemen, komfortablen Leben könnte sich etwas ändern.
»Rede keinen Unsinn«, sagte sie unwirsch, »nein, dieser Mann ist ein alleinerziehender Vater, er hat eine Tochter und einen Sohn. Und mit denen zieht er hierher, weil er glaubt, sein Leben und das der Kinder dann besser in den Griff zu bekommen als in der Großstadt. Er hatte eine ähnliche Position wie Fabian, die hat er aufgegeben. Er wird am Hohenborner Gymnasium als Lehrer arbeiten. Seine Frau hat ihn übrigens verlassen, weil sie sich an der Seite eines jüngeren Musikers verwirklichen wollte, ohne Rücksicht auf Mann und Kinder.«
Sie stand auf, holte sich ein Glas Mineralwasser, trank etwas, setzte sich wieder.
»Werner, diese Frau hat mich an dich erinnert. Du hast mich und die Kinder nicht wegen einer anderen Frau verlassen, doch du machst rücksichtslos dein Ding, du verreist, ohne es vorher mit mir abzusprechen. Du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen, und wenn du in deinem Arbeitszimmer bist, dann müssen wir mehr oder weniger auf Zehenspitzen durchs Haus laufen. Jetzt sind nur noch Pamela und ich hier, aber früher war das nervig und auch eine Zumutung für die Kinder.«
Es stimmte!
Er konnte ihr nicht einmal widersprechen!
Es war so im Hause Auerbach, und so war es immer gewesen. Wenn ihm etwas wichtig war, dann setzte er es durch. Und in der Vergangenheit war es auch vorgekommen, dass Inge sich auf einen Opernabend gefreut hatte, den er absagen musste, weil ihm etwas wichtiger erschienen war. Nicht absagen musste, korrigierte er sich sofort. Er hatte es aus rein egoistischen Gründen getan.
Was war er bloß für ein schrecklicher Mensch!
Er blickte sie beinahe Hilfe suchend an.
»Ich werde mich ändern, wirklich, und diesmal sage ich es nicht nur so daher, sondern ich meine es so.«
Sie antwortete nicht, und ihr Schweigen war für ihn schlimmer, als wenn sie jetzt eine Szene gemacht hätte.
Bei Krächen und heftigen Szenen erschöpfte man sich, war emotional so bewegt, dass man nicht mehr klar denken konnte. Es war für den anderen dann ein leichtes Spiel.
Inge blickte ihren Mann an, dann sagte sie leise: »Werner, solche Worte habe ich bereits unzählige Male gehört, und du hast nie etwas geändert.«
»Diesmal ist es anders«, beteuerte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Werner … Worte …, die will ich nicht mehr hören, beweise es. Die Begegnung mit Doktor Bredenbrock hat mir die Augen geöffnet. Mir wurde dann allerdings beizeiten klar, dass es überhaupt nichts bringt, davonzulaufen. Wir sind schließlich keine Teenies, die in der Flucht den Ausweg sehen. Nein, Werner. Ich bin zurückgekommen, weil ich mit dir eine Lösung der Probleme finden will. Wenn man so viele Jahre wie wir verheiratet ist, wenn man gemeinsame Kinder, ja sogar bereits Enkelkinder hat, da beendet man nicht das, das die meiste Zeit des Lebens ausmacht. Ich hätte früher etwas sagen müssen, ich hätte früher die Notbremse ziehen müssen.«
Sie trank etwas von ihrem Mineralwasser, stellte das Glas ab, blickte ihn erneut an.
»Werner, ich liebe dich, ich möchte weiterhin hier mit dir leben.«
Er atmete insgeheim auf.
»Inge, du bist doch auch mein Leben, ich liebe dich ebenfalls, kann ohne dich nicht sein. Es wird sich wirklich alles ändern. Aber sag mal, sollen wir jetzt nicht ein Glas Wein zusammen trinken? Außerdem …, ehrlich gesagt, habe ich Hunger, ich habe nur ein Käsebrot gegessen, das ist herzlich wenig, nicht wahr?«
Das konnte jetzt nicht wahr sein.
Er hatte nichts begriffen.
»Werner, glaubst du, dass ein Lippenbekenntnis genügt? Da muss mehr kommen, da musst du erst einmal beweisen, dass es dir wirklich ernst ist. Übrigens, ich werde erst einmal im Gästezimmer schlafen, und essen …, im Kühlschrank findest du auch noch Wurst. Es ist genügend Brot da. Wenn ich weiß, dass du daheim bist, werde ich natürlich auch wieder kochen. Für heute muss dir das reichen, was vorhanden ist.«
Sie stand auf.
»Inge, du kannst doch jetzt nicht einfach gehen. Was soll das mit dem Gästezimmer. Was sollen die Leute denken?«
Jetzt hätte sie beinahe gelacht.
»Die Leute blicken nicht in unser Schlafzimmer, im Übrigen schlafen viele Eheleute aus vielerlei Gründen getrennt. Ich werde es nicht an die große Glocke hängen, und warum soll Pamela nicht die Wahrheit erfahren? Aus der Vergangenheit müssen wir lernen, ich werde nicht noch einmal den Kopf in den Sand stecken, weil ich zu feige bin, die Wahrheit auszusprechen.«
»Inge, was hast du dir dabei gedacht. Da mache ich doch nicht mit.«
»Werner, es kommt nicht auf dich an, nicht darauf, was du willst oder nicht. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Ehe das wird, was sie sein soll, nämlich eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Du hast dich lange genug selbst verwirklicht, das ist vorbei. Und, Werner, es ist mir ernst damit.«
Sie wandte sich ab, er wollte sie zurückhalten, doch ihm fielen keine Worte ein, mit denen er sie überzeugen konnte.
Im Freundes-, im Kollegenkreis hatte er leider viele Ehen scheitern sehen. Für ihn selbst wäre allein schon ein solcher Gedanke undenkbar gewesen, seine Inge, die war fest an seiner Seite.
Klar, das war sie auch. Und sie wollte auch an seiner Seite bleiben. Die Bedingungen hatten sich verändert. Und wenn er ehrlich war, dann hatte er großes Glück gehabt, dass er so viele Jahre lang sein eigenes Ding machen konnte.
Professor Auerbach war ratlos. Er, der für alles Lösungen hatte, fand keine für sein Privatleben. Das war ja auch nicht nötig gewesen. Es hatte auf seine Weise bestens funktioniert.
Kein gemeinsames Schlafzimmer mehr …
Werner Auerbach graute es davor, sich allein in das große Doppelbett legen zu müssen. Wie angenehm war es doch immer gewesen, Inge neben sich zu wissen, ihre Atemzüge zu hören …
Warum war er bloß diesen Tag länger geblieben und hatte dadurch eine Katastrophe ausgelöst. Wenn es sich wenigstens gelohnt hätte. Es war nicht wichtig gewesen, es hatte nur seine Eitelkeit befriedigt. Er hatte sich darin gesonnt, wie toll man ihn doch fand.
Wie hieß es doch?
Ja, richtig: »Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.«
Es war eine bittere Erkenntnis, doch die brachte ihn nicht weiter. Würden sie die Scherben wieder zusammenfügen können?
Ihm dämmerte die Erkenntnis, dass er dann jedoch etwas ändern musste, und das nicht nur verbal. Das hatte Inge klar und deutlich ausgesprochen.
Er ging in sein Arbeitszimmer, holte seinen Terminkalender heraus, und dann begann er zu streichen. Es war eine ganze Menge, und ihm wurde klar, dass er wirklich mehr unterwegs gewesen war als daheim, und dass er es so auch für die Zukunft geplant hatte.
Er hatte sein Leben nach seinen eigenen Bedürfnissen ausgerichtet!
Es war wirklich sehr bitter, das jetzt einzusehen. Er bekam ein schlechtes Gewissen, denn die meisten Reisen waren in keiner Weise notwendig gewesen. Er war beruflich und auf seiner Karriereleiter ganz oben angekommen, höher ging nicht. Alles, was er gemacht hatte, war meistens nicht mehr als nur Vergnügen gewesen.
Es musste etwas geschehen, und er musste anfangen, umzudenken, von dem ICH hin zum WIR.
Er war kein Alkoholiker, aber jetzt brauchte Werner Auerbach noch einen Whisky, am besten einen doppelten.
*
Inge Auerbach stand noch ein wenig neben sich, als sie langsam die Treppe nach oben ging. Sie war erstaunt über sich selbst, denn das, was sich da unten zugetragen hatte, davon war nichts geplant gewesen.
An diesem Tag war alles nicht geplant gewesen, zuerst war da Dr. Bredenbrock mit seinen Kindern aufgetaucht. Inge hatte schon vorher gewusst, dass er alleinerziehend war, weil seine Frau ihn verlassen hatte, um sich an der Seite eines jüngeren Musikers zu verwirklichen.
Sie hatte es registriert, aber es dann noch einmal aus seinem eigenen Mund zu hören, die Kinder zu sehen, das hatte eine andere Dimension, und obschon es mit ihrer eigenen Situation überhaupt nicht zu vergleichen war, war ihr bewusst geworden, was ihr Ehemann da machte. Er betrog sie nicht mit einer anderen Frau, er war auch nicht ausgezogen, aber er machte rücksichtslos sein Ding. Und all seine Versprechungen, mehr Zeit mit ihr verbringen zu wollen, waren in den Wind gesprochen gewesen. Zu allem gehörten immer zwei. Er hatte gemacht, was er wollte, und sie hatte es hingenommen.
Das Treffen mit Dr. Bredenbrock hatte sie wachgerüttelt.
Auf einmal war ihr bewusst geworden, welches Schattendasein sie neben Werner führte. Es war schon lange kein Miteinander mehr, sondern ein Nebeneinander. Er hatte sich verwirklicht, und sie hatte funktioniert.
Es war eine rein emotionale Entscheidung gewesen, ein paar Sachen einzupacken und wegzufahren. Doch als ihr Verstand wieder da war, da hatte sie eingesehen, dass das keine Lösung war und war zurückgekommen, ohne zu wissen, ob Werner wieder daheim war, ob er noch einmal verlängert hatte.
Es hatte sich gut getroffen, dass er zu Hause war, und es war gut gewesen, dass Pamela ihn nicht überschwänglich begrüßt hatte, dass Ricky ihrem Vater auch mal ein paar passende Worte gesagt hatte.
Werner war ganz schön berührt gewesen, um nicht zu sagen, durcheinander.
Dass er sie liebte, daran zweifelte Inge keinen Augenblick.
Sie verband eine große Liebe, sie hatten wundervolle Kinder, sie lebten sorgenfrei in einer großen Villa.
Sie hatte den Alltag gemanagt, hatte sich in sozialen Einrichtungen engagiert, was durchaus ehrenwert war. Aber sie hatte nicht bemerkt, nicht bemerken wollen, dass sie dabei auf der Strecke geblieben war.
Bis das mit Dr. Bredenbrock ihr die Augen geöffnet hatte.
Manchmal brauchte man einen Anstoß von draußen, um auf sich selbst blicken zu können.
Inge wäre am liebsten bei Werner geblieben, sie hätte nichts verändert, doch dann wäre auch nichts geschehen. Es wäre alles so weitergegangen.
Auch wenn es ihr schwerfiel, sie musste jetzt hart bleiben. Werner musste spüren, dass sie es diesmal ernst meinte.
Sie betrat das Gästezimmer, in dem sie jetzt erst einmal schlafen würde. Es war schon verrückt, als wenn sie es geahnt hätte, hatte sie das Bett erst vor ein paar Tagen frisch bezogen, hatte das Zimmer geputzt.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, als sie die Reisetasche auspackte, weil sie schließlich einen Schlafanzug brauchte. Und nach unten wollte sie nicht gehen, weil sie nicht wusste, ob sie hart bleiben würde, wenn Werner sie bittend ansah, wenn er sie in die Arme nahm, mit seinen Beteuerungen fortfuhr.
Mit Werner in einem Haus und doch getrennt, das hatte es noch nie gegeben. Das war für Inge nicht vorstellbar gewesen. Es fühlte sich für sie auch nicht gut an, aber sie wusste, dass es sein musste. Im Grunde genommen war es traurig, dass es dazu kommen musste. Aber ständig gegen seine Bedürfnisse zu leben, das machte krank.
Sie beklagte sie nicht, doch was hatte sie von ihrem Leben gehabt? Sie war immer die Frau an seiner Seite gewesen, das war auch gut so. Sie hatte niemals etwas anderes als Ehefrau und Mutter sein wollen. Ihr hatte auch nichts gefehlt, als die Kinder klein und daheim gewesen waren. Das war ein aufregendes, spannendes Leben gewesen. Doch sie hatten nach und nach das Haus verlassen, hatten eigene Familien gegründet, Hannes hatte seinen Lebensmittelpunkt in Australien gefunden. Jörg war mit Familie nach Stockholm gezogen. Sie hatten ihre Jüngste zum Glück wieder. Das war mehr als ein Geschenk, doch irgendwann würde auch Pamela ihrer Wege gehen.
Inge setzte sich auf die Bettkante.
Wie würde Pam es aufnehmen, dass ihre Eltern in getrennten Räumen schliefen?
Inge merkte, wie sie Herzklopfen bekam, und dann zwang sie sich, jetzt nicht daran zu denken.
Morgen war ein neuer Tag. Sie würde mit Werner sprechen müssen, und sie konnte nur darauf hoffen, dass er sich jetzt nicht beleidigt zurückziehen würde, sondern dass er die richtigen Schritte in die richtige Richtung unternahm.
Inge stand auf, sie musste noch ins Badezimmer. Doch erst einmal trat sie ans Fenster, blickte hinaus in das Dunkel der Nacht. Ein blasser, schmaler zunehmender Mond hing wie eine bleiche Sichel am Himmel.
Sie öffnete das Fenster, atmete tief die kalte, klare Luft ein. Es war still, nur ein schwarzer Vogel flog mit beinahe lautlosem Flügelschlag dicht an ihr vorüber. Sie wohnten hier so schön, sie führten ein Leben, um das viele Menschen sie sicherlich beneiden würden.
Erwartete sie zu viel vom Leben?
Schon wollte Inge hinuntergehen, um sich mit Werner zu versöhnen. Sie kannte es nicht, die Situation war vollkommen neu für sie.
Sie hatte schon die Türklinke in der Hand, als sie innehielt.
Nein!
Wenn sie jetzt nachgab, würde sich nichts verändern, und wenn sie es später noch einmal versuchen würde, weil die Situation unerträglich für sie war, würde Werner sie nicht mehr ernst nehmen.
Sie verlangte doch nicht viel. Sie wollte kein Geld, sie wollte keinen Schmuck. Sie wollte einfach nur nach so vielen Jahren mehr Zeit mit ihrem Ehemann verbringen, ihn nicht immer nur auf der Durchreise erleben. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Und sie wollte auch keine Blumensträuße mehr von ihm, die er, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, irgendwo am Flughafen oder am Bahnhof kaufte.
Inge ging zurück ins Zimmer, dann suchte sie ihre Sachen zusammen, um sich für die Nacht fertig zu machen. Sie wusste jetzt schon, dass sie kein Auge zubekommen würde. Sie würde sich von rechts nach links werfen, die Zeiger ihrer Uhr beobachten, und die Gedanken würden sie anfallen wie wilde Tiere.
Aber da musste sie jetzt durch.
Da mussten sie jetzt durch, und sie konnte nur hoffen, sie musste dafür beten, dass es für sie einen gemeinsamen Weg geben würde mit mehr Zeit füreinander. Er konnte doch zu seinen Kongressen fahren, dagegen hatte Inge nichts, doch die durften nicht sein Leben beherrschen.
Sie liebte Werner aus tiefstem Herzen, und seine Nähe fehlte ihr jetzt schon.
Was er wohl gerade machte?
Dachte er auch an sie?
Er hatte wirklich Angst um sie gehabt, sonst hätte er sie nicht so begrüßt. Er hatte wieder Versprechungen gemacht, doch dann war er zum Alltag übergegangen, hatte mit ihr Wein trinken wollen …
Sie durfte jetzt nicht wankelmütig werden!
Sie konnte sich und Werner nur helfen, wenn sie jetzt hart blieb!
Inge putzte sich die Zähne, blickte in den Spiegel.
Inge sah für ihr Alter noch sehr gut aus. Klar war sie nicht mehr taufrisch, aber zum alten Eisen gehörte sie lange noch nicht.
Sie wollte ja überhaupt nicht viel. Sie wollte endlich einmal erleben, wie es sich anfühlte, wenn man unbeschwerte Zeiten mit seinem eigenen Ehemann verbrachte. Ja, das wollte sie, und wenn sie jetzt darum kämpfen musste, dann sollte es so sein. Sie war auf dem richtigen Weg, anders würde sie Werner niemals beikommen, er war ein Charmeur, der die Dinge so drehte, wie er es haben wollte. Und da konnte man ihm nicht einmal einen Vorwurf draus machen. Zu allem gehörten immer zwei, und sie hatte sein Spiel, ohne zu mucken, mitgespielt.
»Inge Auerbach, hör endlich auf, dich mit Vorwürfen zu quälen. Alles ist gut. Du willst doch nicht mehr haben als nur etwas mehr Zeit mit deinem Ehemann«, murmelte sie vor sich hin, »und das kann doch nicht falsch sein.«
Nach einem allerletzten Blick in den Spiegel verließ sie das Badezimmer, lief ins Gästezimmer zurück. Wenig später lag sie im Bett und kuschelte sich in die Decke ein. Das Bett war bequem, die Decke war weich. Es hätte sie wahrhaftig schlimmer treffen können.
Inge schloss die Augen und dachte an Werner.
*
Teresa von Roth verließ das Haus und balancierte vorsichtig einen sorgsam abgedeckten Kuchenteller vor sich her. Sie war auf dem Weg zu Sophia von Bergen, und die wollte sie mit dem Kuchen überraschen.
Es war eine gute Fügung, dass Sophia mit ihrer Tochter Angela in den Sonnenwinkel gezogen war. Manchmal ging das Schicksal wirklich sehr seltsame Wege.
Magnus und sie kannten Sophia von verschiedenen Treffen, doch sehr viel wussten sie nicht voneinander. Sie waren sich halt sehr sympathisch, und sie hatten sich viel zu sagen und konnten gemeinsam in Erinnerungen schwelgen, weil es in ihrem Leben so viele erstaunliche Parallelen gab.
Nach einem schrecklichen Unfall hatte Sophia ihr Haus verkauft, war zusammen mit ihrer Tochter in den Sonnenwinkel gezogen, und da waren sie sich wieder begegnet. Welche Freude war das doch gewesen. Aus der guten Bekanntschaft war längst eine wunderbare Freundschaft geworden. Sie waren natürlich sofort für Sophia da gewesen. Der ging es zum Glück besser, und in absehbarer Zeit würde sie auch wieder laufen können. Jetzt ging es bereits ein wenig an zwei Stöcken.
Teresa hatte Sophias Haus schnell erreicht, zum einen war es nicht weit, zum anderen war Teresa sehr gut zu Fuß. Da machte sie mancher Jungen etwas vor.
Sie klingelte, es dauerte eine Weile, ehe ihr geöffnet wurde. Es war Angela, die die Tür aufmachte, sie sah sehr blass und mitgenommen aus. Doch das war wirklich kein Wunder. Die Ärmste hatte unter einer besonders schlimmen Gürtelrose zu leiden. Und es war wirklich ein Glück, dass die Frau Dr. Steinfeld ihr so gut helfen konnte. Nicht nur Angela, mit Sophia wäre es längst nicht so weit, wäre sie nicht in Behandlung von der Frau Doktor. Mit der waren sie im Sonnenwinkel wirklich gesegnet. Nicht nur, weil sie eine Kapazität in ihrem Beruf war, nein, hinzu kam, dass sie ein ganz besonderer Mensch war – herzlich, warmherzig, immer für ihre Patienten da. Anfangs hatte keiner so recht glauben wollen, dass sie für länger im Sonnenwinkel bleiben würde. Sie hatten alle erleichtert aufgeatmet, als herausgekommen war, dass sie das Doktorhaus gekauft hatte. Sie würde also bleiben, und das war mehr als ein Hauptgewinn im Lotto.
Teresa begrüßte Angela und erkundigte sich mitleidig: »Und geht es dir etwas besser, Angela?«
Die nickte. »Dank Frau Doktor – ja. Aber die kann natürlich auch nicht zaubern. Und mich hat es, aus welchem Grund auch immer, besonders schlimm getroffen.«
Teresa wusste, warum es so war, und sie sprach es auch aus.
»Weil du dich aufopfernd und sorgenvoll um Sophia gekümmert hast und kümmerst, und dann die Scheidung von diesem schrecklichen Mann. So etwas bleibt einem nicht in den Kleidern stecken. Aber sei froh, dass du ihn los bist, er hat nicht zu dir gepasst. Ich habe ihn nur einmal gesehen, und das hat mir gereicht. Er war gewöhnlich, und wie übel er dir mitgespielt hat. Du hast zwar jetzt nichts davon, aber glaube mir, mein Kind, es wird ihn einholen. Das ist gewiss. Aber jetzt will ich nicht lange reden. Isst du mit Sophia und mir ein Stückchen Kuchen?«
Angela schüttelte den Kopf.
»Ich möchte mich lieber etwas hinlegen. Jetzt, da du da bist, kann ich es beruhigt tun. Ich weiß ja, wie liebevoll du mit Mama umgehst, und die blüht in deiner Gegenwart so richtig auf. Ein Stückchen Kuchen könnt ihr mir aber übrig lassen.«
Angela ging in ihr Zimmer zurück, sie war wirklich fix und fertig. Aber sie kam auch nicht zur Ruhe. Statt sich selbst zu schonen, war Angela immer nur um ihre Mutter besorgt.
Teresa ging ins Wohnzimmer, sie kannte sich mittlerweile im Haus nicht nur aus, sondern sie wusste auch um die Gewohnheiten der Bewohnerinnen.
Sophia saß in ihrem Sessel am großen Terrassenfenster, das war ihr Lieblingsplatz. Sie begann zu strahlen, als sie Teresa sah.
»Wie schön, dass du schon da bist. Ich habe mit dir so früh überhaupt noch nicht gerechnet, meine Liebe.«
Teresa umarmte die feine, zarte Frau, die doch so voller Energie war.
»Ich habe dir einen Kuchen mitgebracht. Und weißt du was? Einen Mohnkuchen.«
Sophia begann zu strahlen.
»Mohnkuchen, das erweckt in mir Heimaterinnerungen. Da freue ich mich wirklich. Hat deine Inge ihn gebacken?«
Teresa schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe gebacken. Inge wollte ich damit nicht behelligen, der steht der Kopf derzeit nach anderem. Sie und Werner sind in einer Krise.«
»Das glaube ich jetzt nicht«, rief Sophia überrascht. Inge Auerbach kannte sie sehr gut, die war auch eine ihrer guten Feen, und sie hatte auch den Professor kennengelernt, einen sehr sympathischen Menschen.
»Doch, es ist so, und ich bin froh, dass Inge endlich anfängt, auch mal an sich zu denken. Ich halte mich da raus, weil das die beiden selbst miteinander ausmachen müssen. Aber auch ich habe mich immer wieder darüber geärgert, dass Werner sich verwirklicht, und Inge geht leer aus. Das hat sie nicht verdient. Ohne meine Inge wäre Werner längst nicht da, wo er ist, er hätte niemals diese internationale Karriere gemacht. Inge hat ihm stets den Rücken freigehalten, wie sagt man so schön – hinter einem starken Mann steht eine starke Frau – das kann ich voll unterschreiben. Aber ich denke, darüber müssen wir uns den Kopf nicht zerbrechen, die beiden lieben sich, sie werden sich niemals trennen. Es sind nur die Grenzen neu abzustecken. So, und davon genug. Wir essen jetzt unseren Mohnkuchen.«
Teresa packte den Kuchen aus, zeigte ihn Sophia, und die begann zu strahlen.
»So sah der Mohnkuchen früher bei uns auch aus.«
Teresa deckte den Tisch, kochte frischen Kaffee, und es dauerte nicht lange, da saßen sich die beiden Frauen bei Kaffee und Kuchen gegenüber.
Sophia war des Lobes voll, und das freute Teresa. Sie konnte ganz gut backen und kochen, doch an ihre Tochter Inge kam sie bei Weitem nicht heran.
Sophia von Bergen schmeckte es wirklich, denn sie aß zwei große Stückchen des Mohnkuchens, und der war ganz schön mächtig und sättigte sehr.
Danach räumte Teresa alles ab, dann saßen die beiden Frauen sich gegenüber, doch ein richtiges Gespräch wollte, im Gegensatz zu sonst, nicht aufkommen. Keine Frage, Sophia hatte etwas auf dem Herzen und wollte nicht heraus mit der Sprache.
»Was ist los, Sophia?«, wollte sie schließlich wissen. »Bedrückt dich etwas?«
Sophia wurde verlegen, aber letztlich war sie froh, dass Teresa gefragt hatte. »Weißt du, wo man am besten Schmuck verkaufen kann?«, erkundigte sie sich.
Verblüfft schaute Teresa ihr Gegenüber an.
Sophia nickte, dann streckte sie ihre schmale, rechte Hand aus, die von feinen Adern durchzogen war.
»Ich möchte den Ring gern verkaufen«, sagte sie, »ich denke, er ist einiges wert. Der Brillant ist lupenrein und sehr groß, hat viele Karat, und der Ring ist schwer und aus achtzehn Karat Gold.«
Teresa von Roth hätte mit allem gerechnet. Damit allerdings nicht. Das musste sie erst einmal verdauen.
»Sophia«, erkundigte sie sich schließlich, »warum willst du das tun? Es ist ein altes Familienerbstück, seit Generationen in der Familie. Es hat die Flucht überstanden. Nach dir wird Angela den Ring erben, danach deren Tochter. Sie ist noch so jung, sie wird einen anderen Mann finden, mit dem sie noch Kinder haben kann. Und sicher, der Ring ist viel wert, aber mal ganz ehrlich, Sophia, kein Geld der Welt kann den ideellen Wert aufwiegen, den der Ring für eure Familie bedeutet.«
Sie hatte auf einmal einen furchtbaren Verdacht.
»Sophia, brauchst du Geld? Dann wollen wir dir helfen, das tun Magnus und ich von Herzen gern.«
Sophia war ganz gerührt.
»Das ist lieb, danke. Wir kommen schon zurecht. Zum Glück hat der Verkauf meines alten Hauses mehr gebracht, als wir für das Haus hier ausgeben mussten. Es ist noch etwas Geld davon vorhanden, und ich bekomme auch meine Pension, und die Unfallversicherung hat auch gezahlt. Nein, ich bin nur der Meinung, dass Angela mehr vom Leben haben sollte, sie soll sich mal etwas Schönes kaufen. Da sie und dieser Mensch einen Ehevertrag hatten, hat sie nach der Scheidung nichts von ihm zu beanspruchen gehabt, sie hätte auch sonst nichts genommen, dazu ist sie viel zu stolz. Aber ich habe mitbekommen, dass sie den Schmuck, den er ihr gelassen hat, verkauft hat. Ich weiß ja nicht, was sie dafür bekommen hat, aber das ist irgendwann aufgebraucht, und mich will sie nicht in Anspruch nehmen. Es ist ihr ja bereits peinlich, auf meine Kosten hier zu wohnen. Wie dumm ist das denn. Sie tut alles für mich. Eine Pflegerin wäre teurer. Ich möchte so gern etwas für sie tun, Teresa. Etwas, worüber sie sich freut.«
»Über Fummel bestimmt nicht, die irgendwann im Kleidersack landen. Dass sie den Schmuck verkauft hat, das begrüße ich, sie soll durch nichts an diesen grässlichen Menschen erinnert werden. Wenn du etwas für sie tun willst, Sophia, dann verkaufe dieses Familienerbstück nicht, sondern schenke es ihr. Darüber würde sie sich bestimmt sehr freuen.«
Sophia zögerte.
»Meine Urgroßmutter bekam den Ring nach dem Tod deren Mutter, dann ging es weiter mit meiner Großmutter, meiner Mutter. Ich bekam den Ring auch erst nach deren Tod.«
Teresa winkte ab.
»Verkauft hättest du den Ring, aber so hältst du dich an alte Überlieferungen. Verflixt noch mal, Sophia, so etwas ist nicht fest in Stein gemeißelt, sondern lässt sich jederzeit durchbrechen. Ich bin sowieso der Meinung, dass man besser mit warmer Hand schenkt. Wenn du Angela den Ring jetzt schenkst, dann ist das eine Wertschätzung ihrer Person. Und du kannst dich an der Freude deiner Tochter freuen.«
Sophia zögerte.
»Sophia, ich will dich nicht bedrängen, es ist deine Entscheidung, ich habe dir nur gesagt, was ich tun würde an deiner Stelle.«
Sophia von Bergen überlegte, blickte den Ring an, drehte an ihm herum, dann zog sie den Ring entschlossen von ihrem Finger.
»Du hast recht, wenn jemand den Ring verdient hat, dann meine Angela, und ich weiß schon jetzt, dass sie darüber glücklich sein wird. Sie hat ihn schon immer bewundert. Es war eine törichte Idee, ihn verkaufen zu wollen. Ich dachte nur, verkaufen geht, das wäre etwas vor meinem Tod gewesen, was Angela zugute käme.«
Teresa lachte.
»Ich bin ja auch ein sehr traditionsbewusster Mensch, aber deine Logik, die kann ich jetzt nicht verstehen. Ich finde es auf jeden Fall super, dass du Angela den Ring schenken willst, jetzt, mit warmer Hand. Sie hat so vieles mitgemacht, sie hat es wirklich verdient.«
Teresa stand auf. »Auf dem Teller ist noch Kuchen, ich werde ihn irgendwann einmal mitnehmen. Vergiss nicht, dass morgen früh Magnus kommt, um dich um den See zu fahren. Das Wetter soll sehr schön werden, und man muss um diese Jahreszeit jeden Tag nutzen.«
»Ihr tut so viel für mich. Hoffentlich kann ich mich mal revanchieren«, rief Sophia.
»Meine liebe Freundin, du revanchierst dich schon jetzt, indem du uns mit deiner Gegenwart beglückst. Du bist eine kluge, geistreiche Frau, deren Gegenwart wir genießen. Und irgendwann wirst die wieder mehr als nur ein paar Schritte an zwei Stöcken machen können. Das ist schon mehr, als man erwartet hatte. Und du willst doch nicht den Ehrgeiz entwickeln, irgendwann allein um den ganzen See zu laufen, oder?«
Da musste Sophia lachen.
»Gewiss nicht, aber ohne Rollstuhl, ohne Stöcke und ohne Rollator wieder gemäßigt laufen zu können, das wäre ganz wunderbar.«
»Auf dem Weg bist du, liebste Freundin. Erinnerst du dich noch, was mit dir war, als du hier ankamst?«
Daran wollte Sophia von Bergen sich nicht erinnern. Das war einfach zu gruselig gewesen. Sie war nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ein Wrack gewesen, ohne ihre Angela, ohne die von Roths, die Auerbachs, vor allem ohne die fabelhafte Frau Doktor, ohne ihren grandiosen Therapeuten hätte sie es nicht geschafft.
»Ich kann mich bei euch immer wieder nur bedanken«, sagte Sophia, doch davon wollte Teresa nichts wissen. »Deswegen habe ich das nicht gesagt. Ich wollte dich nur daran erinnern, welch starke Frau du bist, welche Willenskraft du besitzt. Ohne deine Mithilfe wäre überhaupt nichts gegangen. Doch ehe wir uns jetzt mit Lobeshymnen überschütten, gehe ich lieber. Es war schön wie immer.«
Sie umarmte Sophia, dann verließ sie das Wohnzimmer, nicht, ohne das Licht anzuknipsen. Es war spät geworden, zum Glück war ihr Magnus pflegeleicht, er würde ihr niemals irgendwelche Vorwürfe machen. Im Gegenteil.
Es war so schön, auf eine so lange, glückliche Ehe zurückblicken zu können. Sie musste unbedingt in der Kirche wieder mal ein Kerzchen anzünden aus lauter Dankbarkeit. Es war nicht selbstverständlich, ein solches Glück zu haben.
Sie und ihr Magnus waren wirklich ein Dreamteam, und was immer sie auch erlebt hatten, und das war nicht alles nur schön gewesen, hatte sie noch mehr zusammengeschweißt.
Ehe sie in ihr Haus ging, blickte sie zur Villa der Auerbachs.
Sie hatte keine Sorge, dass diese Ehe scheitern würde, aber ein wenig mehr Gemeinsamkeit wäre schon gut. Aber das ging sie wirklich nichts an. Jeder musste das tun, was er für richtig, hielt, und jeder hatte für alles seine Gründe.
Sie hatte die Haustür erreicht, wollte gerade ihren Schlüssel aus ihrer Tasche holen, um aufzuschließen, als von Innen geöffnet wurde.
Magnus …
Beim Anblick ihres Mannes wurde ihr Herz weit, ja, das wurde es, auch noch nach so vielen Jahren.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht, mein Herz«, rief er. »Du warst lange weg, ich wollte dir jetzt entgegenlaufen.«
»Sophia und ich haben uns ein wenig verplaudert. Aber jetzt bin ich wieder da.«
Er legte einen Arm um ihre Schulter.
»Und das ist ganz wunderbar. Ohne dich ist es hier leer und einsam.«
Ihr Magnus, sie schmolz dahin, er fand immer die richtigen Worte, die sie mit einem sanften, zärtlichen Kuss erwiderte.
*
Inge Auerbach atmete erleichtert auf, ihre Befürchtungen, Pamela könne in den falschen Hals bekommen, dass sie und Werner in getrennten Räumen schliefen, bewahrheitete sich nicht. Sie nahm es ihnen ab, dass Werner nachts häufig wach wurde, um sich etwas aufzuschreiben und deswegen Unruhe verbreitete.
Da Pamela schrecklich darunter litt, dass sie endgültig von Manuel Abschied nehmen musste, war es ihr sogar lieb, sich im Bett an ihre Mutter trostsuchend kuscheln zu können. Früher war sie immer ins Bett ihrer Eltern geschlüpft, wenn sie traurig war, einen schlechten Traum hatte. Doch damit war es schon vorbei gewesen, ehe sie nach Australien geflohen war. Sie war doch kein kleines Kind mehr. Doch von der Mami getröstet zu werden, das war etwas anderes. Und trösten konnte ihre Mami ganz wunderbar, alles an ihr war warm und weich, und sie fand immer die richtigen Worte.
Pamela war schon mehr als nur einmal nachts ins Gästezimmer geschlüpft, und sie war sich sicher, dass sie das heute wieder tun würde.
Die Zeit des Abschieds war gekommen, und es zerriss sie innerlich beinahe, dabei durfte sie sich vor Manuel doch keine Blöße geben.
Aber ihn nahm es auch ganz schön mit.
Da das Wetter nicht besonders war, es regnete zwar nicht, doch es war kalt und windig, hatten sie sich in Manuels altem Zimmer getroffen, in dem alles so geblieben war, abgesehen von persönlichen Erinnerungen, die schwammen in einem Container längst gen Amerika. Und das Klavier seiner verstorbenen Mutter nahm er mit in sein neues Leben. Von dem würde er sich niemals trennen, dabei konnte er nicht einmal auf dem Klavier spielen.
Die Stelle, an der das Klavier gestanden hatte, war nackt und leer, und Pamela musste immer hinsehen. Sie konnte nicht anders.
»Das Klavier kommt mit einem Spezialtransport nach Amerika«, sagte Manuel, der ihrem Blick gefolgt war, »dort wird es gestimmt, und ich habe mir fest vorgenommen, Klavierstunden zu nehmen. Aber auch wenn ich es nicht tun werde, bleibt immer die Erinnerung an meine leibliche Mutter. Die konnte so gut Klavier spielen. Sie war überhaupt besonders, dabei kann ich mich wirklich nicht beklagen. Ich hatte Glück, ich habe eine wunderbare Stiefmutter, sie mag mich, ich mag sie, und sie hat nichts mit der bösen Stiefmutter aus dem Märchen gemeinsam.«
Pamela starrte weiter auf die kahle Stelle an der Wand.
»Wenn du hier nicht dazu gekommen bist, Klavierstunden zu nehmen, glaubst du, dass du es in Amerika schaffen wirst, Manuel? Dort wirst du doch erst recht abgelenkt. Es ist doch auch egal, jeder Mensch muss nicht alles können. Klavierstunden standen für mich nie auf dem Programm, meine Geschwister können es auch nicht. Und du hast doch gesagt, dass dieses Mädchen«, sie mochte den Namen noch immer nicht aussprechen, weil tief in ihrem Inneren Eifersucht war, ob nun begründet oder unbegründet, »wie besessen war, als es das Klavier erblickte, und sie konnte ja auch sogar ohne Noten darauf spielen, einfach nach Gehör.«
Manuel nickte.
»Claire, damals hieß sie noch Leonie, ja, die ist ein Naturtalent und durch ihre Mutter auch vorbelastet. Die bekommt Unterricht von den besten Lehrern, und bestimmt wird sie irgendwann einmal eine ganz große Pianistin.«
Pamela konnte dazu nichts sagen, das war nicht gerecht, dieses Mädchen konnte nichts dafür, doch sie konnte auch nichts für ihre Gefühle.
Manuel war ihr Freund, sie war zuerst da gewesen. Es war alles in eine ziemliche Schieflage geraten.
Wäre sie doch bloß nicht nach Australien gegangen, dann wäre alles nicht passiert.
Ahnte Manuel, was in ihr vorging?
»Pam, es ist wirklich sehr schade, dass ihr euch nicht kennengelernt habt. Ich bin mir sicher, dass ihr euch angefreundet hättet. Und denk doch bloß mal daran, was sie alles mitgemacht hat. Du warst verzweifelt, bist ausgerastet, als du erfahren musstest, dass du keine echte Auerbach bist, dass man dich adoptiert hat. Claire wurde als Baby entführt, diese Frau Schulz hat sie geklaut und das Lösegeld auch noch mitgenommen. Und erst hier, durch Herrn Magnusson, ist herausgekommen, wer sie wirklich ist. Und erst jetzt ist sie dort, wohin sie gehört. Nein, Pam, auf Claire musst du nicht eifersüchtig sein, und das bist du doch, oder?«
Sie merkte, dass sie rot wurde wie eine überreife Tomate. Wie peinlich war das jetzt! Ehe sie widersprechen konnte, fuhr Manuel fort: »Das mit uns ist etwas Besonderes, wie mit meiner leiblichen Mama und mir. Und auch in Amerika werde ich an dich denken, an Hannes, an die herrliche Kindheit, die wir hier hatten. Es ist alles mal vorbei. Du weißt doch, dass ich nach dem Abitur eh gegangen wäre, und vielleicht hätte ich es sogar so wie Hannes gemacht und wäre erst einmal auf Weltreise gegangen, vielleicht werde ich es auch wirklich tun. Ich habe keine Ahnung, aber jetzt freue ich mich auf Arizona. Ich würde lügen, wenn das nicht so wäre. Und belügen möchte ich dich nicht. Ich denke, deine Zeit hier wird irgendwann auch vorbei sein.«
Pamela schüttelte entschieden den Kopf.
»Niemals«, rief sie im Brustton der Überzeugung. »Australien war toll, aber hier ist es viel, viel schöner. Ich werde niemals mehr weggehen.«
Jetzt musste Manuel lachen.
»Oma Marianne sagt immer, dass man niemals nie sagen soll. Nach dem Abi wirst du doch studieren, nicht wahr? Schon vergessen, dass das im Sonnenwinkel und in Hohenborn nicht geht?« Er neckte sie, und das konnte sie überhaupt nicht haben. »Dann studiere ich eben nicht«, sagte sie patzig.
Pamela merkte, dass sie jetzt aufhören musste herumzuzicken, als Zicke sollte Manuel sie nicht in Erinnerung behalten.
Warum war es nur so schwer, sich jetzt ganz normal zu verhalten, so wie immer?
Sie verspürte einen tiefen Abschiedsschmerz, durfte ihn aber nicht zeigen, und auch an Manuel ging es keineswegs vorüber, nun Abschied zu nehmen.
Er begann über das zu sprechen, was sie in den vielen Jahren erlebt hatten und was besonders in Erinnerung geblieben war. Und da es so vieles gab, konnten sie lockerer miteinander umgehen, sie konnten sogar miteinander lachen, weil manches einfach zu komisch gewesen war.
Die Schatten, die in den Raum fielen, wurden immer länger. Sie machten kein Licht an, doch Pamela wurde klar, dass sie wieder nach Hause gehen musste. Ihre Eltern würden sich sonst Sorgen machen.
»Tja, dann mache ich mich mal auf den Heimweg«, sagte sie zögerlich.
Und dann passierte das, worauf sie gehofft hatte: »Ich bringe dich nach Hause, das ist doch klar, ganz so wie früher. Weißt du noch, was für eine Bangebüchs du warst? Du hast hinter jedem Strauch einen Geist gesehen oder einen Räuber.«
Daran musste er sie jetzt wirklich nicht erinnern, aber sie konnte kontern: »Du warst auch nicht gerade ein Held, Manuel. Hannes musste dich mehr als nur einmal beruhigen.«
Er nahm es viel lockerer als sie. »Stimmt«, gab er unumwunden zu, »aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so war, oder ob ich von Hannes nicht nur gerettet werden wollte. Deinen Bruder habe ich immer bewundert, und ich finde heute noch toll, wie er seinen Weg geht. Er ist Markenbotschafter für ein Surfbrett, hat zusammen mit einem Kumpel eine Surf- und Tauchschule. Dabei hätte er alles studieren können mit seinem Abi. Eins-Komma-Null, das muss man sich mal reinziehen. Nicht einmal das Stipendium der Columbia in New York hat ihn in dem, was er mit seinem Leben machen will, von seinem Weg abbringen können. Du kannst stolz sein auf deinen Bruder, und ich bin stolz, sein Freund zu sein, er meldet sich hin und wieder, und das finde ich großartig.«
»Ich hoffe, das wirst du ebenfalls tun, Manuel. Ich meine, dich bei mir zu melden. Und ja, Hannes ist wirklich ein ganz besonderer Mensch. Er hat mir damals sehr geholfen, und ich werde nie vergessen, dass er alles hintenan gestellt hat, um für mich da zu sein.«
Sie sprachen noch ein wenig über Hannes, und das entspannte die Lage zwischen ihnen ein wenig.
Natürlich brachte Manuel sie bis vor die Haustür, dort blickte er sie ernst an.
»Pamela, ich werde dich niemals in meinem Leben vergessen, und ich werde mit dir in Verbindung bleiben, versprochen, was immer auch passiert.«
Er kramte in seiner Hosentasche herum, dann beförderte er einen Gegenstand hervor. Pamela erkannte ihn sofort, es war ein ganz besonderer Stein, schillernd in den schönsten Farben, den Manuel immer mit sich herumtrug. Es war sein »Fühlstein«, und er war eine Erinnerung an seine leibliche Mutter.
»Hier«, sagte er und streckte ihr den Stein entgegen, »damit du dich an mich erinnerst und an das, was ich dir jetzt gesagt habe.«
Pamela wurde ganz aufgeregt. Sie hatte diesen Stein immer bewundert, und sie hatte Manuel um diese Kostbarkeit glühend beneidet.
Den Stein wollte er ihr schenken?
Einfach so?
Nein, das ging nicht.
Sie schüttelte den Kopf.
»Manuel, das geht nicht. Der Stein ist doch von deiner Mutter.«
Er nickte.
»Ich weiß, aber ich glaube, nein«, korrigierte er sich sofort, »ich weiß, dass es Mama recht wäre. Ich weiß, sie hätte dich gemocht.«
Ja, wenn es so war!
Geschenke, die von Herzen kamen, die konnte man nicht zurückweisen. Sie bedankte sich bei ihm und spürte die magische Kraft des Steines bereits, als sie ihn in die Hand nahm.
Sie hatte Tränen in den Augen, er überlegte, zögerte, dann nahm er sie in seine Arme, ein wenig unbeholfen, ein wenig verunsichert. Für Pamela war es die allerschönste Umarmung der Welt. Und sie hätte ewig andauern können. Das war leider nicht der Fall, als habe er sich verbrannt, ließ er sie abrupt los, wurde verlegen, dann murmelte er: »Ja, dann will ich mal … Wer weiß, vielleicht sehen wir uns mal wieder …, ich glaube, das werden wir …, also, ich bin dann mal weg.«
Er drehte sich um, lief davon, und bald schon hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.
Pamela blieb stehen, starrte ihm nach, obschon von ihm nichts mehr zu sehen war, dann erinnerte sie sich an den Stein, sein kostbarstes Geschenk, das sie immer in Ehren halten würde. Er fühlte sich glatt und warm an.
Langsam ging Pamela ins Haus und bemühte sich, ganz leise zu sein. Sie wollte jetzt erst einmal allein sein, erst später würde sie sich zu ihren Eltern gesellen. Und noch viel später würde sie zu ihrer Mama ins Bett krabbeln, und in deren Armen würde sie sich so richtig ihrem Weltschmerz hingeben.
Sie weinte, und das konnte sie jetzt auch, weil niemand ihr dabei zusah. Es war schrecklich, jemanden wie Manuel zu verlieren. Sie hatte das Gefühl, er habe ihre ganze Kindheit mitgenommen.
Mit wem sollte sie um den See radeln?
Bei wem durfte sie sich ausweinen?
Wer würde ihr im ›Calamini‹ einen Eisbecher spendieren?
Wer würde ihr bei den Mathe-Aufgaben helfen?
In ihrem Zimmer angekommen, warf sie sich aufs Bett und weinte noch mehr, dabei hielt sie den ›Fühlstein‹ ganz fest in ihrer Hand.
*
Während Manuel und Pamela voneinander Abschied nahmen, hatte Sandra sich etwas vorgenommen, was sie viel Kraft kosten würde. Aber es musste sein.
Die Münsters, Marianne von Rieding und Carlo Heimberg hatten sich von allen Freunden verabschiedet. Und deswegen bestand eigentlich kein Anlass, jetzt noch Ricky aufzusuchen.
Und die war auch mehr als nur erstaunt, als Sandra plötzlich vor der Haustür stand.
»Sandra«, rief Ricky überrascht, »mit dir hätte ich wirklich nicht mehr gerechnet. Ihr fliegt doch morgen früh, nicht wahr? Aber komm rein, ich freue mich. Und stell dir vor, ich habe sogar Zeit für dich. Teresa schläft, und Fabian ist mit den anderen Kindern in eine Nachmittagsvorstellung von dem Zirkus gegangen, der derzeit bei uns in der Stadt gastiert.«
Ricky freute sich wirklich, was auch kein Wunder war, zwischen den beiden Frauen bestand eine herzliche Freundschaft. Und Ricky wusste schon jetzt, dass Sandra ihr fehlen würde, und umgekehrt war es nicht anders.
»Was möchtest du trinken? Tee? Kaffee? Fabian hat sich so einen teuren Kaffeeautomaten andrehen lassen, da kann ich dir auch einen Cappuccino anbieten, einen Café Latte oder einen Espresso. Und du kannst meine neueste Kreation probieren, ich habe einen Kuchen gebacken. Wenn ich gewusst hätte, wie zeitaufwendig der ist, hätte ich die Finger davon gelassen.«
Sandra wollte nur einen Tee trinken, dem schloss Ricky sich an, und Kuchen wollten sie beide nicht, den sollte die Familie erst einmal in voller Pracht bewundern, ehe sich dann alle darauf stürzen würden.
Sie saßen sich gegenüber, sprachen allgemein über die Abreise, Sandra wollte wissen, ob es mit dem Versprechen ernst sei, dass die Rückerts allesamt irgendwann in den Ferien nach Amerika kommen würden, und Ricky erkundigte sich, ob sie sehr aufgeregt seien, da es nun endgültig in das neue Leben ging.
Sie hätten noch ewig so weitersprechen können, doch Sandra hatte nicht so viel Zeit, deswegen sprach sie über den eigentlichen Grund ihres Kommens.
»Ricky, ich bin gekommen, weil ich gern Teresa einmal in den Arm nehmen möchte. Wir waren fast gleichzeitig schwanger, unsere Kinder wären beinahe zeitgleich auf die Welt gekommen …«, sie zögerte, schluckte, »Teresa hat das Licht der Welt erblickt, mein Kind nicht.«
Es war eine schreckliche Geschichte, Ricky erinnerte sich, wie entsetzt sie gewesen war, als sie gehört hatte, dass Sandra sich mit ihrem Sportwagen um einen Baum gewickelt hatte, weil sie wegen überhöhter Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte.
Litt sie noch immer darunter?
»Sandra, natürlich kannst du Teresa in die Arme nehmen, doch willst du nicht aufhören, dich zu quälen? Was geschehen ist, ist geschehen und durch nichts mehr rückgängig zu machen. Es war ein Unfall.«
»Den ich wegen meines Leichtsinns verursacht habe.«
Ricky langte über den Tisch, ergriff Sandras Hand, die kraftlos neben der Teetasse lag.
»Sandra, du musst loslassen, nach vorne blicken. Das verlorene Baby darf nicht weiter zwischen Felix und dir stehen. Wenn du dich immer weiter mit diesen Selbstvorwürfen quälst, dann brauchst du überhaupt nicht nach Arizona zu reisen, um dort neu anzufangen. Dann geht die Quälerei weiter, und dann leiden alle darunter. Sei doch froh, dass ihr jetzt wieder auf einem guten Weg seid. Ihr habt eine so schwere Zeit hinter euch. Beschwöre die nicht immer wieder herauf. Es ist nicht mehr zu ändern.«
Von dem auf dem Tisch stehenden Babytelefon kam ein Geräusch, die kleine Teresa hatte ihren Mittagsschlaf beendet und machte sich lautstark bemerkbar.
Beide Frauen sprangen auf, liefen zum Kinderzimmer, das man für die kleine Teresa hergerichtet hatte. Ein ganz in hellen Cremetönen eingerichtetes Zimmer, mit hübschen Bildern an den Wänden, einem kuscheligen Teppich auf dem Fußboden und einem Himmelbettchen, wie es für eine Prinzessin nicht schöner hätte sein können. Aber sie war ja auch ihre Prinzessin, die kleine Teresa. Und das, obwohl sie nicht, wie die anderen Kinder zuvor, ein geplantes Wunschkind war. Nein, die kleine Teresa hatte ihren eigenen Kopf. Sie war es diesmal, die sich entschlossen hatte, auf die Welt zu kommen, ohne Planung, ohne Absprachen. Vielleicht war sie deshalb ein so besonderes Baby mit einem eigenen Kopf, den sie, und da waren Ricky und Fabian sich beide sicher, von ihrer Urgroßmutter hatte, deren Namen sie trug.
Teresa war ein hübsches Baby, doch jetzt hatte sie von ihrer Schreierei schon ein krebsrotes Gesichtchen, die kleinen Fäuste waren geballt und ruhten neben dem Köpfchen.
Ricky beugte sich herunter, hob das Baby aus dem Bett, sprach beruhigend auf Teresa ein. Die erkannte die Stimme ihrer Mutter und war augenblicklich still.
Sandra stand stumm daneben, und es kostete sie unendlich viel Kraft, jetzt nicht zu schreien oder davonzulaufen. Nein, da musste sie jetzt durch, sonst würde sich nie etwas ändern, und in einem hatte Ricky recht, sie musste loslassen.
Nach einer Weile drückte Ricky ihr das Baby in den Arm.
»Setz dich am besten dort drüben auf den Sessel, Sandra. Wenn sie anfängt zu jammern, dann gib ihr ihren Schnuller und wiege sie ein wenig hin und her. Das hat sie gern. Ich lasse dich jetzt mit Teresa allein.«
Sandra blickte Ricky beinahe entsetzt an.
»Ich … ich weiß nicht …, ich kann nicht«, stammelte sie.
Ricky ließ das nicht gelten.
»Du kannst«, sagte sie resolut. »Und ich gehe jetzt, wenn es dir zu viel wird, dann drückst du dort auf den Knopf. Dann komme ich zurück.«
Sandra wollte noch etwas sagen, doch Ricky ließ es dazu nicht kommen. Sie ging einfach, und Sandra war mit dem Baby Teresa allein.
Sie setzte sich auf den Sessel, Teresa machte einen ganz friedlichen Eindruck, und sie blickte Sandra mit ihren wunderschönen grauen Augen unentwegt an.
Es war ein unbeschreiblicher, sehr intimer Moment, der in Sandra nicht zu beschreibende Gefühle auslöste.
Das Baby, das sie unentwegt, beinahe verstehend, anblickte. Wie herrlich es duftete, wie weich es sich anfühlte.
Es zerriss sie beinahe, wenn sie an ihr eigenes Baby dachte, das sie so kurz vor der Geburt verloren hatte, sie war am Leben geblieben, das Baby hatte man nicht retten können.
Schon wollten sie die Schuldgefühle wieder überfallen, sie beinahe erdrücken. Da geschah etwas Unglaubliches, die kleine Teresa lächelte sie an.
Ja, es war so!
Das Baby lächelte!
Sandra spürte, wie sie sich entkrampfte, und dann breitete sich ein Gefühl tiefsten Friedens in ihr aus. Dieser intime Augenblick, das Lächeln …
Es war ein Zeichen!
Während sie die kleine Teresa an sich presste und sanft hin und her schaukelte, rollten ihr die Tränen über das Gesicht.
Das Baby Teresa war ganz still, ganz so, als spüre sie die riesige Welle der emotionalen Bewegung, die Sandra durchströmte.
Sandra hatte keine Ahnung, wie lange sie mit dem Baby im Arm auf diesem Sessel gesessen hatte. Sie zuckte zusammen, als irgendwann Ricky wieder ins Zimmer kam.
Teresa war wieder eingeschlafen, sie nuckelte zufrieden an einem Fingerchen.
Ricky spürte, dass etwas geschehen war, doch sie wollte jetzt keine Rührseligkeit aufkommen lassen, und deswegen sagte sie forsch und voller Bedauern in ihrer Stimme: »Sandra, wie schade, dass du ab morgen nicht mehr in Deutschland sein wirst, ich würde dich sonst gern hin und wieder als Babysitter anheuern. Sieh nur, wie friedlich unsere kleine Krakeelerin aussieht.«
Das tat sie wirklich.
Von dem Baby gingen Frieden und Harmonie aus, und etwas davon hatte sich in Sandras Herz geschlichen.
»Soll ich sie dir abnehmen?«, erkundigte Ricky sich, und obwohl sie noch stundenlang mit dem Baby im Arm hätte in dem Sessel sitzen können, nickte Sandra.
Ricky nahm ihr behutsam die kleine Teresa aus dem Arm, legte sie vorsichtig in ihr Himmelbett, in dem schlief sie weiter.
Wie erwachend strich Sandra sich über die Stirn, stand ein wenig benommen auf, dann umarmte sie Ricky.
»Danke«, sagte sie leise, »tausend Dank, das war besser als jede Therapiestunde. Teresa ist ein ganz besonderes Baby, und ich bin so froh, dass ich meinem Impuls gefolgt bin, noch einmal zu dir zu kommen, das hier erleben zu dürfen.«
Ricky erwiderte die Umarmung, bestätigte: »Ja, sie ist wirklich besonders, unsere kleine Teresa. Aber ich denke, dass man das nicht so ernst nehmen darf, Mütter sind immer in ihre Kinder verliebt und halten sie für etwas, was es sonst auf der Welt nicht gibt. Möchtest du noch etwas trinken?«
Sandra schüttelte den Kopf.
»Nein, bitte halte mich nicht für unhöflich. Ich möchte jetzt gern allein sein.«
Ricky hatte damit kein Problem, sie begleitete ihre Freundin zur Tür, es gab eine letzte Umarmung, ein letztes Adieu, und dann ging Sandra.
Sie war noch immer wie benommen, in der Nähe des Hauses gab es einen wunderschönen Park mit alten Bäumen, einem Seerosenteich, den suchte sie auf, lief die Wege entlang, ohne einen Blick für die Schönheit des Parkes zu haben.
Es tat noch immer weh, dass sie ihr Baby verloren hatte, doch sie durfte es nicht immer wieder heraufbeschwören. Die Zeit mit der kleinen Teresa hatte den tiefen Schmerz noch einmal so richtig aufkochen lassen, doch dahinter hatte sich eine Spur von Frieden gezeigt und ein wenig auch Verzeihen für sich selbst. Sie hatte einen Mann, der sie trotz allem liebte, sie hatte Kinder, für die sie verantwortlich war, und auch ihre Mutter und deren zweiter Mann würden mit in das neue Leben gehen. Sie hatte von allen die Nerven schon viel zu stark strapaziert. Und Ricky hatte es eben auch wieder gesagt, was sie von allen ihren Lieben nicht nur einmal gehört hatte. Es war durch nichts mehr rückgängig zu machen. Sie musste nach vorne sehen, nicht nur um ihrer selbst willen.
Sie musste jetzt auch nicht länger durch den Park laufen. Es waren zwar alle Vorbereitungen für den morgigen Tag getroffen, doch es war noch das eine oder andere zu tun.
Sandra kehrte um, und zufällig fiel ihr Blick auf ein Stückchen Rasen. Wie fremdgesteuert trat sie näher, und dann …, sie konnte es nicht glauben, sie entdeckte erneut ein vierblättriges Kleeblatt, wie oben in den Mauerresten der Felsenburg.
Diesmal ließ Sandra sich nicht davon abhalten, sich zu bücken und ganz vorsichtig das Kleeblatt zu pflücken. Es war ein Zeichen, sie hatte es finden sollen, denn auf einer Wiese ein vierblättriges Kleeblatt zu finden war ungefähr so wie die Nadel im Heuhaufen.
Sie holte ihr Notizbuch aus der Tasche, dann legte sie das Kleeblatt vorsichtig zwischen zwei Seiten und legte das Notizbuch zurück.
Jetzt war sie sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg war, dass ihre Entscheidung, in Arizona neu anzufangen, eine gute Entscheidung gewesen war.
Das vierblättrige Kleeblatt deutete auf Glück hin.
Sandra spürte, wie die Schatten anfingen sich aufzulösen, wie die Schwere einer zarten Leichtigkeit wich.
Sie hatte es auf einmal eilig, nach Hause zu kommen, zu den Menschen, die sie liebte und von denen sie geliebt wurde …
*
Es war eine schöne Gewohnheit, dass Roberta und ihre Alma mitunter nach dem Essen ein Gläschen Wein zusammen tranken und sich dabei unterhielten. Roberta tat es gern, denn ohne Alma wäre sie aufgeschmissen, und Alma wiederum genoss es, von ihrer Chefin so wertgeschätzt zu werden.
Heute war mal wieder so ein Abend, und Roberta wunderte sich, warum Alma so aufgeregt war. Sie hatte sogar etwas Besonderes gekocht.
Als sie beim Wein waren, entschuldigte Alma sich, stand auf, verließ den Raum und kam wenig später mit einem hübsch verpackten Gegenstand zurück, den drückte sie Roberta in die Hand und sagte ein wenig verlegen: »Das ist für Sie, Frau Doktor.«
Es war ein Geschenk.
»Alma, ich habe doch überhaupt keinen Geburtstag, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass es ein besonderer Tag ist, an dem ich ein Geschenk verdient habe.«
»Frau Doktor, Sie müsste man jeden Tag beschenken, Sie sind eine so großartige Frau, und ich danke dem Himmel immer wieder, dass ich auf Ihren Weg kommen durfte.«
Alma sagte so etwas oder ähnliches immer wieder, und das war Roberta peinlich und machte sie verlegen.
»Wenn, liebe Alma, dann müsste ich Sie jeden Tag beschenken. Durch Sie ist mein Leben so einfach geworden, Sie schmeißen den Haushalt, kümmern sich um den Garten, Sie kaufen ein, ach, ich könnte noch eine lange Liste dessen aufführen, was Sie für mich tun.«
Sie blickte neugierig auf das Paket.
»Darf ich es auspacken?«, erkundigte sie sich.
Alma nickte, schaute Roberta gespannt an, die wurde immer neugieriger.
Sie packte das Paket aus, und es kam ein in Öl gemaltes Bild zum Vorschein. Es war ganz eindeutig das Stück Ufer des Sees, an dem Roberta sich am liebsten aufhielt.
Die Stimmung war sehr gut eingefangen, das Bild berührte einen.
»Alma, sind Sie verrückt, so viel Geld für mich auszugeben? Das Bild war bestimmt teuer, doch ich finde es ganz wunderschön.«
Diese Worte erfreuten Alma, das war nicht zu übersehen. »Dann ist es gut«, sagte Alma. »Doch bitte – machen Sie sich keine Gedanken. Es hat nichts gekostet, nur die Leinwand und ein bisschen Farbe.«
»Ach so, und der Maler hat das Bild umsonst gemalt, einfach so«, rief Roberta, die sich von dem Bild nicht losreißen konnte. Es war kein Meisterwerk, aber es war sehr gut gemalt, sehr stimmungsvoll. Und diese Stelle am See, die sie besonders liebte, war sehr genau getroffen. Die Stimmung war gut eingefangen, man glaubte, das Plätschern des Wassers zu hören. Es war ein wirklich, wirklich schönes Bild. »Alma, das Bild ist wirklich ganz besonders. Aber ich kann es nicht annehmen, es ist zu kostbar. Und Sie dürfen sich für mich nicht in Unkosten stürzen.«
Alma wurde rot, sie verschränkte ihre Hände ineinander, das tat sie immer, wenn sie nervös war.
Sie atmete tief durch, dann sagte sie: »Ich …, äh …, ich …, nun ja, ich habe das Bild gemalt.« Und ehe Roberta sich von ihrer Überraschung erholen konnte, fuhr Alma fort: »Ich gehe doch seit einziger Zeit in diese Malschule für Erwachsene. Das macht sehr viel Spaß. Dort bekamen wir die Aufgabe, ein Bild für jemanden zu malen, den wir mögen. Und nicht nur das, es sollte ein Bild sein, das zu dieser Person passt. Da habe ich sofort an Sie gedacht und den See, den mögen Sie doch ganz besonders, und ich weiß auch, dass Ihnen diese Stelle, die ich da gemalt habe, ganz besonders gefällt.«
Damit hätte Roberta nun wirklich nicht gerechnet. Alma überraschte sie immer wieder. Jetzt war sie auch noch eine sehr begabte Malerin. Und es war ja so rührend, dass sie an sie gedacht hatte, und das mit dieser Stelle am See, das stimmte haargenau.
Roberta wusste nicht, was sie sagen sollte, sie war so ergriffen, dass ihr die Worte fehlten.
Roberta stand auf, nahm ihre treue Hilfe ganz fest in die Arme. Sie hatte Tränen in den Augen, und als Alma das entdeckte, begann auch sie zu weinen.
Es war ein sehr emotionaler Augenblick. Irgendwann hatte Roberta sich wieder im Griff, und dann bedankte sie sich überschwänglich bei Alma, lobte sie über alles.
»Alma, ich werde dieses wunderschöne Bild in Ehren halten, und wissen Sie, wo ich es aufhängen werde? In meiner Praxis. Es wäre eine Verschwendung, es hier im Haus aufzuhängen. Da hätte ja nur ich etwas davon. Dieses Bild sollen viele Menschen sehen. Es sich anzuschauen beruhigt und macht froh. Und die Leute, die zu mir kommen, die haben ein Problem, sie sind krank, machen sich Sorgen wegen ihrer Gesundheit. Beim Anblick des Bildes werden sie von ihren Sorgen abgelenkt. Alma, Sie sind eine Künstlerin, und Sie erstaunen mich immer wieder. Wo haben Sie das gelernt, es kann doch nicht sein, dass ein paar Kurse in einer Malschule ausreichen, um so etwas zu schaffen.«
Die beiden Frauen saßen wieder, Roberta hatte das Bild so drapiert, dass sie es immer vor Augen hatte.
»Ich hatte keine Ahnung, dass ich das kann«, erklärte Alma, »in der Schule bin ich im Kunstunterricht nicht aufgefallen, und es hat mich auch nicht wirklich interessiert. Und später, da musste ich in meinem Leben andere Prioritäten setzen. In einer Fernsehsendung haben sie mal darüber gesprochen, dass Malen auch so etwas wie Therapie sein kann, und als die Kurse in Hohenborn angeboten wurden, habe ich mich angemeldet. Es ist wirklich so etwas wie Therapie, das Anmischen der Farben, die Herausforderung der weißen Leinwand …«
»Ihr Lehrer muss doch erkannt haben, dass Sie ein Ausnahmetalent sind, Alma.«
Alma wurde verlegen.
Dann erfuhr Roberta, dass der Leiter der Malschule, ein Achim van Geelen, das Bild in eine Ausstellung einer Galerie geben wollte.
»Das habe ich abgelehnt, ich habe es für Sie gemalt, Frau Doktor, und ich habe auch keinerlei Ambitionen, mich als Künstlerin zu profilieren. Ich bin mit meinem Leben zufrieden, und daran möchte ich nichts ändern. Außerdem …«
Sie brach ihren Satz ab, trank ein wenig von ihrem Rotwein. Roberta wartete, dann erkundigte sie sich behutsam: »Außerdem, was wollten Sie mir sagen?«
Es war Alma ein wenig peinlich.
»Nun ja, Achim van Geelen ist auch persönlich an mir interessiert. Er versucht alles, mich auch privat zu treffen. Vielleicht will er mich mit der Ausstellung ködern.«
»Das glaube ich nicht, Alma, Sie haben Talent, und es ist nie zu spät, das zu erkennen. Die Grandma Moses war achtzig Jahre alt, als sie mit ihren naiven Bildern weltweit berühmt wurde.«
Alma winkte ab.
»Es macht mir Spaß, in die Malschule zu gehen, und ich hoffe, er wird irgendwann die Lust verlieren, mich privat treffen zu wollen. Es wäre schade, ich müsste deswegen die Besuche an der Schule aufgeben. Er bringt uns sehr viel bei.«
»Wenn dieser Herr van Geelen nett ist, was spricht gegen private Treffen, Alma? Sie sind eine attraktive Frau.«
Solche Komplimente machten Alma verlegen. Sie wurde rot.
»Frau Doktor, ich habe eine schreckliche gescheiterte Ehe hinter mir. Ich wurde nach Strich und Faden belogen, mein Exmann hat mich gnadenlos ausgenutzt, hat mich seine Schulden bezahlen lassen. Seinetwegen bin ich auf der Straße gelandet, und wenn Sie nicht gewesen wären …«
Sie brach ihren Satz wieder ab, und Roberta sagte rasch: »Alma, es sind nicht alle Männer gleich.«
Alma blickte ihre Chefin an, die sie über alles liebte und verehrte.
»Nein, das stimmt. Doch den richtigen Mann zu finden, das ist so etwas, wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden. Als ich Franz Glattberg kennenlernte, glaubte ich, die Nadel gefunden zu haben. Er war nett, liebenswert. Sein Verhalten änderte sich in dem Augenblick, als ich zu ihm in sein Haus gezogen war. Da wurde er ein nörgelnder, egoistischer Macho. Nein, Frau Doktor, mir reicht es. Wären auch Sie diesmal nicht gewesen, hätte ich nicht wieder in die Einliegerwohnung einziehen dürfen, dann wäre ich Franz ausgeliefert gewesen. Zwei Fehlgriffe reichen, es findet sich nicht für jeden Topf ein Deckel. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, und solange Sie mich hier haben wollen …«
Dazu konnte Roberta sofort etwas sagen.
»Alma, ich habe das Haus gekauft, weil ich hier im Sonnenwinkel angekommen bin. Das Haus, die Praxis, Sie und ich …, wir gehören zusammen. Dennoch müssen Sie wissen, dass ich Ihnen niemals im Wege stehen würde, sollten Sie doch noch den Mann finden, den Sie verdient haben.«
Alma hätte jetzt widersprechen können, weil sie sich wirklich nicht vorstellen konnte, ein solches Abenteuer noch einmal einzugehen. Das Leben würde es bringen, manchmal passierten Dinge, die nicht vorstellbar waren. Die Frau Doktor hatte diesen so sympathischen Herrn Magnusson kennengelernt, als sie mit ihrem Auto in seines hineingefahren war. Es hatte so sein sollen, das war das, was man Schicksal nannte.
Achim van Geelen war nicht ihr Schicksal, das wusste Alma, aber als Lehrer war er gut, sehr gut sogar.
Mitten in ihre Gedanken hinein erklang die Stimme von Frau Doktor.
»Alma, was halten Sie davon, wenn wir das Bild jetzt in der Praxis aufhängen?«
Damit war Alma einverstanden. Sie stand auf, holte Nägel und einen kleinen Hammer, denn das brauchte man schließlich dazu. Roberta lachte.
»Alma, was würde ich bloß ohne Sie machen? Daran hätte ich jetzt nicht gedacht. Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht einmal gewusst, wo ich Nägel und Hammer suchen sollte.«
»Frau Doktor, damit müssen Sie sich auch nicht beschäftigen, Dafür haben Sie mich, und Sie … Sie …, es reicht, wenn Sie sich um Ihre Patienten kümmern. Sie sind die wundervollste Ärztin auf der ganzen Welt.«
Nun war es Roberta, die verlegen wurde.
Sie nahm das Bild, presste es an sich, dann gingen sie gemeinsam hinüber in die Praxisräume. Es war schon ein Segen, wenn Wohnung und Arbeitsplatz so dicht beieinander lagen. Ihre Aktion wäre sonst nämlich überhaupt nicht möglich gewesen, denn draußen heulte der Wind ums Haus, und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
Eine tiefe Zufriedenheit breitete sich in Roberta aus. Sie hatte alles richtig gemacht, und ihre allerbeste Entscheidung war gewesen, Enno Riedel das Haus abzukaufen.
Mit ihrer rechten Hand hielt sie das wunderschöne Bild, ihre Linke legte sie Alma auf die Schulter.
»Alma, fühlt es sich nicht gut an, hier zu leben?«, erkundigte sie sich.
Natürlich!
Eine solche Frage erübrigte sich, sie lebten wie im Paradies, dennoch antwortete Alma im Brustton der Überzeugung: »Und wie, Frau Doktor, und wie.«
*
Inge Auerbach war in die Buchhandlung nach Hohenborn gefahren, um sich mit neuem Lesematerial zu versorgen und für ihre Mutter die bestellten Bücher abzuholen.
Bücher waren Inges Welt, solange sie zurückdenken konnte, und das hatte sie eindeutig von ihren Eltern, die gern auf so manches verzichtet hatten, um sich stattdessen ein Buch kaufen zu können. Bücher hatten Inges Leben geprägt, und sie konnte sich mit nichts so entspannen wie mit einem Buch.
Natürlich war es nicht bei nur einem Buch geblieben, sie hatte ordentlich zugeschlagen, und sie konnte ihre Ausgabe nur damit entschuldigen, dass ihre Eltern die Bücher ebenfalls lesen würden. Sie tauschten sie untereinander immer aus.
Mit zwei Taschen bepackt verließ sie die Buchhandlung und wäre an der Tür beinahe mit Rosmarie Rückert zusammengestoßen.
»Hallo, Rosmarie, willst du in den Buchladen?«, erkundigte Inge sich.
Rosmarie winkte beinahe entsetzt ab.
»Du liebe Güte, nein. Bücher waren noch nie meine Welt, dafür bin ich viel zu unruhig und lass mich andauernd ablenken. Ich setze mich lieber vor die Flimmerkiste und lass mich berieseln, aber da gibt es kaum noch etwas Gescheites. Zum Glück kann man sich Filme kaufen.«
Rosmarie blickte auf die beiden Taschen, die Inge in den Händen hielt.
»Du hast aber ganz schön zugeschlagen«, bemerkte sie, und Inge glaubte, sich entschuldigen zu müssen: »Es sind auch Bücher für meine Eltern darunter.«
»Stimmt, die sind auch Leute, die Bücher beinahe inhalieren. Ob man zu euch ins Haus kommt oder in das deiner Eltern, man sieht nichts als Bücher, Bücher.«
Rosmarie seufzte.
»Vielleicht würden Bücher auch mein Haus wohnlicher machen. Mittlerweile komme ich mir darin vor wie in einem exklusiven Möbelhaus, in dem man demonstriert, wie man teuer wohnen kann, ohne der Einrichtung ein gewisses Flair zu geben.«
Rosmarie und ihre Villa, die Fabian, ihr Sohn ein wenig verächtlich ›Palazzo Prozzo‹ nannte.
Es war eine unendliche Geschichte, und Inge hatte keine Lust, sich die zum gefühlten tausendsten Male anzuhören.
»Was machst du in der Stadt? Sollen wir zusammen irgendwo einen Kaffee trinken?«
»Ich treffe mich mittags mit Heinz, der will, dass ich dabei bin, wenn er sich eine neue Brille kauft. Danach wollen wir gemeinsam essen gehen. Ich wollte vorher ein wenig herumlaufen. Doch es macht mir einfach keinen Spaß mehr. Seit ich die Scheckkarte nicht mehr glühen lasse, bin ich auch nicht mehr interessant für die Juweliere der Stadt oder die Klamottenläden. Früher hat man für mich den roten Teppich ausgerollt, heute grüßt man mich kaum noch.«
Inge lachte.
»Die sind sauer, weil ihnen viel Umsatz entgeht.«
Rosmarie seufzte.
»Erinnere mich nicht an diese Zeiten. Das kann nicht ich gewesen sein. Ich habe ja alles ohne Sinn und Verstand zusammengekauft.«
»Rosmarie, es ist vorbei, du hast dich verändert. Und das Tierheim profitiert von deinen früheren Eskapaden. Was du an Schmuck und Outfits verkauft hast und noch verkaufst, davon profitiert Frau Dr. Fischer.«
»Danke, Inge, aber wir müssen es nicht schönreden, für den Schmuck und die Klamotten bekomme ich einen Bruchteil dessen, was es gekostet hat. Mit Geld wäre dem Tierheim mehr geholfen. Aber es stimmt, ich habe mich verändert. Warum habe ich das nur nicht schon früher getan, dann wäre mein Verhältnis zu meinen Kindern ein anderes …, sag mal, hörst du viel von Jörg?«, änderte sie das Thema.
»Hin und wieder«, sagte Inge.
»Das wundert mich nicht, Jörg gehört nicht zu den Menschen, die Gott und die Welt an seinem Leben teilhaben lassen.«
Rosmarie warf Inge einen schrägen Blick zu.
»Und das sagst du jetzt nicht, um mich zu trösten?«
Inge verstand die Frage nicht.
»Warum sollte ich?«
»Weil Stella sich auch kaum meldet. Und das kenne ich an ihr nicht so. Als sie und ihre Famille in der Nähe lebten, hat sie sich zwischendurch gemeldet und uns einmal wöchentlich besucht, sie hat uns sogar immer selbst gebackenen Kuchen mitgebracht. Ich höre kaum von ihr, und wenn ich mich melde, dann wimmelt sie mich einfach ab.« Rosmarie und Heinz Rückert und ihre Kinder. Auch das war eine unendliche Geschichte. Zwischen Eltern und Kindern herrschte kein herzliches Verhältnis. Die beiden Rückerts hatten immer ihr Ding gemacht, Stella und Fabian wechselnden Kinderfrauen überlassen, und jetzt hatten sie die Quittung für ihr liebloses, egoistisches Verhalten. Gefühle ließen sich nicht einfach anstellen, auch nicht, wenn man die Fehler der Vergangenheit bereute. Und das tat Rosmarie auf jeden Fall.
»Rosmarie, Jörg und seine Lieben sind doch gerade erst einmal in ihrem neuen Leben in Stockholm angekommen. Es gibt so vieles zu tun, zu bedenken. Wenn sie sich so richtig eingelebt haben, dann wird Stella sich schon wieder melden. Rosmarie, wir wissen, dass es ihnen in Schweden gefällt. Das muss uns doch reichen, die Hauptsache ist, dass sie glücklich sind.«
Rosmarie blickte ihr Gegenüber an.
»Deine Einstellung möchte ich haben. Deswegen läuft wahrscheinlich auch alles so glatt bei dir wie ein träge dahinfließendes Wasser.«
»Bei mir glatt?«, rief Inge. »Von wegen.«
Dann schlug sie vor, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, den brauchte sie jetzt nämlich wirklich, und während sie zu dem Café gingen, überlegte Inge, ob sie Rosmarie alles erzählen sollte, was da zu Hause bei ihr ablief. Aber warum eigentlich nicht?
Wenig später saßen sie sich in dem hübschen, derzeit kaum besuchten Café gegenüber, und das lag vermutlich daran, dass die Gäste, die hier frühstückten, bereits weg waren, und die Mittags- und Nachmittagsgäste noch nicht kamen, weil es dazu zu früh war.
Rosmarie bestellte einen Cappuccino, und Inge nahm einen großen schwarzen Kaffee.
Als die Getränke serviert waren, erkundigte Rosmarie sich: »Inge, was war das eben für eine Bemerkung. Das war ja wie ein Hinweis darauf, dass es Turbulenzen bei euch gibt. Das kann nicht sein.«
Inge trank etwas von ihrem wirklich guten Kaffee, stellte die Tasse wieder ab, dann sagte sie: »Rosmarie, das damals mit unserer Jüngsten war der Beweis dafür, dass auch wir große Fehler machen, und jetzt …«
Inge überlegte ganz kurz, dann sagte sie Rosmarie die Wahrheit, wie sie Werner die Pistole auf die Brust gesetzt hatte, wie sie sogar weglaufen wollte. Und sie ließ auch nicht aus, dass die beiden Auerbachs, eigentlich ein Dreamteam, getrennte Schlafzimmer hatten.
Eigentlich hatte Rosmarie gerade etwas von ihrem Cappuccino trinken wollen. Inges Worte überraschten sie so sehr, dass sie für einen Moment die Tasse in der Luft balancierte, ehe sie diese absetzte. »Das glaube ich jetzt nicht«, waren die ersten Worte, die Rosmarie nach dieser Eröffnung fand.
»Du kannst es glauben, damit macht man keine Scherze.« Rosmarie rührte in ihrer Tasse herum, legte den Löffel beiseite, der klirrend auf der Untertasse landete.
»Und wie fühlt sich das für dich an?«, wollte Rosmarie wissen. »Schließlich bist du aus allem als Siegerin hervorgegangen. Ich weiß nicht, wie lange wir uns darüber unterhalten, dass unsere Männer kürzertreten sollen. Meiner arbeitet noch immer, als sei er Dreißig, und deiner …, der große Werner Auerbach hat es tatsächlich geschafft, und das nur, weil du es so wolltest. Wenn das kein Zeichen einer großen Liebe ist. Man kann beinahe neidisch werden.«
Sie waren ja so verschieden, das bemerkte Inge jetzt wieder einmal. Sie hatte eine ganz andere Sicht auf die Dinge.
»Rosmarie, es geht doch nicht um Sieg und Niederlage. Ich wollte einfach nicht weiterhin hintenan gestellt werden, und dieses Erlebnis mit dem wirklich netten Dr. Bredenbrock hat mir die Augen geöffnet. Aber ehrlich, so richtig zufrieden bin ich nicht. Jetzt habe ich nämlich ein schlechtes Gewissen. Werner hat alles abgesagt, und jetzt weiß er nichts mit sich anzufangen. Er ist niemand, der täglich um den See laufen will, täglich in eine Ausstellung gehen. Wir müssen noch das richtige Mittelmaß finden. Ich muss mit Werner reden.«
Rosmarie blickte ihr Gegenüber voller Bewunderung an.
»Das wirst du«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. »Du kriegst immer die Kurve. Darf ich mit Heinz darüber reden? Er bewundert Werner, und vielleicht motiviert ihn das, auch kürzerzutreten. Aus finanziellen Gründen haben wir es nicht nötig, dass er tagaus, tagein in seinem Notariat sitzt. Mir würde es gefallen, mehr mit ihm zu unternehmen. Ich will auch aus dem Haus raus.«
Schon wieder dieses Thema!
Wann immer sie Rosmarie traf, wurde es irgendwann angeschnitten, dabei hatte sie diese protzige Villa doch um jeden Preis haben wollen. »Irgendwann wird sich ein Käufer finden«, bemerkte Inge. »Die Münsters und Marianne von Riedeing haben auch verkauft, und das sogar sehr schnell.«
Rosmarie winkte ab.
»Darüber haben wir schon geredet, und man kann es nicht vergleichen, das Anwesen da oben hat Tradition, ein gewisses Flair, unser Haus ist ein protziger Neubau. Wir sind mit diesem Thema durch, Heinz hat alle Verkaufsaufträge zurückgezogen. Wir werden die Villa behalten, damit endlich Ruhe einkehrt. Und zwar werden wir die obere Etage nicht mehr bewohnen, sondern uns im Erdgeschoss einrichten, Platz genug ist vorhanden, und oben wird immer mal sauber gemacht.«
Als sie Inges skeptischen Blick bemerkte, fuhr sie beinahe trotzig fort: »Die Fürstenfamilie bewohnt im Regensburger Schloss auch nur ein paar Räume, und sie kommen damit gut zurecht. Es ist wie es ist. Damit komme ich besser zurecht, als mich unsinnigen Hoffnungen hinzugeben. Von deiner Mutter habe ich einen sehr klugen Satz übernommen – die Dinge geschehen, wenn die Zeit reif ist. Vielleicht taucht hier im Hohenborn mal jemand auf, der nur unser Haus haben will und sonst kein anderes. Ich habe meinen Frieden damit geschlossen, nein, noch nicht ganz, doch ich bin auf dem besten Weg dazu. Jetzt muss ich Heinz damit bearbeiten, dass er endlich mehr Zeit mit mir verbringt, und dann weiß ich auch schon, was wir anfangen werden …«, sie machte eine kurze, bedeutsame Pause, »wir werden zu Cecile reisen, die uns immer wieder ganz herzlich einlädt, und die sich sehr über unseren Besuch freuen würde.«
Inge erinnerte sich an die Anfangszeiten, in denen Cecile plötzlich als die uneheliche Tochter von Heinz aufgetaucht war, von Rosmarie fälschlicherweise für seine junge Geliebte gehalten worden war. Rosmarie hatte die junge Französin gehasst, hatte sie als Erbschleicherin gesehen. Dabei besaß Cecile Raymond noch viel, viel mehr Geld als die Rückerts. Und ihr war es nur darum gegangen, ihren Vater kennenzulernen, von dem sie erst als Erwachsene erfahren hatte.
Inge erinnerte sich ebenfalls daran, wie verblüfft sie alle gewesen waren zu erfahren, dass der trockene Heinz Rückert als junger Student in Paris seine große Liebe hatte, die durch widrige Umstände zerstört worden war.
»Du magst Cecile sehr, nicht wahr, Rosmarie?«
Die nickte ganz entschieden.
»Und wie, und das beruht auch auf Gegenseitigkeit. Cecile ist ein so wunderbarer Mensch, liebenswert, bescheiden, dabei gehören die Raymonds zu den reichsten Familien Frankreichs. Cecile hat mir niemals nachgetragen, dass ich anfangs so herumgezickt habe. Wie verrückt, ich hielt sie für eine Erbschleicherin, dabei sind wir Rückerts nichts gegen sie. Ihr habe ich auch zu verdanken, dass ich mich nicht mehr wie einen Christbaum schmücke, sondern, dass es auch bescheidener geht. Und ja, deine Mutter hat das auch bewirkt. Teresa ist wirklich eine bemerkenswerte, großartige Frau. Was sagt die denn zu dem, was sich derzeit zwischen Werner und dir abspielt?«
Inge lächelte.
»Nichts, Rosmarie, meine Eltern halten sich da raus, das haben sie immer getan, und damit sind sie gut gefahren.«
Rosmarie seufzte.
»Darum sind sie zu beneiden, ich könnte das nicht. Ich würde am liebsten immer und überall mitmischen. Bei Stella ging es ja ein wenig, Fabian würde sich das verbieten. Er findet es gut, dass ich mich verändert habe, und das lässt ihn mir gegenüber ein wenig toleranter sein, aber lieben«, sie seufzte erneut, diesmal ganz bekümmert, »lieben wird er mich in diesem Leben wohl nicht. Doch ich kann mich nicht beklagen, es ist alles meine Schuld und die von Heinz.«
Sie blickte auf ihre goldene Armbanduhr.
»Du liebe Güte, jetzt muss ich mich aber beeilen, Heinz wartet bestimmt schon auf mich, und wenn er auch viele gute Eigenschaften hat, Geduld gehört nicht zu seinen Tugenden.«
Rosmarie wollte die Bedienung rufen, um ihren Cappuccino zu bezahlen, doch Inge sagte, dass sie das übernehmen wolle. Rosmarie bedankte sich. »Das ist nett von dir, das nächste Mal bin ich dran. Es war schön, dich zu treffen. Das ist immer eine Bereicherung für mich. Du bist schon eine tolle Frau, und danke auch, dass du so aufrichtig zu mir warst. Ich werde mein Glück bei meinem Heinz auf jeden Fall versuchen. So pflegeleicht er in mancher Hinsicht auch ist: Wenn Heinz etwas nicht will, dann kann er störrisch sein wie ein Esel. Es gibt keinen Menschen, der so unglaublich stur sein kann.«
Inge lachte.
»Rosmarie, du schaffst das schon, da habe ich überhaupt keine Sorge.«
Rosmarie fiel in das Lachen mit ein, dann stand sie auf, ergriff ihre Jacke und ihre Handtasche, umarmte Inge, dann verließ sie das Café, das sich allmählich füllte. Frauen kamen von ihren Einkäufen, die sie mit einem leckeren Getränk oder mit süßen Köstlichkeit abschließen wollten. Das war eine schöne Gewohnheit, von der auch Inge sich nicht freisprechen konnte. Sie wäre auch ohne Rosmarie irgendwohin gegangen.
Inge sah Rosmarie nach, wie sie über den Marktplatz lief. Zum Glück trug sie nicht mehr diese schrecklichen Stilettos mit schwindelerregenden Absätzen, mit denen sie nur halsbrecherisch stöckeln konnte.
Ja, Rosmarie hatte sich wirklich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Und das nicht nur in äußerlicher Sicht. Und was sie für das Tierheim tat, das war schon beachtlich und eine große Hilfe. Und dass es so war, das war eindeutig Teresa, ihrer Mutter, zu verdanken. Die hatte Rosmarie auf die richtige Spur gebracht, und dass Rosmarie sich sogar einen Hund aus dem Heim geholt hatte, diese Wette hätte Inge verloren. Ja, manchmal konnte man sich in Menschen ganz schön täuschen.
Inge winkte die Bedienung herbei, doch nicht etwa, um zu bezahlen, das hatte Zeit. Nein, sie bestellte sich einen weiteren Kaffee, und sie konnte nicht anders, diese Schokobrownies hatten sie schon die ganze Zeit über angelacht. Einer davon musste es sein …
*
Roberta hatte sich im Krankenhaus in Hohenborn nach dem Befinden eines ihrer Patienten erkundigt. Es war unumgänglich gewesen, ihn ins Krankenhaus zur stationären Behandlung einweisen zu lassen. Roberta tat eine ganze Menge für ihre Patienten, doch sie war nicht so selbstherrlich zu glauben, sie könne alles tun und sei so etwas wie Gott. Nun, manche ihrer Kollegen fühlten sich als die Götter in Weiß, und das machte sie jedes Mal sehr zornig. Aber es war nicht zu ändern.
Zum Glück ging es dem Patienten ein wenig besser, auch wenn sich leider ihr Verdacht bestätigt hatte. Stationär war er auf jeden Fall besser aufgehoben. Und er war voller Dankbarkeit, vor allem auch, weil die Frau Doktor es sich nicht hatte nehmen lassen, nach ihm zu sehen und mit den behandelnden Ärzten zu sprechen.
Roberta wollte gerade zu ihrem Auto gehen, als sie Roberto Andoni traf, den Wirt des ›Seeblicks‹.
»Roberto, was willst du im Krankenhaus?«, erkundigte sie sich verwundert. Roberto gehörte zu ihren Patienten, er kam allerdings nur zu den Routineuntersuchungen zu ihr. Roberto besaß eine beneidenswerte Gesundheit. Doch er musste aufpassen, denn er trieb Raubbau mit seiner Gesundheit, und ein Körper machte das nur eine Weile mit.
Roberto Andoni begrüßte sie, lachte.
»Keine Angst, meine Liebe, ich werde dir niemals untreu, eine bessere Ärztin als dich gibt es nicht. Ich will nur einen von meinen Stammgästen besuchen. Er liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus und ist ziemlich jammervoll. Ich hoffe, ihn mit ein paar Dolcies ein wenig aufzumuntern. Aber es ist gut, dass wir uns hier treffen. Susanne und ich haben uns nämlich etwas überlegt. Wegen unserer kleinen Valentina ist sie ja so gut wie überhaupt nicht mehr im Restaurant, und da haben wir uns gedacht, dass du an unserem Ruhetag zu uns kommst. Wir essen in aller Ruhe gemeinsam, unterhalten uns, und du kannst sehen, wie groß unser Sonnenschein schon geworden ist.«
Natürlich bedankte Roberta sich für die Einladung, sie und die beiden Wirtsleute waren längst gute Freunde geworden, und es hatte auch niemals einen Missklang gegeben, nachdem ihre Freundin Nicki Roberto verlassen hatte. Etwas, was sie später sehr bereute, doch das war eine andere Geschichte.
»Fein, dann freuen wir uns. Um welche Zeit passt es dir denn, Roberta. Wir richten uns dann ganz nach dir.«
Sie sagte es ihm, sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann verabschiedeten sie sich.
Roberto ging ins Krankenhaus hinein, und sie lief zu ihrem Auto.
Warum freute sie sich nicht?
Sie sah Susanne kaum noch. Es war eine Gelegenheit, mal wieder so richtig miteinander zu plaudern, ungestört von anderen Gästen, nur im kleinsten Kreise.
Bei Roberta gingen alle Alarmglocken an. Wenn sie mit ihr allein sein wollten, so hatte das einen Grund. Sie wollten mit ihr reden.
Robertas Herz begann stürmisch zu klopfen.
War es jetzt so weit?
Wollten sie ihr verkünden, dass sie nach Italien gehen würden?
Roberto hatte es irgendwann einmal erwähnt, und sie hatte es verdrängt, weil der Gedanke für sie unvorstellbar war, dass im ›Seeblick‹ nicht mehr Roberto und Susanne die Wirtsleute sein könnten, und das nicht nur wegen des sterneverdächtigen Essens, das man dort bekam.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie ärgerte sich sehr, weil sie ihn nicht gefragt hatte. Sie war doch sonst nicht so feige.
Nein!
Sie wollte jetzt diese Gedanken nicht vertiefen. Es war schon verrückt, wie auf einmal an diesem beschaulichen Ort alles in Bewegung war. Es war ja beinahe so, als hätten sich alle zum Aufbruch abgesprochen.
Sie fuhr jetzt nicht nach Hause, sondern sie bog in den Weg ein, der zum kleinen Haus von Lars führte.
Normalerweise lief sie ihn, doch er war für Anlieger frei, man durfte also mit dem Auto hinfahren.
Sie parkte direkt vor dem Haus, das einen verlassenen Eindruck machte. Das war etwas, was ihre Stimmung nicht gerade besserte.
Sie schloss auf, ging ins Haus hinein. Auch wenn sie hin und wieder herkam, war es nicht zu vermeiden, dass die Luft ein wenig abgestanden war, sie öffnete die Fenster, lüftete, warf Werbung, die sogar hin und wieder bis hierher kam, in den Papierkorb, dann lief sie durchs Haus, das ohne Lars so unglaublich leer und verlassen wirkte.
Ihre Stimmung war nicht gut, sie schloss die Fenster, dann nahm sie einen dunkelblauen Pullover von einem Sessel, den Lars bei seiner Abreise vergessen hatte, setzte sich auf die Couch und kuschelte sich in den Pullover, roch an ihm in der Hoffnung, noch etwas von seinem Duft wahrzunehmen. Doch der war längst verflogen.
Ihre Sehnsucht nach ihm wurde übergroß. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, den Mann ihrer Liebe so lange nicht zu sehen. Und vielleicht war es ungerecht, doch jetzt war sie nicht nur jammervoll, sondern auch ein wenig wütend auf ihn, dass er sich kaum meldete.
Auch wenn er sich an den entlegensten Stellen in der Arktis aufhielt, so gab es doch ein Camp, in dem sich die gesamte Wissenschaftscrew aufhielt, und die Wissenschaftler mussten mit der Außenwelt in Verbindung sein, sie konnten nicht trommeln, wenn es wichtig war, sondern mussten mit den modernsten Kommunikationsmitteln ausgerüstet sein.
Bisher hatte sie ein paar jämmerliche Nachrichten von ihm erhalten, sie hatten gerade zweimal telefoniert, und da hatten sie eine grässliche Verbindung gehabt.
Gut, sie durfte Lars keine Vorwürfe machen. Er hatte ihr von Anfang an gesagt, worauf sie sich mit ihm einließ. Da hatte sie es abgetan, er schrieb an einem Buch für National Geographic über Eisbären, damit war er erst einmal beschäftigt und an einen Ort gebunden. Sie hatte wirklich nicht damit rechnen können, dass er wegen weiterer Recherchen für das Buch noch einmal in die Arktis reisen musste. Gerade zu dem Zeitpunkt, als sie sich so unglaublich nahe gewesen waren.
Sie presste ihr Gesicht tiefer in die weiche Wolle des Pullovers.
Warum geriet sie immer an die falschen Männer?
Das mit ihrem Ex war wirklich keine Offenbarung gewesen, und am liebsten würde sie die Jahre mit Max aus ihrem Gedächtnis streichen. Sie wusste bis heute nicht, warum sie diesen Schwerenöter geheiratet hatte. Weil er sie zuerst gefragt hatte?
Nein, an Max wollte sie jetzt wirklich nicht denken. Das würde ihr noch mehr die Stimmung vermiesen.
Und dann, als sie verletzt gewesen war, traurig, enttäuscht, da hatte sie Kay Holl kennengelernt, der in genau diesem Haus als Bootsverleiher gelebt hatte, ein smarter Aussteiger, der nur noch das tat, worauf er Lust hatte. Es hatte mit ihnen nichts werden können, ihre Einstellung zum Leben war zu verschieden gewesen, nicht nur das, Kay war viel zu jung für sie gewesen. Sie hatte es beendet, und dann war Kay gegangen, als sie es sich anders überlegt hatte, als sie sich getraut hätte, sich auf diese Liebe einzulassen. Sie hatte um ihn getrauert, sie hatte gejammert. Doch letztlich war es die richtige Entscheidung gewesen, mit einem Mann musste man einen Alltag haben, man konnte nicht ewig auf Wolke Sieben leben.
Sie seufzte.
Kay würde sie immer in einer warmen, schönen Erinnerung behalten, und deswegen machte es ihr auch nichts aus, dass ausgerechnet Lars jetzt in diesem Haus wohnte. Ihre Beziehung hatte ein ganz anderes Fundament, sie begegneten sich auf Augenhöhe. Sie hatten sich so viel zu sagen, sie tickten in vielerlei Hinsicht ähnlich.
Einen Mann wie Lars hatte sie noch nie zuvor kennengelernt, und deswegen war sie auch bereitwillig auf ihn eingegangen. Er brauchte seinen Freiraum, für ihn war eine Liebe ohne Trauschein okay.
Je länger sie ihn kannte, umso mehr sehnte sie sich danach, seine Ehefrau zu, werden, mit ihm Kinder zu haben. Lars hatte nichts ausgeschlossen, doch er hatte ihr auch keinerlei Hoffnungen gemacht.
Warum dachte sie jetzt daran?
Von einem zum anderen Tag konnte sich alles ändern, ihre Liebe war so tief, so schön. Nähe, Beisammensein, musste doch auch für ihn mehr sein, als Eisbären hinterherzujagen oder monatelang irgendwo auf der Welt entbehrungsreich zu leben.
Er fehlte ihr!
Sie vermisste ihn, und wie sie ihn vermisste!
Es war kaum noch auszuhalten. Sie musste hier raus. Sie legte den Pullover zurück auf den Sessel, nahm ihn erneut in die Hand, und dann steckte sie ihn entschlossen in ihre Tasche. Sie würde den Pulli mit nach Hause nehmen, da hatte sie wenigstens etwas von ihm. Und hierher, sie wusste nicht, ob sie noch einmal hierher kommen würde. Das deprimierte sie zu sehr, es konnte jedoch auch sein, dass sie heute besonders jammervoll war. Sie würde Alma bitten, immer wieder nach dem Rechten zu sehen.
Sie könnten es so schön miteinander haben. Sie verstanden sich auch ohne Worte.
Roberta merkte, wie ihre Stimmung auf den Nullpunkt sank. Sie war ja dabei, depressiv zu werden. Das ging überhaupt nicht.
Mitten in ihr Tief hinein klingelte ihr Handy. Sie hatte frei, keinen Bereitschaftsdienst. Sollte sie überhaupt ans Telefon gehen? Sie hatte keine Lust, mit jemandem zu reden. Doch wenn es nun ihre Freundin Nicki war? Die konnte sie aufmuntern, Nicki verstand es immer wieder, ihre Stimmung umzudrehen. Roberta meldete sich. Die Anruferin war nicht Nicki, sondern die Ehefrau eines ihrer Patienten, die ganz angstvoll rief: »Bitte entschuldigen Sie, Frau Doktor, dass ich Sie anrufe, aber Sie haben mir für Notfälle doch Ihre private Telefonnummer gegeben. Es ist ein Notfall. Mein Mann hat schreckliche Leibschmerzen, und er hat sich sogar schon übergeben müssen. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«
Roberta beruhigte die Frau, dann sagte sie: »Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Frau Kuhl. Ich komme.«
Sie war nicht mehr jammervoll, sie dachte nicht mehr an Lars, daran, dass sie unglücklich war, dass sie sich nach ihm sehnte. Nein!
Sie war jetzt die Ärztin Frau Doktor Roberta Steinfeld, nur noch auf ihren Patienten fokussiert. Zum Glück hatte sie ihren Arztkoffer immer dabei. So musste sie nur noch in ihr Auto steigen und zu dem Patienten fahren, der im Nachbarort wohnte.
Wenn sie ehrlich war, dann war sie sogar froh um den Anruf. Der war gerade zum rechten Zeitpunkt gekommen, ehe ihre Stimmung noch mehr gekippt wäre. Sie durfte nicht undankbar sein, sie hatte den allerschönsten Beruf der Welt, sie wohnte in einem wunderschönen Haus, das ihr jetzt gehörte, sie hatte die liebenswerte Alma, die treu für sie sorgte, nicht zu vergessen, ihre tüchtige Ursel Hellenbrink, ohne die sie in der Praxis aufgeschmissen wäre.
Warum jammerte sie eigentlich so? Es ging ihr gut! Und Lars. Man konnte nicht alles haben, reichte es denn nicht, dass sie sich tief und innig liebten?
Wer konnte schon in die Zukunft sehen, reichte es nicht, dass sie eine so wundervolle Gegenwart hatten, wenn sie beisammen waren? Das war mehr als Wolke Sieben. Aber …
Nein!
Jetzt musste sie Lars wirklich aus ihrem Kopf bekommen, ihre Gedanken durften nicht mehr abschweifen.
Sie dachte an Herrn Kuhl.
Seine Frau war besorgt gewesen, hatte Angst um ihren Mann. Roberta war sich beinahe sicher, was zu diesem Anfall geführt hatte.
Herr Kuhl war ein sehr angenehmer Mensch, der leider mehrere Laster hatte. Er rauchte wie ein Weltmeister, er sprach auch ganz gern mal dem Alkohol zu, und er liebte üppiges, fettes und stark gewürztes Essen. Er hatte Übergewicht, und er bewegte sich nicht viel.
Roberta hatte ihm bereits mehrfach vor Augen geführt, dass es notwendig war, seine Lebensgewohnheiten zu ändern, und er hatte ihr hoch und heilig versprochen, etwas für seine Gesundheit zu tun.
Es war schon verrückt, seine Ehefrau war da ganz anders. Sie war schlank und sportlich, lebte vegetarisch. Sie nahm sogar an Marathonläufen teil. Offensichtlich schaffte sie es nicht, ihren Ehemann auf eine andere Spur zu bringen, dabei waren die beiden wirklich ein sehr harmonisches Paar, das bekam man als Außenstehender mit.
Das Ehepaar Kuhl bewohnte ein schönes altes Fachwerkhaus, das seit Generationen im Familienbesitz war. Es lag am Ortsrand, umgeben von saftigen grünen Wiesen, auf denen hier und da sehr schöne alte Bäume standen, die sich stolz in die Landschaft reckten und eine schöne Abwechslung im Einerlei der Wiesen waren.
Die Vorfahren hatten noch Landwirtschaft betrieben, doch das hatten sie irgendwann einstellen müssen, wie viele kleine Höfe, und dann hatten sie alle Nebengebäude abgerissen.
Nichts deutete mehr darauf hin, dass es hier früher einmal Kühe gegeben hatte und Äcker, auf denen sich das Getreide im sanften Wind bog.
Frau Kuhl erwartete Roberta bereits. Sie war sehr aufgeregt, schüttelte Robertas Hand: »Danke, dass Sie so schnell kommen konnten, Frau Doktor. Ich mache mir ja so große Sorgen, mein Mann kommt mir vor wie ein gefällter Baum.«
Sie hatte nicht übertrieben, der stattliche Mann hing wie ein Häufchen Elend im Sessel. Ihm war anzusehen, wie erleichtert er war, Roberta zu sehen.
Roberta untersuchte ihn, ließ sich die Symptome noch einmal schildern, dann erkundigte sie sich: »Herr Kuhl, was haben Sie gegessen?«
Er blickte sie ein wenig verblüfft an, dann sagte er: »Eine Schweinshaxe, und dazu habe ich zwei Bier getrunken, und, na ja, hinterher zur Verdauung ein Schnäpschen. Das kann ja wohl nicht schaden.«
So etwas Ähnliches hatte sie sich schon gedacht.
»Herr Kuhl, Ihre krampfartigen Bauchschmerzen, die Übelkeit, Ihr Erbrechen deuten auf eine akute Gastritis hin, das ist eine Magenschleimhautentzündung, bei Ihnen sollte eine Endoskopie gemacht werden. Das können Sie sehr gut ambulant bei einem Kollegen in Hohenborn machen, ich gebe Ihnen die Überweisung.«
Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, erklärte Roberta: »Das ist eine Magenspiegelung, die dauert nur ein paar Minuten, doch Sie müssen dafür entsprechend vorbereitet werden.«
Davon wollte Herr Kuhl nichts wissen.
»Können Sie denn nichts für mich tun?«, erkundigte er sich.
»Herr Kuhl, Sie können selbst etwas tun, doch das erfordert sehr viel Disziplin …«
Er unterbrach sie.
»Und daran habe ich es bislang immer mangeln lassen. Ich dachte immer, dass es schon irgendwie gehen würde. Aber das jetzt, das ist Hölle. Was muss ich tun, Frau Doktor, um diese Magenspiegelung zu vermeiden?«
»Die zu machen, das würde ich Ihnen auf jeden Fall empfehlen, und bis die Beschwerden verschwunden sind, sollten Sie fasten.«
Als sie seinen entsetzten Blick bemerkte, schwächte sie ab: »Herr Kuhl, nehmen Sie verträgliche Vollwertkost zu sich, Haferbrei, Kartoffelpüree, essen Sie Zwieback, trinken können Sie Gemüsesäfte. Worauf Sie verzichten müssen, das sind Zigaretten, Alkohol, fettes und scharfes Essen, und Sie müssen sich bewegen. Wenn Sie sich an alles halten, kann diese akute Gastritis vorübergehen, wenn nicht, dann wird sie chronisch.«
Er sagte zunächst nichts, blickte ganz niedergeschlagen zu Boden, kämpfte mit sich.
»Ich habe mir alles selbst zuzuschreiben, Sie haben mich gewarnt, doch ich habe Ihre Warnungen in den Wind geschlagen, und jetzt habe ich die Quittung.«
Seine Frau trat neben ihn, legte fürsorglich einen Arm um seine Schulter.
»Schatz, ich helfe dir bei allem, und mach nicht so ein entsetztes Gesicht, was du essen darfst, das kann man sehr lecker zubereiten. Und das Rauchen willst du jedes Jahr an Neujahr aufgeben. Was hindert dich daran, es dann eben mitten im Jahr zu beginnen?«
Er blickte sie schief an.
Roberta kam Frau Kuhl zur Hilfe.
»Sie tun es für sich, Herr Kuhl, und Sie werden sich hinterher viel besser fühlen, Sie werden ganz andere Energien bekommen.«
»Haben Sie nicht etwas, was ich einnehmen kann, Frau Doktor?«, erkundigte er sich schließlich.
»Herr Kuhl, Ihnen ist bekannt, dass ich nicht zu den Ärzten gehöre, die ihren Patienten die Pillen verschreiben wie bunte Smarties. Es liegt bei Ihnen, die Gastritis in den Griff zu bekommen, aber gut, ich lasse Ihnen homöopathische Tropfen hier, die sehr wirksam sind ohne viele Nebenwirkungen zu haben. Davon nehmen Sie bitte eine Woche lang dreimal täglich, bevorzugt nach den Mahlzeiten, jeweils fünfzehn Tropfen ein, danach reduzieren Sie auf jeweils zehn Tropfen, und das ebenfalls eine Woche, und danach kommen Sie in meine Praxis, es muss eh noch eine Blutuntersuchung gemacht werden, und dann sehen wir weiter. Was Sie nicht mehr tun sollten, damit fangen Sie bitte sofort an, ebenfalls mit der Ernährung.«
Es gefiel ihm nicht, doch die Schmerzen wollte er auch nicht mehr haben, und anlegen mit der Frau Doktor wollte er sich auch nicht. Die wusste, was sie tat, und wenn er ehrlich war, dann wusste er auch, dass er sich selbst alles zuzuschreiben hatte.
Roberta holte die Tropfen aus ihrem Arztkoffer, dann gab sie noch ein paar Ratschläge, ehe sie sich von den Kuhls verabschiedete. Sie hoffte sehr darauf, dass er wirklich etwas verändern würde. Sie konnte es ihm nicht befehlen, er war ein gestandener, erwachsener Mann.
Frau Kuhl begleitete sie zur Tür.
»Danke, Frau Doktor, ich weiß gar nicht, wie wir das wieder gutmachen sollen.«
»Frau Kuhl, ich mache nur meinen Job.«
»Aber den müssen Sie nicht an Ihrem freien Tag machen, Frau Doktor.«
Sie entschuldigte sich noch einmal, bedankte sich voller Überschwang. Es wäre noch eine Weile so weitergegangen, hätte Roberta sich nicht verabschiedet.
Sie wollte jetzt nur noch nach Hause.
Als sie über den Hof fuhr, lief eine schwarze Katze von rechts nach links.
Was sagte Nicki doch immer?
Wie musste eine schwarze Katze laufen, damit es Glück brachte?
Es dauerte eine Weile, ehe Roberta drauf kam. Ja, so war es … »Von rechts nach links, Glück bringt’s.«
Da konnte man mal sehen, wie unsinnig solche Sprüche waren.
Was sollte ihr denn heute noch Glück bringen?
Sie würde es sich daheim gemütlich machen, aber vielleicht war das ja schon Glück, wenn man ein schönes Zuhause hatte. Doch um das zu schätzen, da musste einem keine schwarze Katze über den Weg laufen.
Es fing an zu regnen, der Wind trieb trockenes Laub vor sich her oder es begann als feuchte Klumpen zusammenzupappen.
Roberta gab Gas, fuhr schneller. Jetzt hatte sie nur noch einen Wunsch, es sich mit einer weichen, warmen Decke auf dem Sofa gemütlich zu machen. Und ja, sie würde es sich gestatten, von Lars zu träumen, vorbehaltlos und ohne sauer auf ihn zu sein. Er konnte nichts für ihre Wünsche und Träume.
Als Roberta vor ihrem Gartenzaun hielt, weil sie keine Lust hatte, den Wagen in die Garage zu fahren, riss Alma oben die Haustür auf. Sie musste auf sie gewartet haben. Sie war ganz aufgeregt, kam ihr sogar ein paar Schritte entgegen, ergriff sie bei der Hand.
»Da sind Sie ja endlich, Frau Doktor«, rief sie, »es ist etwas für Sie abgegeben worden. Sie werden sich sehr freuen.«
Nun war Roberta aber wirklich neugierig. So hatte sie Alma, die eher distanziert war, noch nie erlebt.
Alma führte sie ins Wohnzimmer, dort stand in einer wunderschönen Vase ein üppiger Strauß herrlicher roter Rosen, daneben stand ein kleines, längliches Kärtchen.
Roberta wusste nicht, was sie davon halten sollte, Alma gab ihr keine Erklärung, sie lachte nur verschmitzt, sagte, dass sie schon spät dran sei und zu ihrer Chorprobe müsse. Und weg war sie, Roberta war allein mit diesem unglaublich schönen Rosenstrauß, deren Farbe verheißungsvoll war, ein zarter unvergleichlicher Rosenduft durchströmte den Raum.
Nachdem Roberta sich ein wenig von ihrer Überraschung erholt hatte, ging sie langsam zum Tisch, griff nach der Karte. Sie hatte es geahnt, nein, sie hatte es sich gewünscht, doch als sie die Schrift sah, begann ihr Herz stürmisch zu klopfen.
Ihre Hand zitterte, als sie die Karte aus dem Umschlag holte.
Meine Liebste, Du fehlst mir so sehr, mein Leben ist leer und einsam ohne Dich. In Gedanken bin ich immer bei Dir, ich liebe Dich.
Unterschrieben waren die Zeilen mit ›Dein Lars‹.
Wäre sie sofort nach Hause gekommen, statt ins Haus am See zu gehen, hätte sie sich schon früher an seinem Liebesgruß erfreuen können. Dann wäre sie nicht sauer auf ihn gewesen, hätte nicht mit ihrem Schicksal gehadert. Sie presste die Karte an ihr Herz. Auch wenn sie so weit voneinander entfernt waren, fühlte Roberta sich ihrem geliebten Lars augenblicklich so nahe, als stünde er direkt neben ihr.
Lars dachte an sie, auch in Schnee und Eis, bei klirrender Kälte, bei seinen Eisbären, die eine so wichtige Rolle in seinem Leben spielten, dass er darüber schreiben musste.
Sie fehlte ihm!
Er liebte sie!
Roberta hatte ganz weiche Knie, als sie sich in einen Sessel fallen ließ. Dann erinnerte sie sich an seinen Pullover, den holte sie rasch aus ihrer Tasche heraus, setzte sich erneut hin. Dann presste sie den Pullover und die Karte mit seinen liebevollen Worten ganz fest an sich. Nach einem letzten bewundernden Blick auf diese herrliche Pracht schloss sie die Augen. Dann gab sie sich ihren Träumen hin. Ja, auch eine tüchtige, erfolgreiche und vernünftige Frau Doktor konnte träumen. Sie war schließlich nicht nur Ärztin, sondern in erster Linie eine Frau mit Wünschen und Hoffnungen.
Der zarte, süße Rosenduft hüllte sie ein wie ein warmes, weiches Tuch.
Lars …
Der Mann in ihrem Leben …
Ihre große, die wahre Liebe …
Tiefe Glücksgefühle durchpulsten Roberta. Irgendwann kam ihr die schwarze Katze wieder in den Sinn. Die Katze war von rechts nach links gelaufen, das war eindeutig. Und ihre Freundin Nicki schwor darauf, dass es Glück bedeutete.
Ein Zeichen?
Sie hatte es nicht so mit den Zeichen, auch das war eindeutig Nickis Metier.
Vielleicht sollte man so etwas doch nicht einfach abtun.
Sie musste ein wenig Abbitte tun, und natürlich würde sie Nicki das alles auch erzählen. Die würde sich freuen und vermutlich sogar ein wenig triumphieren. Was sollte es. Roberta kam es nur darauf an, ihr Glücksgefühl mit ihrer besten Freundin zu teilen. Auch wenn das vermutlich keine so gute Idee war. Nicki weinte noch immer diesem Phantom Mathias nach, mit dem es angeblich für Nicki Liebe auf den ersten Blick gewesen war.
Nicki und ihre Männer. Man konnte nie sagen, was da wirklich los war, und die Ärmste hatte leider auch schon so manchen Fehlgriff getan. Bislang hatten sich all ihre Männer als Frösche erwiesen, die Frösche geblieben waren und sich nicht in Prinzen verwandelt hatten. Bis auf Roberto …
Nein!
Diesen Gedanken wollte Roberta jetzt nicht fortsetzen, es ging nicht um Nicki, nicht um Roberto, nicht all die anderen Lebensabschnittsgefährten, auch nicht um Mathias.
Es ging um sie und ihren Lars.
Ein wenig würde sie von ihm noch träumen, und dann würde sie doch Nicki anrufen, sie musste ihr Glück mit jemandem teilen. Aber das eilte nicht so.
Es war so herrlich, einen Menschen im Leben zu haben, den man liebte, von dem man geliebt wurde.
Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen war ihr Prinz, auch wenn er nicht auf einem weißen Pferd in ihr Leben geritten kam, sondern dass ganz unromantisch ein Autocrash die Ursache ihres Kennenlernens gewesen war, ausgerechnet von ihr verursacht.
Und das war kein Zeichen gewesen, sondern sie hatte nicht aufgepasst.
Und das mit dem Prinzen auf dem weißen Pferd sollte man auch nicht überbewerten. Solche Geschichten gab es nur in Filmen, im Märchen und in Träumen.
Ach ja, Träume …
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
Die konnten ja so schön sein!
*
Inge Auerbach kam gerade aus der Waschküche, eine Maschine mit Weißwäsche lief, als Werner aus seinem Arbeitszimmer kam.
Seit ihrer Aussprache hatte sich einiges verändert zwischen ihnen, und das gefiel Inge überhaupt nicht. Na klar hatte sie sich gewünscht, mehr von ihrem Mann zu haben. Das bedeutete jedoch nicht, dass er alle Aktivitäten aufgab, nur noch von zu Hause arbeitete und ansonsten herumlief wie Falschgeld.
»Sollen wir um den See laufen?«, erkundigte er sich.
Inge sah ihn an.
»Wie kommst du jetzt darauf, Werner, das Wetter lädt nicht unbedingt zu einem Spaziergang am See ein. Hast du schon mal rausgesehen? Es nieselt, es ist windig und alles ist Grau in Grau.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich dachte nur …, ich weiß doch, wie gern du um den See läufst, und das Wetter macht dir nichts aus. Und heute haben wir doch noch nichts gemeinsam gemacht. Oder willst du nach Hohenborn fahren? Hast du eine andere Idee?«
Inge erholte sich von ihrer Verblüffung.
»Ja, Werner, ich habe eine andere Idee. Wir trinken jetzt zusammen einen Kaffee. Und dann reden wir. Das ist dringend notwendig. So geht es nicht weiter mit uns.«
Er folgte ihr.
»Gefällt es dir auch nicht mehr, im Gästezimmer zu schlafen?«, erkundigte er sich hoffnungsfroh. »Ziehst du wieder in unser gemeinsames Schlafzimmer ein?«
Inge bemühte sich, jetzt ganz ruhig zu sein. Werner hatte überhaupt nichts begriffen. Zwischen ihnen war eine ganze Menge Porzellan zerschlagen worden. Das musste erst mal wieder gekittet werden. Und es war nicht mit einem Spaziergang um den See getan.
Inge antwortete nicht sofort, kochte Kaffee, stellte Werner noch eine Schale mit Keksen hin, in die er schon langte, ehe der Kaffee vor ihm stand.
Als sie sich gegenübersaßen und ihren Kaffee tranken, sagte Inge: »Werner, deine letzte Frage möchte ich sofort beantworten. Ich schlafe sehr viel ruhiger, seit ich mich da oben einquartiert habe, und ich möchte das auch so belassen. Du bist ein so unruhiger Geist, geisterst nachts herum. Es haben viele Eheleute getrennte Schlafzimmer. Ich möchte es für mich da oben einrichten, und dir machen wir es auch gemütlich.«
Er wollte aufbegehren, doch Inge blieb ganz ruhig. Hier ging es um eine Grundsatzentscheidung, die sich erst aus dem ergeben hatte, was zuvor erfolgt war. Da hatte Inge gebockt, hatte Werner strafen wollen. Das war längst vorbei, sie war nicht mehr sauer auf ihren Mann, doch es musste noch einiges ausgesprochen werden, ehe sie wieder ganz normal miteinander umgehen konnten.
»Werner, es gibt zwischen uns keine Strichliste, die abgehakt werden muss oder ein Punktsystem nach dem Motto, wer die meisten Punkte hat, der gewinnt den Pokal. Ich möchte, dass wir wieder ganz normal miteinander umgehen. Ich möchte nicht, das du alles tust, um meine Erwartungshaltung zu gewinnen. Ich habe keine, ich wünsche mir, mit dir mehr Zeit zu verbringen, weil ich dich liebe. Ich möchte nicht irgendwann verpassten Möglichkeiten nachtrauern.«
Er schob seine Kaffeetasse beiseite, dass der Kaffee überschwappte, sich auf dem schönen alten Holz hässliche braune Flecken zeigten.
Inge sprang auf, wischte die sofort weg.
Werner brummte: »Muss das jetzt sein?«
»Ja, mein Lieber, so etwas nennt man Schadensbegrenzung.«
Nachdem der Schaden beseitigt war, setzte Inge sich wieder ihn, blickte ihren Mann an. »Werner, wenn wir jetzt keinen Weg für ein Miteinander finden, dann driften wir immer mehr auseinander. Das möchte ich nicht.«
Er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, ihm gefiel die ganze Situation ebenfalls nicht, und ihm war klar, dass er durch sein Herumchaoten alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Aber Werner Auerbach, der begnadete Professor, konnte reden, er konnte vollgefüllte Säle mitreißen. Daheim wollte er es sich immer einfach machen, da hatte er keine Lust auf Diskussionen.
»Kannst du mir vielleicht mal verraten, was du eigentlich möchtest? Ich habe deinetwegen mein ganzes Leben umgekrempelt, ich habe alle Termine gestrichen.«
»Und deswegen läufst du hier herum wie ein in einen Käfig gefangener Tiger. Werner, warum lässt du erst alles schluren, und dann machst du einen Rundumschlag, ohne vorher nachzudenken oder es mit mir abzusprechen.«
Er fühlte sich in die Enge gedrängt.
»Was soll ich denn mit dir absprechen? Du bist doch gegen alles, was ich tue. Außerdem, ich habe alles für dich getan.« So ging es nicht weiter. Sie drehten sich im Kreis.
»Werner, du hast es, so hoffe ich, für uns getan. Doch du hast maßlos übertrieben. Du musst nicht auf jeder Hochzeit tanzen, doch die wichtigen Termine, die großen Kongresse, solltest du weiterhin in deiner Agenda haben. Wenn du es so handhabst, dann bleibt noch genügend Zeit für uns, die wir gemeinsam miteinander verbringen können.«
Er blickte sie ein wenig schief von der Seite an, und Inge begann ihm zu erklären, wie sie sich das gemeinsame Leben miteinander vorstellen, wobei die Betonung auf dem Wort gemeinsam lag.
Sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, weil sie befürchtete, dass er versuchen würde, alles umzukehren, damit er in einem guten Licht dastand.
Sie hielt ihm vor Augen, wie ihr Leben abgelaufen war, sie konnte auch ganz konkrete Beispiele nennen, in denen es besonders krass gewesen war.
Als sie mit ihrer Ansprache fertig war, war es ganz still im Raum. Werner war erschüttert, er war regelrecht fix und fertig. So hatte Inge noch nie mit ihm gesprochen. Ihm wäre es jetzt wirklich lieber gewesen, sie hätte ihn anklagend angesehen, sie hätte geweint, sie hätte geschrien. Sie war ganz ruhig gewesen, und er fühlte sich jetzt so richtig schlecht.
»Mein Gott, Inge, warum hast du denn nicht schon früher etwas gesagt?«, rief er. »Was war ich bloß für ein grenzenloser Egoist. Es ist mir überhaupt nicht bewusst geworden, wie sehr ich mein Ding mache. Du hast ja immer mal etwas gesagt, aber heute, da hast du mir wirklich die Augen geöffnet, und ich schäme mich vor mir selbst. Du hättest die Kinder gegen mich aufhetzen können. Ich weiß überhaupt nicht, was du alles hättest tun können. Wäre ich an deiner Stelle, ehrlich mal, ich hätte mich verlassen.«
Er stand auf, ging um den Tisch herum, nahm sie in seine Arme, drückte sie ganz fest an sich. »Inge, mein Herz, bitte verzeih mir. Ich will niemals mehr große Worte machen, sondern ich will meinem Gerede Taten folgen lassen. Bitte, hilf mir dabei, mit dir auf den richtigen Weg zu kommen. Meine Familie, das ist mein Fundament, und du … du … du bist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte, und ich habe alles so mit Füßen getreten.«
Sie lehnte sich an ihn. Sie waren sich sehr nahe, es war ein sehr intimer Augenblick, weil Werner die Fassade, dieses beeindruckende Äußere, abgelegt hatte.
Er schwang jetzt keine beeindruckende Rede. Nein, er war ehrlich, und er hatte Angst, sie zu verlieren.
Sie küssten sich, und in diesem Kuss lag nichts weiter als Liebe. Es war beinahe so wie früher, als sie die ersten Küsse miteinander getauscht hatten, als sie sich behutsam und ganz vorsichtig nähergekommen waren.
Es war wie die klare, reine Luft nach einem Gewitter, in diesem Moment lag Magie. Und wer weiß, was nicht noch geschehen wäre, hätte es plötzlich nicht ein fürchterliches Getöse gegeben.
Pamela kam ins Haus gepoltert, Luna schoss an ihr vorbei, begrüßte Inge und Werner, die stoben auseinander, denn Luna sah grauenvoll aus, von ihrem eigentlich wunderschönen Fell konnte man gerade noch ein wenig Weiß sehen. Sie musste sich irgendwo gewälzt haben.
»Luna, komm zurück«, erklang Pamelas Stimme, ehe auch sie in die Küche geschossen kam. Sie blickte ein wenig verwundert ihre Eltern an. Sie um diese Zeit gemeinsam zu sehen, das war neu. Doch jetzt konnte man natürlich auch verstehen, warum Luna es so eilig gehabt hatte.
Pamela blickte ihre Eltern an.
»Tut mir leid, durch den vielen Regen haben sich am See überall morastige Tümpel gebildet, und Luna war wie besessen, sie konnte keinen von denen auslassen. Sie wollte auch, ganz im Gegensatz zu sonst, überhaupt nicht hören.«
Normalerweise wäre ihr Vater jetzt ungehalten gewesen, heute nicht.
»Aber Kind, es ist doch nichts passiert.« Das sagte der Professor, dabei hatte seine Hose einige Flecken abbekommen. Pamela konnte sich nur wundern.
»Ich mache Luna nur sauber, dann komme ich zu euch zurück. Lasst mir bitte ein paar von den Keksen übrig, die sind nämlich superlecker.«
»Mach dir keine Sorgen, Kind. Wenn du Lust hast, dann können wir uns danach unterhalten, oder wir können, ganz wie in alten Zeiten, ein Spiel machen.«
Pamela kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was war denn mit ihrem Vater los? Hatte er Kreide geschluckt?
»Ein Spiel?«, erkundigte Pamela sich, weil sie glaubte, sich verhört zu haben. »So etwas wie Kniffel oder Mensch ärgere dich nicht?«
Professor Auerbach lächelte seine Jüngste an.
»Was immer du willst, mein Kind.«
Jetzt hatte Pamela es eilig, diese Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen lassen. Es war lange her, dass sie mit ihren Eltern ein Spiel gemacht hatte.
»Luna, komm«, rief sie, doch die starrte nur unverwandt die Keksschale an. Labradore waren bekannt dafür, wie vernascht sie waren. Und vielleicht fiel ja etwas für sie ab, wenn sie nur lange genug die Kekse anstarrte. Im Nachbarhaus klappte das meistens.
Hier nicht.
»Fräulein, du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich jetzt auch noch dafür belohne, dass du so zickig warst? Oh nein. Luna, komm jetzt gefälligst.«
Diesen Tonfall kannte Luna, wenn Pamela so sprach, dann war mit ihr nicht zu spaßen, sie folgte Pamela, nicht ohne einen letzten Blick auf die verlockenden Kekse.
Inge und Werner waren wieder allein.
»Werner, du weißt schon, was du da gesagt hast, oder? Ich könnte darauf wetten, dass Pamela dein Angebot annehmen wird. Du weißt doch, wie verrückt sie nach allen Spielen ist. Sie kann nicht genug bekommen.«
Er lächelte.
»Ich weiß«, antwortete er, »und ich werde alles daransetzen, sie nicht gewinnen zu lassen. Ich glaube, ich hole die Spiele schon mal.«
Er verließ den Raum, und es dauerte nicht lange, als er mit einem ganzen Stapel von Spielen wiederkam. Und wenig später kam auch Pamela mit einer sauberen Luna zurück.
Pamela stürzte sich auf die Kekse, und Inge konnte nicht anders, sie griff klammheimlich in die Schale und steckte Luna zwei Kekse zu, was die mit einem dankbaren Blick belohnte.
Es war beinahe so wie früher, es wurde lange darüber diskutiert, welches Spiel denn zuerst gespielt werden sollte, und wie früher setzte Pamela sich durch, die damals noch Bambi hieß. Doch das musste in einem anderen Leben gewesen sein.
Inge wusste überhaupt nicht, was sie von allem halten sollte. Eine solche Harmonie, ein so aufgeschlossener Werner.
Ehe sie begannen zu spielen, bemerkte Werner so ganz nebenbei: »Ach, ehe ich vergesse, es zu sagen. Mein Arbeitszimmer kann auch betreten werden, wenn ich dort arbeite. Eine kleine Abwechslung tut immer gut.«
Er warf seiner Jüngsten einen liebevollen Blick zu.
»Es würde mich wirklich freuen.«
Dann schaute er Inge an, doch der brauchte er keine Worte zu sagen, auch Blicke konnten Bände sprechen.
War es nur ein Ausrutscher, oder hatte Werner endlich wirklich begriffen, worum es ging?
Inge war noch immer ein wenig skeptisch. Die Zeit würde es zeigen.
Aber es war ein guter Anfang. Ein guter Anfang? Das war untertrieben, es war grandios!
Sie begannen zu spielen, und es dauerte nicht lange, da erklang Pamelas Stimme: »Papi, du mogelst. Ich habe genau gesehen, dass du eine vier gewürfelt hast, aber du bist fünfmal weitergezogen.«
Es war wirklich so wie früher.
Inge war an der Reihe.
»Und während ihr euch streitet, schmeiße ich den roten Stein schon mal raus. Tut mir leid, Werner, du hast nicht aufgepasst.«
Pamela jubelte.
»Das hast du gut gemacht, Mami«, was sie allerdings nicht daran hinderte, wenig später ihre Mutter kurz vor dem Ziel hinauszuwerfen, und das mit dem allergrößten Vergnügen.
Es war nicht zu glauben, wie sich die Stimmung im Hause Auerbach verändert hatte, alle lachten, hatten Spaß miteinander. Für Inge und Werner war es, als habe es ihre Krise niemals gegeben, und Pamela dachte nicht an ihren Freund Manuel, den sie vielleicht niemals mehr in ihrem Leben sehen würde.
Es war wie früher!
Irgendwann rief Inge: »Es tut mir leid, doch ich muss mich jetzt ausklinken, denn sonst bekommt ihr heute Abend nichts zu essen.«
Wieder wuchs Werner Auerbach über sich hinaus und versetzte alle ins Staunen.
»Wir können in den ›Seeblick‹ gehen«, schlug er vor. »Und, Inge, frag doch mal deine Eltern, ob sie keine Lust haben, mitzukommen. Ich lade euch selbstverständlich ein, denn heute ist ein besonderer Tag, und ich finde, dass so was gehörig gefeiert werden.«
Pamela kicherte.
»Papi, hast du etwa den Nobelpreis erhalten, und ich habe das nicht mitbekommen?«
Der Professor schenkte seiner Tochter einen liebevollen Blick, strich ihr übers Haar. »Viel mehr, mein Kind, ich habe begriffen, worum es wirklich geht.«
Das hinterfragte Pamela nicht, es interessierte sie in keiner Weise. Es ging bestimmt wieder um eine wissenschaftliche Formel, die außer ihrem Papi kein Mensch verstand.
Inge wurde rot. Pamela bekam das mit, doch sie war fest davon überzeugt, dass ihre Mami sich freute, weil sie heute nicht kochen musste. Und der ›Seeblick‹ war etwas Besonderes, dorthin gingen sie alle gern.
Pamela sprang von ihrem Stuhl auf.
»Darf ich zu den Großeltern gehen und sie fragen?«, erkundigte sie sich aufgeregt.
Sie durfte natürlich und stob davon, gefolgt von Luna, die durchaus wusste, warum sie so gern nach nebenan ging.
Werner und Inge waren allein. Es breitete sich eine leichte Verlegenheit zwischen ihnen aus, die Inge unterbrach, indem sie sagte: »Danke, Werner.«
Er war ein wenig irritiert, wusste nicht, wofür Inge sich jetzt bedankte.
»Für alles«, sagte sie, »für unser Gespräch und dafür, dass du dir für uns Zeit genommen hast. Pamela hat es genossen, und ich muss sagen, dass es mir auch Spaß gemacht hat, wieder einmal ganz unbeschwert zu spielen.«
Er bestätigte, dass auch er es genossen hatte.
»Inge, ich habe begriffen, dass es so wenig ist, was du willst. Ich bin bereit, dir mehr zu geben. Auf jeden Fall ist es der erste Schritt in die richtige Richtung.«
Er wollte aufstehen, um sie erneut in die Arme zu nehmen, doch das ging nicht. Pamela kam zurück, natürlich mit Luna, wie konnte es anders sein, und brüllte: »Die Großeltern freuen sich, die kommen gern mit.«
Das war schnell gegangen, doch die Auerbachs sahen sehr schnell, warum, Teresa und Magnus von Roth folgten ihrer Enkelin, und Magnus erkundigte sich: »Könnt ihr uns mal sagen, was hier los ist?«
Pamela kicherte. »Die Großeltern wollen sich selbst überzeugen.«
»Ganz einfach«, erklärte Werner, »wir wollen heute bei uns mal die Küche kalt lassen. Der ›Seeblick‹ hat sich mittlerweile zu einem so großartigen Restaurant entwickelt. Man kann ja schon von einem Gourmet-Tempel sprechen. Ich freue mich auf einen gemütlichen Abend mit euch allen!«
Alles war bestens geregelt, und da sie nun noch etwas Zeit hatten, konnte Pamela ihre Großeltern dazu überreden, mit ihnen zu spielen, und da sagten die natürlich nicht nein.
Es wurde viel gelacht, ein wenig auch gestritten, das gehörte dazu. Nur Inge hielt sich ein wenig zurück. Ein wenig glaubte sie zu träumen, weil sich das Blatt so schnell gewendet hatte.
Aber Werner hatte es schon richtig beziffert. Es war der erste Schritt in die richtige Richtung. Es war schon unglaublich viel, dass der getan war.
Pamela stieß ein wahres Indianergeheul aus, denn sie hatte nun schon zum zweiten Male hintereinander gewonnen, ganz knapp vor ihrem Opi.
Alle waren sie froh, nur Luna war ein wenig beleidigt. Sie war es nicht gewohnt, kaum Beachtung zu finden. Ein kleines, leckeres Leckerli hätten sie ihr ja wenigstens geben können. Als Luna klar wurde, dass hier wirklich nichts zu holen war, zog sie sich in die Diele zurück und legte sich vor die Haustür. Die konnte sie ein bisschen bewachen, und vielleicht kam da ja noch jemand herein, der es gut mit ihr meinte.
Die Zeit schritt voran, der Abend zum Genießen im ›Seeblick‹ konnte für die Auerbachs und die von Roths beginnen.
*
Rosmarie Rückert war ein spontaner Mensch, wenn sie etwas beschäftigte, dann musste es heraus. Da konnte man sie mit einer Flasche Champagner vergleichen, aus der es auch heraussprudelte, wenn man den Korken gelöst hatte.
Mochte man es altersweise nennen. Es hatte sich da etwas bei ihr geändert. Aber es lag vermutlich in erster Linie daran, dass sie ihren Heinz kannte, und das durch und durch.
Heinz liebte keine Überraschungen, und man musste den richtigen Zeitpunkt abwarten, wenn man ihm etwas Wichtiges verklickern wollte.
Heute war der richtige Zeitpunkt, da war Rosmarie sich sicher. Sie verbrachten einen gemeinsamen Abend zu Hause, was in erster Linie an dem grauenvollen Wetter lag. Es war kalt, stürmisch, und es regnete Bindfäden. Da jagte man keinen Hund auf die Straße. Sie hatten lecker gegessen, jetzt saßen sie sich mit einem köstlichen Rotwein gegenüber, waren entspannt, nur Heinz meckerte darüber, dass im Fernsehen überhaupt nichts zu sehen war.
Ehe er nun auf die Idee kam, sich einen der vielen Filme anzusehen, die sie entweder im Haus hatten oder herunterladen konnten, sagte Rosmarie rasch: »Heinz, wir müssen miteinander reden.«
Heinz Rückert stellte das Glas ab, das er gerade zum Mund führen wollte, warf seiner Frau einen schrägen Blick zu.
Wenn Rosmarie reden wollte, das konnte vieles bedeuten. Sie hatte hoffentlich nicht wieder eine Idee, was man mit der Villa noch machen konnte. Dieses Thema war eigentlich durch, und wenn sie sich Schmuck und Klamotten kaufen wollte, da musste sie ihn nicht fragen. Da war er großzügig, doch das nahm Rosmarie ja schon lange nicht mehr in Anspruch. »Willst du noch einen Hund aus dem Tierheim holen?«, erkundigte er sich. »Das ist keine gute Idee. Wir haben doch schon Beauty.«
Die hörte ihren Namen, kam unter dem Tisch hervorgekrochen. Heinz streichelte die kleine, hübsche Beagledame. Er war ja am Anfang dagegen gewesen, doch das hatte sich längst geändert. Er liebte Beauty mittlerweile nicht weniger, als Rosmarie es tat.
Rosmarie trank einen Schluck, dann sagte sie: »Heinz, es geht um uns.«
Auf Auseinandersetzungen hatte er jetzt wirklich keine Lust. Sollte Rosmarie sich etwas kaufen, eine verrückte Idee realisieren, die hatte sie manchmal. Doch wenn es um sie beide ging, da war mit Rosmarie manchmal nicht gut Kirschen essen.
»Muss das jetzt sein?«, versuchte er, sich um ein Gespräch zu drücken, »wir sitzen gerade so nett zusammen, und …«
Sie vollendete den Satz für ihn, »du langweilst dich.«
Heinz Rückert ergab sich in sein Schicksal, gegen Rosmarie kam er nicht an. In seinem Beruf als Notar machte ihm wirklich niemand etwas vor, da war er clever, gesucht. Im Privatleben allerdings gab meistens Rosmarie den Ton an, er war viel zu träge.
»Heinz, du hast mir nun schon so oft versprochen, nicht mehr so viel zu arbeiten, dein Nachfolger steht in den Startlöchern, doch nichts passiert.«
Er verdrehte die Augen, er kannte dieses leidige Thema. Ehe er eine Antwort gab, musste er erst einmal etwas trinken. Er nahm einen kräftigen Schluck des köstlichen Rotweins.
»Meine liebe Rosmarie, ich weiß, ich weiß. Doch so einfach ist es nicht. In meiner Position kann man nicht so einfach aussteigen. Ich bin kein Angestellter, der seine Arbeitsjahre auf dem Buckel hat und in Rente gehen darf.«
Das war für Rosmarie kein guter Vergleich.
»Nein, mein Lieber, dir geht es besser. Du musst nicht durchhalten, um im Alter einigermaßen leben zu können. Du kannst aussteigen, jederzeit. Und du musst nicht warten, bis du die Altersgrenze erreicht hast. Außerdem, darüber müssen wir nicht diskutieren, du hast es mir versprochen. Und damals, als Cecile in deinem Leben aufgetaucht ist, wolltest du sogar dein Notariat verkaufen, schon vergessen?«
Wenn Rosmarie doch bloß nicht ein so gut funktionierendes Gedächtnis hätte!
»Rosmarie, es geht nicht, wenn es an der Zeit ist, wenn ich es einrichten kann, werde ich auf deine Wünsche eingehen.«
Rosmarie ließ die Bombe los.
»Werner Auerbach kann es, und der ist doch, weiß Gott, wichtiger und bedeutender als du. Er ist ein international anerkannter und gesuchter Wissenschaftler.«
»Der viel weniger daheim ist als ich. Er schwirrt andauernd in der Welt herum, ich komme jeden Abend nach Hause. Das ist ja wohl ein Unterschied.«
Rosmarie winkte ab.
»Heinz, Werner hat alles abgesagt, und dass es so ist, das weiß ich von Inge. Und sie hat mir sogar gesagt, dass sie drauf und dran war, Werner zu verlassen.«
»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte er im Brustton der Überzeugung. Es war für ihn nicht vorstellbar. Inge und Werner, die gehörten zusammen wie das Wasser und das Meer, wie … Er hätte jetzt noch viele Beispiele anführen können.
»Lieber Heinz, du musst es glauben«, Rosmaries Stimme klang unerbittlich, und sie konnte nur hoffen, Inge würde es ihr verzeihen, dass sie darüber redete. Sie hatten dummerweise nicht darüber gesprochen, ob sie es Heinz erzählen durfte. Doch was sollte dagegen sprechen? Sie waren schließlich Familie, auch wenn sie angeheiratet waren. Sie holte tief Luft. »Werner und Inge schlafen sogar in getrennten Zimmern.«
Heinz Rückert merkte, wie sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Es war ein für ihn unvorstellbarer Gedanke, das konnte nicht sein. Rosmarie und er waren immer zusammen gewesen, seit sie in sein Leben getreten war und ihn aus seinem Tief um seine verlorene Liebe Adrienne geholt hatte. Er war für die attraktive Rosmarie nicht die erste Wahl gewesen, doch ihm hatte immer gereicht, was sie zu geben bereit gewesen war. Rosmarie hatte Schwung in sein Leben gebracht, und ihretwegen hatte er sich noch mehr angestrengt, in seinem Beruf erfolgreich zu sein, obschon er schon aus vermögenden Verhältnissen stammte und sie niemals Sorgen um seinen Lebensstandard machen musste.
Das mit den getrennten Schlafzimmern klang wie eine Drohung. »Rosmarie, du hast doch jetzt nicht die Idee …, ich meine …, du denkst doch nicht daran …«
Er brachte es einfach nicht fertig, seinen Satz zu beenden, weil eine solche Vorstellung zu gruselig war.
»Heinz, mit so was würde ich dich niemals erpressen, ich habe nur versucht klarzumachen, dass man manchmal nicht anders kann und dann eben zu nicht ganz so schönen Mitteln greifen muss.«
Das war vielleicht noch keine Erpressung, aber es war eine Drohung, und das war genauso schlimm.
»Und was erwartest du, Rosmarie?«, ächzte er.
Rosmarie war klug, und sie war, wie man manchmal im Volksmund so schön sagte ›dreimal chemisch gereinigt‹.
»Mein Liebling, ich erwarte doch nichts«, sagte sie zuckersüß, »ich wünsche mir nur etwas.«
»Und was?«, konnte er gerade noch herausbringen.
»Wie gesagt, dass du mehr Zeit mit mir verbringst, das ist alles, was ich möchte, und deshalb ist es mir wichtig, dass du mich nicht andauernd vertröstest, sondern dass endlich etwas passiert.«
»Und was?«, wiederholte er seine letzte Frage.
Inge ließ sich Zeit mit der Antwort, sie trank etwas Wein, beugte sich zu Beauty herunter, die es sich mittlerweile zu ihren Füßen gemütlich gemacht hatte, streichelte sie.
»Ich wünsche mir, dass wir Cecile in Paris besuchen und das nicht nur für ein Wochenende, und dann möchte ich gern sehen, wie Stella, Jörg und die Kinder in Stockholm leben. Ist das denn zu viel verlangt, mein Heinz?«
Rosmarie schaffte es immer wieder, die Dinge so zu drehen, dass er nicht widersprechen konnte, um nicht als Spielverderber zu erscheinen. Und, wenn sie sich damit zufrieden gab, dann ging ja der Kelch noch mal an ihm vorüber, im Notariat kürzertreten zu müssen. Ein, zwei Wochen, das konnte er einrichten, das war ja so etwas wie Urlaub.
Von wegen!
Er hatte es kaum abgenickt, als sie sagte: »Und dann können wir uns auch mal Gedanken darüber machen, ob wir nicht irgendwo im Süden überwintern.«
Er blickte sie entsetzt an, und ihr dämmerte, dass ihr Heinz noch lange nicht bereit war, sein Leben zu verändern.
»Okay, mein Lieber, ich will dich natürlich nicht unter Druck setzen, die andere Alternative ist doch, dass du bleiben kannst, und ich fahre dann eben allein. Du hast deine Arbeit, kannst in der Villa nach dem Rechten sehen. Und, ach, natürlich nehme ich Beauty mit.«
Er unternahm einen letzten Versuch. »Ich bin Notar, Rosmarie, die Leute kommen zu mir, weil sie Vertrauen zu mir haben, weil sie wollen, dass ich die Beurkundungen vornehme. Wie stellst du dir das vor?«
»Ganz einfach, Heinz, du hast keine Arbeit auf Halde liegen, deine Beurkundungen erfolgen relativ zeitnah. Du weist deine Klienten darauf hin, dass ein anderer die Beurkundung vornehmen muss oder dass die Leute warten müssen, bis du wieder in dem Notariat sein wirst, und das ist ungewiss. Du hast einen so guten Namen, da können alle davon ausgehen, dass du auch entsprechend gutes Personal hast und dass dein Nachfolger von dir auf Herz und Nieren geprüft wurde und in deinem Sinne arbeiten wird.«
Er zögerte.
»Heinz, wir haben nur dieses eine Leben, und so richtig gelebt haben wir nie. Du hast Geld gescheffelt, und ich habe es unüberlegt ausgegeben, was mir mittlerweile sehr leid tut. Wir haben unser Ding gemacht, ein Leben nach außen geführt, deswegen haben wir unsere Kinder vernachlässigt, und das tut mir noch mehr leid, weil sich da nichts mehr rückgängig machen lässt. Ich möchte nicht, dass wir am Ende unseres Lebens nicht sterben können, weil uns all die verpassten Möglichkeiten erdrücken.«
Er sagte noch immer nichts, griff mit zitternder Hand nach seinem Glas. Das zeigte Rosmarie, dass er anfing zu begreifen. Sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln.
»Heinz, wir haben alles erreicht, was man kaufen kann, wir sind angesehene, oftmals beneidete Bürger der Stadt. Aber an all dem kann man sich nicht wärmen. Unsere Kinder haben das begriffen. Ist es nicht an der Zeit, dass auch wir es tun, ehe es zu spät ist?«
Heinz Rückert war ein nüchterner Notar, der nicht viele Emotionen zeigte. Damals in Paris, da war er wohl über sich hinausgewachsen, denn Adrienne Raymond war wirklich seine große Liebe gewesen, da hatte er Dinge gemacht, über die er heute nur staunen konnte. Eines war ihm klar geworden, alles war niemals von ihm ausgegangen. Adrienne hatte ihn mitgerissen mit ihrer Energie, ihrer sprühenden Tatkraft, ihrem Charme. Genau wie Rosmarie es von Anfang an gemacht hatte. Ohne die beiden Frauen, die sein Leben geprägt hatten, wäre er niemals mehr gewesen als ein dröger Notar, der nichts als Gesetze und Bestimmungen im Kopf hatte, doch das ganz exzellent. Da machte ihm niemand etwas vor, und Heinz Rückert gehörte zu den Notaren, die auch zwischen den Zeilen lesen konnte, das war seine Stärke, denn auch wenn gesetzmäßig beinahe alles reglementiert war, so war vieles eine Auslegungssache.
Sein Gespräch mit Rosmarie war es allerdings nicht. Sie hatte eine klare Ansage gemacht, und er war nicht einmal böse darum. Es stimmte, was sie sagte. Und war er nicht manchmal müde von dem täglichen Allerlei? Er stand sich selbst im Weg, weil er ein Gewohnheitsmensch war, der an allem festhielt, weil er es so kannte und deswegen nichts verändern wollte. Bloß nichts Neues. Wenn er sich daran erinnerte, wie er beinahe den Boden unter den Füßen verloren hatte, als plötzlich Cecile aufgetaucht war, seine Tochter, das Kind von ihm und Adrienne …
Nein!
Keine neue Veränderung, mit der er überrascht wurde, dann doch lieber eine gemeinsame Planung mit Rosmarie.
»Okay, packen wir es an. Du hast mich überzeugt, Rosmarie. Aber aus dem gemeinsamen Schlafzimmer wirst du doch niemals ausziehen, nicht wahr? Egal, was kommt.«
Ach, ihr Heinz!
Sie war gerührt, und dann versprach sie ihm, dass sie das niemals tun würde. Sie musste ihm ja jetzt nicht verraten, wie beruhigend es für sie war, abends neben jemandem einzuschlafen und morgens neben jemandem zu erwachen. Sie konnte nicht allein sein, und deswegen hatte sie früher auch immer in Wohngemeinschaften gelebt.
Sie blickte zufällig auf die Uhr.
»Heinz, in fünf Minuten beginnt die Übertragung dieses Sportereignisses aus den USA, das du unbedingt sehen willst«, erinnerte sie ihn. Alles war gesagt, sie gönnte ihm jetzt sein Vergnügen.
Doch welch ein Glück, dass Rosmarie gerade saß, sonst hätte es ihr jetzt den Boden unter den Füßen weggezogen.
Heinz winkte ab.
»Das ist nicht so wichtig, ich unterhalte mich lieber mit dir, Rosmarie. Du bist schon eine kluge Frau, und es stimmt alles, was du da gesagt hast. Ich möchte dich nie verlieren, weil ich dich liebe und ohne dich nicht leben könnte.«
Das aus seinem Mund zu hören, das bedeutete schon etwas. Heinz Rückert war eher bereit, seine Kreditkarte für einen unlimitierten Einkauf freizugeben als etwas Emotionales zu sagen.
»Ich liebe dich doch auch«, sagte sie leise, und diese Worte machten ihn glücklich.
Man konnte die Rückerts nicht mit den Auerbachs vergleichen. Das musste man auch nicht, alle Menschen waren verschieden, alle hatten sie unterschiedliche Lebensauffassungen, lebten das Leben so, wie es ihnen möglich war.
Rosmarie stand auf, ging zu ihrem Mann hinüber, setzte sich auf dessen Sessellehne, dann beugte sie sich zu ihm herunter und küsste ihn, sehr sanft und sehr zärtlich.
Heinz war ein guter Mann. Es hätte sie wahrhaftig schlimmer treffen können. Es passte mit ihnen, und wenn sie künftighin mehr Zeit miteinander verbringen würden, wohlgemerkt, miteinander, wer weiß, was sie dann noch entdecken würden.
Das Leben konnte ganz schön spannend sein, und jetzt haderte Rosmarie nicht einmal mehr mit ihrer prunkvollen Villa. Ihr Wohnzimmer war warm, gemütlich, und im Kamin fraß sich das Feuer knisternd in die trockenen Buchenscheite. Und es verbreitete eine wohlige Wärme.
Heinz genoss ihre Nähe, und als Rosmarie aufstehen wollte, um zu ihrem eigenen Sessel zurückzugehen, da hielt er sie fest.
»Bitte bleib«, bat er sie leise mit rauer Stimme, »es ist so schön, deine Nähe genießen zu dürfen.«
Beauty bellte, und das klang wie eine Bestätigung, vielleicht machte sie sich aber auch nur bemerkbar, weil sie Aufmerksamkeit haben wollte.
*
Roberto Andoni fuhr durch die Nacht. Es war mild, und der Himmel war voller Sterne. Doch dafür hatte er wirklich keinen Blick. Er kam vom Großmarkt, hatte gut eingekauft und hatte vor allem das bekommen, was er unbedingt haben wollte.
Roberto kaufte in der Regel heimische Produkte bei den umliegenden Biobauern ein, und er bekam auch heimische Fische. Doch wenn man ein Restaurant auf diesem hohen Niveau führte, dann war es unumgänglich, die weite Fahrt zum Großmarkt auf sich zu nehmen. Hinzu kam, dass seine Lieferanten dort für erlesenen Fisch und exotische Früchte und Gemüse nachts beliefert wurden, und das nicht in großen Mengen. Da hatte er überhaupt keine Wahl, rechtzeitig aufzubrechen, also zu Zeiten, in denen die Menschen normalerweise in ihren Betten lagen und schliefen.
Es hatte ihm früher nichts ausgemacht, und deswegen hatte er seine frühere Freundin Nicki auch nicht verstanden, die sich darüber aufgeregt und sogar deswegen von ihm getrennt hatte.
Das es ihn jetzt störte, lag auch nicht daran, dass er älter geworden war. So alt war er längst noch nicht, dass diese Großmarkteinkäufe beschwerlich für ihn waren.
Nein, dafür gab es einen anderen Grund, und der war wunderschön, hatte ein liebreizendes Gesicht, und wenn dieser Grund lachte, dann glaubte man, die Sonne ging auf.
Dieser Grund hieß Valentina und war seine kleine Tochter. Roberto hätte niemals für möglich gehalten, dass Valentina eine so dominante Rolle in seinem Leben einnehmen würde.
Schön, er war Italiener, und denen sagte man eine besondere Kinderliebe nach. Das war es nicht.
Es lag daran, dass er erkannt hatte, dass es im Leben Wichtigeres gab als den beruflichen Erfolg, die Selbstverwirklichung. An der hatte anfangs ja auch Susanne mitgearbeitet, die Frau an seiner Seite. Sie hatten die Arbeit im ›Seeblick‹ beide geliebt, und Susanne war, obwohl berufsfremd, eine ganz hervorragende Wirtin gewesen. Manchmal hatte man so etwas im Blut, und das war bei Susanne eindeutig gewesen.
Gewesen …
Susannes Arbeit im Restaurant war Vergangenheit. Sie vermisste nichts, sondern sie ging voll und ganz in ihrer Rolle als Ehefrau und vor allem als Mutter auf.
Um dieses Leben beneidete Roberto seine Frau ein wenig, obschon er ihr wirklich alles wünschte und gönnte. Sein eigener Wunsch, ebenfalls mit Frau und Kind mehr Zeit zu verbringen, wurde immer stärker. So, wie sie jetzt lebten, das war keine Lösung. Es verhielte sich vermutlich ganz anders, wenn er irgendwo einen Job mit festen Arbeitszeiten hätte. So etwas gab es in einem anspruchsvollen Restaurant wie dem ›Seeblick‹ leider nicht. Er machte da einen anstrengenden, anspruchsvollen Job, der viele Stunden Zeit erforderte, und wenn mal jemand vom Personal ausfiel, dann musste der Chef einspringen, Früher war das kein Problem gewesen.
Doch früher hatte es auch keine Valentina gegeben und keine liebende Ehefrau, die es ihm gemütlich machte, so gemütlich, dass er es nicht mehr missen wollte.
Roberto Andoni war nicht gerade bester Laune, als er oben am ›Seeblick‹ angekommen war. Es gab wirklich einen unglaublichen Sternenhimmel, doch auch jetzt hatte er keinen einzigen Blick dafür. Er fuhr den Lieferwagen vor den Lieferanteneingang, und dann begann er auszupacken. Er hatte Routine darin, wusste, wohin alles gehörte. Trotzdem erforderte es eine gewisse Zeit. Bei frischen, leicht verderblichen Lebensmitteln musste man besonders aufmerksam sein, da durfte die Kühlkette unter keinen Umständen unterbrochen werden. Nichts davon konnte man einfach erst einmal abstellen, um sich später damit zu beschäftigen. Von wegen!
Als Roberto mit seiner Arbeit fertig war und nach oben in seine oben im Haus liegende private Wohnung gehen könnte, da war es zu einer Zeit, in der viele Menschen aufstanden, um zur Arbeit zu gehen.
Roberto zog sich rasch aus, verschwand im Badezimmer. Er war froh, danach endlich ins Schlafzimmer gehen zu können. Da fiel seine Anspannung sofort von ihm ab. Es bot sich ihm ein so friedliches Bild.
Susanne lag im Bett und schlief, und neben ihr im Kinderbettchen lag die kleine Valentina und schmatzte vor sich hin.
Auf Zehenspitzen lief Roberto zu dem Bettchen, blieb dort einen Augenblick lang verzückt stehen. Solange Valentina so klein war, hatte sie sich dafür entschieden, das Bettchen im Elternschlafzimmer stehen zu lassen. Erst später würde es in das entzückend eingerichtete Kinderzimmer zurückkommen.
Das alles hier söhnte Roberto mit allem aus. Es gab keine Worte, dieses Glücksgefühl zu beschreiben.
Er musste an sich halten, das Baby jetzt nicht aus dem Bettchen zu nehmen, es an sich zu pressen. Wie sehr er die kleine Valentina doch liebte, doch nicht nur die. Auch seine Susanne war sein Leben, längst war vergessen, dass sie nicht seine erste Wahl gewesen war, da damals noch immer Nicki so präsent gewesen war.
Nicki …
Er mochte die Zeit mit ihr nicht missen, die voller Leidenschaft gewesen war. Er hatte sehr darunter gelitten, von ihr verlassen worden zu sein. Doch man lebte mit seinem Partner nicht nur im Himmel der Liebe. Man wurde sehr schnell von dem Alltag eingeholt, und ob er den mit Nicki gehabt hätte, das wagte er mittlerweile zu bezweifeln.
Alles hatte seine Zeit.
Die Zeit mit Susanne sollte niemals zu Ende gehen, er liebte sie, sie war seine zweite Hälfte. Sie hatten sich gesucht und gefunden, und auf leisen Sohlen hatte sich die Liebe in ihr Leben geschlichen.
Nach einem letzten Blick auf seine kleine Tochter legte Roberto sich in sein Bett. Susanne bekam das, obwohl er so leise gewesen war, mit, sie rutschte zu ihm herüber, murmelte schlaftrunken: »Da bist du ja, mein Liebling«, dann schlief sie wieder ein, und er hatte gerade noch Zeit, sie behutsam in seine Arme zu nehmen.
Frau und Kind …
Er liebte, er wurde geliebt …
Auf der Glücksskala war er ganz oben angekommen, das wusste Roberto, doch weil es so war, da wollte er sein Glück auch noch mehr genießen.
Er war müde, doch er konnte nicht einschlafen. Es gingen ihm zu viele Gedanken durch den Kopf.
Und einer davon verfestigte sich immer mehr in ihm.
Er würde mit Frau und Kind den ›Seeblick‹ verlassen. Alles hatte seine Zeit, und die war jetzt vorbei. Er hatte trotz vieler Widerstände den ›Seeblick‹ zu dem gemacht, was er jetzt war. Er konnte stolz sein. Aber das war nicht alles.
Es gab da dieses interessante Angebot aus der Toscana. Er musste sich alles noch einmal ansehen, und dann lag es an ihm, ja oder nein zu sagen.
Susanne kuschelte sich im Schlaf noch enger an ihn, sie waren eine Einheit, verschmolzen beinahe ineinander.
Toscana …
Er sah das Bild vor sich, dieses wunderschöne alte Gutshaus, umgeben von einer Vielzahl von Olivenbäumen.
Natürlich wurde er auch dort arbeiten, und das war gut so, er war schließlich noch kein Pensionär, der sich seine Rente redlich verdient hatte. Doch die Abende, die Sonn- und Feiertage würden der Familie gehören. Das war ein verlockender Gedanke.
Er musste noch einmal mit Susanne reden, die war eh damit einverstanden, zusammen mit ihm und Valentina nach Italien zu gehen. Die Frage war nur noch das ›Wann‹.
Einen Käufer für den ›Seeblick‹ zu finden, das war kein Problem. Er hatte hervorragende Bilanzen vorzuweisen, solche Objekte wurden immer gesucht.
Valentina begann zu quengeln, sofort wurde Susanne wach, es war wohl der Mutterinstinkt, der Frauen aus der Tiefschlafphase holte, wenn ihre Kinder sich rührten.
»Bleib liegen, mein Schatz«, flüsterte er, machte sich aus ihrer Umklammerung frei, stand auf, »ich mache das schon.«
Sie vertrauten einander, sie waren ein Team, und so war es überhaupt nicht verwunderlich, dass Susanne sich zur Seite drehte und weiterschlief.
Roberto nahm Valentina aus ihrem Bettchen, drückte sie an sich, wiegte sie sanft hin und her. Es dauerte nicht lange, da war das Baby wieder eingeschlafen. Roberto hielt sie dennoch noch eine ganze Weile im Arm, weil er überwältigt war vor Glück.
Vergessen waren die Anstrengungen, all die negativen Gedanken. Er wurde ruhig. Wenn es an der Zeit war, würde er die richtige Entscheidung treffen.
»Kleine Valentina Andoni, es würde dir gewiss gefallen, hier oben aufzuwachsen, aber ich bin mir sicher, dass es dich glücklicher machen würde, zwischen alten Olivenbäumen in einem wunderschönen Haus zu leben.«
Valentina konnte ihm noch keine Antwort geben, und er merkte, wie müde er war. Viel Zeit, sich auszuschlafen, blieb nicht. Er legte ganz vorsichtig seine kleine Tochter in ihr Bettchen zurück, dann ging er in sein Bett, wenig später war er eingeschlafen, tief und fest.
Die Toscanaträume konnten warten …
*
Inge Auerbach hatte gerade ihren Mann zur Tür gebracht. Werner und ihr Vater wollten gemeinsam bei einem spannenden internationalen Schachturnier zuschauen. Beide waren begeisterte Schachspieler, und Werner hatte sich früher niemals die Zeit genommen, bei so etwas auch mal zuzusehen und die Großmeister des Schachs zu beobachten.
Werner machte wirklich Schritte in die richtige Richtung, und das Schönste dabei war, dass ihm diese Schritte gefielen.
Er hatte sich wie ein Kind gefreut, als ihr Vater Werner vorgeschlagen hatte, doch mitzukommen.
Sie winkte ihnen nach, ging ins Haus zurück, als das Telefon schrillte. Inge blickte auf ihre Armbanduhr. Wer rief denn so früh bei ihr an?
Hoffentlich war da nichts passiert!
Sie zwang sich, nicht schon wieder so negativ zu denken. Es musste nicht immer etwas passiert sein, und sie sollte nicht nur predigen, wie man in seinem Leben etwas verändern konnte, sondern es auch selbst tun. Sie musste sich umpolen von negativ auf positiv, und für sie sollte das berühmte Weinglas nicht halb leer sein, sondern halb voll.
Sie meldete sich.
Jetzt war Inge wirklich verwundert!
Die Anruferin war Rosmarie Rückert!
Es erstaunte sie nicht, dass Rosmarie sie anrief. Es war vielmehr so, dass es die Zeit war, zu der Rosmarie das tat. Inge wusste, dass die Schwiegermutter ihrer Kinder eigentlich eine Langschläferin war und morgens nicht so früh aus den Federn kam.
»Rosmarie«, rief Inge deswegen auch mehr als nur erstaunt aus, »bist du aus dem Bett gefallen?«
Rosmarie lachte. Inge Auerbach kannte sie und ihre Gewohnheiten.
»Mehr oder weniger«, gab Rosmarie zu, »doch ich habe heute einen strammen Tag vor mir, und ich möchte unbedingt vorher ganz kurz bei dir vorbeischauen.«
Inge war mehr als verwundert, konnte zunächst nichts sagen, deswegen erkundigte Rosmarie sich: »Ist es dir recht, wenn ich jetzt vorbeikomme? Du stehst doch morgens mehr oder weniger früh mit den Hühnern auf. Deswegen habe ich mich auch getraut, dich zu so nachtschlafender Zeit anzurufen.«
»Klar kannst du kommen«, sagte Inge, »soll ich schon mal den Kaffee aufsetzen?«
»Das wäre schön«, antwortete Inge, »aber mach dir bitte meinetwegen keine Umstände, ich bleib auch nur ganz kurz.«
Inge sagte, dass es ihr keine Umstände mache, zu mehr kam sie nicht, denn Rosmarie hatte es eilig, das Telefonat zu beenden, und Inge ging nachdenklich in die Küche, um den Kaffee zu kochen. Es würde nicht lange dauern, bis Rosmarie hier hereinschneite. Morgens fuhren die Leute vom Sonnenwinkel aus in andere Richtungen, umgekehrt war kaum jemand auf der Straße. Außerdem fuhr Rosmarie mit ihrem heißen Sportwagen entsprechend rasant.
Was mochte Rosmarie wohl von ihr wollen? Im Grunde genommen war sie für jede Überraschung gut. Doch welches Ereignis war es wohl, worüber sie mit ihr so früh sprechen wollte? Und das auch noch angekündigt? Normalerweise kam Rosmarie vorbei, ganz so, wie es ihr passte. Andersherum ginge das niemals.
Man konnte sich an die Eigenheiten von Menschen gewöhnen, und wenn man keinen Film, daraus machte und anfing, aufzurechnen, dann funktionierte das auch ganz gut.
Über ihren Sohn Fabian konnte sie sich nicht aufgeregt haben, der war zusammen mit Familie für ein paar Tage verreist, ehe die Schule wieder anfing. Wegen der kleinen Teresa hatten sie in diesem Jahr auf eine große Urlaubsreise verzichtet.
Und Stella lebte in Stockholm. Außerdem war die viel zu harmoniesüchtig. Stella würde ihre Mutter nicht aufregen.
Und Heinz?
Der hatte in seinem Notariat das Sagen, daheim gab Rosmarie den Ton an.
Ach, was sollte sie sich jetzt den Kopf darüber zerbrechen? Rosmarie würde schnell hier sein, deswegen entschloss Inge sich, sich um den Kaffee zu kümmern. Der war immer gut, in allen Lebenslagen, und den hätte sie sich auch ohne Rosmarie gekocht. Menschen hatten ihre Vorlieben und ihre Laster. Und da war eindeutig der Kaffee ihr Favorit, na ja, wenn sie ehrlich war, da kam dicht gefolgt etwas Süßes. Das war aber kein Laster, versuchte sie sich immer wieder einzureden, das war Nervennahrung, und die konnte jeder gebrauchen, besonders, wenn man mit einem so umtriebigen Mann wie mit ihrem Werner verheiratet war. Der konnte einen ganz schön auf Trab bringen, das merkte sie gerade sehr. Doch sie durfte sich nicht beklagen, sie hatte es so gewollt.
Werner zu Hause war anstrengender, als ihn unterwegs zu wissen. Inge war gerade mit dem Kaffee fertig, als es an der Haustür Sturm geklingelt wurde.
Rosmarie.
Inge eilte zur Tür, öffnete, Rosmarie fiel ihr um den Hals und rief: »Danke, dass du für mich Zeit hast.«
Was war mit Rosmarie los?
»Ich habe doch immer Zeit für dich.«
Sie gingen in die gemütliche Wohnküche der Auerbachs, setzten sich, und jetzt erst entdeckte Inge den wunderschönen Blumenstrauß, den Rosmarie in der Hand hatte und jetzt auf den Tisch legte.
»Der ist für dich, Inge, und das hier, das ist auch noch für dich.«
Sie legte neben die Blumen ein sehr exquisit verpacktes Päckchen.
Inge war mehr als verwundert.
»Rosmarie, ich habe heute doch keinen Geburtstag«, rief sie.
»Pack das Päckchen aus«, sagte Rosmarie, und Inge folgte diesem Rat. Zum Vorschein kam ein wunderschöner silberner Elefant. Das verwunderte Inge noch mehr, denn für diesen Elefanten musste Rosmarie ein Vermögen ausgegeben haben, an der Verpackung hatte Inge gesehen, dass sie den Elefanten in einem teuren Antikgeschäft gekauft hatte.
»Rosmarie …«
Ehe Inge mehr sagen konnte, rief Rosmarie: »Die Blumen sind eine Entschuldigung, und der Elefant ein Symbol dafür, dass ich mich wie der berühmte Elefant im Porzellanladen benommen habe. Außerdem sammelst du ja Elefanten.«
Es wurde ja immer mysteriöser.
Rosmarie Rückert war für ihre exzentrische Handlungsweise bekannt, doch das war früher gewesen. Sie hatte sie geändert, sollte das jetzt ein Rückfall sein?
»Rosmarie …«, begann Inge erneut, und wieder wurde sie unterbrochen.
»Inge, es tut mir leid, ich habe mit Heinz gesprochen.«
Weswegen entschuldigte sie sich dafür, Heinz war schließlich ihr Ehemann, es war normal, dass man mit dem sprach. Das sagte Inge ihr auch.
Rosmarie wurde verlegen, und dann brach es aus ihr heraus. Sie erzählte, dass sie mit ihrem Mann über die Eheprobleme der Auerbachs gesprochen hatte.
»Inge, ich habe euch als Beispiel angeführt, weil ich etwas mit Heinz verändern wollte. Ich hätte das nicht tun dürfen, ich kam jedoch nicht weiter, und ihr seid ja für meinen Mann etwas, dem man durchaus nacheifern kann. Und wenn Werner kürzertritt, um seine Ehe zu retten, dann kann es mein Heinz doch erst recht tun, ich … ich … nun, ich hätte nicht ausplaudern dürfen, dass ihr in getrennten Schlafzimmern schlaft. Inge, es tut mir wirklich leid, dein Vertrauen so missbraucht zu haben.«
Rosmarie saß wie ein begossener Pudel da, sie konnte einem schon leidtun.
»Hat es denn wenigstens etwas bewirkt?«, erkundigte Inge sich schließlich und war froh, diesmal von Rosmarie nicht unterbrochen zu werden.
Rosmarie nickte.
»Na, dann war es doch für etwas gut, Inge. Und mache dir keinen Kopf. Was ich dir erzählt habe, geschah nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und du hast es ja auch nur deinem Ehemann erzählt und es nicht in die Öffentlichkeit getragen. Aber du hättest diesen teuren Blumenstrauß nicht mitbringen müssen, über den wunderschönen Elefanten gar nicht erst zu reden. Du bist verrückt.«
Rosmarie nickte.
»Ich weiß, und ich danke dir dafür, dass du das immer erträgst. Die Blumen und das kleine Geschenk waren längst fällig. Ich überfalle dich immer wieder und benutze dich als meinen seelischen Mülleimer. Inge, es ist so schön, dass es dich gibt, dass ich mich bei dir ausheulen kann.«
»Rosmarie, ich bitte dich, wir sind angeheiratete Verwandte, da muss man einfach füreinander da sein. Außerdem, es ist doch sehr unkompliziert geworden, mit dir umzugehen. Du bist so herrlich normal geworden. Über Designeroutfits, über angesagten Schmuck könnte ich mit dir nicht reden. Aber danke, Rosmarie, natürlich freue ich mich. Besonders dieser Elefant ist eine kleine Kostbarkeit, und dass du die Blumen in meiner Lieblingsfarbe gewählt hast.«
»Schlicht und weiß«, rief Rosmarie. Sie war erleichtert, das war ihr anzusehen. »Früher habe ich ja darüber die Nase gerümpft, doch mittlerweile weiß ich auch, dass die Klasse zählt, nicht die Masse. Ich war wirklich unerträglich, manchmal denke ich, dass das in einem anderen Leben gewesen sein muss. Jetzt, da du mir nicht böse bist, kann ich dir auch anvertrauen, was meinen Heinz beinahe aus den Puschen gehauen hätte und was ihm wirklich so richtig Angst gemacht hat.«
Jetzt war Inge aber gespannt.
Rosmarie kicherte.
»Als ich das mit getrennten Schlafzimmern erwähnte, wurde er richtig panisch. Hätte ich diese Drohung wahr gemacht, ich glaube, er hätte mir ein Königreich versprochen, damit wir weiter in einem Zimmer in unserem Doppelbett schlafen.«
Sie trank etwas von ihrem Kaffee, der mittlerweile längst kalt geworden war, doch das machte nichts.
»Wie läuft es denn bei Werner und dir?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Inge, dann erzählte sie der staunenden Rosmarie sogar, dass Werner mit ihnen gespielt hatte, nicht nur das, dass er sogar mit ihnen in den ›Seeblick‹ gegangen war, wo sie einen wundervollen Abend verbracht hatten – Werner, sie, Pamela und ihre Eltern. »Übrigens, liebe Rosmarie, dafür gilt auch kein Redeverbot. In den ›Seeblick‹ zu gehen, das ist immer ein Highlight, und so weit ist es von Hohenborn auch nicht.«
Rosmarie gefiel die Idee, doch dann blickte sie ganz entsetzt auf ihre Armbanduhr.
»Inge, ich wäre gern noch geblieben. Bei dir ist es immer wieder schön, aber ich muss weg, ich habe einen Termin und kann nicht gleich beim ersten Mal zu spät kommen.«
Rosmarie bemerkte Inges erstaunten Blick, wurde ein bisschen verlegen. »Ich hielt es ja für unmöglich, doch ich habe deinen Rat befolgt und bin in die Seniorenresidenz gegangen und habe meine Hilfe angeboten. Da waren alle sehr nett, haben sich gefreut, und ich bin eingeteilt, einer Gruppe von Senioren vorzulesen. Das ist der Anfang, später kann man über andere Einsatzmöglichkeiten reden. Lesen, das kann ich. Und weißt du was, Inge, ich freue mich.«
Inge war platt, sie konnte nur hervorbringen: »Rosmarie, ich freue mich auch, da tust du ein gutes Werk, und die alten Menschen sind glücklich. Viele haben so schlechte Augen, dass sie selbst nicht mehr lesen können, und Fernsehen ist wahrlich keine Alternative.« Sie lächelte. »Rosmarie Rückert, du erstaunst mich immer wieder.«
Dieses Lob freute Rosmarie, sie wäre gern geblieben, aber es würde wirklich keinen guten Eindruck machen, käme sie beim ersten Male zu spät. Hierher zu kommen, das war für Rosmarie aber ein Anliegen gewesen, und sie war so froh, dass es glimpflich für sie abgelaufen war.
Sie umarmte Inge, dann rannte sie davon, wenig später hörte Inge ihre Besucherin mit aufheulendem Motor davonbrausen.
Sie suchte sich für die wirklich wunderschönen Blumen eine geeignete Vase, und nachdem die versorgt waren, nahm sie den Elefanten in die Hand. Sie hatte bereits eine große Sammlung, und manchmal bedauerte sie, überhaupt damit angefangen zu haben, denn eine Zeit lang hatte man ihr bei allen Gelegenheiten immer nur Elefanten geschenkt. Sie selbst konnte mittlerweile an Elefanten, und mochten sie noch so schön sein, ganz gut vorübergehen, ohne von dem Zwang besessen zu sein, sie unbedingt haben zu wollen. Wenn, dann musste es ein besonderer Elefant sein.
Der Elefant, den Rosmarie ihr mitgebracht hatte, war ein besonderer. Wenn sie selbst ihn in der Auslagen gesehen hätte, hätte ihr Herz vor lauter Begeisterung höher gehüpft. Aber Inge wusste, dass sie den Elefanten nicht gekauft hätte, weil er ihr zu teuer gewesen wäre und man mit dem Geld dafür Sinnvolleres anfangen könnte.
Daran dachte Rosmarie nie, sie war es gewohnt, ihre Kreditkarte glühen zu lassen. Doch das war zum Glück selten geworden, und dass sie jetzt in die Seniorenresidenz ging, um als ehrenamtliche Helferin zu arbeiten, das wäre für die frühere Rosmarie undenkbar gewesen. Da hatte sie wirklich nur an sich gedacht. Es war schade, dass Fabian und Stella die Veränderung ihrer Mutter nicht mitbekamen, nicht wahrhaben wollten. Das würde das Verhältnis zueinander wesentlich mehr entspannen, und Rosmarie hätte es verdient. Es tat ihr doch leid, was früher gewesen war. Es ließ sich nicht rückgängig machen, aber man konnte toleranter aufeinander zugehen. Eine harmonische Familie mit wirklichem Zusammenhalt funktioniert nur, wenn alle Seiten, alle Generationen etwas dafür taten. Mit Stella, das ging ja, die hatte sich schon immer besonnen verhalten. Aber Fabian, ihr Schwiegersohn, ein wirklich guter, liebenswerter Mensch, der konnte ganz schön unerbittlich sein. Sie würde mit Fabian nicht reden, er war zwar ihr Schwiegersohn, doch sie wollte sich da nicht einmischen. Aber sie würde mal mit Ricky reden, die hatte einen guten Einfluss auf ihren Mann, und, wie gesagt, Rosmarie hatte es verdient.
Die schönen Blumen …, dieser so unglaublich kostbare Elefant …
Inge griff zu ihrem Telefon und rief ihre Mutter an, sie musste das jetzt mit jemandem teilen, und was für ein Glück, dass ihre Eltern gleich nebenan wohnten.
»Mama, hast du Lust auf einen Kaffee?«, erkundigte Inge sich, die hatte ihre Mutter immer.
»Gern, komm vorbei.«
Normalerweise kein Problem, diesmal lehnte sie ab. »Mama, kannst du zu uns kommen? Ich muss dir was erzählen, vor allem, da muss ich dir etwas zeigen.«
Das machte Teresa von Roth neugierig.
»Einverstanden, dann kann ich gleich das Buch mitbringen, das Pamela bei uns vergessen hat. Wo ist sie?«
»Vermutlich schläft sie noch, aber es kann auch durchaus sein, dass sie sich in ihrem Zimmer eingeigelt hat und still vor sich hin leidet. Der Abschied von Manuel Münster nimmt sie ganz schön mit.«
»Wundert dich das, Inge? Die beiden sind zusammen mehr oder weniger aufgewachsen, Pam fühlt sich verlassen und vergisst dabei allerdings, dass sie selbst, ohne Manuel zu fragen oder seine Befindlichkeit in Betracht zu ziehen, damals nach Australien gegangen ist. Für den, der geht, ist es einfacher als für den, der zurückbleiben muss. Pam ist stark, sie wird es schon packen. Lass sie jetzt halt ein wenig traurig sein. Sie hat ja ihre Luna, die ist doch bestimmt bei ihr?«
Das bestätigte Inge.
»Die beiden sind unzertrennlich, und Luna fühlt genau, dass Pamela sie jetzt besonders braucht, sie ist ganz anhänglich, beinahe fürsorglich. Aber Mama, darüber können wir gleich reden und über das, was ich dir erzählen will. Du wirst staunen, und nun komm bitte. Ich freue mich auf dich.«
Sie beendete das Gespräch, kümmerte sich darum, dass gleich frischer Kaffee auf dem Tisch stand, und da kam ihre Mutter auch schon, was natürlich nicht erstaunlich war, da sie ja gleich nebenan wohnte.
»So«, rief Teresa, nachdem sie ihre Tochter kurz in den Arm genommen hatte, »jetzt bin ich aber gespannt.«
Inge servierte den Kaffee, vergaß nicht, eine Schale mit Keksen auf den Tisch zu stellen, und Teresa langte prompt auch direkt zu. Sie schob sich genüsslich einen Keks nach dem anderen in den Mund. Und manchmal war es wirklich sehr gemein auf der Welt. Teresa war rank und schlank, sie musste sich um Hüftgold, im Gegensatz zu ihrer Tochter, überhaupt keine Sorgen machen. Zum Glück hatte Ricky die Statur ihrer Oma geerbt und auch deren Gene, sonst würde Ricky das mit ihren fünf Kindern nicht beinahe mit links schaffen.
Doch augenblicklich ging es nicht um Hüftgold, nicht um Ricky, sondern um Rosmarie, und deswegen begann Inge damit, ihrer Mutter alles zu erzählen und ihr auch voller Stolz die Blumen und den wunderschönen Elefanten zu zeigen. Und auch Teresa war nicht nur erstaunt, sondern sie freute sich. Sie kannte auch noch die andere Rosmarie …
*
Pamela Auerbach litt wirklich sehr darunter, dass ihr Freund Manuel nun in Arizona lebte. Es war ja nicht nur schlimm, dass er weggegangen war, nein, viel, viel schlimmer war, dass es ihm in Arizona auf der Farm, die sein Vater von einem Onkel geerbt hatte, gefiel, sehr sogar. Das konnte man an seinem Strahlen sehen. Manchmal wünschte Pamela sich, lieber nichts von Manuel zu hören anstatt seine Freude mitzubekommen. Er war im fernen Amerika angekommen, er vermisste den Sonnenwinkel nicht. Und Pamela wagte nicht, sich auszumalen, ob er sie eigentlich vermisste. Er schrieb darüber nichts, und sie wagte nicht, daran zu rühren. Positiv war doch auf jeden Fall, dass er sie nicht vergessen hatte, er ließ sie an seinem Leben teilhaben, und das war doch schon etwas. Und wenn sie ganz ehrlich war, die Bilder, die er ihr schickte, konnten schon Neidgefühle erwecken. Australien war ja auch ein riesiges, beeindruckendes Land, doch der kleine Flecken Erde, wo sie bei ihrem Bruder Hannes gelebt hatte, war mit der Farm in Arizona überhaupt nicht zu vergleichen. Wenn sie ehrlich war, dann gefiel ihr Arizona besser. Und die Fotos von den Pferden, die Manuel immer schickte, die waren unglaublich schön. In einem konnte sie Manuel verstehen, dass er jetzt natürlich auch mit dem Reiten anfing. Das würde sie auch tun.
Wenn er ihr bloß nicht so fehlen würde!
Weil das Wetter gut war, entschloss sie sich, mit dem Fahrrad ein wenig herumzufahren, was ohne Manuel auch ziemlich öde war.
Sie hatten so ihre Rituale gehabt, sie waren um die Wette gefahren, hatten Pausen gemacht, um miteinander zu reden, sie waren nebeneinander her geradelt.
Es war schrecklich, allein machte nichts Spaß, außerdem konnte man ja wohl mit sich selbst nicht um die Wette fahren.
Nein, der See war heute keine gute Idee, da wurden zu viele Erinnerungen wach, die wehtaten.
Pamela fuhr zurück, wollte schon wieder nach Hause fahren, als sie sich entschloss, ein bisschen durch den Sonnenwinkel zu fahren. Vielleicht traf sie ja jemanden, mit dem sie ein wenig plaudern konnte und so von ihrem Kummer abgelenkt wurde.
Sie traf niemanden und egal, ob am See oder in der Siedlung, es war beides öde. Sie trat in die Pedalen, um nach Hause zu fahren, oder sie würde zu Omi und Opi gehen, die hatten auch immer ein Ohr für sie, und sie konnten ihren Kummer verstehen und unterstützten ihn mit so mancher Leckerei, was ihre Mutter aus erzieherischen Gründen niemals tun würde.
Pamela entschloss sich, noch einen großen Bogen zu fahren, und dann würde sie zu den Großeltern gehen, da konnte sie auch gleich ihre Luna abholen, die sie dort geparkt hatte. Während ihrer Abwesenheit war Luna viel bei den Großeltern gewesen, und man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, warum. Da fiel Pamela nur ein Wort ein … Leckerli.
Sie blickte zur Seite, als sie an der Auffahrt vorbeiradelte, die hinauf zum Erlenhof führte. Sie konnte sich das nicht ansehen, und es schmerzte unendlich, wenn sie daran dachte, dass sie den Weg dorthin niemals mehr gehen oder fahren würde. Der Besitz war verkauft, und niemand hatte bislang den neuen Besitzer gesehen. Pamela wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Wenn man so einen herrlichen Besitz kaufte, dann wollte man doch dort auch sofort einziehen, und wenn man Benehmen hatte, dann stellte man sich bei den Leuten aus dem Sonnenwinkel vor, auch wenn man oberhalb von ihnen wohnte, besser gesagt, residierte und ein Graf war. Ihre Großeltern hießen auch von Roth, deren Besitz war noch schöner und größer gewesen, und sie waren überhaupt nicht eingebildet.
Pamela war ein ehrlicher Mensch, und deswegen korrigierte sie ihre Meinung auch sofort. Sie kannte diesen Grafen nicht, und deswegen durfte sie sich auch kein Urteil über ihn bilden, auch dann nicht, wenn sie sauer auf Gott und die Welt war. Dafür konnte dieser Mann nichts.
Es brachte nichts, sie wurde immer missmutiger. Als sie am Haus ihrer Schwester vorbeifahren wollte, trat sie auf die Bremse. Da tat sich etwas, sie hatte von ihrer Mutter erfahren, wer in dieses Haus einziehen würde, und anscheinend brachte man schon etwas her.
Neugierig stieg sie von ihrem Fahrrad ab, und dann sah sie das Mädchen und den Jungen. Beide standen ziemlich missmutig am Gartentor und sahen zu, wo verschiedene Sachen ins Haus getragen wurden, ohne einen Finger zu rühren.
Pamela ging auf die Kinder zu. Sie gefielen ihr gut. Die beiden würden zwar niemals ein Ersatz für ihren Freund Manuel sein, aber immerhin passten sie altersmäßig zu ihr. Und das war doch schon mal etwas, außerdem sollte man niemals nie sagen. Wie Manuel konnte niemand sein, aber ein bisschen von ihm, das wäre perfekt!
»Hallo, Ihr zwei«, rief Pamela. »Ihr müsst Maren und Tim Bredenbrock sein.« Sie lächelte die beiden gewinnend an. »Schön, dass ich euch schon kennenlerne. Ich bin Pamela Auerbach, doch ihr könnt ruhig Pam zu mir sagen, ich wohne mit meinen Eltern nicht weit von hier, und das Haus, in das ihr einzieht, das gehört meiner Schwester Ricky und meinem Schwager Fabian. Es wird euch gefallen.«
Sie wollte den beiden die Hand geben, doch das wurde einfach ignoriert. Das Mädchen blickte Pamela beinahe herablassend an. »Was für eine Schlaubergerin du doch bist, und was du alles weißt. Aber du irrst dich, wir finden das Haus fürchterlich und euren Ort auch. Und ansonsten lass uns bitte in Ruhe, verstanden?« Sie schnappte sich ihren Bruder und zog ihn ein wenig gewaltsam in das ungeliebte Haus.
Pamela war außer sich.
Was war das denn jetzt gewesen?
Sie hatte es nur gut gemeint, wollte freundlich sein, und dann diese Abfuhr. Der Junge hatte ja mit ihr reden wollen, doch das Mädchen war eine richtige Zicke. Und die hatte das Sagen.
Das heute war wirklich nicht ihr Tag, sie stieg wieder auf ihr Fahrrad, und dann fuhr sie wirklich nach Hause. Das jetzt hätte sie wirklich nicht haben müssen.
Sie radelte nach Hause, machte sich nicht einmal die Mühe, ihr Fahrrad, wie sonst gewohnt, ordentlich wegzustellen, sondern knallte es in den Vorgarten, und dann stürmte sie ins Haus, knallte mit der Tür.
Verschreckt kam Inge in die Diele gelaufen, sah ihre erzürnte Tochter und erkundigte sich sofort besorgt: »Um Himmels willen, mein Kind, was ist geschehen?«
»Mami, ich hatte eben das Erlebnis der besonderen Art, und ich kann nur sagen, die Leute, die in Rickys Haus einziehen, die sind gruselig, zumindest die Kinder.«
Gut, die waren nicht einfach, das hatte Inge am eigenen Leib erfahren, doch jetzt so etwas von ihrer Tochter zu hören, das irritierte Inge sehr. Jugendliche untereinander pflegten einen ganz anderen Umgangston miteinander, als wenn sie sich vor Erwachsenen profilieren wollten und aufmüpfig waren. Und außerdem, Pam war ein so liebenswerter Mensch, die mochte jeder.
Da konnte etwas nicht stimmen.
»Liebes, ich koche dir jetzt eine heiße Schokolade mit ganz viel Sahne, und dann erzählst du mir alles«, schlug Inge vor, weil sie aus Erfahrung wusste, dass das beinahe so etwas wie ein Heilmittel war.
Damit war Pamela einverstanden, sie freute sich, doch sie fügte hinzu: »Mami, so viel heiße Schokolade kannst du überhaupt nicht kochen, um mich wieder auf den Boden zu bringen.«
Es musste wirklich schlimm gewesen sein. Inge vergaß all ihre guten Vorsätze, und als sie an den Schrank ging, es dort verdächtig raschelte, besserte sich Pamelas Laune augenblicklich. Dieses Geräusch kannte sie. Sie würde nicht nur die von ihr so heiß geliebte heiße Schokolade bekommen, sondern auch noch Schokolade in fester Form, und das war gut. Das brauchte sie jetzt, und hoffentlich dachte ihre Mami daran, dass sie am liebsten die Schokolade mochte, in der sich zusätzlich auch noch kleine bunte Smarties befanden, aber die mit der Caramellfüllung, die war auch nicht schlecht.
Sie hefte richtig geraten, Pamela bekam zuerst die Schokolade, die ihr am liebsten war, bald auch schon stand die heiße Schokolade vor ihr. Das Leben war wieder schön.
Inge widerstand der Versuchung, sich selbst rasch einen Kaffee zu kochen, denn sie hatte ihr Quantum für diesen Tag bei Weitem überschritten. Sie begnügte sich mit einem Glas Wasser, dann setzte sie sich und erkundigte sich behutsam: »Willst du jetzt reden, mein Kind?«
Pamela wollte, denn es ging ihr auch schon viel besser. Sie erzählte ihrer Mutter alles, zuerst, wie unglücklich sie wegen Manuel gewesen war, wie sie sich gefreut hatte, die Kinder zu sehen, die neu in den Sonnenwinkel ziehen würden, und dann sagte sie ihrer Mutter, wie zickig Maren Bredenbrock sich verhalten hatte.
»Und weißt du, was am schlimmsten ist, Mami? Sie findet den Sonnenwinkel doof, und das geht ja wohl überhaupt nicht.«
Darüber hatte Pamela sich vermutlich am meisten aufgeregt, denn für ihre Jüngste war der Sonnenwinkel der schönste Platz auf der ganzen Welt, und den hatte sie in Australien auch so schmerzlich vermisst.
»Pamela, die Bredenbrocks kommen aus der Großstadt, und es ist schon ein Unterschied, dort zu leben als hier in unserer Beschaulichkeit. Das sind einfach zwei verschiedene Welten.«
»Sie haben es sich doch ausgesucht«, begehrte Pamela auf. Inge schüttelte den Kopf.
»Es war eine zwingende Notwendigkeit, eine Entscheidung ihres Vaters.«
Sie überlegte einen Augenblick, dann entschloss sie sich, ihrer Tochter die Wahrheit zu sagen, weil sie nicht wollte, dass das Verhältnis zwischen ihrer Tochter und den Bredenbrock-Kindern gleich von Anfang an vergiftet war. Das wäre wirklich sehr schade, zumal es nicht viele Kinder hier im Sonnenwinkel gab, die altersmäßig so gut zueinanderpassten wie diese drei.
»Pamela, Maren und Tim ziehen nur mit ihrem Vater allein hierher.« Dann erzählte Inge ihrer Tochter die ganze Geschichte, von der Mutter, die Knall auf Fall die ganze Familie verlassen hatte, um sich an der Seite eines wesentlich jüngeren Musikers zu verwirklichen. Sie sprach darüber, dass Herr Bredenbrock von einen Tag auf den anderen ein alleinerziehender Vater geworden war von zwei Kindern, denen der sichere Boden unter den Füßen weggezogen worden war.
»Pam, Herr Bredenbrock hatte einen ähnlich verantwortungsvollen Posten wie unser Fabian. Den hat er aufgegeben, um mehr Zeit für seine Kinder zu haben, um sich besser um sie kümmern zu können. Er wird an unserem Gymnasium in Hohenborn nur noch als Lehrer arbeiten. Es ist keine sehr einfache Situation, nicht für die Kinder, aber auch nicht für den Vater.«
Pamela hatte gespannt zugehört, sie sagte zunächst einmal nichts, als ihre Mutter mit ihren Erzählungen fertig war, doch ihr war anzusehen, wie bewegt sie war. Sie trank einen Schluck, dann schob sie ein Stückchen Schokolade hinterher, ehe sie sich ganz besorgt erkundigte: »Mami, so etwas würdest du doch niemals tun …, uns verlassen und weggehen?«
Oh Gott, welche Gedanken gingen ihrer Tochter da durch den Kopf.
»Nein, mein Kind, das würde ich niemals tun, dazu liebe ich Papa und meine Kinder viel zu sehr. Eine Familie gehört zusammen, und wenn man eine gründet, dann trägt man auch die Verantwortung dafür.«
Pamela war beruhigt, sie warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu. Ihr wurde bewusst, wie gut sie es doch hatte, und da sie ein warmherziges Mädchen war, bekam sie auch sofort Mitleid mit Maren und Tim.
»Ach, Mami, das ist ja ganz schrecklich. Ich bin nicht mehr böse auf sie und will alles vergessen. Ich habe die beiden bestimmt auf dem falschen Fuß erwischt.«
Sie dachte nach, blickte ihre Mutter an.
»Weißt du, was ich komisch finde, Mami«, sagte sie nach einer Weile des Nachdenkens. »Ricky und Fabian waren in diesem Haus so glücklich. Dann kamen die Köhlers, und ihr hat es nicht gefallen, sie wollte unbedingt nach Berlin zurück. Hätte er nicht diesen Job in Singapur bekommen, hätten sie sich bestimmt scheiden lassen. Zum Glück gefällt es Frau Köhler dort, denn sonst würden wir nicht all die schönen und bunten Ansichtskarten aus Singapur bekommen. Und danach, ich habe sie ja nicht persönlich kennengelernt, weil ich da noch in Australien war, zog diese Frau Schulz mit ihrer Tochter ein, die überhaupt nicht ihre Tochter war, sondern die sie geklaut hat. Das war auch ohne Happy End, und die Bredenbrock-Kinder sind schon unglücklich, ehe sie im Haus wohnen. Ach, Mami, das kann ich überhaupt nicht verstehen. Es gibt doch keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt als unseren Sonnenwinkel. Ich gehe hier niemals weg. Am besten kaufen wir Rickys Haus, und ich ziehe dann später dort ein. Da kann ich immer in der Nähe von euch sein und von Omi und Opi.«
Pamela hatte einen so verzückten Gesichtsausdruck, dass Inge es nicht fertigbrachte, ihre Jüngste daran zu erinnern, dass kein Mensch das ewige Leben hatte, dass sich fortwährend alles veränderte und dass dazu auch die Verluste von Menschen gehörten, die man über alles liebte. Außerdem würde Pamela nach dem Abitur den Sonnenwinkel verlassen, um irgendwo zu studieren. Sie war ein sehr kluges Mädchen, davon war also auszugehen.
Nein!
Warum sollte Inge ihrer Tochter jetzt das Herz schwermachen? »Liebes, das ist eine sehr gute Idee, über die wir nachdenken sollten, der Papa und ich.«
Pamela strahlte ihre Mutter an, dann trank sie ganz genüsslich den letzten Rest ihrer heißen Schokolade. Von dem anderen Schokolade war leider nichts mehr da. Sie würde ganz gern noch etwas davon essen, weil sie eine große Naschkatze war, doch sie würde ihre Mutter nicht danach fragen. Man sollte sein Glück nicht herausfordern.
»Mami, ich geh hinauf in mein Zimmer und versuche, mit Manuel zu skypen.«
Sie stand auf, umarmte ihre Mutter heftig. »Ich habe dich so lieb, du bist die allerbeste Mama von der ganzen Welt«, dann ging sie, gefolgt, wie konnte es auch anders sein, von Luna.
Inge blickte ihrer Tochter nach, dann stand sie auf, um das benutzte Geschirr in den Geschirrspüler zu räumen. Sie war glücklich. Es war zwischen ihnen so wie früher, die Schatten der Vergangenheit hatten sich verzogen, und Inge schwor sich, dass es so etwas auch niemals mehr geben würde. Noch einmal könnte sie das nicht durchstehen. Deswegen war sie auch froh, Pamela nichts vorgemacht zu haben, was die Bredenbrocks betraf.
So etwas war eine bittere Wahrheit, das berührte emotionale Menschen, und dazu gehörte Pamela, ganz besonders. Aber das Leben war kein Wunschkonzert. Kein Leben plätscherte gleichmäßig dahin, es gab Höhen und Tiefen, mit denen man fertigwerden musste. Wichtig war doch, dass man gefestigt war, innerlich stark und gefestigt genug, um auch zerstörende Stürme zu überstehen, immer mit dem Wissen, dass nichts so blieb wie es war und dass Regen immer Sonnenschein folgte.
Inge war längst aufgefallen, wie sehr ihre Jüngste unter der Trennung von Manuel litt. Sie fand, dass Pamela ganz gut damit umging, und ein bisschen traurig sein, das durfte jeder, das gehörte dazu.
Egal, ob es nun vernünftig war oder nicht. Jetzt kochte sie sich doch noch einen Kaffee. Sie musste nachdenken, und das konnte sie bei einem starken schwarzen, köstlich duftenden Kaffee am besten.
*
Roberta hatte einen wunderschönen Abend mit Roberto Antoni und seiner Susanne verbracht, und allein der Anblick der kleinen, so wunderschönen Valentina reichte aus, um Sehnsüchte in Roberta zu wecken.
Ihre biologische Uhr tickte noch nicht, doch ihr Wunsch nach einem eigenen Kind wurde immer größer. Vielleicht war er auch dadurch angefacht worden, dass Lars ihr diese wunderschönen roten Rosen geschickt hatte. Rote Rosen, das Zeichen für eine tiefe Liebe. Doch die wären überhaupt nicht nötig gewesen, seine liebevollen Zeilen hätten gereicht.
Er liebte sie, sie liebte ihn …
Was sprach gegen ein gemeinsames Leben?
Auch Abenteurer und Weltenbummler wurden älter. Sehnte sich im Alter nicht jeder nach einem sicheren Hafen?
Sie ja, und sie konnte es sich auch ganz wunderbar vorstellen. Doch Lars? Sie glaubte, den Mann ihrer Liebe zu erkennen, doch da gab es ein paar Seiten an ihm, die ihr verschlossen blieben. Würde sich das irgendwann einmal ändern?
Sie konnte nichts tun, sie musste abwarten. Sie hatte wirklich keine andere Wahl, denn sie konnte ihm nicht die Pistole auf die Brust setzen und ihn auffordern, sie zu heiraten, mit ihr eine Familie zu gründen.
Es war schon verrückt. Lars Magnusson mit den unglaublich schönen blauen Augen, bei dem ihr Wunsch nach Ehe und Familie beinahe schon pathologisch war, und ausgerechnet er verweigerte sich.
Roberta zwang sich, nicht weiter an Lars und ihre unerfüllten Wünsche zu denken. Es gab doch auch einen Wunsch, sich zu freuen.
Ihre Befürchtung, Roberto und Susanne könnten das gemeinsame Essen dazu nutzen, ihr zu erzählen, dass sie den ›Seeblick‹ verkaufen und nach Italien gehen würden, hatten sich nicht bewahrheitet. Für die beiden war es nicht mehr als ein sehr angenehmes, kurzweiliges Zusammensein unter Freunden gewesen. Und Roberta hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, sie darauf anzusprechen. Lieber in Ungewissheit leben, als vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Der Weggang von den Münsters, von Marianne von Rieding und ihrem Carlo Heimberg hatte eine Lücke in Robertas Leben hinterlassen. Und das nicht, weil sie dadurch Patienten verloren hatte. Über mangelnde Patienten durfte sie sich nicht beklagen, im Gegenteil. Manchmal wünschte sie, nicht so viel in ihrer Praxis zu tun zu haben.
Nein, sie fehlten ihr als Menschen, zu denen sie eine sehr herzliche Verbindung hatte. Auch als man da oben die großen Feste nicht mehr ausgerichtet hatte, hatten gesellige Zusammenkünfte im kleinen Kreis stattgefunden, und Roberta hatte dazugehört und hatte es sehr genossen.
Roberta zwang sich, wieder daran zu denken, dass sie nicht vor sich hinträumen durfte, sondern dass sie in ihrer Praxis saß, in der das Wartezimmer voll war.
Sie bat ihre Ursel Hellenbrink, ihr die nächste Patientin zu schicken, und auf die freute Roberta sich.
Mühsam auf eine Gehhilfe gestützt, betrat Sophia von Bergen den Behandlungsraum.
Sie strahlte über das ganze Gesicht und rief voller Stolz: »Frau Doktor, von diesem Augenblick habe ich geträumt, zu Fuß zu Ihnen in die Praxis zu kommen. Bis zur Tür musste ich den Rollstuhl nehmen, doch dann kam ich mit der Gehhilfe zurecht. Es ist ein Glück, dass Sie neben Ihrer Treppe auch einen Weg für Behinderte gebaut haben, denn sonst wäre das nicht möglich gewesen.« Sie hörte nicht auf zu strahlen. »Ach, Frau Doktor, Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Gefühl für mich ist. Nach dem Unfall hatte man mich abgeschrieben, mein Exschwiegersohn wollte mich sogar in ein Heim abschieben. Und nun das.«
Roberta freute sich mit der Patientin.
»Frau von Bergen, das alles haben Sie Ihrem eisernen Willen, Ihrer Energie zu verdanken. Von nichts kommt nichts. Ich freue mich so sehr für Sie.«
Sophia schüttelte den Kopf, dann sagte sie leise: »Nein, Frau Doktor, in erster Linie verdanke ich das meiner Angela, die sich für mich aufgeopfert und auf ein eigenes Leben verzichtet hat, und dann natürlich Ihnen, nicht zu vergessen dem Physiotherapeuten, den Sie mir besorgt haben, dem unvergleichlichen Herrn Kuhlmann. Es geht wieder aufwärts mit mir. Heute am Nachmittag holen mich die von Roths ab. Sie werden mich mit dem Rollstuhl zum See fahren und dort, an meiner Lieblingsstelle, werde ich mit dem Rollator ein paar Schritte machen. Sie glauben nicht, wie sehr ich mich darauf freue.«
»Das kann ich verstehen«, bemerkte Roberta, »aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht überfordern. Ein paar Schritte, nicht mehr. Versprechen Sie mir das?«
Sophia von Bergen lachte.
»Frau Doktor, ich verspreche Ihnen alles, weil ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann. Sie sind so großartig, und ohne Sie wäre ich längst noch nicht da, wo ich jetzt bin. Sind Sie sich eigentlich sicher, dass Sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sind und nicht ein Engel, den der liebe Gott auf die Erde geschickt hat?«
Roberta lief rot an, wurde ganz verlegen.
»Liebe Frau von Bergen, ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut«, sagte sie, »und ich denke, das ist gut so. Soweit ich weiß, tauchen Engel nur immer hin und wieder auf oder wachen unerkannt über einen. Und da ich ein Mensch bin, kann ich Ihnen auch Ihre Medikamente geben. Ich denke, wenn wir mit dieser Packung durch sind, dann können wir auch mit der Behandlung aufhören, dann wird auch Herr Kuhlmann mit einer neuen Therapie beginnen, das haben wir schon besprochen.«
Sophia von Bergen bedankte sich, und Roberta hätte sich sehr gern noch mit dieser feinen, tapferen und so liebenswerten Frau unterhalten. Es ging nicht, die anderen Patienten warteten.
Also verabschiedete Roberta sich von ihrer Patientin, die darauf bestand, wieder allein hinauszugehen. Roberta durfte ihr nur die Tür öffnen, und dann waren ihre Tochter Angela da und Herr Kuhlmann. Das beruhigte Roberta, sie war ja so froh, dass es Angela Halbach wieder besser ging. Das sie das Schlimmste mit ihrem Herpes Zoster, der schmerzhaften Gürtelrose, überwunden hatte. Und zum Glück hatten die Blutwerte keinen Hinweis auf eine ernsthafte Erkrankung gegeben, die auch ein Auslöser für den Zoster sein konnte.
Mit manchen Menschen meinte es das Schicksal nicht gut, und man fragte sich warum. Angela war ein so liebenswürdiger Mensch, die war doch gestraft genug mit ihrem Exmann, der sie gnadenlos ohne einen Cent verlassen hatte, weil sie für ihre Mutter da sein wollte. Ein Ehevertrag, den er nur zu seinen Gunsten abgeschlossen hatte, war der armen Angela zum Verhängnis geworden.
Ehe sie den nächsten Patienten hereinrufen ließ, fragte sie sich, ob wohl Lars auf einem Ehevertrag bestehen würde. Unsinn!
Sie machte sich Gedanken um ungelegte Eier.
Die nächste Patientin war eine alte Dame aus dem Sonnenwinkel, die allein in ihrem Haus wohnte. Ursprünglich waren ihre Tochter und ihr Schwiegersohn mit eingezogen, doch dann war die Ehe gescheitert, und die alte Dame war allein zurückgeblieben.
Sie kam häufig zu Roberta in die Praxis, die allmählich das Gefühl nicht los wurde, dass sie in erster Linie kam, um Ansprache zu haben, denn ihre Wehwehchen könnte sie sehr gut allein zu Hause auskurieren.
»Frau Zimmermann, was führt Sie zu mir?«, erkundigte sie sich, nachdem sie die Patientin begrüßt hatte.
»Ach, Frau Doktor«, sagte sie jammervoll, »ich glaube, ich bekomme eine Grippe. Ich fühle mich so matt und müde. Und da dachte ich, dass ich das besser abklären lasse, ehe es schlimmer wird. Ich lebe doch allein, und wer soll sich denn um mich kümmern? Meine Tochter hat ja einen neuen Partner, da hat sie keine Zeit für mich. Außerdem wohnt sie zu weit weg. Sie sagt ja immer, dass ich das Haus verkaufen und in eine Seniorenresidenz gehen soll. Aber das möchte ich doch nicht, ich schaffe ja meinen Haushalt noch, es ist halt nicht schön, immer allein zu sein.«
Ihr Verdacht hatte sich bestätigt.
Roberta untersuchte Frau Zimmermann, ihr fehlte nichts, sie war einsam, und das konnte schlimmer sein als eine Krankheit.
»Frau Zimmermann, ich schreibe Ihnen jetzt vorsorglich ein paar Vitamine auf, die Ihr Immunsystem stärken. Wissen Sie eigentlich, dass es hier im Sonnenwinkel ein paar sehr nette Damen gibt, die sich um Alleinstehende kümmern? Die Einkäufe für sie tätigen, ihnen vorlesen oder einfach nur Zeit mit ihnen verbringen. Es werden Ausflüge organisiert, Konzert- oder Theaterbesuche. Wäre das nichts für Sie, Frau Zimmermann?«
Beinahe ungläubig hatte die alte Dame zugehört.
»So etwas gibt es?«, erkundigte sie sich skeptisch.
Roberta nickte.
»Und was muss man dafür tun?«, wollte Frau Zimmermann wissen.
»Nichts, wenn Sie daran interessiert sind, dann kümmere ich mich darum. Ich kenne ein paar von diesen netten Damen.«
Frau Zimmermann begann zu strahlen.
»Ich glaube, das hätte ich sehr gern«, gab sie zu. »Ich könnte ja auch einen Kuchen backen, und ich kann auch sehr gut kochen, aber wenn man es für sich allein macht, dann macht es keinen Spaß. Manchmal koche ich tagelang nichts für mich, sondern esse nur eine Scheibe Brot oder mache mir eine Dose auf, die dann meistens nicht schmeckt.«
»Frau Zimmermann, das wird sich ab sofort ändern, das verspreche ich Ihnen.«
Sie musste der alten Dame nicht einmal ein Rezept ausstellen. Zum Glück erinnerte Roberta sich daran, dass ein Pharmavertreter ihr ein paar unverkäufliche Musterpackungen dagelassen hatte.
Frau Zimmermann war hocherfreut, ging, und Roberta blieb nachdenklich zurück.
Frau Zimmermann war kein Einzelfall, es gab viele davon, und um Menschen wie sie machte man sich auch keine großartigen Gedanken, sondern dachte, dass man glücklich und zufrieden sein musste, wenn man in einem so schönen Haus wohnte. Manchmal wurde man sogar beneidet, dass man so privilegiert war, allein in einem Haus wohnen zu dürfen, wo doch Wohnraum so knapp und teuer war.
Dass man einsam sein konnte, daran dachte niemand. Roberta war ja bei Frau Zimmermann auch nicht sofort dahintergekommen. Sie war eine selbstbewusste Frau, die alte Dame.
Um es nicht zu vergessen, machte Roberta sich eine Notiz, jetzt konnte sie sich nicht darum kümmern. Sie würde mit Teresa von Roth oder mit Inge Auerbach sprechen, die hatten so eine kostenlose, freiwillige Betreuung und Nachbarschaftshilfe ins Leben gerufen. Das waren wirklich zwei großartige Frauen. Roberta war sich sicher, dass sie das mit Frau Zimmermann sofort in die Hand nehmen würden.
Der nächste Patient würde schnell wieder gehen. Mit dem musste sie nur die Laborwerte besprechen, die, abgesehen von ein wenig zu hohen Cholesterinwerten, völlig in Ordnung waren. Und die Cholesterinwerte waren nicht so hoch, um mit Medikamenten behandelt zu werden. Das konnte man auch so in den Griff bekommen, mit viel Bewegung, Gewichtsreduktion, mit Vollkorn, Gemüse, fetten Fisch, abends ein Verzicht auf Kohlehydrate. Es konnte so einfach sein.
Dieser Patient war sehr gesundheitsbewusst, bei ihm würden ihre Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Leider schluckten viele Patienten lieber Pillen, anstatt an ihrer Lebensweise etwas zu verändern.
Der Patient kam herein, Roberta begrüßte ihn.
*
Inge Auerbach war noch immer voller Glücksgefühle, als sie vor ihrer Haustür vorfuhr. Ricky war mit der kleinen Teresa bereits nach Hause zurückgekehrt, während Fabian mit den Großen einen weiteren Ausflug machte. Inge hatte es sich nicht nehmen lassen, mit fliegenden Fahnen zu Tochter und Enkelin zu fahren, und sie hatten wunderschöne Stunden miteinander verbracht.
Inge liebte all ihre Enkelkinder, doch etwas so Kleines, so Schutzbedürftiges brauchte einfach mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit. Hinzu kam, dass die kleine Teresa, das Nesthäkchen in der Kinderschar von Ricky und Fabian, wirklich etwas Besonderes war. Sie hatte wache Äuglein, war ein so freundliches Kind, und sie war wunderschön, aber das war ein bisschen subjektiv, denn alle Babys waren hübsch.
Ein glückliches Lächeln umspielte noch immer Inges Lippen, als sie aus ihrem Auto ausstieg, ins Haus gehen wollte. Sie blieb verblüfft stehen, als sie den uniformierten Polizisten entdeckte, der um die Hausecke bog und Fotos machte.
Was hatte das denn zu bedeuten?