Читать книгу Der neue Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman - Michaela Dornberg - Страница 9

Оглавление

Ein uniformierter Polizist vor der eigenen Haustür. Da gingen einem viele Gedanken durch den Kopf.

Habe ich falsch geparkt? Bin ich zu schnell gefahren?

Ist etwas Schreckliches passiert?

Nein, dieser Gedanke kam Inge Auerbach überhaupt nicht. Sie hatte zwar glücklicherweise persönlich eine solche Erfahrung nicht machen müssen, doch aus den Fernsehfilmen wusste man ja, dass in solchen Fällen immer zwei Beamte in Zivil vor der Tür standen, um die Nachricht zu überbringen.

Außerdem, hier war alles anders, dieser Polizist stand ja nicht einmal vor der Haustür, sondern kam durch den Garten gelaufen und fotografierte.

Inge erholte sich sehr schnell von ihrer Überraschung.

»Was tun Sie in meinem Garten, und warum fotografieren Sie?«, herrschte sie den Mann an.

Der kam seelenruhig näher.

»Frau Auerbach?«, erkundigte er sich.

Inge nickte bestätigend. Der Mann war ihr unangenehm, und sie hatte ihn auch noch nie gesehen. In der Siedlung gab es keine eigene Polizeistation, die befand sich in Hohenborn. Und da tummelten sich die Polizeibeamten auch nicht. Die Anzahl war überschaubar, und wenn es auch keine persönlichen Kontakte gab, so kannte man sich doch vom Sehen.

»Schön, dass ich Sie doch noch antreffe. Ich bin Kommissar Lehmann«, stellte er sich vor.

»Schön, aber Sie haben meine Fragen noch nicht beantwortet, Herr Lehmann.«

Er war ein unangenehmer Mensch. Inge konnte das nicht an etwas festmachen, sie fühlte es. Es konnte sein, dass es aber auch an seinem stechenden, kalten Blick lag.

»Ach so, ja, nun, dass ich hier bin, das ist eine reine Präventionsmaßnahme. Kollegen und ich kontrollieren die ganze Siedlung und beraten die Bewohner, wie sie sich vor Einbrüchen schützen können. Die Einbrüche nehmen zu, und es ist auf den ersten Blick zu sehen, dass hier keine armen Leute wohnen.«

Inge bekam ein ungutes Gefühl. Warum glaubte sie ihm nicht?

»Und für diese Präventionsmaßnahmen müssen Sie um das ganze Haus gehen und Fotos machen?«

Er wusste auf alles eine Antwort.

»Na klar, je intensiver wir uns alles ansehen, umso präziser können wir beraten.«

Inge fühlte sich in seiner Gegenwart unbehaglich, dabei war an seinem Aussehen nichts auszusetzen. Er trug eine ordentliche Uniform, sah sauber und adrett aus.

»Herr Lehmann, darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, erkundigte sie sich bei ihm.

Er zögerte nicht, gab ihr den Ausweis, und Inge wurde unsicher. Ließ sie sich jetzt von ihren Gefühlen leiten, und der Mann war wirklich ein harmloser Polizist? Außerdem hatte sie keine Ahnung, wie solche Dienstausweise eigentlich aussahen, bislang wurde ihr noch nie zuvor einer vor die Nase gehalten. Sie warf einen Blick darauf, überlegte, dann sagte sie: »Herr Lehmann, Sie haben doch nichts dagegen, dass ich mich bei Ihrer Dienststelle erkundige? Gewiss kommen Sie von der Polizeistation in Hohenborn, oder?«

Inge griff nach ihrem Handy, um die Polizei anzurufen, er warf ihr einen beinahe hasserfüllten Blick zu, dann drehte er sich abrupt um, um wegzulaufen. Inge versuchte, ihn festzuhalten, er stolperte, dabei fiel ihm das Smartphone aus der Hand, mit dem er die Fotos gemacht hatte, doch Inge stellte geistesgegenwärtig einen Fuß darauf.

Er wollte sie wegschubsen und dabei handgreiflich werden, als ein Nachbar am Haus vorbeiging.

»Hallo, Frau Auerbach«, rief er freundlich.

Herr Lehmann, der Polizist, war für einen Moment verunsichert, dann lief er weg, wenig später hörte man nicht weit entfernt einen Motor aufheulen.

Was war das jetzt gewesen? Inge kam es vor, als sei sie unfreiwillig die Darstellerin in einem schlechten Film geworden.

Welch ein Glück, dass ihr Nachbar gerade vorbeigekommen war, Inge hatte keine Ahnung, was sonst noch passiert wäre.

Sie bückte sich, hob das Smartphone auf.

Dann rief sie: »Hallo, Herr Odenwald, haben Sie einen Moment für mich?« Der Mann blieb stehen, kam zurück.

»Der Beamte schien es ja plötzlich eilig zu haben, gewiss wurde er zu einem Einsatz gerufen«, sagte er arglos.

»Sie kennen den Polizisten?«

»Nein, nicht wirklich, aber er hat sich bei uns umgesehen, hat uns Tipps gegeben, wie wir uns vor Einbrechern schützen können. Eine nette Aktion von der Polizei, doch hoffentlich wird so etwas wie ein Einbruch hier bei uns im Sonnenwinkel niemals geschehen. Bis jetzt hatten wir Glück, und so soll es auch bleiben.«

Er war völlig entspannt.

»Herr Odenwald, haben Sie sich von dem Polizisten den Ausweis zeigen lassen?«, wollte sie wissen.

Herr Odenwald blickte seine Nachbarin ein wenig verwundert an.

»Wozu das denn, Frau Auerbach?«, erkundigte er sich ein wenig erstaunt. »Warum hätte ich das denn tun sollen? Es war schließlich nicht zu übersehen, dass es sich da um einen Polizisten handelte.«

Inge konnte es nicht glauben. Seine Worte schlugen wirklich dem Fass den Boden aus. Eine Uniform reichte aus, um jemandem etwas vom Pferd erzählen zu können?

»Herr Odenwald, ich habe mir den Ausweis zeigen lassen. Das hat diesem Menschen überhaupt nicht gefallen. Und als ich ihm sagte, den Dienstausweis überprüfen lassen zu wollen, da hatte dieser scheinbare Polizist es sehr eilig. Zum Glück konnte ich sein Smartphone sichern, mit dem er die Fotos gemacht hat. Wir werden bestimmt so manche Überraschung erleben. Auf jeden Fall ist es Ihnen zu verdanken, Herr Odenwald, das war der perfekte Augenblick, dass Sie hier vorbeikamen. Ich weiß nicht, wozu dieser Mensch sich sonst noch hätte hinreißen lassen. Es hat ihm nämlich überhaupt nicht gefallen, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin.«

Der arme Herr Odenwald war bei Inges Worten ganz blass geworden. Er konnte es kaum glauben und stammelte: »Sie meinen, er wollte uns nur ausspionieren?«

Inge nickte.

Herr Odenwald schluckte.

»Es ist unfassbar, wir haben ihm geöffnet, haben ihm bereitwillig alles gezeigt, erzählt, haben ihn herumgeführt. Er weiß jetzt über uns Bescheid, und nun muss er nur noch zulangen.«

Er schüttelte den Kopf. »Frau Auerbach, eine solche Dreistigkeit kann es doch eigentlich nicht geben.«

Der arme Mann konnte einem leidtun, sein Weltbild hatte sich gehörig verschoben. Er blickte Inge beinahe Hilfe suchend an.

»Und was soll jetzt geschehen?«

Da hatte Inge eine Idee. »Ich fahre jetzt nach Hohenborn zur Polizei, schildere den Vorfall, überreiche das Smartphone und kann nur hoffen, dass nach diesem Verbrecher sofort eine Fahndung eingeleitet wird. Ich frage mich nur, wie er an diese Uniform gekommen ist. Die sah auf jeden Fall echt aus.«

Das fand Herr Odenwald ebenfalls, und er begrüßte Inges Vorschlag, ja er wollte sie sogar begleiten, doch davon wollte Inge nichts wissen, weil sie da eine bessere Idee hatte.

»Das kann ich allein machen, doch Sie sollten von Haus zu Haus gehen und herausfinden, wo dieser falsche Polizist, der natürlich in Wirklichkeit nicht Lehmann heißt, überall aufgetaucht ist. Das erspart der Polizei Arbeit.«

Diese Idee gefiel Herrn Odenwald, er fand sie großartig, und er zog auch sofort los, während Inge sich erneut in ihr Auto setzte, um nach Hohenborn zu fahren. Sie hatte sich ihre Heimkehr wahrlich anders vorgestellt. Sie war so glücklich gewesen, sie hatte sich weiter den Gedanken an die kleine Teresa hingeben wollen und natürlich auch an ihre Ricky, die eine so großartige Mutter war.

Und mitten hinein in ihre Glücksgefühle war dieser Betrüger aufgetaucht. Es gehörte schon eine ganze Menge von Kaltblütigkeit und Dreistigkeit dazu, von Haus zu Haus zu spazieren und es auszukundschaften für einen lohnenswerten Einbruch.

Inge war nicht eitel, doch jetzt war sie schon ein wenig stolz auf sich, diesen falschen Polizisten nicht nur entlarvt, sondern auch noch sein Smartphone gesichert zu haben, das war bestimmt gutes Beweismaterial für die Polizei. Nun ja, sie hatte Glück, denn wäre Herr Odenwald nicht vorbeigekommen, wer weiß, welchen Ausgang es dann genommen hätte.

Was für ein Tag!

Inge beschleunigte ein wenig das Tempo. In einem solchen Fall war es ja wohl erlaubt. Und da würde man sogar bei einer Verkehrskontrolle Verständnis haben.

Hoffentlich kam das nicht in die Zeitung und man würde sie namentlich erwähnen. Das wollte Inge auf keinen Fall.

*

Inge wollte gerade das Gebäude betreten, als ein Mann durch die Tür kam, den sie sofort erkannte. Es war Benno Tümmler, der Polizeidirektor, der damals mit seiner Frau Mia unbedingt in Rickys Haus einziehen wollte.

Sie hatten sich anders entschieden, und hoffentlich war er jetzt nicht mehr sauer auf sie.

Inge dachte an den Satz – Angriff ist die beste Verteidigung, und deswegen begrüßte sie den Mann freundlich, der sie ebenfalls sofort erkannte.

»Frau Auerbach«, rief er, »ich bin wirklich erstaunt, Sie hier zu sehen. Sie haben doch hoffentlich nichts ausgefressen?«

Diese Worte begleitete er mit einem Lächeln.

»Ich nicht«, antwortete Inge. »Doch es ist etwas passiert, was mich ziemlich beunruhigt.«

Dann erzählte sie ihm, was sich ereignet hatte, und er konnte das kaum glauben.

»Die Einbruchsdiebstähle nehmen rasant zu, jetzt hat es also auch den Sonnenwinkel eingeholt. Frau Auerbach, es ist eine unglaubliche Geschichte. Respekt, wie Sie damit umgegangen sind. Eigentlich sollte es mich nicht wundern, ich habe Sie als eine couragierte Frau kennengelernt. Schade, dass ich jetzt zu einem Termin muss, sonst hätte ich mich der Sache angenommen. Bitte gehen Sie ins Obergeschoss zum Einbruchsdezernat zu Kriminalhauptkommissar Fangmann und sagen Sie dem, dass ich Sie geschickt habe.« Er wollte sich von Inge verabschieden, als ihm noch etwas einfiel: »Es ist ja so schade, dass die Feste bei den Münsters und bei Frau von Rieding und Herrn Heimberg nicht mehr stattfinden. Dass die einmal wegziehen, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber so ist das Leben. Sagen Sie, weiß man schon etwas über den neuen Besitzer?«

Inge hätte ihm jetzt sagen können, dass sie dessen Namen gehört hatte, aber sie hatte keine Lust auf Konversation, sie wollte, dass man nach diesem falschen Polizisten fahndete.

»Tut mir leid, nichts. Aber ich denke, Sie werden beizeiten von ihm erfahren, wenn er so etwas wie einen Empfang geben wird. Sie als Chef der Polizei werden doch auf jeden Fall dabei sein.«

Benno Tümmler fühlte sich geschmeichelt, dann allerdings fiel ihm ein, dass er doch einen Termin hatte, und deswegen verabschiedete er sich schnell von Inge, die es wiederum eilig hatte, hinauf ins Raubdezernat zu gehen.

Inge hatte zwar das Polizeigebäude noch nicht von innen betreten, aber irgendwie unterschieden sich Behörden, Amtsgebäude kaum voneinander. Sie waren alle unpersönlich, steril und alt.

Sie könnte in einem so seelenlosen Bau nicht arbeiten. Auch nicht als Polizeidirektor. Dafür musste man geboren sein.

Aber sie war auch nicht hier, um über so etwas nachzudenken.

Es kam darauf an, an einen tüchtigen, kompetenten Beamten zu geraten, und da konnte der ihretwegen auf einem wackeligen Stuhl oder an einem verstaubten Schreibtisch sitzen.

Inge fand das Zimmer von Kriminalhauptkommissar Henry Fangmann sehr schnell, und sie hatte kaum angeklopft, als sie auch schon hereingebeten wurde.

Es war eine sehr angenehme Männerstimme, das war das Erste, was ihr auffiel, und sie war überrascht, als sie das Büro betrat. Es war zweckmäßig und modern eingerichtet, und auf der Fensterbank gab es auch nicht, wie sonst in Ämtern häufig üblich, eine aus Ablegern gezogene Grünpflanze. An einer weißen Wand hing ein großes Bild eines Surfers, der mit hohen Wellen kämpfte.

Henry Fangmann mochte so Mitte Dreißig sein, er war sportlich, hatte braune Augen und einen offenen Blick.

Er sah ihr interessiert entgegen, und Inge sagte ihm, was sein Chef ihr aufgetragen hatte, dann erzählte sie ihm ihre Geschichte, und er hörte aufmerksam zu.

Als sie ihm das Smartphone auf den Tisch legte, lächelte er sie an.

»Das haben Sie großartig gemacht, Frau Auerbach«, lobte er sie, »es ist gut, dass Sie sofort hergekommen sind.« Er griff nach dem Smartphone, und dann sah er sich gemeinsam mit Inge die Fotos an. Es waren nicht nur viele Häuser vom Sonnenwinkel darauf zu sehen, sondern auch welche aus anderen Orten. Leider stellte sich sehr schnell heraus, dass das Smartphone gestohlen worden war, darüber würde sich der falsche Polizist nicht identifizieren lassen.

»Frau Auerbach, können Sie eine Beschreibung des Mannes geben?«

Das konnte Inge, dieses Gesicht würde sie nie vergessen.

Sie war allerdings sehr überrascht, dass jetzt niemand mit Stift und Papier ins Zimmer kam, um nach ihren Angaben eine Zeichnung anzufertigen, sondern dass man das heute auf dem Computer erledigte. Trotzdem war es für Inge eine aufregende Geschichte, und sie war hinterher sehr stolz auf sich, weil sie eine so exakte Beschreibung abgeben konnte, sie war über sich selbst erstaunt, nach diesem Bild würde man den Mann finden.

Auch Henry Fangmann war überrascht, mit welcher Präzision diese Frau ihre Beschreibung abgegeben hatte.

»Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe, Frau Auerbach«, lobte er sie schon wieder, und Inge freute sich wie ein kleines Kind. Sie war jedoch sehr schnell wieder ernüchtert, als sie erfuhr, wie sehr die Einbruchsrate gestiegen war, dass ganze Einbrecherbanden unterwegs waren und dass die Aufklärungsquote leider niedrig war, da die Verbrecher wieder weiterzogen.

»Es macht mir schon ein wenig Angst, dass bei uns in der Siedlung die Häuser so gut ausgekundschaftet wurden. Für die Verbrecher ist das doch jetzt nur noch ein Durchmarsch, diesem falschen Polizisten wurde nicht nur bereitwillig Auskunft gegeben, nein, ihm wurden auch noch die Räumlichkeiten gezeigt.«

Henry Fangmann schloss sich ihrer Meinung nicht an.

»Sie haben ihm das Smartphone abgenommen, er kann davon ausgehen, dass Sie zur Polizei gehen werden, und natürlich werden wir jetzt Streifen in die Straßen schicken und die Häuser beobachten. Ich kann meine Hand nicht ins Feuer dafür legen, dass Sie vor Einbrechern sicher sein werden, aber ich denke, dass sie erst einmal nicht kommen werden. Die gehen kein Risiko ein. Dank Ihres Handelns wurde das Unheil erst einmal abgewendet. Ich weiß nicht, wie Ihr Haus abgesichert ist gegen Einbruch, aber es gibt schon ein paar Maßnahmen, es den Einbrechern schwer zu machen. Wenn Sie möchten, dann schicke ich Ihnen einen Kollegen vorbei, der sich da bestens auskennt.« Er lächelte. »Einen echten Polizeibeamten.«

Dann nahm er sein Protokoll auf, das Inge unterschrieb, er versprach, sich auch mit Herrn Odenwald in Verbindung zu setzen, er bedankte sich noch einmal bei Inge, und die ging.

Sie war noch ganz aufgeregt, als sie das Gebäude verlassen wollte und blieb überrascht stehen, als sie Rosmarie sah, die es gerade betreten wollte.

»Rosmarie, ich hätte mit allem gerechnet, aber mit dir ganz gewiss nicht. Was machst du denn hier?«

Rosmarie rief: »Das kann ich dich auch fragen.«

Inge erzählte es ihr, und Rosmarie bemerkte: »Dann bist du ja auch eine Heldin.«

»Wieso auch?«, wollte Inge wissen.

»Na, der andere Held ist mein Heinz, der hat nämlich Einbrecher in unserer Villa verjagt, und ich bringe nur noch die Liste mit den Gegenständen vorbei, die bei uns gestohlen wurden.«

Inge musste sich am Geländer festhalten.

Bei den Rückerts war eingebrochen worden?

»Und wurde viel gestohlen?«, erkundigte Inge sich.

»Nein, zum Glück nicht, weil Heinz sich diesen Typen in den Weg gestellt hat.«

»Und wie? Und wo warst du?«

Da begann Rosmarie, die ganze Geschichte zu erzählen.

»Wir schliefen, und da mein Heinz Ohren wie eine Maus hat, wurde der von Geräuschen im Haus wach, weckte mich, das hätte er besser nicht getan. Ich wurde panisch, wollte die Polizei holen, das verhinderte mein Heinz, er bewaffnete sich mit einem Golfschläger, und dann ging er hinunter. Ich weiß nicht, vielleicht waren die Einbrecher Anfänger oder aber sie wollten keine Konfrontation, sie hauten ab.«

»Das war unvernünftig, sie hätten schießen können. Man hört doch die gruseligsten Geschichten. Und sie hätten auch dich knebeln, fesseln, erschießen können.«

»Haben sie aber nicht, und ich war auch nicht dumm, ich habe mich nicht darauf verlassen, dass mein Heinz ein Held ist. Ich habe die Polizei angerufen, und die war sehr schnell da, von den Verbrechern war natürlich nichts mehr zu sehen. Es war ziemlich aufregend, denn die Spurensicherung kam, und wir haben erfahren, dass in dieser Nacht in unserer Gegend mehrere Einbrüche stattgefunden haben. Inge, ist alles nicht furchtbar? In welcher Zeit leben wir denn? Ist man nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden sicher? Bei dir ist es ja zum Glück nicht dazu gekommen, und wir hatten auch Glück, die wirklichen Wertsachen wurden nicht gestohlen, ein paar Leuchter, etwas sonstiges Silber. Es ist alles versichert, das zahlt die Versicherung, auch wenn man sich da erst mal herumschlagen muss. Nein, schlimm ist, dass Fremde unbefugt in dein Leben, in deine Intimsphäre eingedrungen sind. Stell dir mal vor, sie wären in unser Schlafzimmer eingedrungen, hätten zwischen unserer Wäsche herumgewühlt, in unseren intimsten Sachen.«

Inge konnte erst einmal überhaupt nichts sagen. Sie war erschüttert, sie hatte zunächst verhindert, dass etwas passieren konnte, und dieser falsche Polizist war ja auch nicht der Einbrecher gewesen, sondern erst einmal ein Späher. Aber was Rosmarie da erzählt hatte …

Nein, derartige Gedanken sollte man besser nicht ausschmücken, die zogen einen nur herunter, machten Angst.

»Rosmarie, es tut mir ja so leid, dass bei euch eingebrochen wurde, aber na klar, wenn man diese komfortable Villa sieht, da hofft man auf reiche Beute. So einen Einbruch wünscht man nicht seinem ärgsten Feind. Es kann durchaus sein, dass dieser falsche Polizist zu der Bande gehört, die derzeit in Hohenborn ihr Unwesen treibt. Und bis zu uns ist es nicht weit. Aber ich hoffe sehr, dass man dieser Bande sehr schnell das Handwerk legt. Dieser Hauptkommissar Fangmann, bei dem ich war, macht einen sehr kompetenten Eindruck, und er ist auch sehr nett.«

Das bestätigte Rosmarie, und sie erzählte, dass sie zu dem auch wollte, um ihm die Liste der gestohlenen Gegenstände zu bringen.

»Er war kurz bei uns, hat den anderen Beamten gesagt, was sie tun sollten. Ich finde, er sieht auch sehr gut aus, und er hat einen knackigen Hintern.«

Jetzt kam Inge aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Rosmarie …«

Die lachte.

»Du liebe Güte, Inge, es stimmt doch. Und auch wenn man nicht mehr ganz taufrisch ist, wenn man daheim einen Mann hat, den man nie gegen einen anderen eintauschen würde, so kann man doch mal hingucken. Da gibt es sogar so einen Spruch, dass man sich draußen den Appetit holen, aber daheim essen soll oder so ähnlich. Ist ja auch vollkommen wurscht. Ich unterhalte mich auf jeden Fall mit jemandem wie diesem Herrn Fangmann lieber, als mit einem miesepetrigen Beamten, der die Zähne nicht auseinanderbringt. Aber das sind auch wieder Vorurteile. Inge, meine Liebe, ich muss mich sputen. Ich will wieder zu meinem tapferen Helden und ihn ein wenig bewundern, das geht meinem Heinz herunter wie Öl.«

Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander, Inge wollte zu ihrem Auto gehen, dann besann sie sich anders.

Es gab zwar hier im Gebäude eine Kantine, die auch für Besucher geöffnet war, doch darauf hatte Inge keine Lust. Direkt um die Ecke gab es ein kleines Bis­tro. Dort wollte sie schnell noch einen Kaffee trinken, den brauchte sie jetzt, und dann wollte sie die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal überdenken. Und eigentlich konnte da auch ein Schoko-Cup-Cake nicht schaden, die gab es nämlich in dem Bistro ebenfalls.

Eine gute Idee!

Inge hatte es eilig, zu dem Bis­tro zu kommen, und irgendwann später, wenn sie wieder daheim war, würde sie das, was geschehen war, wieder einholen, doch dann war sie gestärkt. Und zum Glück war ja noch nichts passiert.

Aber dass auch bei den Rückerts eingebrochen worden war! Und ehrlich gesagt, hätte sie Heinz einen solchen Mut nicht zugetraut. Mit einem Golfschläger auf Einbrecherjagd zu gehen, Respekt!

Aber jetzt wollte sie sich mit diesem Thema nicht mehr beschäftigen und ihren Kaffee und die kleine, feine Köstlichkeit genießen. Und wer weiß, wenn sie da sonst noch etwas anmachte, würde sie nicht nein sagen. Sie brauchte schließlich Nervennahrung …

*

Angela Halbach war ganz aufgeregt, als sie mit dem Fahrrad Richtung Sternsee einbog. Sie hatte das Rad damals, als sie das Haus im Sonnenwinkel gekauft hatten, in der Garage gefunden, und heute benutzte sie es zum ersten Male. Zum ersten Male seit ihrer Jugend. Man sagte zwar, dass man das nie verlernen würde, und das schien auch zu stimmen. Es funktionierte, dennoch fühlte sie sich ein wenig verunsichert. Doch das konnte auch ein wenig daran liegen, dass es seit Wochen ihr erster Ausflug war. Wegen ihrer Krankheit, dieser schrecklichen Gürtelrose, hatte sie das Haus hüten müssen. Die Schmerzen waren unerträglich gewesen. Auch jetzt war sie noch nicht schmerzfrei, doch das war nichts gegen das, was sie durchgemacht hatte. Und von Frau Dr. Steinfeld, dieser großartigen Ärztin, wusste sie, dass die Schmerzen auch noch lange andauern konnten. Wenn man Pech hatte, dann konnte es sogar bis zu einem Jahr gehen. Doch so wollte sie nicht denken. Sie musste sich ein Beispiel an ihrer Mutter nehmen. Um deren Gesundheit hatte man keinen Pfifferling gegeben, und vermutlich säße die Ärmste noch immer im Rollstuhl, wären sie nicht hierher gezogen. Das war die richtige Entscheidung gewesen, eigentlich eine Fügung des Himmels. Denn sie waren nicht nur auf die beste Ärztin der Welt gestoßen, den besten Physiotherapeuten, sondern ihre Mutter hatte alte Bekannte aus ihrer Heimat getroffen, Magnus und Teresa von Roth, die mittlerweile richtig gute Freunde geworden waren. Ja, es hatte sich gut gefügt. Angela wollte nicht daran denken, dass ihre Ehe dabei in die Brüche gegangen war. Die hatte nie auf einem festen Fundament gestanden, sie hätte Wim Halbach niemals heiraten dürfen. Sie konnte nicht mehr sagen, was sie zu dieser Heirat bewogen hatte. Sicherheit? Nun, Wim konnte sehr charmant sein, wenn er wollte, und ob er sie geliebt hatte, das wusste sie nicht. Er brauchte wohl nur ein Aushängeschild, und da machte sich ein Name aus altem, wenn auch verarmtem Adel, Angela von Bergen, gut.

Nein!

Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, das tat nur weh. Wim hatte seinen wahren Charakter gezeigt, als das mit ihrer Mutter geschehen war. Obwohl sie in einer großen Villa mit vielen unbewohnten Räumen gelebt hatten, hatte er sich geweigert, ihre Mutter bei sich aufzunehmen. Er hatte sie sofort in ein Heim abschieben wollen. Wie eiskalt er doch war. Angela konnte auch jetzt nur noch voller Entsetzen an diese Zeit denken, und sie bereute nicht, sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen zu haben. Das war ja wohl selbstverständlich. Und eigentlich bereute sie auch nicht die Scheidung von Wim, mit so einem Menschen wollte sie nichts zu tun haben. Und wie er sie behandelt hatte. Nachdem er sie vor die Alternative gestellt hatte, entweder ohne Mutter zu ihm zurück oder aber die Scheidung, hatte er seinen wahren Charakter erneut gezeigt. Er hatte die Scheidung eingereicht, und da sie einen Ehevertrag hatten, musste er nicht einen Cent für sie zahlen, obwohl sie jahrelang für einen funktionierenden Haushalt, Gästebewirtung und für das Ausrichten von Gesellschaften gesorgt hatte.

Vorbei!

Sie trat heftiger in die Pedalen, und das Rad schoss nach vorne, das erschreckte sie so sehr, dass sie sofort auf die Rücktrittbremse trat. Ganz so verwegen wollte sie doch nicht sein.

Dachte sie doch lieber an etwas Schönes, und das war zweifelsohne die Gesundheit ihrer Mutter. Es war abzusehen, dass sie irgendwann ohne Stöcke, einen Rollator und vor allem ohne Rollstuhl auskommen würde. Es war wie ein Wunder. Klar hatten Frau Dr. Steinfeld und die anderen großen Anteil am Genesungsprozess ihrer Mutter, doch die hatte auch selbst dazu beigetragen mit ihrem Willen, mit ihrer Stärke und ihrem Wunsch, wieder gesund zu werden. Manchmal wünschte Angela sich, ein wenig mehr von ihrer Mutter zu haben. Vielleicht lag es auch ein wenig daran, dass ihre Mutter durch eine harte Schule des Lebens gehen musste, mit Krieg, dem Verlust der Heimat, mit einem bitteren Neuanfang. Das hatte sie nicht zu spüren bekommen. Sie war behütet aufgewachsen, und in sie hatte man hineingestopft, was man selbst entbehren musste.

Jetzt wollte Angela an überhaupt nichts mehr denken, sondern nur noch genießen – den See, auf dem sich die Wellen leicht kräuselten und dessen Wasser in den verschiedensten Grau- und Blautönen schimmerte. Möwen flogen pfeilschnell über das Wasser, um sich plötzlich blitzschnell auf die Beute zu stürzen. Zwei Schwäne zogen ihre Bahnen, einige Enten schienen sich um etwas zu streiten. Der Streit wurde beendet, indem ein Erpel mit einem prächtigen Gefieder sich dazwischenschob und sich das Objekt der Begierde schnappte. Es war wie im wahren Leben, wenn sich zwei streiten, in dem Fall waren es sogar vier, freut sich der Dritte.

Angela hätte hier noch eine ganze Weile verweilen können, doch ihr wurde allmählich kalt, außerdem wollte sie, wenn möglich, den See umrunden.

Sie stieg wieder auf ihr Fahrrad, fuhr los, doch dann, nach wenigen Metern war es vorbei. Es schepperte, und da sah sie die Bescherung. Die Kette war heruntergesprungen. Wie ärgerlich. Sie versuchte ihr Glück, indem sie das Fahrrad an einen Baum stellte und die Kette wieder aufziehen wollte. Es ging nicht. Also drehte sie das Fahrrad um, versuchte ihr Glück erneut.

Wieder geschah nichts!

Das hätte sie sich einfacher vorgestellt!

Vor allem, immer wenn Angela glaubte, es geschafft zu haben, sprang das dumme Ding erneut herunter.

Um den ganzen See herumzuradeln, das konnte sie sich jetzt wohl abschminken. Sie würde ihr Fahrrad nach Hause zurückschieben müssen. Während sie das dachte, fiel ihr ein eigentlich banaler Satz ein: »Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt.«

Wer sich so etwas immer ausdachte. Sie könnte das auf jeden Fall nicht. Aber was sie gern könnte, das war, eine Fahrradkette aufziehen.

Sie versuchte es noch einmal. Und jetzt erwachte auch ihr Ehrgeiz. So schwer konnte das nun auch nicht sein, verdrehte Hacke. Sie hatte es doch schon beinahe geschafft. Was machte sie da nicht richtig?

Angela war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht mitbekam, dass sich ihr jemand näherte, vor ihr stehen blieb.

Erst als eine sympathisch klingende Männerstimme sich erkundigte: »Kann ich Ihnen helfen?«, zuckte sie zusammen, richtete sich auf. Ihre Finger waren vom Fahrradöl verschmutzt, und ihre bislang vergeblichen Aktivitäten hatten auch deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Wäre ihr das bewusst gewesen, dann hätte sie sich bestimmt nicht so unbefangen mit dem Mann, den der Himmel ihr geschickt hatte, unterhalten. Sie erzählte ihm von ihrem Missgeschick.

Er erkundigte sich: »Darf ich?«

Sie nickte, trat beiseite, und er wandte sich dem Fahrrad zu.

Angela hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte, bis er die Kette aufgezogen hatte, eine Minute, vielleicht nur eine halbe?

Wie peinlich! Er machte zum Glück keine spöttische Bemerkung wie ›typisch Frau‹ oder so was, was Männer in solchen Fällen losließen.

Er lächelte sie an.

»Jetzt steht Ihrer Weiterfahrt nichts mehr im Wege. Aber Sie sollten bei Gelegenheit die Kette auswechseln lassen, sie ist alt und kann immer wieder herunterspringen, außerdem ist das Fahrrad wohl lange nicht benutzt worden.«

Angela bedankte sich bei diesem hilfreichen Fremden, der winkte ab.

»Das habe ich gern getan, ja, dann angenehme Weiterfahrt. Der See ist wirklich sehr schön, und er ist größer als man denkt.«

Er nickte ihr zu, dann ging er, Angela sah ihm nach, das ging nicht lange, denn dann war er schon um eine Wegbiegung verschwunden.

Wenn sie seine letzten Worte richtig interpretierte, dann war er wohl nicht von hier, und das fand sie sehr schade.

Sie überlegte. Was sollte sie jetzt tun? Das, was er da über die Kette gesagt hatte, klang nicht gerade ermutigend. Wenn die nun wieder abging? Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ihr dann noch ein so hilfsbereiter Retter auf den Weg kam.

Es war jetzt vernünftig, zurückzugehen, und das tat Angela auch. Vorsichtshalber schob sie ihr Fahrrad, und erst, als die Siedlung in Sicht kam, stieg sie auf. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren.

Sie war gerade am Grundstück angekommen, als die Haustür sich öffnete und Teresa von Roth durch die Tür trat.

Das überraschte Angela nicht, denn weil Teresa gekommen war, hatte sie sich ja dazu entschlossen, um den See zu radeln.

»Du bist aber schnell zurück, Angela«, rief Teresa, »ich wollte bei mir gerade ein Spiel holen, das ich mit deiner Mutter machen wollte. Wir haben uns darüber unterhalten, und das hat bei Sophia und mir Kindheitserinnerungen erweckt. Aber ich denke, das kann ich jetzt lassen, verschieben wir es auf morgen. Du bist ja wieder daheim, und da wäre es unhöflich, wenn Sophia und ich spielen würden. Und du hast doch bestimmt keine Lust, oder?«

Die hatte Angela nicht, Teresa kam näher, und jetzt entdeckte sie die verräterischen Spuren in Angelas Gesicht.

»Hattest du Probleme mit der Kette?«, erkundigte Teresa sich, und das zeigte Angela, dass das wohl keine Seltenheit war.

Das bestätigte sie, um sich allerdings ein wenig verwundert zu erkundigen: »Woher weißt du das, Teresa?«

Die lachte, deutete auf Angelas Gesicht.

»Die Spuren sind nicht zu übersehen.«

Wie peinlich, so hatte ja auch dieser hilfsbereite Fremde sie gesehen. Na und? Machte das etwas aus? Den würde sie vermutlich niemals wiedersehen. Und wenn auch, sie musste sich ihm nicht als verführerische Frau präsentieren.

Aber dennoch. Vielleicht wusste Teresa etwas über ihn.

Sie erzählte von dem Mann, der ihr geholfen hatte, und Teresa rief: »Welch ein Glück, mein Kind. Ich wäre da auch total überfordert gewesen. Es gibt ja Frauen, die da den Männern etwas vormachen können. Dazu gehöre ich nicht. Was war das denn für ein Mann?«, erkundigte sie sich ein wenig neugierig. »Vielleicht kenne ich ihn.«

Angela beschrieb den Fremden, doch Teresa konnte mit der Beschreibung nichts anfangen, winkte schließlich ab und sagte: »So wichtig ist das nun auch wieder nicht. Es wird schon jemand vom Sonnenwinkel sein.«

Dass sie das nicht glaubte, behielt Angela für sich.

Teresa wechselte auch sofort das Thema: »Ich komme noch mal rasch mit rein, um Sophia zu sagen, dass ich dann morgen mit dem Spiel kommen werde, und ich muss mich auch noch von ihr verabschieden, einfach zu gehen, das wäre unhöflich. Und während ich das tue, kannst du dein Gesicht sauber machen, und wie ich sehe, haben es deine Hände auch nötig.«

Sie ging ins Haus zurück, Angela brachte das Fahrrad in die Garage, und dann lief auch sie ins Haus und verschwand ins Badezimmer. Auf dem Weg dorthin hörte sie Teresa und ihre Mutter herzhaft miteinander lachen.

Ihr Ausflug war nicht so verlaufen, wie sie das geplant hatte, aber es war schön zu sehen, wie die beiden Frauen sich verstanden. Sie waren wirklich ein Herz und eine Seele, und dafür konnte man nur dankbar sein.

*

Als es an ihrer Haustür Sturm klingelte, war Roberta sehr irritiert. So klingelte nur ihre Freundin Nicki. Doch die hatte doch ihre Einladung zum Wochenende bedauerlicherweise abgelehnt.

Wer mochte das sonst sein?

Sie kannte niemanden. Und es wäre so schön gewesen, wenn Nicki ihre Einladung angenommen hätte. Roberta war allein im Haus. Alma war zu einem Konzert mit ihrem Gospelchor unterwegs.

Alma hatte sie mit allem, wie konnte es auch anders sein, versorgt, und das gut und reichlich. Wenn man all das sah, dann konnte man den Eindruck gewinnen, Alma bliebe nicht über das Wochenende weg, sondern ging auf eine lange Weltreise.

Roberta hätte es sich mit ihrer Freundin Nicki so gemütlich machen können, und sie hätten aus dem Vollen schöpfen können. Es war wirklich jammerschade, dass Nicki die Einladung abgesagt hatte.

Es klingelte erneut. Diesmal wollte offenbar jemand die Klingel abreißen. Das musste Roberta unbedingt verhindern. Sie eilte zur Haustür, riss sie auf, blieb verblüfft stehen.

Was sie da sah, das konnte sie nicht glauben.

Sie hätte wirklich mit allem gerechnet, mit ihrer Freundin Nicki allerdings nicht. Doch warum wunderte sie sich eigentlich? Wenn es darauf ankam, dann konnte man sich auf Nicki verlassen, da konnte man auf sie Häuser bauen. Andererseits war sie für so manche Überraschung gut. Und das war jetzt eine, keine Frage.

Roberta war so verblüfft, dass sie zunächst einmal nichts sagen konnte. Sie starrte Nicki an wie einen Geist, ehe sie sich erkundigte: »Sag mal, ich habe mich doch nicht verhört. Du hattest meine Einladung abgesagt, oder?«

Nicki lachte unbekümmert.

»Zweifle nicht an dir, das habe ich in der Tat, meine Liebe. Doch ich habe es mir anders überlegt, und ich hoffe, es macht dir nichts aus. Doch sag mal, wo bleibt die Umarmung? Wo bleibt die Begrüßung?«

Sie ließ ihren Worten sofort Taten folgen und umarmte Roberta stürmisch.

»Es ist so schön, dich zu sehen, altes Haus.«

Sie freute sich wirklich, und das war bei Roberta nicht anders. Es war wirklich eine stürmische Begrüßung, dann zog Roberta ihre Freundin ins Haus.

Gerade hatte sie sich noch solche Gedanken gemacht, und nun hatte der Himmel ihre Gebete erhört. Mit Nicki war es niemals langweilig, sie konnte davon ausgehen, dass nun ein kurzweiliges Wochenende vor ihnen lag, und um ihre Verpflegung mussten sie sich dank Alma nicht kümmern. Es wäre zwar einfach gewesen, in den ›Seeblick‹ zu gehen. Doch das wollte sie Nicki nicht zumuten. Die hatte zwar großspurig erklärt, über Roberto hinweg zu sein, doch das nahm Roberta ihr nicht ab. Und man musste das Schicksal nicht herausfordern.

Nicki wollte einen Kaffee trinken, und den bekam sie natürlich auch, und Kaffee zu kochen, das war für Roberta keine Herausforderung.

Wenig später saßen sie sich gegenüber. Nachdem die erste Wiedersehensfreude sich gelegt hatte, und weil sie sich so gut kannten, erkundigte Roberta sich: »Nicki, weswegen bist du wirklich hier?«

Die fühlte sich ertappt, wurde rot, begann in ihrem Kaffee herumzurühren, obwohl es da nichts zu rühren gab.

Roberta wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, und Nicki überlegte sich, wie sie sich am besten herausreden konnte, denn belügen würde sie ihre Freundin niemals.

»Es gibt doch einen Grund, Nicki, oder?«, wollte Roberta nach einer Weile wissen.

Nicki legte den Kaffeelöffel weg.

»Okay, es gibt einen Grund, aber ehe ich dir den nenne, versprich mir, nicht auszuflippen.«

Es wurde ja immer schöner.

»Gut, ich verspreche es, doch rede endlich und spanne mich nicht ewig auf die Folter.«

Nikola Beck, man vergaß manchmal, wie sie eigentlich hieß, war wirklich nicht auf den Mund gefallen, und sie konnte ohne Punkt und Komma reden, das fiel ihr jetzt sichtlich schwer.

»Nicki, mach es nicht so spannend.«

Nicki holte tief Luft, dann sagte sie so leise, dass man sie kaum verstehen konnte: »Es hat mir keine Ruhe gelassen, ich hatte auf einmal das Gefühl, noch einmal zu …, äh …, eben zu …, nun ja …, zu dieser Frau gehen zu müssen.«

Nein, das durfte jetzt nicht wahr sein. Wie schade, dass Roberta ihrer Freundin versprochen hatte, nicht auszuflippen, das wäre jetzt der richtige Grund dafür. Wurde Nicki eigentlich niemals schlau? Sie hatte versprochen, nicht mehr zu irgendeiner Spökenkiekerin zu gehen, kein Geld mehr für einen solchen Unsinn auszugeben. Egal, ob Pendel, Karten, Kugel, Kaffeesatz oder was auch immer, es hatte Nicki niemals etwas gebracht, außer zerstörten Hoffnungen, die Geld gekostet hatten.

Roberta zog es vor, nichts zu sagen. Wenn sie Nicki jetzt verärgerte, wäre die durchaus in der Lage, aufzustehen, zu gehen und nach Hause zurückzufahren. Und das wollte Roberta nicht, nicht wegen eines solchen Unfugs.

Nicki wäre es lieber gewesen, Roberta hätte sich jetzt aufgeregt, dass sie so überhaupt nichts sagte, verunsicherte Nicki noch mehr. Sie warf Roberta einen schrägen Blick zu.

»Bist du jetzt sauer auf mich?«

Roberta zuckte die Achseln.

»Nicki, dazu sage ich nichts mehr, meine Meinung zu diesem Thema kennst du, und daran hat sich nichts verändert.«

Nicki trank etwas von ihrem Kaffee.

»Sie hat mir gesagt, dass ich diesen Mann treffen werde, dass er mir ganz nahe ist. Und da es ja nicht bei mir daheim oder bei mir in der Stadt sein kann, da dachte ich, dass es nur bei dir oder in Hohenborn sein kann.«

Nicki war eine so kluge Frau, aber manchmal konnte sie kindlich naiv sein. Roberta hätte sie jetzt am liebsten geschüttelt. Sie war sauer, und deswegen konnte sie sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Und was willst du jetzt tun? Dich mit einem Lautsprecher auf den Marktplatz in Hohenborn setzen und nach diesem Mathias rufen?«

In Nickis Augen schimmerten Tränen. Das hatte Roberta nun wirklich nicht gewollt.

»Verzeih mir, Nicki. Das war jetzt gemein.«

Nicki winkte ab. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, dann würde ich vermutlich auch so handeln. Aber Mathias ist etwas Besonderes, wir waren von ersten Augenblick an seelenverwandt. Und so etwas wie ihn habe ich noch nie zuvor kennengelernt.«

Roberta konnte nicht anders.

»Nicki, in deinem Leben gab es auch noch nie zuvor einen Mann, der mit dir Currywurst essen wollte, die du dann auch noch bezahlt hast. Aber gut, meinetwegen können wir nach Hohenborn fahren, ich brauche noch ein paar derbe Schuhe für meine Wanderungen um den See, und apropos See, um den können wir ebenfalls laufen. Da tun wir gleich etwas für unsere Gesundheit. Nicki«, jetzt wurde ihre Stimme ernst, »man läuft seinem Glück nicht hinterher, und man lässt es sich schon gar nicht von einer Wahrsagerin voraussagen. Wenn es so sein soll, dann passiert es, so etwas nennt man Schicksal.« Sie bemerkte Nickis Blick und fügte hinzu: »Du kannst dir natürlich einen Partner auf einem Internetportal suchen. Das hast du hinter dir, und es war mehr als enttäuschend, weil nirgendwo so gelogen wird wie auf diesen Portalen. Komm, lass uns davon aufhören. Ich freue mich auf jeden Fall sehr, dass du hier bist. Und wir machen uns ein schönes Wochenende. Und wenn das Glück bei dir anklopft, dann machen wir einfach die Tür auf und lassen es herein.«

Nicki warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. »Wie sieht es mit deinem Glück aus? Hat dein Lars schon signalisiert, wann er von seinen Eisbären zurückkommen wird?«, wollte Nicki wissen.

Roberta schüttelte den Kopf.

»Hat er nicht, doch er hat mir einen wunderschönen Strauß roter Rosen geschickt, und er hat mir geschrieben, wie sehr er mich liebt und wie sehr er mich vermisst.«

»Und wie sieht es mit dem goldenen Ring an deinem Finger aus, Roberta?«

Natürlich hatte sie darüber schon mal mit Nicki gesprochen und die kannte ihre geheimen Wünsche. »Ach Nicki, das sind doch Mädchenträume, genau wie der von dem Ritter auf dem weißen Pferd.

Die Qualität einer Liebe hängt nicht davon ab, dass man verheiratet ist. Ich bin fest entschlossen, mich nicht mehr verrückt zu machen. Die Rheinländer haben da wirklich einen schönen Spruch: Wat kütt, dat kütt. Außerdem muss ich mir jetzt den Kopf darüber wirklich nicht zerbrechen.

Lars ist in der Arktis, du bist hier, zerbrechen wir uns also den Kopf darüber, was wir zuerst unternehmen.«

Nicki nickte begeistert. Es war nicht schwer zu erraten, was die jetzt am liebsten sofort tun würde.

»Komm, Nicki, trinken wir unseren Kaffee aus, und dann fahren wir nach Hohenborn, und wenn wir zurückkommen, dann nehmen wir deine Reisetasche mit ins Haus.«

Nicki schüttete den Rest ihres Kaffees in sich hinein und rief: »Fertig.«

Roberta schüttete den Rest ihres Kaffees in die Spüle.

»Ich ziehe mir nur noch andere Schuhe an«, sagte sie, »und dann können wir meinetwegen losfahren.«

Nicki war so hoffnungsvoll, so freudig erregt. Roberta glaubte nicht an das, was diese Frau Nicki vorausgesagt hatte, und sie überlegte schon jetzt, womit sie ihre Freundin später aufmuntern konnte.

Vielleicht mit einem schönen Film?

Nein, das war keine gute Idee für jemanden, dessen Herz gebrochen war.

Sie konnte einfach nicht begreifen, was Nicki an diesem Mathias fand. Sie war ja wie besessen von ihm.

Tja, Nicki und ihre Männer. Das war eine unendliche Geschichte, Roberta war so froh, dass sie sich auf nur einen Mann konzentrieren musste, ihren Mr Right, ihren Lars mit den unglaublich blauen Augen.

»Nicki, ich bin fertig, wir können losfahren«, rief Roberta, dieser Aufforderung leistete Nicki sofort Folge, und wenig später saßen sie im Auto und fuhren Richtung Hohenborn. Roberta war froh, den Geistesblitz gehabt zu haben, ihr Auto zu nehmen, Nicki wäre voller Erwartungshaltung losgebrettert und hätte auf alles geachtet, nur nicht auf die Geschwindigkeitsbegrenzung …

*

Pamela Auerbach war ein gutmütiges Mädchen, und sie war in keiner Weise nachtragend. Als sie Maren und Tim Bredenbrock entdeckte, die wie verloren im Vorgarten des Hauses herumstanden, in das sie im Begriff waren einzuziehen, sprang Pamela von ihrem Rad, lehnte es an den Gartenzaun, dann ging sie auf die beiden zu.

»Hi, Maren, hi, Tim«, begrüßte sie die beiden.

Tim antwortete: »Hi«, während seine Schwester so tat, als habe sie nichts gehört. Das konnte Pamela überhaupt nicht verstehen, sie hatte dem Mädchen doch nichts getan.

Sie überlegte, wie sie die beiden Jugendlichen aus der Reserve locken konnte, und da hatte sie eine Idee. Es stimmte zwar nicht, doch was nicht war, das konnte ja noch werden.

»Ich bin auf dem Weg zur Felsenburg«, sagte sie und bemühte sich, ganz cool zu sein, »habt ihr keine Lust, mitzukommen?« Tim bekam glänzende Augen, und auch bei seiner Schwester erwachte so etwas wie Interesse. »Du meinst die Ruine da oben?« Pamela nickte.

»Die gehörte der Familie meines Freundes Manuel, da waren wir oft, und da ist es auch ganz toll. Leider wurde alles verkauft, und Manuel lebt jetzt in Arizona. Ich glaube, wenn es gegangen wäre, dann hätte er die Felsenburg mitgenommen. Die hat ihm nämlich auch gefallen, und wir haben es zwar nie so richtig herausgefunden, aber wir waren uns immer sicher, dass es da noch verschüttete Geheimgänge gibt.«

Geheimgänge!

Tim war ein Junge, und er liebte im Augenblick gerade Gruselgeschichten, in denen natürlich auch Geheimgänge vorkamen. Er warf seiner Schwester einen vorsichtigen Blick zu.

»Geheimgänge«, sagte sie beinahe verächtlich, »wenn es die gäbe, dann hätte man die längst gefunden. Man hat nicht gesucht, denn was sollte es bei einer Ruine denn bringen. Man käme von einem Trümmerhaufen zum nächsten. Aber hingehen würde ich trotzdem gern. Irgendwie hat die Ruine was.« Sie blickte ihren Bruder an. »Sollen wir mitgehen?«

Welche Frage!

»Natürlich«, rief er sofort, und er setzte sich auch direkt in Bewegung, ehe seine Schwester es sich anders überlegen konnte.

Bingo! Welch ein Glück, dass sie die Idee mit der Felsenburg gehabt hatte. Und dorthin zu gehen, das war ja auch keine Strafe. Sie waren immer dahin gegangen, heute würde sie vermutlich ein wenig traurig sein, weil Manuel nicht bei ihr war.

Pamela ließ ihr Fahrrad am Zaun stehen, sie gingen los, Pamela erkundigte sich vorsichtshalber: »Müsst ihr eurem Vater nicht Bescheid sagen?«

Tim sagte nichts, und Maren schüttelte den Kopf. Pamela wusste ja nicht, dass die beiden noch immer mit ihrem Vater ein wenig im Clinch lagen, weil er sie hierher verfrachtet hatte, in eine Gegend, in der sich Wölfe und Füchse gute Nacht sagten. Wenn er sie nicht sah, sollte er sich doch ruhig ein paar Sorgen um sie machen.

Sie zogen los, und es kam sogar so etwas wie eine Unterhaltung zustande, was allerdings in erster Linie an Pamela lag, die alles über die Felsenburg erzählte, was sie wusste.

Maren und Tim hörten interessiert zu.

»Ihr habt hier eine ganz schön heile Welt«, bemerkte Maren. Und das klang beinahe ein wenig neidisch.

»Wie meinst du das?«, wollte Pamela wissen.

Maren zuckte die Achseln.

»Na ja, von Problemen keine Spur. Alles Friede-Freude-Eierkuchen. Ihr könnt euch bestimmt nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn einem das Leben um die Ohren fliegt.«

Pamela sah das andere Mädchen ein wenig verständnislos an, und das machte Maren wütend.

»Verflixt noch mal, wir mussten hierher ziehen, weil wir mit unserem Vater allein sind. Unsere Mutter ist mit einem anderen abgehauen. Weißt du, wie man sich da fühlt, wenn die eigene Mutter nichts mehr mit einem zu tun haben will, wenn ihr eigenes Leben ihr wichtiger ist als das ihrer Kinder?«

Pamela kannte ja die Geschichte von ihrer Mutter, aber sie tat so, als habe sie die zum ersten Mal gehört. Irgendwie stimmte es ja auch ein wenig, sie hatte sie zum ersten Mal aus dem Mund einer Beteiligten gehört. Und das hörte sich doch noch schlimmer an, als wenn ein Dritter darüber berichtete.

Man sah es Maren an, und man hatte es auch ihrer Stimme angehört, wie sehr sie das alles mitnahm.

»Das ist wirklich schlimm«, sagte Pamela, »aber auch hier ist nicht alles eitel Sonnenschein. Ich wusste beispielsweise nicht, dass ich überhaupt keine gebürtige Auerbach bin, sondern dass man mich adoptiert hat. Und ich habe es erfahren, rein zufällig, weil zwei Frauen sich darüber unterhalten haben, als ich bei einem Eisbecher bei ›Calamini‹ saß. Da bricht erst einmal die Welt zusammen. Ich wollte nur weg, und zum Glück kam mein Bruder Hannes, der ja nicht wirklich mein Bruder ist, und er hat mich mit nach Australien genommen. Da habe ich bis vor Kurzem gelebt. Und als ich wiederkam, musste ich erfahren, dass Manuel nach Arizona zieht, wo er sich, wie gesagt, mittlerweile aufhält. Hannes sagt immer, das Leben ist kein Ponyhof. Und das stimmt.«

Nach dieser Eröffnung war es still, dann rief Maren: »Es tut mir leid, das hätte ich nicht gedacht. Und entschuldige bitte.«

»Wofür?«

»Na ja, als wir dich das erste Mal sahen und du so nett zu uns warst, da war ich gemein zu dir. Das hatte aber nichts mit dir zu tun, sondern mit diesem Sonnenwinkel.«

Jetzt musste Pamela es einfach loswerden.

»Das ist der schönste Platz auf der ganzen Welt«, rief sie im Brustton der Überzeugung.

Maren und Tim blickten sie an.

Wenn das jemand sagte, der sogar in Australien gelebt hatte, dann war es hier vielleicht doch nicht so schlimm? Diese Pamela war auf jeden Fall sehr nett.

Zwischen ihnen hatte sich etwas verändert. Sie waren ein wenig so etwas wie Komplizen geworden, und das war schön. Sie unterhielten sich, natürlich musste Pamela über ihr Leben in Australien erzählen, und ganz besonders das, was sie über Hannes erzählte, beeindruckte die beiden Bredenbrock-Kinder.

Sie waren bestens gelaunt, als sie oben ankamen. Pamela kam sich ein bisschen vor wie eine Fremdenführerin. Sie zeigte den beiden, wo Manuel mit seiner Familie gewohnt hatte, deutete auf das Herrenhaus und sagte: »Und da hat Frau von Rieding mit ihrem Mann gewohnt, und sie …«

Sie brach ab, weil sich in diesem Augenblick die Haustür öffnete, ein Mann herausgestürmt kam und sie anherrschte: »Das ist Privatbesitz. Was habt ihr hier verloren?«

Wer war dieser Mann? Der neue Besitzer?

»Wir sind auf dem Weg zur Felsenburg, die möchte ich Maren und Tim gern zeigen. Sie sind gerade erst in den Sonnenwinkel gezogen.«

»Das ist mir egal. Ihr habt hier nichts verloren, verstanden?«

»Manuel Münster, der früher hier gewohnt hat, ist mein Freund. Wir …, wir durften immer auf die Felsenburg.«

»Was früher war, das interessiert niemanden, früher hatten wir auch einen Kaiser. Verschwindet, und lasst euch hier niemals mehr blicken. Sollte das geschehen, dann bekommt ihr eine Anzeige, weil das nämlich Hausfriedensbruch ist, verstanden?«

Die Kinder standen wie gelähmt da, als der Mann bedrohlich näher kam, drehten sie sich abrupt um und liefen zurück.

Es dauerte eine Weile, ehe Pamela in der Lage war, dazu etwas zu sagen. Der Schock saß tief in ihren Knochen. Seit sie hier wohnten, gehörte die Felsenburg zu ihrem Leben, und nun wurde sie verjagt wie eine Verbrecherin.

Es dämmerte ihr allmählich. Sie hatte nicht nur ihren Freund Manuel verloren, sondern alles, was ihr früheres Leben hier oben ausmachte, insbesondere die Felsenburg.

»Tut mir leid«, sagte sie, nachdem sie schon eine Weile schweigend den Rückweg zurückgelegt hatten. »Das war früher nicht so.«

Maren legte einen Arm auf ihre Schulter.

»Was da passiert ist, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen. Du kannst doch nichts dafür, dass sich da alles geändert hat. War das der neue Besitzer?«

»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass alles ganz, ganz schrecklich ist. Die Felsenburg ist für immer verloren, wenn das die Frau von Rieding wüsste. Die hatte immer ihren Spaß, wenn wir zur Felsenburg hinaufgegangen sind. Und wenn wir dann wiederkamen, da hatte die Frau von Rieding stets eine Leckerei für uns parat. Eine kleine Wegzehrung für die tapferen Helden, hat sie dann immer gesagt.«

Pamela mochte überhaupt nicht daran denken, wie schön das immer gewesen war.

»Es war auf jeden Fall sehr nett von dir, dass du uns das zeigen wolltest«, bemerkte Tim, der immer zutraulicher wurde. »Wir können ja auch ein andermal etwas gemeinsam unternehmen«, fügte er nach einem vorsichtigen Blick auf seine große Schwester hinzu.

Maren war ganz offensichtlich friedlich gestimmt.

»Klar können wir das«, sagte sie großzügig.

Die ersten Häuser des Sonnenwinkels kamen in Sicht, gerade als sie beratschlagen wollten, was sie demnächst gemeinsam unternehmen könnten, kam ihnen ein Mann entgegengelaufen.

»Da seid ihr ja«, rief er, und aus seiner Stimme klang eindeutig Erleichterung. »Wo seid ihr gewesen? Ihr kennt euch doch hier noch nicht aus? Warum habt ihr mir nicht Bescheid gesagt? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich das fremde Fahrrad am Gartenzaun entdeckte.«

Maren war anzusehen, wie peinlich ihr der Zwischenfall war. Sie war doch kein kleines Mädchen mehr, um das man sich Sorgen machen musste. Sie kam aus der Großstadt!

»Dachtest du, der Radfahrer ist von seinem Fahrrad gesprungen und hat uns entführt?«, fuhr Maren ihren Vater an.

Die Situation war Pamela peinlich. Sie fühlte sich unwohl, vor allem würde sie niemals so respektlos mit ihrem Vater reden. Man konnte Mitleid mit diesem armen Herrn Bredenbrock haben. Er konnte doch nichts dafür, dass seine Frau mit einem anderen Mann durchgebrannt war.

Pamela rief schnell: »Man sieht sich«, dann rannte sie zu ihrem Fahrrad, sprang auf und radelte davon.

Der Tag hatte so gut begonnen …

Am liebsten hätte Pamela jetzt angefangen zu weinen. Nicht wegen Maren und Tim und auch nicht, weil sie sich ihrem Vater gegenüber so schrecklich benommen hatte, die Maren. Nein, es lag an der Begegnung mit diesem schrecklichen Mann da oben am Herrenhaus.

Als Manuel gegangen war, das war schlimm gewesen, doch nun dämmerte ihr, dass die glück­liche Zeit ihrer Kindheit mit ­allem, was dazugehörte, end­gültig vorbei war. Und das tat weh, sehr sogar.

*

Inge Auerbach sah sofort, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Sie war blass und sah traurig aus.

»Liebes, hast du geweint?«, erkundigte sie sich behutsam. Hätte sie das bloß nicht getan, denn diese harmlose Frage löste bei ihrer Tochter sofort einen Tränenstrom aus.

Pamela warf sich in die Arme ihrer Mutter, klammerte sich an ihr fest. Sie fühlte sich beschützt.

An ihrer Mutter war alles weich und warm, und sie wollte in diesem Augenblick wieder ein kleines Mädchen sein, dem die Mutter alles Unangenehme abnahm, sie vor allem Bösen beschützte.

Inge umschloss ihre Tochter sanft, drückte sie zärtlich an sich und ließ ihr Zeit.

Allmählich beruhigte Pamela sich wieder, und dann erzählte sie ihrer Mutter alles, was sie zusammen mit Tim und Maren da oben am Herrenhaus erlebt hatte.

»Mama, dieser alte Mann war so böse, und er hat uns davongejagt, als wären wir Diebe. Dabei wollten wir doch nur hinauf zur Felsenburg gehen, das durften wir doch immer.«

Sie schluckte, seufzte, dann fuhr sie fort: »Dieser Graf, der hat überhaupt kein Benehmen, und Frau von Rieding hätte niemals an diesen unfreundlichen Mann verkaufen dürfen.«

So ganz konnte Inge Auerbach nicht verstehen, was ihre Tochter ihr da erzählte. Sie kannte den neuen Besitzer noch nicht, aber Sophia von Bergen kannte die Familie, und sie hatte über diesen Mann nur Gutes erzählt. Das passte nicht zu dem, was Pamela ihr da berichtet hatte. Gut, die Eigentumsverhältnisse hatten sich verändert, und jeder ging mit seinem Eigentum anders um, der eine schirmte sich ab, der andere hatte mehr oder weniger ein Haus der offenen Tür.

Aber ein solches Benehmen passte einfach nicht zu einem Grafen Hilgenberg.

Gut, adelig zu sein bedeutete nicht, ein besserer Mensch zu sein, auch unter altem Adel gab es schwarze Schafe, die sich vollkommen daneben benahmen, sehr zur Schande ihrer Familie. Aber dieser Graf sollte doch so nett sein.

»Mami, unser Opi ist ein von Roth, und der ist so nett.« Ganz verstand Inge jetzt nicht, was ihre Tochter damit sagen wollte, deswegen erkundigte sie sich.

»Ich meine, der Opi ist auch alt, und er ist lieb, und dieser Graf da oben, der ist alt und böse.«

Allmählich ging Inge ein Licht auf.

»Pamela, ich weiß nicht, wer euch da vertrieben hat, aber Graf Hilgenberg war es auf jeden Fall nicht, der ist nämlich nicht alt.«

Was hatte ihre Mami da gesagt?

»Der Graf ist nicht alt?«, wiederholte Pamela vorsichtshalber, weil sie glaubte, sich verhört zu haben.

Inge schüttelte den Kopf. »Nein, das ist er wirklich nicht. Und ehe du jetzt weitere Fragen stellst, mein Kind, ich weiß es von Frau von Bergen, die kennt die Familie des neuen Besitzers.«

Diese Worte ihrer Mutter erleichterten Pamela ein wenig. Natürlich konnte man jetzt nicht sagen, wie der richtige Graf sich verhalten würde, aber immerhin gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer, und die Felsenburg war für sie noch nicht verloren. In dieser Sache konnte Pamela also ein wenig durchatmen, doch da gab es ja noch die Sache mit Maren und Tim. Sie erzählte ihrer Mutter alles, auch, wie schlecht Maren sich ihrem Vater gegenüber benommen hatte.

»Mami, das hättest du mal hören sollen. Das war mir so richtig peinlich.«

Inge strich ihrer Tochter liebevoll über die braunen Locken.

»Man muss Maren und Tim gegenüber nachsichtig sein, mein Kind. Sie können noch nicht so richtig mit der Situation umgehen, in der sie sich jetzt befinden. Zwischen einer Mutter und ihren Kindern besteht normalerweise eine ganz feste Bindung, es gibt zwischen ihnen ein unsichtbares Band, das hat die Mutter zerschnitten, sie hat ihre Kinder verlassen, ohne Rücksicht auf die Familie, der das alte Leben um die Ohren geflogen ist. Sie mussten ihr Zuhause aufgeben, sind hierher gezogen, etwas was Maren und Tim überhaupt nicht wollten. Auch wenn es ungerecht ist, ihr Vater muss es jetzt ausbaden, auf den sie in ihrer Hilflosigkeit einhämmern. Doch ich denke, Herr Dr. Bredenbrock versteht das, er kann damit umgehen. Er liebt seine Kinder und ist bereit, alles für sie zu tun. Alles, was im Rahmen seiner Möglichkeiten ist. Aber ein Vater, auch wenn er seine Kinder über alles liebt, kann die Mutter nicht ersetzen.«

Pamela schmiegte sich noch enger an ihre Mutter, obwohl das kaum noch möglich war.

»Du tust auch alles für mich, Mami. Du hast mir verziehen, dass ich herumgezickt habe, dass ich böse war, abgehauen bin. Du hast mir die Hand gereicht, indem du mir diesen wunderschönen Brief geschrieben hast, den ich immer bei mir habe, auch wenn er schon ganz zerknittert und oll ist. Du bist wirklich die allerbeste Mami von der ganzen Welt, und ich liebe den Papi ebenfalls, aber dich liebe ich mehr, anders, und ich …« Sie machte eine kleine Pause.

»Für Maren und Tim ist es ganz schön schlimm, nicht wahr? Sie müssen doch jetzt denken, dass ihre Mutter sie nicht liebt, denn sonst wäre sie nicht abgehauen. Ich verstehe jetzt ein bisschen, warum Maren so herumchaotet. Sie weiß nicht wirklich, was sie tut.«

Inge nickte.

»Liebes, du wusstest es damals ebenfalls nicht. Wenn man jung ist, dann handelt man impulsiv, dann lotet man nicht alles aus, und man lässt schon überhaupt nicht die Vernunft walten. Das tun ja nicht mal viele Erwachsene. Bei uns ist wieder alles gut, und so wird es irgendwann auch bei den Bredenbrocks sein, es wird sich einrenken. Doch ich finde es sehr schön, dass ihr jetzt miteinander auskommt. Das ist doch ein Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht werden Maren und Tim irgendwann einmal so etwas wie ein kleiner Ersatz für Manuel sein.«

Das konnte Pamela so nicht stehen lassen.

»Mami, nie«, rief sie im Brustton der Überzeugung. »Manuel ist für mich wie ein Bruder.«

»Und die können auch sehr weit weg sein«, sagte Inge, »unser Hannes lebt in Australien, Jörg lebt und arbeitet in Schweden, und niemand kann sagen, welche Veränderungen noch kommen werden.«

Das Leben konnte ganz schön kompliziert sein. Pamela befreite sich aus den Armen ihrer Mutter, blickte sie bittend an.

»Mami, bekomme ich jetzt eine heiße Schokolade?«, bettelte sie.

Inge konnte dem Blick aus den großen grauen Augen ihrer Tochter nicht widerstehen.

»Gut, mein Kind, die bekommst du«, sagte sie, »aber dazu weder Kekse noch sonstwelche Süßigkeiten.«

Damit war Pamela einverstanden, sie hatte es jetzt eilig, in den schöne große Wohnküche zu kommen. Eigentlich machte Pamela sich jetzt keine Sorgen. Ihre Mutter konnte es sich noch anders überlegen, und ein Keks zusätzlich oder eine Rippe Schokolade, das wäre doch etwas.

Es ging ihr ganz schön gut, dachte Pamela, als sie sich erwartungsvoll hinsetzte.

Sie nahm sich vor, irgendwann Maren und Tim einzuladen, ihr Papa kochte ihnen ganz bestimmt keine heiße Schokolade, so etwas konnten nur Mamis machen, Mamis, wie sie eine hatte, die aller-, allerbeste Mami auf der ganzen Welt.

*

Im Haus angekommen, wollten Maren und Tim sofort nach oben laufen, wo die beiden ihre Zimmer hatten. Doch ihr Vater hielt sie zurück.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte er, und seine Stimme klang so autoritär, dass Maren und Tim gehorchten. Sie folgten ihrem Vater in das Wohnzimmer, in dem noch ein heilloses Durcheinander herrschte. Es gab halb leere Bücherregale, Bücherstapel, die eingeräumt werden mussten, unausgepackte Kisten, an den Fenstern hingen noch keine Gardinen, Bilder, die an den Wänden lehnten. Immerhin standen Sofa und Sessel bereits an ihrem Platz, und dorthin bugsierte Dr. Bredenbrock seine Sprösslinge.

Er bat sie, sich zu setzen, und sie blickten ihn an wie zwei aus dem Nest gefallene Vögelchen, und das waren sie ja auch im übertragenen Sinne. Er war zwar Lehrer, doch hier war der der Vater seiner Kinder, und den wollte er wirklich keine Standpauke halten, wie er es manchmal bei ungehorsamen Schülern machen musste. Jetzt war es unumgänglich, sie waren noch nicht einmal richtig eingezogen. Alles war fremd, ungewohnt, aber es mussten Regeln eingehalten werden, die für ein Zusammenleben unumgänglich waren.

»Maren, Tim«, er blickte sie an, »ich weiß, dass es für euch nicht einfach ist, doch für mich ist es ebenfalls nicht. Es geht nicht, dass ihr einfach weglauft, ohne mir Bescheid zu sagen, und ich möchte auch nicht in Gegenwart Dritter so behandelt werden, wie du es getan hast, Maren.«

Sie wurde rot, blickte betreten zu Boden.

»Wir müssen versuchen, aus unserer derzeitigen Situation das Beste zu machen. Ich werde alles tun, euch das Leben zu erleichtern, ich liebe euch, ich bin euer Vater.«

»Wir hätten nicht herziehen müssen. Auch wenn die Mama abgehauen ist, dann hätten wir wenigstens noch unsere Freunde gehabt. Jetzt haben wir überhaupt nichts mehr, und hier ist es öde.«

»Das Mädchen, mit dem ich euch gesehen habe, scheint doch ganz nett zu sein, und ich bin überzeugt davon, dass ihr hier neue Freunde finden werdet. Die Schule fängt ja in Kürze wieder an.«

»Trotzdem bleibt es ein grauenvolles Kaff, in dem wir nun wohnen müssen«, begehrte Maren auf, die sich mit ihrem neuen Leben einfach nicht abfinden wollte. Sie meckerte an allem herum.

Ihr Vater zeigte Verständnis für sie.

»Maren, in Wirklichkeit leidest du doch darunter, dass Mama gegangen ist, und nun machst du alles dafür verantwortlich, vor allem mich. Das ist nicht fair. Ich habe mir wirklich alles sehr genau überlegt. Ich hätte meinen alten Job nicht länger machen können, obwohl ich ihn sehr geliebt habe. Es ist mir ungeheuer schwergefallen, ihn aufzugeben. Aber ich hätte nicht genug Zeit für euch gehabt, und ich hätte euch nicht weitgehend Fremden überlassen wollen, und ein Internat, das wäre für mich keine Alternative gewesen, es sei denn, ihr hättet es gewollt.«

»Nie, Papa«, rief Tim sofort. »Wir wollen bei dir bleiben.«

»Und ich will bei euch bleiben«, antwortete Peter Bredenbrock. »Wir müssen halt versuchen, das Beste daraus zu machen. Das geht nur miteinander. Könnt ihr das verstehen?«

Tim nickte.

Maren verknotete ihre Finger ineinander, dann blickte sie ihren Vater an.

»Tut mir leid mit vorhin, Papa«, sagte sie leise. »Das war gemein, aber diese Pamela ist nett.«

Dann erzählte Maren ihrem Vater, wohin sie eigentlich hatten gehen wollen und wie man sie vertrieben hatte.

»Pamela war total durch den Wind, weil sie damit niemals gerechnet hätte. Der frühere Besitzer hat nämlich immer erlaubt, dass man hinauf zur Felsenburg gehen kann. Über diese Ruine gibt es ganz gruselige Geschichten, und Pamela kennt sie alle. Manuel hat sie ihr erzählt, dessen Familie die Felsenburg gehörte. Nachdem alles verkauft war, sind sie nach Arizona gezogen, und Pamela ist deswegen ganz schön traurig. Sie ist mit Manuel aufgewachsen.«

»Im Leben gibt es immer Veränderungen«, sagte Peter Bredenbrock. »Vielleicht ist Manuel jetzt ebenfalls traurig, und er wäre lieber hiergeblieben.«

Jetzt musste Tim seinem Vater aber widersprechen.

»Papa, Manuel lebt jetzt in Arizona auf einer riesigen Ranch mit vielen Pferden, da ist ja doch wohl klar, dass er gern dorthin gegangen ist. Hier hatte er ja nicht viel, und eine Ruine ist nichts im Vergleich zu dem, was er jetzt hat, oder?«

Peter Bredenbrock wollte jetzt wirklich nicht länger darüber diskutieren.

»Okay, wir wissen es nicht, weil wir niemanden von den Leuten kennen, auch diesen Manuel nicht. Aber eines wissen wir, nicht wahr? Wir müssen versuchen, dass euer Leben euch hier gefällt, und ich will auf jeden Fall alles dafür tun, weil ich möchte, dass ihr …«, er zögerte kurz, weil er nicht wusste, wie das so schnell bewerkstelligt werden sollte, dennoch sprach er es aus, weil es wirklich sein Wunsch war, »dass ihr glücklich werdet. Daran möchte ich arbeiten. Es gibt da einen kleinen Schritt in diese Richtung. Nicht weit von hier gibt es einen sehr bekannten Freizeitpark, den könnten wir gemeinsam besuchen.«

Marens Kopf schnellte hoch. »Jetzt?«, erkundigte sie sich hoffnungsfroh. Sie hatte von diesem Freizeitpark gelesen, der sollte so richtig cool sein. Aber eigentlich war ihr Vater doch nicht für solche Parks. Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu und war ganz verwundert, als er sagte: »Warum nicht.«

»Aber du wolltest doch noch weiter auspacken, Papa, und wir sollten dir dabei helfen«, erinnerte Tim seinen Vater. Deswegen waren Maren und er doch auch störrisch hinausgelaufen, weil sie halt keine Lust dazu gehabt hatten, weil das so langweilig und öde war.

»Es läuft uns nichts davon«, bemerkte Peter Bredenbrock. »Die Arbeit können wir auch morgen machen. Und wer weiß, vielleicht kommen dann ja über Nacht auch die Heinzelmännchen vorbei und erledigen die Arbeit für uns.«

Tim blickte in die Ferne.

»Das wäre schön, Papa«, sagte er ganz sehnsuchtsvoll, »doch Heinzelmännchen gibt es ja leider nicht, die einem die Wünsche erfüllen.«

Peter Bredenbrock bekam einen Stich ins Herz. Natürlich hatte Tim nicht die Arbeit gemeint, sondern seine Gedanken waren bei seiner Mutter gewesen, die er sich beinahe verzweifelt zurückwünschte. Es war für beide Kinder schlimm, dass ihre Mutter gegangen war, doch für Tim war es schlimmer, weil der ein richtiges Mama-Kind gewesen war. Peter wurde insgeheim wütend auf die Frau, die das den Kindern angetan hatte, an sich wollte er überhaupt nicht denken, auch er war aus allen Wolken gefallen, denn er hatte bis zum Schluss geglaubt, sie seien eine glückliche, zufriedene Familie. Und mit dieser Meinung hatte er nicht allein dagestanden. Für ihr Umfeld waren die Bredenbrocks eine Bilderbuchfamilie gewesen.

»Ich weiß schon, was du dir wünschst, Tim«, rief Maren ihrem Bruder zu. »Vergiss es. Ich möchte Mama nicht mehr zurückhaben, ich hasse sie. Ich möchte nur wieder unser altes Leben in unserem alten Haus, mit unseren Freunden, mit allem, was wir kennen, mit …«

Sie brach ihren Satz ab, lief davon, ehe sie die Treppe hinaufrannte, rief sie: »Ich komme gleich wieder zurück. Ich hole nur was.«

Als seine Schwester außer Reichweite war, bemerkte Tim: »Sie holt nichts, sie will nur nicht, dass wir sehen, dass sie heult. Sie vermisst die Mama nämlich auch.«

Solche Worte brachen Peter beinahe das Herz. Was hatte Ilka ihren Kindern nur angetan. Hatte sie eigentlich einen Augenblick lang an sie gedacht, hatte sie sich gefragt, was sie mit ihrer Handlungsweise an den Kinderseelen anrichtet?

Noch während Peter sich eine Antwort überlegte, fuhr sein Sohn fort: »Papa, warum hat die Mama das getan? Wir waren doch so glücklich.«

»Das glaubte ich auch, mein Junge«, antwortete er, »und ich kann dir auf deine Frage keine Antwort geben. Wir müssen jetzt einfach versuchen, allein miteinander auszukommen. Und ich will alles dafür tun.«

»Das weiß ich, Papa«, sagte Tim leise, dann stand er auf, und obwohl Jungens das eigentlich nicht machten, weil das uncool war, umarmte er seinen Vater.

Als Maren die Treppe heruntergepoltert kam, ließ Tim rasch seinen Vater los.

»Können wir los?«, wollte sie wissen.

Tim und Peter Bredenbrock hatten nichts dagegen, und es dauerte nicht lange, da saßen sie gemeinsam im Auto und fuhren los.

Sie unterhielten sich in erster Linie über den Freizeitpark, und es war zwischen ihnen wieder beinahe so, wie es gewesen war, ehe ihre heile Welt sich mit einem Schlag aufgelöst hatte in einen großen Scherbenhaufen.

Dr. Peter Bredenbrock hielt wirklich nichts von solchen Vergnügungsparks, doch jetzt gratulierte er sich innerlich, dass er diese Idee gehabt hatte.

Wenn man etwas wieder in Ordnung bringen wollte, da waren alle Mittel recht, und wenn es denn ein Freizeitpark war, dann war das auch in Ordnung.

Seine Kinder!

Das allein war es, was für ihn zählte.

Er musste an sich halten, um keine Verwünschungen gegen Ilka auszustoßen. So etwas brachte nichts, es fiel auf einen selbst zurück, und es brachte negative Energie. Er musste nichts tun, wenn es einen gerechten Ausgleich gab, dann würde es sie einholen, und dabei dachte er wirklich nicht an sich, sondern an die Kinder. Erwachsene gingen doch ganz anders mit Gefühlen um, auch mit negativen. Kinder, auch wenn sie sich auf der Stufe zum Erwachsenwerden befanden, konnten damit nicht umgehen, weil sie noch nicht differenzieren konnten. Und wenn daran dachte, dass die Gefühle aus uns machen, was wir sind …

Nein!

Das wollte Dr. Peter Bredenbrock nicht. Er musste es positiv sehen und Schrittchen um Schrittchen kämpfen, zum Wohle der Kinder. Verflixt noch mal, er war Pädagoge, ihm wurden viele Kinder anvertraut, er war beliebt, zumindest war er es gewesen, und er hoffte, dass es auch in Hohenborn nicht anders sein würde. Er musste darauf vertrauen, dass er es auch bei Maren und Tim richtig machen würde.

»Papa, Papa«, unterbrach Tim ganz aufgeregt seine Bedanken. »Da ist schon das Hinweisschild, ich sehe schon die Parkplätze.«

Die waren nicht zu übersehen, weil sie vollgestopft waren mit Autos.

Da hatte er sich etwas angetan!

Ein Ordner kam auf sie zu, wies ihnen ein Stückchen entfernt einen Parkplatz zu, und die Kinder hatten es eilig, aus dem Auto zu springen.

»Papa, und wir dürfen alles machen, was wir wollen?«, wollte Maren wissen.

»Klar, habe ich euch doch versprochen. Ihr dürft nur nicht von mir verlangen, dass ich mit euch auf so ein Ungetüm gehe.«

Tim und Maren stoben davon, sie hatten es eilig, zu der Stelle zu kommen, an der die Eintrittskarten verkauft wurden, davor stand nämlich bereits eine ziemliche Menschenmasse. Und anstellen konnten sie sich ja schon mal.

Das alles hier, diese Massenabfertigung, das war wirklich nicht sein Ding, aber er musste in den sauren Apfel beißen, weil er seine Sprösslinge ganz gewiss nicht hätte motivieren können, mit ihm in ein Museum oder in eine Kunstausstellung zu gehen. Das musste er auf später verschieben, wenn sich die Wogen wieder geglättet hatten.

*

Roberta war noch immer froh, dass ihre Freundin Nicki das Wochenende bei ihr und mit ihr verbracht hatte, und das, obwohl es streckenweise ziemlich stressig gewesen war.

Nicki hatte sich nicht davon abbringen lassen, nach diesem Mathias zu suchen, und sie war sogar in die Frittenbude hineingegangen, in der sie mit diesem Mann die Currywurst gegessen hatte.

Es war schon schlimm, wenn man eine Erwartungshaltung hatte, die nicht erfüllt wurde.

Roberta hatte wirklich alles versucht, Nicki abzulenken, und meistens gelang ihr das sogar auch. Diesmal war es anders gewesen. Auch wenn sie sich in Geschäften aufgehalten hatten, war Nicki abgelenkt und hatte sich immer in der Nähe der Schaufenster aufgehalten, um da draußen ja nichts zu verpassen.

Natürlich hatte sich die Prophezeiung dieser Wahrsagerin nicht erfüllt, und Roberta konnte nur hoffen, dass Nicki endlich schlau geworden war und nicht für einen derartigen Humbug weiterhin Geld aus dem Fenster warf.

Roberta war immerhin zu den Schuhen gekommen, die sie sich schon lange hatte kaufen wollen, bei dem Kleid in einer Boutique hatte sie sich allerdings verkauft. Sie hätte nicht auf Nicki hören dürfen, die ihr halbherzig empfohlen hatte, es zu kaufen. Und auch die Verkäuferin hatte sie nicht gut beraten, sie hätte sehen müssen, dass sie niemand war, der etwas anzog, nur weil es gerade der letzte Schrei war. Roberta mochte es schlicht, nichts Auffallendes, und Trallala, wie sie es bei sich nannte, schon überhaupt nicht.

Sie hatte das Kleid zurückgebracht und stattdessen dieses Twinset gekauft, das ihr sofort gefallen hatte. Und das würde sie auch anziehen. Da das Twinset teurer war als das Kleid, war es für die Verkäuferin ein gutes Geschäft. Roberta ärgerte sich nur ein wenig, weil sie durch die weitere Fahrt nach Hohenborn unnötige Zeit verloren hatte, die sie lieber sinnbringender genutzt hätte. Sie konnte die Frauen nicht verstehen, die stundenlang auf eine Shoppingtour gehen konnten. Das war noch nie ihr Ding gewesen, auch nicht als Studentin. Da las sie lieber ein Buch, ging spazieren. Als Studentin hatte sie im Ruderclub der Universität trainiert. Rudern, das vermisste sie ein wenig, es war herrlich gewesen, als Kay noch seinen Bootsverleih am See gehabt hatte, da hatte sie sich oftmals mit dem Boot auf dem See ausgetobt.

Komisch, dass ihr das gerade jetzt in den Sinn kam, an Kay hatte sie schon so lange nicht mehr gedacht.

Roberta lief zum Parkplatz, verstaute ihre neue Errungenschaft im Kofferraum und überlegte, ob sie, wenn sie schon mal in Hohenborn war, irgendwo etwas trinken sollte, als eine ihr bekannte Stimme hinter ihr rief: »Hallo, Roberta.«

Sie drehte sich um, Susanne kam ihr entgegengelaufen, sie war aufgeregt, fiel ihr um den Hals.

»Wie schön, dass ich dich sehe«, rief Susanne Andoni, »dann erfährst du als Erste, dass ich …, dass sich bestätigt hat, was ich selbst schon vermutete.«

Susanne strahlte vor Glück.

Es war für Roberta einfach, eins und eins zusammenzuzählen, und auch wenn es vielleicht ein bisschen gemein war, weil sie Susanne den Überraschungseffekt nahm, sagte sie: »Du bist schwanger.«

Susanne schnappte nach Luft, blickte Roberta überrascht an. »Woher …, woher weißt du das, ich habe es doch auch erst gerade erfahren.«

Sie hatte ins Schwarze getroffen, doch das war nicht schwer gewesen.

»Schon vergessen, dass ich Ärztin bin?«, erinnerte sie Susanne, das ein wenig lachend, dann wurde sie wieder ernst. »Wenn jemand so vor lauter Glück strahlt, wenn jemand so strahlend schön aussieht, da kann es nur einen Grund geben. Ahnt Roberto etwas?«

Susanne schüttelte den Kopf.

»Nein, du bist wirklich die Erste, Roberta, doch ich glaube, du wirst leider nicht dabei sein, wenn unser zweites Kind das Licht der Welt erblickt.«

»Was spricht denn dagegen?«

Sie hätten sich mittlerweile auf eine Bank gesetzt, die am Rande des Parkplatzes stand.

»Wie du weißt, liebäugeln wir ja damit, nach Italien zu gehen, und Roberto hat ein fantastisches Angebot aus der Toscana. Wenn er von dem Baby erfährt, wird er dieses Landgut sofort kaufen.«

Sie bekam einen ganz verzückten Gesichtsausdruck.

»Dieses Baby war nicht geplant, ich denke, es ist ein Zeichen, damit wir in die Gänge kommen. Roberto möchte mehr mit der Familie, mit mir und Valentina und dann natürlich mit unserem neuen Kind zusammen sein. Er wird reinweg aus dem Häuschen sein, wenn er das erfährt. Roberto ist ein Familienmensch durch und durch. Er ist ein großartiger, liebevoller Mann, und er sieht auch noch so toll aus. Roberta, er ist mein Hauptgewinn, ich werde niemals verstehen, wieso deine Freundin Nicki diesen Mann hatte gehen lassen. So etwas wie Roberto findet man nie wieder. Für mich war es gut, dass sie sich von ihm getrennt hat. Ich weiß auf jeden Fall, was ich zu tun habe, ich werde immer bei ihm bleiben, ihn immer lieben, er ist der Mann meiner Träume, mein Seelenmensch. Ach, es gibt überhaupt keine Worte, um das zu beschreiben, was ihn ausmacht. Aber du kennst ihn ja auch, und du wärest nicht mit ihm befreundet, wenn mein Roberto nicht etwas Besonderes wäre.«

Roberta ahnte, dass es jetzt noch eine Weile so weitergehen würde. Susanne geriet immer in Fahrt, wenn sie über ihren Liebsten sprach.

»Susanne, und es macht dir nichts aus, deine Zelte hier in Deutschland abzubrechen, mit Roberto nach Italien, in seine Heimat zu gehen, den ›Seeblick‹ aufzugeben?«, gab sie dem Gespräch rasch eine andere Wendung.

Susanne sprang darauf an.

»Nein, Roberta. Mein Liebster hat doch keine einsame Entscheidung getroffen. Wir wollen es beide. Wir haben nur immer noch gezögert, weil uns der ›Seeblick‹ doch ans Herz gewachsen ist. Roberto hat auch hart dafür gekämpft, du weißt, welche Auflagen er bekommen hat und was er davon nur realisieren durfte. Der Laden brummt, wir haben wunderbare Stammgäste. So etwas wirft man nicht weg. Aber der geschäftliche Erfolg, Geld, das ist es nicht, was das Leben ausmacht. Das haben wir beide begriffen, und wir möchten Seite an Seite und mit unserer kleinen Tochter, bald auch noch mit unserem weiteren Kind, das ein Geschenk Gottes ist, unser kleines Glück genießen. Und das wollen wir gemeinsam, Roberto möchte nicht nur am Rande stehen und zusehen, wie unsere Kinder aufwachsen, er möchte es erleben, und wir möchten auch mehr freie Zeit miteinander haben. Wir können einfach nicht genug voneinander bekommen. Wir haben uns gesucht und gefunden, auch wenn es anfangs nicht so aussah und Roberto noch deiner Freundin nachtrauerte. Die Geburt von Valentina hat die Wende gebracht, und jetzt sind wir nur noch dankbar.«

Nach diesen Worten war es still. Susanne hing ihren Gedanken nach, und das tat Roberta ebenfalls. Sie schämte sich beinahe dafür, dass so etwas wie Neidgefühle in ihr aufkamen. Sie neidete Susanne nicht das Glück, das sie mit ihrem Roberto genoss, nein, das wirklich nicht. Sie hatte ihren Lars, und der war ihr Mr Right, daran gab es keinen Zweifel, und einen besseren Mann würde sie nicht finden.

Das Kind …

Es zerriss Roberta beinahe, dass Susanne nun ihr zweites Kind bekam, das sie ihr wirklich von Herzen gönnte, doch sie, sie konnte davon nur träumen. Dabei wünschte sie sich so sehr ein Kind, ein gemeinsames Leben mit Lars, so ganz altmodisch mit Heirat und Ring am Finger.

Sie hatte diese Gedanken immer wieder, doch meistens gelang es ihr, die zu unterdrücken, aber jetzt …

Es war nicht auszuhalten.

Sie sprang auf.

»Ich muss«, sagte sie, dabei hatte sie heute am Nachmittag überhaupt keine Sprechstunde, deswegen war sie ja auch nach Hohenborn gefahren, sonst wäre das ja überhaupt nicht möglich gewesen.

Auch Susanne erhob sich.

»Ich will ebenfalls nach Hause, ich muss meinem Roberto doch die freudige Nachricht überbringen. Er wird außer sich sein vor Freude, da sind wir uns sehr ähnlich. Wenn es um Familie und Kinder geht, da kennen wir keine Grenzen.«

Roberta umarmte Susanne.

»Ich wünsche euch auf jeden Fall alles Glück der Welt, und ich freue mich für euch«, das war nicht gelogen, das tat sie wirklich, »auch wenn es mich ein wenig traurig macht, dass ihr dann vermutlich bald eure Zelte bei uns abbrechen werdet.«

»Dich nicht so oft zu sehen, dich nicht als Ärztin zu haben, das tut ein bisschen weh, andererseits liegt die Toscana nicht am Ende der Welt. Und selbst einer viel beschäftigten Ärztin steht Urlaub zu, und den verbringst du dann halt bei uns. Du bist jederzeit herzlich willkommen.«

Susanne wurde ernst.

»Roberta, ich möchte dich nicht als Freundin verlieren, und da kann ich auch für meinen Mann sprechen, der total in dich vernarrt ist und dich bewundert. Du musst in unserem Leben bleiben, versprichst du das?«

Roberta nickte, sie konnte nicht gleich etwas sagen, weil sie emotional so bewegt war. Roberto Andoni und seine Susanne waren ihr richtig gute Freunde geworden, und dass Nicki Roberto verlassen hatte, hatte keinen Riss in ihre Freundschaft gebracht, und mit Susanne hatte sie sich von Anfang an sehr gut verstanden. Ja, sie würden ihr fehlen, die beiden Andonis, und mehr noch fehlen würde ihr die entzückende kleine Valentina, zu der sie eine ganz besondere Verbindung hatte. Das lag bestimmt daran, dass sie so aktiv an deren Geburt beteiligt gewesen war. So etwas verbindet.

Endlich konnte sie wieder sprechen und die passenden Worte finden. »Ich verspreche es, auch ich möchte euch nicht verlieren, weil man Menschen wie dich und Roberto nicht an jeder Straßenecke findet, für mich seid ihr etwas Besonderes.«

Susanne hatte Tränen in den Augen, sie bewunderte Roberta über alle Maßen.

»Danke, Roberta«, sagte sie, umarmte die junge Ärztin impulsiv, dann erkundigte sie sich: »Hast du keine Lust, heute Abend zu uns zu kommen? Ich denke, Roberto würde sich ebenfalls freuen.«

Roberta zögerte, dann sagte sie, dass Alma bestimmt etwas zum Essen vorbereitet hatte. Das allerdings war für Susanne überhaupt kein Problem. Sie platzte beinahe vor lauter Glück, und deswegen wollte sie ihr Glück, ihre Freude, am liebsten mit der ganzen Welt teilen, und warum sollte sie damit denn nicht klein anfangen, mit Menschen, die sie mochte?

»Roberta, bringe Alma einfach mit. Wenn sie etwas vorbereitet hat, das ist auch noch morgen zu gebrauchen, und sie kann es auch einfrieren. Heute ist ein ganz besonderer Tag, der sich nicht wiederholen lässt. Dich möchte ich auf jeden Fall dabeihaben, und deine Alma, das ist auch eine richtig nette Frau. Ich mag sie gern, und Roberto und Alma sind mittlerweile beinahe schon so etwas wie Freunde geworden. Alma ist zum Glück nicht mehr eifersüchtig auf seine Kochkünste.«

Jetzt musste Roberta lachen. In der Tat war Alma ganz schön eifersüchtig gewesen, weil sie immer geglaubt hatte, ihre Kochkünste genügten ihrer Chefin nicht. Sie hatte erst viel später begriffen, dass es nicht die Kochkünste waren, die ihre Chefin in den ›Seeblick‹ zogen, sondern dass es die menschlichen Kontakte waren, die freundschaftlichen Gefühle. Und das würde nun auch bald Geschichte sein. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Dieser Tag war wirklich ein besonderer und durfte nicht mit negativen Gefühlen befrachtet werden.

»Okay, Susanne, ich werde mit Alma reden, und wenn sie keine Lust hat mitzukommen, dann komme ich eben allein. Es ist wirklich ein Tag, der gefeiert werden muss. Schade, dass ich Robertos Gesicht nicht sehen kann, wenn du ihm die freudige Nachricht überbringst.«

Ein weiches Lächeln umspielte Susannes Lippen.

»Roberta, du kennst ihn doch, er ist ein sensibler, gefühlsbetonter Mensch. Er wird außer sich vor Glück sein, mein Roberto, und er wird sich seiner Tränen nicht schämen.«

Sie umarmte Roberta.

»So, jetzt muss ich aber wirklich zu meinem Mann«, rief sie, dann lief sie zu ihrem Auto.

Im Augenblick fuhr Susanne nur mit ihrem Auto davon und verschwand sehr bald aus ihrem Blick. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie den ›Seeblick‹ für immer verlassen würden?

Das konnte schnell gehen, denn die Vorbereitungen waren ja längst schon getroffen.

So, wie Roberto für seinen Laden gekämpft hatte, hätte Roberta nicht für möglich gehalten, dass er alles so schnell aufgeben würde. Sie hätte allerdings auch Stein und Bein geschworen, dass die Münsters, dass Marianne von Rieding und ihr Carlos Heimberg niemals diesen wunderschönen Herrensitz samt der beeindruckenden Ruine Felsenburg aufgeben würden, doch nicht für ein Leben auf einer Ranch in Arizona. Sie hatten es getan, alle, und es schien ihnen nicht einmal schwergefallen zu sein, Altes, Tradition gegen Neues, Austauschbares einzutauschen, und das hatte bestimmt nichts damit zu tun, dass Sandra Münster durch eigenes Verschulden bei diesem schrecklichen Autounfall ihr ungeborenes Kind verloren hatte. Vielleicht aber doch, wer konnte das schon sagen. Jeder hatte für alles, was er tat, seine Gründe.

Welchen Grund gab es eigentlich dafür, dass sie sich entschieden hatte, das Doktorhaus zu kaufen? Enno hätte es ihr auch weiterhin vermietet. Er hatte sie nicht zu ihrem Tun gedrängt. Und war so ein Haus nicht ein Klotz am Bein?

War es nicht töricht gewesen, es in einer Zeit zu tun, in der in ihrer Beziehung alles offen war, wo sie keine Ahnung hatte, wie es mit ihr und Lars Magnusson weitergehen würde?

Es hatte nichts miteinander zu tun. Sie war angekommen, es hatte alles so kommen müssen, und sie wusste auch, dass sie bleiben würde, bleiben musste, weil es genau ihr Platz war, den das Leben ihr zugedacht hatte.

Vorbestimmung …

Auf den Weg kommen …

Mit solchen und ähnlichen Begriffen schmiss ihre Freundin Nicki immer um sich. Darüber hatte Roberta immer gelächelt, doch das vermutlich, weil Nicki all das zu oft brauchte, bei jeder Gelegenheit, es deswegen abgenutzt war.

Sie selbst hatte bislang nicht darüber nachgedacht, doch jetzt wurde es ihr bewusst. Es hatte alles so kommen müssen, und es war alles so einfach gegangen. Enno Riedel, ihr alter Studienfreund, hatte sich im richtigen Moment bei ihr gemeldet, er war nach Philadelphia gegangen, seine Praxis war frei geworden, und ihre, die sie sich mit viel Mühe, Geld und Einsatz aufgebaut hatte, die hatte ihr gieriger Exmann Max sich unter den Nagel gerissen.

Ja, es hatte so und nicht anders kommen müssen, auch wenn es anfangs nicht ganz einfach gewesen war. Das war Vergangenheit, darüber musste sie jetzt wirklich nicht mehr nachdenken.

Ihre Patienten liebten sie, sie wohnte in einem schönen Haus, in dem sie praktischerweise auch gleich arbeiten konnte. Ihre Ursel Hellenbrink, die schon für Enno gearbeitet hatte, schmiss die anfallenden Arbeiten in der Praxis, und Alma, die war ein Juwel, bei der musste sie nicht einmal Kaffee kochen.

Und sie hatte Lars.

Sie verstanden sich blind, sie liebten sich, sie waren ein Paar auf Augenhöhe.

Das musste sie sich immer wieder sagen.

Vieles, was sich in letzter Zeit in ihrem Umfeld ereignet hatte, war von niemandem vorausgesagt worden.

Warum also vertraute sie nicht einfach auf das, was das Leben noch für sie bereit hielt?

Sie freute sich für Roberto und Susanne. Susanne war glücklich und ausgefüllt als Hausfrau und Mutter und hatte ihrem Job bereitwillig adieu gesagt.

Sie war ganz anders. Sie würde niemals ihren Beruf aufgeben, sondern würde immer versuchen, Mann und Kinder und ihren Job unter einen Hut zu bringen. War das egoistisch? Sollte sie sich vielleicht nicht sagen, dass man nicht alles haben konnte?

Mitten hinein in ihre Gedanken klingelte ihr Handy. Es war eine Patientin, die angstvoll rief: »Frau Doktor, ich weiß ja, dass Sie heute am Nachmittag keine Sprechstunde haben, doch mein Mann ist gestürzt, und ich weiß nicht, ob er sich bei diesem Sturz etwas gebrochen hat. Er will aber um keinen Preis, dass ich einen Krankenwagen rufe. Er möchte, dass Sie sich das erst einmal ansehen.«

So verhielt es sich häufig. Für Roberta bedeutete es zusätzliche Arbeit, aber es zeigte ihr auch immer wieder, dass ihre Patienten ihr vertrauten, und es war so ungeheuer wichtig, dass zwischen Arzt und Patient ein Vertrauensverhältnis herrschte. Das war wichtig für den Heilungsprozess.

»Frau Junge, beruhigen Sie sich bitte, ich befinde mich gerade in Hohenborn, und da ist es bis zu Ihnen nicht weit. Ich komme.«

Sie beendete das Gespräch, beeilte, sich, zu ihrem Auto zu kommen, und dann fuhr Roberta rasant los.

Sie hatte nicht nur Patienten aus dem Sonnenwinkel, sondern es gab auch viele, die aus Hohenborn zu ihr kamen, obwohl es da mehrere niedergelassene Ärzte und auch ein Krankenhaus gab.

Zuerst war Herr Junge ihr Patient gewesen. Es war ein Mann, der zunächst einmal jedem Arzt misstraute. Und er hatte sie auch nur ausprobieren wollen. Sie hatten direkt einen Draht zueinander gefunden, dann war seine Frau gekommen, die Junges waren beide geblieben und hatten ihr noch weitere Patienten geschickt.

Hoffentlich hatte der Mann sich nicht wirklich einen Bruch zugezogen, dann würde er, ob er es nun wollte oder nicht, ins Krankenhaus müssen. Da würde sie mit Engelszungen auf ihn einreden müssen. Das gehörte auch zu ihrem Job. Das machte ihren Beruf ja auch so abwechslungsreich, sie behandelte die Krankheiten, doch sie musste auch eine gute Zuhörerin sein und war sehr oft so etwas wie eine psychologische Beraterin. Dafür wurde sie nicht bezahlt. Was sie alles tat, das durfte Roberta nicht aufrechnen. Wollte sie auch nicht. Es zwang sie niemand zu dem, was sie über die medizinische Versorgung hinaus tat. Für sie gehörte das zu ihrem Beruf, und das tat sie von Herzen gern.

Sie hatte sehr schnell die schöne Villa der Junges erreicht, und dort wurde sie an der Tür auch schon von Frau Junge empfangen, die ihr ganz aufgeregt entgegengelaufen kam.

»Danke, Frau Doktor, dass Sie gekommen sind«, rief sie erleichtert. »Mein Mann ist unleidlich. Und obwohl er es war, der die Harke auf dem Weg hat liegen lassen, wirft er mir das vor. Ich kann doch nichts dafür, dass er darüber gestolpert ist. Warum hat er überhaupt im Garten herumgewerkelt? Wir haben doch einen Gärtner. Aber seit mein Mann pensioniert ist, da steht er sich selbst im Weg herum, da weiß er einfach nichts mit sich anzufangen. Er ist nach der Pensionierung in ein tiefes Loch gefallen. Ein wenig kann ich das sogar verstehen. Er war der Boss, hatte in der Firma etwas zu sagen, wurde eingeladen, war viel geschäftlich unterwegs. Und nun ist alles vorbei. Anfangs haben sich Kollegen und Mitarbeiter noch gemeldet, doch mittlerweile ist auch das eingeschlafen. Er kann sich doch einen anderen Ausgleich suchen, muss er unbedingt dem Gärtner ins Handwerk pfuschen?«

Roberta legte der aufgeregten Frau eine Hand auf die Schulter.

»Frau Junge, Ihr Mann ist kein Einzelfall. Männer wie er haben vergessen, dass es neben dem Beruf auch noch ein Privatleben gibt. Das Leben Ihres Mannes war eingetaktet, die Zeit war verplant. Jetzt hat er viel Zeit und weiß nicht, wie er damit umgehen soll.«

Sie seufzte.

»Ich wüsste es schon. Wir könnten verreisen, es uns gemeinsam schön machen. Er kann nicht nur Ruhe kommen, er hat Hummeln im Hintern …, oh, entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Frau Junge. Sollte Ihr Mann tatsächlich etwas gebrochen haben, dann hat er im Krankenhaus viel Zeit, über sich und sein Leben nachzudenken. Manchmal geschehen solche Dinge, um uns Einhalt zu gebieten.«

»Wenn es so wäre, Frau Doktor, dann hätte dieser Sturz ja sogar etwas Gutes. Doch wie ich meinen Mann kenne, wird er nicht nachdenken, sondern das Krankenhauspersonal drangsalieren.«

»Das wird nicht geschehen«, beruhigte Roberta die aufgeregte Frau, »alle Krankenhäuser sind unterbesetzt, da hat man überhaupt keine Zeit, sich um einen einzigen Patienten zu kümmern, auch nicht, wenn er Privatpatient ist.«

Sie konnten sich nicht weiter unterhalten, denn vom Haus aus klang eine ungeduldige Stimme: »Verflixt noch mal, Dagmar, wo steckst du?«

Dagmar Junge rannte voraus: »Ich komme schon, und ich habe die Frau Doktor dabei.«

Er brummelte etwas vor sich hin, was man nicht verstehen konnte, Roberta folgte Frau Junge, und wenig später stand sie vor dem Patienten, der mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf dem Sofa lag.

Roberta begrüßte ihn mit den Worten: »Herr Junge, was machen Sie denn für Sachen?«

Dann begann sie ihn zu untersuchen, gründlich, und es dauerte nicht lange, da konnte sie Entwarnung geben. Er hatte sich nichts gebrochen, sondern sich starke Prellungen zugezogen. Dafür musste er nicht ins Krankenhaus, das konnte zu Hause behandelt werden.

Die arme Frau Junge tat Roberta jetzt schon leid, die würde mit ihrem unleidlichen Ehemann einiges auszustehen haben. Für ihr Wohlbefinden wäre es besser gewesen, er hätte sich etwas gebrochen und wäre erst einmal ins Krankenhaus gekommen, doch so gemein durfte man nicht sein, und sie als Ärztin schon gar nicht.

Sie redete Herrn Junge ins Gewissen, und da er eine ganze Menge von ihr hielt, hoffte sie, dass ihre Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren.

Zumindest zeigte er Einsicht, und das war ja schon mal etwas. Und er bedankte sich ganz herzlich bei Roberta.

Es dauerte eine Weile, ehe sie den Patienten versorgt hatte, doch das Gespräch mit ihm hatte natürlich länger gedauert, und es war eine geraume Zeit vergangen, ehe Roberta wieder in ihr Auto steigen konnte, um nach Hause zu fahren.

Sie hatte sich ihre freien Stunden wahrlich ganz anders vorgestellt, allein schon die Fahrt nach Hohenborn wegen des Umtausches war ein Anfang für sie gewesen. Aber so war nun mal das Leben, voller Überraschungen, ihr Leben. Doch sie wollte nichts davon missen, und sie wollte nichts daran ändern. Sie war Ärztin aus Berufung und Leidenschaft, da nahm man freiwillig einiges in Kauf.

Ob nun mit oder ohne Alma, sie würde auf jeden Fall zu den Andonis gehen. Im ›Seeblick‹ war es immer schön, und heute gab es diesen besonderen Anlass. Da wollte sie dabei sein und das Beisammensein mit ihren Freunden genießen. Sie würde öfters als sonst in den ›Seeblick‹ gehen, nahm sie sich zudem vor. Denn bald war die schöne Zeit vorbei, und wer wusste denn schon, wer den ›Seeblick‹ übernehmen würde.

Doch darüber musste sie sich jetzt keine Gedanken machen. Noch waren Roberto und Susanne da, und wie hieß es doch so passend? Man musste an das Heute denken, denn das allein war es, was zählte, denn das Gestern war vorbei, und das Morgen würde erst noch kommen.

Als Roberta an der Stelle vorbeikam, an der sie mit ihrem Auto den Wagen von Lars gerammt hatte, fuhr sie langsamer.

Er hatte ihr sofort gefallen, dieser Mann mit seinen unglaublich blauen Augen, und sie hatte damals nicht für möglich gehalten, was sich daraus entwickeln würde.

War es Schicksal?

Das würde Nicki sofort voller Inbrunst bejahen, doch sie war nicht Nicki und wollte deswegen auch nichts hineininterpretieren. Sie war in Eile gewesen, weil sie sich verspätet hatte, und in einem Augenblick der Unachtsamkeit war es geschehen.

Obwohl …

Musste man eigentlich immer alles mit dem Verstand betrachten? Nickis Version war auf jeden Fall schöner. Es konnte doch sein, dass sie sich begegnen mussten, und das Schicksal ging manchmal seltsame Wege. Lars und sie …

Sie wurde sehnsuchtsvoll, und sie war froh, als sie das Doktorhaus vor sich sah. Und an der Gartentür stand Alma, das war kein Zeichen, sie hatte gerade Sachen in die Biotonne gebracht.

Rasch erzählte Roberta ihr die Neuigkeiten, und sie freute sich, dass Alma mit in den ›Seeblick‹ gehen würde.

»Ach, Frau Doktor, ich kann den Tag kaum erwarten, da wir im Doktorhaus Kinder haben werden«, rief sie, weil es für die gute Alma feststand, dass Lars Magnusson und ihre Chefin bald heiraten würden, und dann kamen Kinder, das gehörte sich so. Und sie hatte ja auch schon mehr als nur einmal erlebt, wie ihre Chefin mit Kindern umging.

Roberta stimmte mit Alma meistens überein, doch sie fand, dass Alma das jetzt nicht hatte sagen müssen, das war so unnötig gewesen wie ein Kropf.

*

Wenn man so lange zusammen war wie Professor Werner Auerbach und seine Frau Inge, da kannte man sich.

Inge merkte sofort, dass Werner sich mit etwas beschäftigte. Hatte er wieder Sehnsucht nach seinem unruhigen Leben, das ihn kreuz und quer durch die ganze Welt führte, und er traute sich nicht, ihr das zu sagen?

Der Burgfrieden war hergestellt, Werner verhielt sich großartig, er war wie ausgewechselt, und Inge genoss das ungewohnt neue Leben an seiner Seite. Und wie er sie dafür bewundert hatte, wie sie diesem Verbrecher gegenübergetreten war. Er hatte ihr sogar Blumen gekauft.

Hatte er von der Zweisamkeit, dem Leben mit ihr und Pamela genug?

Werner merkte, dass seine Frau ihn prüfend anblickte. Sie hatten gemeinsam gegessen, Inge hatte etwas Besonderes gekocht, etwas, was er mochte. Pamela war mit den Großeltern über Nacht verreist, weil es irgendwo eine Ausstellung gab, die sie unbedingt sehen wollten.

Er trank etwas von seinem Rotwein, dann erkundigte er sich: »Ist etwas bei Jörg? Hast du etwas gehört?«

Sofort war Inge alarmiert, sie war, auch wenn sie längst groß waren, wie eine Glucke, die schützend ihre Flügel über ihre Kinder ausbreitete.

»Wieso? Wie kommst du darauf, Werner?«, wollte sie wissen, und er ärgerte, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Er kannte doch seine Inge. Doch jetzt musste er da durch, denn sie würde so lange weiterbohren, bis sie die Wahrheit kannte.

»Ich wollte dich und Pamela mit einer Kurzreise nach Stockholm überraschen. Es gibt da einen besonders günstigen Flug, und da dachte ich, dass wir Jörg, Stella und die Kinder besuchen könnten.«

Inge begann sich zu freuen, warum druckste er so herum? »Werner, das ist eine großartige Idee, aber wieso sagst du ›wollte‹?«

Werner ließ sich Zeit mit seiner Antwort, und er wusste auch, warum. »Ich habe Jörg angerufen, schließlich können wir ja nicht einfach bei ihm so ins Haus schneien.«

Das sah Inge ein, das würde sie auch nicht tun.

»Und Jörg war bestimmt begeistert und hat sich riesig gefreut«, rief Inge. »Wir haben uns ja, seit sie weg sind, nicht mehr gesehen.«

Um Zeit zu gewinnen, trank Werner etwas von seinem Wein, dann sagte er leise, und es tat ihm ja so leid, es seiner Frau sagen zu müssen: »Inge, unser Sohn hat uns mehr oder weniger ausgeladen.«

Jetzt war es gesagt!

Werner wartete förmlich darauf, dass Inge zusammenbrechen würde. Nichts geschah, kannte er seine Frau doch nicht so gut, wie er immer geglaubt hatte?

»Werner, eigentlich ist es zu verstehen. So lange wohnen sie schließlich noch nicht in Stockholm, da ist alles neu, Jörg hat in der Firma zu tun, die Kinder müssen sich mit neuen Freunden beschäftigen, mit einer fremden Sprache, einem fremden Land.«

Nachdem Werner sich von seiner Überraschung erholt hatte, sagte er: »Vielleicht hat ja Stella Probleme, sich einzuleben. Sie ist ja eher bodenständig, und wenn …«

Inge unterbrach ihren Mann.

»Werner, sprich bitte nicht weiter. Jörg und Stella haben ihre Entscheidung gemeinsam getroffen, sie wollten es beide. Und ehe du dir weitere Gedanken machst, Stella ist die, die in Stockholm schon richtig angekommen ist. Sie hat Freunde gefunden, und die trifft sie ständig, wenn die Kinder nicht daheim sind. Und das finde ich auch gut, Jörg muss beruflich erst so richtig Tritt fassen, da muss er sich wegen seiner Frau wenigstens keine Sorgen machen oder gar Schuldgefühle haben.«

Sie lächelte ihren Mann an.

»Um Jörg und seine Familie müssen wir uns keine Sorgen machen, er ist halt rücksichtsvoll, unser Sohn, und er würde sich für uns gern Zeit nehmen, die er nicht hat. Ach, Werner, ich finde es so schön, dass du daran gedacht hast, mit unserer Jüngsten und mir nach Stockholm zu fahren. Schon allein das macht mich glücklich. Fahren wir halt zu einem anderen Termin. Stockholm läuft uns nicht davon.«

Der Professor war noch immer ganz geplättet, mit Inges Reaktion hätte er wirklich nicht gerechnet. Nun, vielleicht hätte sie anders reagiert, wäre sie diejenige gewesen, die mit Jörg telefoniert hätte. Auf ihn hatte sein Sohn einen merkwürdigen Eindruck gemacht, ihn schien etwas sehr zu belasten. Aber daran wollte er jetzt wirklich nicht rühren. Vielleicht war Jörg ja auch äußerst überarbeitet, oder er hatte einen schlechten Tag gehabt. Wie man da drauf war, das kannte er von sich nur zu gut.

»Es muss ja nicht Stockholm sein«, meinte er, »wir können eine andere Kurzreise machen.«

Inge war ganz gerührt.

»Werner, Liebling, nach unserer Auseinandersetzung hätte ich wirklich nicht geglaubt, dass du dir tatsächlich mehr Zeit für mich und Pamela nehmen würdest. Du ziehst es durch, und du planst sogar Überraschungen. Das finde ich fabelhaft. Und sei nicht traurig, dass das mit Stockholm in die Hose gegangen ist. Und eine andere Kurzreise. Werner, mir reicht es schon, dass du da bist. Ich genieße es, mit dir Kaffee zu trinken, mal in die Oper zu gehen oder ins Theater. Wir haben bereits eine ganze Menge unternommen. Ich genieße es so sehr, nicht ständig Koffer für dich packen zu müssen.«

»Inge, ich gebe ja zu, dass ich ein bisschen übertrieben habe. Mir bekommt es auch ganz gut, kürzerzutreten. Auch am Schreibtisch bekommt man gute Ideen, die der Wissenschaft dienlich sind, bessere sogar, weil ich mir für meine Gedanken mehr Zeit nehmen kann.«

»Und all die Kongresse, Meetings, zu denen du unbedingt reisen musstest, Werner?«, erkundigte Inge sich.

Werner überlegte einen Augenblick, dann entschloss er sich, ehrlich zu sein. Es saß ihm noch jetzt in den Knochen, als Inge drauf und dran gewesen war, Konsequenzen zu ziehen.

»Für meine Arbeit ist das alles nicht notwendig, es dient wohl eher meiner Eitelkeit. Und davon kann sich niemand frei machen. Es tut gut, bewundert und hofiert zu werden und es auch sofort gesagt zu bekommen.«

»Danke für deine Ehrlichkeit, Werner«, sagte Inge leise, »ich habe mir schon so etwas gedacht. Aber das hast du doch überhaupt nicht nötig. Du bist ein weltweit anerkannter Wissenschaftler, der Bahnbrechendes geleistet hat. Du hast Bewunderung überhaupt nicht nötig. Meist stimmt ja doch nicht, was einem gesagt wird. Nicht jeder Mensch ist aufrichtig, viele wollen dir nur schmeicheln, weil sie sich davon etwas erhoffen.«

Er lachte.

»Meine Inge«, rief er, »typisch, dass du so etwas herausbringst. Vergiss bitte nicht, dass jeder Mann gern bewundert wird.«

Sie blickte ihn sehr ernst an.

»Werner, ich werde dich niemals bewundern, aber ich werde dir immer wieder sagen, wie sehr ich dich liebe. Du bist der Mann, den ich von Anfang an wollte, du bist der Vater meiner Kinder. Werner, ich bin so froh, dass es zwischen uns wieder stimmt, dass wir einen Weg des Miteinanders gefunden haben. Es ist gut, dass wir die Notbremse gezogen haben, denn wir waren dabei, uns zu verlieren.«

Seine Inge!

Er konnte nicht anders, er stand auf, ging langsam auf sie zu, zog sie zu sich empor.

»Du hast die Notbremse ge­zogen, mein Herz. Ich war töricht genug, die ganzen Notsignale zu übersehen. Wir dürfen uns nicht verlieren, du bist mein Leben. Ohne dich wäre ich überhaupt nichts, dann wäre ich ein mittelmäßiger Wissenschaftler irgendwo an einer Uni. Du hast mir den Rücken freigehalten, du hast mir alle Steine aus dem Weg geräumt, dich um die Erziehung unserer fabelhaften Kinder gekümmert. Und ich habe alles immer einfach hingenommen.«

Er küsste sie, sehr sanft und zärtlich und voller Liebe. Seine Arme umfassten sie, warm und fest.

Sie waren wieder das starke Team, die Auerbachs, zu zweit gegen den Rest der Welt.

Irgendwann lösten sie sich voneinander, er blickte ihr zärtlich in die Augen und flüsterte: »Ich liebe dich, du glaubst ja überhaupt nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich hatte es vorübergehend leider ein wenig vergessen. Kannst du mir das verzeihen?«

Sie konnte es. In jeder Ehe gab es Krisen, in denen man richtungslos herumschlingerte. Entscheidend war doch, dass man das Floß seines Lebens beizeiten wieder auf Kurs brachte und in ruhige Gewässer steuerte.

Ihr Werner war schon ein toller Mann, und Inge war unglaublich stolz auf ihn, doch das musste sie ihm jetzt wirklich nicht sagen. Manche Dinge musste man einfach für sich behalten.

Sie setzten sich wieder, und Werner vermied es, das Thema Jörg erneut anzuschneiden, und damit auch Inge es nicht tat, brachte er das Gespräch auf Hannes, ihren Jüngsten. Für Werner war es schwer zu verstehen, dass Hannes einfach keine Ambitionen zeigte, endlich mit einem Studium zu beginnen. Dass er so weit gegangen war, das Stipendium an der Columbia Universität in New York nicht in Anspruch zu nehmen, das würde ewig an seinem Vater, dem Professor nagen.

»Inge, wenn Australien nicht am anderen Ende der Welt wäre, dann würde ich mit dir sofort dorthin fliegen. Vielleicht könntest du unseren Hannes dort zur Räson bringen, dort kann er uns nicht ausweichen, muss uns Rede und Antwort stehen. Hier gibt er uns keine Gelegenheit, hier macht er Stippvisiten, und wenn wir so richtig mit ihm reden wollen, dann geht er. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er durchaus ein paar Tage dranhängen könnte, er hat nur Angst vor der Konfrontation.«

Inge wusste, wie sehr es Werner schmerzte, dass Hannes nicht studierte, sie hätte es ja auch gern gesehen, aber man konnte schließlich nichts erzwingen.

»Werner, Hannes geht seinen Weg, da müssen wir uns überhaupt keine Sorgen machen. Und wenn es ein Weg ist, der uns nicht gefällt, dann müssen wir uns damit abfinden. Hannes ist klug, der weiß, was er tut.«

Werner hätte jetzt gedacht, dass seine Frau sich wie immer, wenn es um Hannes ging, auf seine Seite schlagen würde. Ihre Antwort enttäuschte den Professor.

»Inge, ich bitte dich, was ist das denn für ein Weg. Er ist unter seiner Würde. Ich hätte mir, weiß Gott, für meinen Sohn etwas anderes vorgestellt als zu tauchen und zu surfen und sich mit einem Surfbrett fotografieren zu lassen. Dafür hätte er kein solches Abitur hinlegen müssen. Was er jetzt in Australien so treibt, das ist in meinen Augen Perlen vor die Säue geworfen. Ein Abi mit Eins-Komma-Null, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.«

Er kam einfach nicht darüber hinweg, doch Inge konnte das so nicht stehen lassen, ganz gleichgültig, was ihre Wünsche gewesen waren, sie musste die Tatsachen geraderücken.

»Werner, ja, es ist toll, dass unser Hannes ein solches Abi gemacht hat, aber damit steht er nicht allein auf der Welt. Es gibt viele junge Menschen, die einen solchen Notdendurchschnitt haben. Wir sind nur hin und weg, weil Hannes, der anfangs durchaus nicht den Eindruck eines besonderen Schülers machte, das beste Abitur von unseren Kindern gemacht hat. Und was das Surfen und das Tauchen und die Fotografien betrifft, Werner, da bist du einfach ungerecht. Hannes ist Mitbesitzer einer Surf- und Tauchschule, die sehr angesagt ist, mit den Fotos in angesagten Fachzeitschriften verdient er nicht nur viel Geld, sondern er ist auch an der Entwicklung des Nachfolgebrettes von ›Sundance‹ mit beteiligt, und das wird entsprechend honoriert. Und sie bauen jetzt ein Therapiezentrum für Sportverletzungen.«

»Ja, und sein Kumpel lässt sich als Therapeut ausbilden, warum nicht Hannes?«, begehrte er auf.

Werner konnte manchmal so stur sein und wollte unbedingt recht behalten.

»Das wäre dir lieber?«, erkundigte sie sich. »Also, ich finde es besser, dass er den ganzen Laden managte. Und da ist er ganz schön clever. Aber Werner, muss Hannes jetzt das Thema des Abends sein? Was immer er auch tut, wir müssen ihm ewig dankbar sein, denn er war es, der unsere Kleine zu sich nach Australien geholt hat, nachdem sie auf unschöne Weise erfahren musste, dass sie keine Auerbach ist, sondern dass wir sie nur adoptiert haben. Er hat für uns die Kastanien aus dem Feuer geholt, wer weiß, was sonst noch passiert wäre, alles ist uns ganz schön um die Ohren geflogen, und Hannes hat es großartig gemacht. Er hat fabelhaft für unser Kind gesorgt, und das, obwohl er selbst noch so jung ist.«

Dem konnte Werner Auerbach nun wirklich nicht widersprechen, aber zugeben wollte er auch nicht, dass Hannes ein ganz cleveres Bürschchen war. Mit Studium käme er ganz nach oben, das war seine feste Meinung, von der er sich nicht abbringen wollte.

Er wechselte einfach das Thema.

»So, meine Liebe, Hannes haben wir durch, auch über Jörg haben wir gesprochen, neben unsrer Jüngsten, die ein wahrer Sonnenschein ist, haben wir auch noch unsere Ricky, ich finde, die hat auch verdient, dass wir ein paar Worte über sie verlieren. Sie ist schon eine tolle Frau, wenngleich ich nicht verstehen kann, dass auch sie keine akademische Karriere gemacht hat und stattdessen mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zufrieden ist.«

»Weil sie sich schon als Abiturientin in ihren Fabian verliebt hat, und ihm ist es nicht anders gegangen, er hat sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Und erinnere dich bitte daran, wie schwierig es war, Schülerin und Lehrer, das klassische Thema für unendliche Geschichten in der Öffentlichkeit.«

»Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen, sie haben gewartet.«

Inge nickte.

»Eben, und als sie es durften, dann hatten sie es halt eilig, sie heirateten und bekamen ihre Kinder. Vier geplante Wunschkinder, nur die kleine Teresa, das Nesthäkchen fünf, ist aus der Reihe getanzt. Die kam, weil sie es wollte.«

Werner lachte.

»Die heißt nicht nur wie deine Mutter, sondern sie hat auch deren Energie geerbt und deren Kopf. Ja, ja, es ist schon so, Kinder kommen niemals auf fremde Leute.«

»Ja, Werner, ich finde auch, dass sie auf meine Mutter kommt. Findest du das schlimm?«

»Im Gegenteil, ich finde es großartig, weil nämlich deine Mutter auch eine ganz großartige Frau ist.«

Das stimmte, manchmal wünschte Inge sich, sie hätte mehr von ihrer Mutter. Sie sollte auf ihre Großmutter kommen, doch die hatte sie leider nicht kennengelernt.

»Ja, das ist Mama wirklich, aber die Energie von ihr, die hat Ricky auch. Ich bewundere sie sehr dafür, wie sie das alles hinkriegt. Nur mit dem Studium, das sie zwischendurch angefangen hat, das war dann doch ein wenig zu viel für sie. Es ist gut, dass sie die Reißleine gezogen hat, als sie spürte, dass Fabian und die Kinder, trotz einer straffen Organisation des Alltags, zu kurz kamen.«

»Na ja, so einfach ist es nicht, so etwas auf sich zu nehmen, wenn man eine Familie hat, da war Ricky ein wenig blauäugig. Sie hätte halt nach dem Abitur erst einmal studieren sollen oder wenigstens eine Ausbildung machen. In der heutigen Zeit ist es eigentlich nicht nachvollziehbar, dass junge, intelligente Frauen keine Ausbildung haben.«

»Was unsere Tochter macht, das ist ein Vollzeitjob, außerdem ist sie durch Fabian versorgt. Sollte ihm etwas zustoßen, was Gott verhindern möge, bekommt sie eine Pension.«

»Und wenn er sie verlässt?«, wollte er wissen. »Hast du schon mal daran gedacht? Dann steht sie ganz schön blöd da, sie ist jung, da muss sie selbst für ihren Unterhalt aufkommen, er muss nur für die Kinder bezahlen, und wenn …«

Wieder unterbrach Inge ihren Mann.

»Werner, was erzählst du da?«, erkundigte sie sich.

Er blickte ein wenig schuldbewusst.

»Ich habe da zufällig etwas über Scheidungen und Unterhaltszahlungen gelesen, und da musste ich halt an unsere Ricky denken. Die Frau, die sie da als Beispiel angeführt haben, befand sich in einer ähnlichen Situation.«

»Es wird nie dazu kommen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, meinetwegen auch beide Hände. Ricky und Fabian lieben sich, es ist so etwas wie …, wie … eine Jahrhundertliebe. Und selbst wenn die Ehe zerbrechen sollte, muss sich Ricky keine Sorgen machen. Ihr gehört die Hälfte des Hauses hier im Sonnenwinkel, die Hälfte des Hauses, in dem sie wohnen. Beide Häuser sind bezahlt, und da sie sich in einer komfortablen Lage befinden, ist mit diesen Immobilien viel Geld zu erzielen. Aber bitte, Werner, lass uns davon aufhören. Wir haben großartige Kinder, auf die wir stolz sein können. Mit unseren Kindern haben wir alles richtig gemacht. Sie sind tolle Menschen und haben das Herz auf dem rechten Fleck.«

Sie deutete auf ihr Glas.

»Ich hätte jetzt gern noch etwas Wein, mein Lieber, der ist köstlich, den hast du gut ausgesucht.«

Werner fühlte sich geschmeichelt, und Inge wusste, dass sie jetzt einen Vortrag über die Rebe, das Anbaugebiet hören würde. Doch das nahm sie hin, so war ihr Werner nun mal. Und der Wein war wirklich köstlich.

*

Der Sonnenwinkel war ein reines Wohngebiet, aber es gab wöchentlich einen ganz wunderbaren Bauernmarkt, auf dem alle Köstlichkeiten aus der Region angeboten wurden. Zusätzlich gab es einen Biobäcker, und einen kleinen, aber feinen Fischhändler.

Es gehörte beinahe schon zur Tradition, den Markttag auf keinen Fall zu versäumen. Man tätigte seine Einkäufe mit wirklich ganz hervorragenden Produkten, aber man nahm sich ebenfalls die Zeit für einen kleinen Plausch. Selbst Inge Auerbach ging nicht nur gern auf dem Bauernmarkt einkaufen, nein, auch sie war einem Pläuschchen nicht abgeneigt, obschon das normalerweise nicht ihr Ding war.

Seit sie mit ihrer Mutter im Sonnenwinkel wohnte, war es auch für Angela Halbach ein festes Ritual. Und den Besuch des Marktes genoss sie heute ganz besonders, weil sie einige Male wegen ihrer Erkrankung nicht hatte hingehen können.

Sie genoss es, von Stand zu Stand zu schlendern, die so schön drapierten Waren zu bewundern. Die Händler gaben sich wirklich alle Mühe, ihre Angebote für sich sprechen zu lassen, und das gelang am besten mit einem schönen Aufbau der Sachen, die sie an den Mann beziehungsweise an die Frau bringen wollten.

Angela hatte noch überhaupt keine Vorstellung von dem, was sie einkaufen wollte. Sie waren daheim noch gut sortiert, der Kühlschrank war gefüllt, gut gefüllt. Ihre Mutter aß wie ein Vögelchen, und bei ihr war der Appetit noch nicht so richtig zurückgekehrt.

Sie würde etwas Obst mitnehmen, das ging immer, und auf jeden Fall würde sie einen von diesen herrlich bunten Blumensträußen kaufen. Sie liebte ja eher Blumen in zurückhaltenden Farben, aber ihre Mutter hatte ein Faible für bunte Bauernsträuße, durch die sie an ihre Kindheit erinnert wurde, als sie über die Wiesen gelaufen war und ihre Blumensträuße selbst gepflückt hatte oder sie ihrer Mutter mitgebracht hatte.

Erinnerungen können einen ein Leben lang begleiten, und wenn sie schön waren, dann wollte man sie auch aufrechterhalten, wie ihre Mutter mit dem Bauernsträußen.

Sie betrachtete das reichhaltige Sortiment eine ganze Weile und wollte sich schon für einen der Sträuße entscheiden, als sie, ein wenig versteckt, einen Strauß entdeckte, der ihr noch besser gefiel.

Um sich den genauer anzusehen, trat sie einen Schritt beiseite und rempelte unbemerkt jemanden an.

Sie wollte sich entschuldigen, als ihr jedes Wort im Hals steckenblieb. Sie hätte mit allem gerechnet, damit allerdings nicht. Sie war mit ihrem Retter vom See zusammengestoßen.

»Und mit Ihrem Fahrrad noch alles in Ordnung?«, erkundigte er sich launig.

Angela wurde rot.

»Ich hoffe, ich habe es seit diesem … Ereignis am See nicht mehr ausprobiert. Das mit der Kette hat mich überfordert.«

Sie plauderten ein wenig miteinander, als ihm plötzlich etwas einfiel.

»Ich bin Peter Bredenbrock«, stellte er sich vor, »ich wohne mit meinen Kindern beinahe schon im Sonnenwinkel.«

Der Name sagte ihr sofort etwas, sie stellte sich ihrerseits vor, dann bemerkte sie: »Ach, Sie haben das Haus der Rückerts gemietet.«

Er blickte sie erstaunt an.

»Die Welt hier ist klein, ich habe es von Frau Auerbach erfahren, der Mutter Ihrer Vermieterin.«

»Frau Auerbach ist eine sehr sympathische Person«, sagte er. »Und ist es nicht rührend, sie hat uns sogar schon Brot und Salz gebracht, das soll ja Glück bringen, und das können wir gebrauchen.«

»Glück kann man immer gebrauchen«, bemerkte Angela, sie konnte ihm jetzt nicht sagen, dass sie von Inge sein Schicksal kannte. Sie hatte nur nicht den Namen Bredenbrock mit ihrem Retter vom See in Verbindung gebracht.

Sie erzählte ihm, dass sie mit ihrer Mutter noch nicht lange im Sonnenwinkel wohnte, dass sie sich aber unglaublich wohlfühlten. »Hier lebt man nicht so anonym wie in der Großstadt, hier gibt es wirklich noch eine gut funktionierende Nachbarschaftshilfe.«

»Das hört sich gut an, doch sagen Sie das mal meinen Kindern, die kommen sich hier vor wie in dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Sie vermissen die Großstadt sehr, und es gelingt mir nur hin und wieder sie abzulenken. Als wir in einem Freizeitpark waren, hatte ich das Gefühl, der Knoten sei geplatzt. Die gute Stimmung hielt keine vierundzwanzig Stunden an, dann war es wieder vorbei. Ich hoffe, sie heute ein wenig zu versöhnen. Ich habe ihnen versprochen, ein Ratatouille für sie zu machen, das lieben sie seit einem Frankreichaufenthalt. Und im Gegensatz zu anderen Kindern mögen sie Gemüse. Ich will mein Bestes geben, aber ich habe keine Ahnung, ob mir das gelingen wird.«

Sie unterhielten sich noch ein wenig, dann klingelte sein Handy. Er machte ein ganz bestürztes Gesicht, entschuldigte sich und bemerkte: »Verflixt noch mal, ich habe total einen Termin an meiner neuen Schule vergessen. Der ist mir durchgegangen, und meine Kinder kann ich nicht erreichen, die sind mit der kleinen Auerbach unterwegs, und mein Kochen, das kann ich jetzt ebenfalls knicken. Kennen Sie das auch? Wenn etwas schiefläuft, dann läuft aber auch alles schief.«

Angela bekam schon Mitleid mit ihm, klar überforderte ihn alles, und wenn er nun auch noch für seine Sprösslinge kochen musste.

Sie hatte plötzlich eine Idee.

»Ich habe lange in Frankreich gelebt, und ich bin bekannt für mein Ratatouille, lassen Sie mich das doch übernehmen, und ich kann dann auch Ihre Kinder ins Haus lassen und bleiben, bis Sie wiederkommen.«

Er starrte sie an, glaubte, sich verhört zu haben.

»Das würden Sie tun?«, erkundigte er sich.

Sie nickte.

»Ja, gern sogar. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass hier im Sonnenwinkel die Nachbarschaftshilfe groß geschrieben wird. Außerdem haben Sie etwas gut bei mir, schon vergessen, dass Sie meine Fahrradkette wieder aufgezogen haben?«

Er war noch immer verunsichert, aber auch sehr erleichtert. Angela nahm es in die Hand, die nötigen Einkäufe zu tätigen, denn das, was er da in seinem Einkaufskorb hatte, daraus konnte man etwas Leckeres zubereiten, aber ganz gewiss kein Ratatouille.

Alles war schnell erledigt, dann gingen sie zusammen in sein Haus, er gab ihr die Schlüssel, erklärte ihr alles, und wenig später hörte man ihn mit seinem Auto eilig davonbrausen.

Er hatte es schon richtig ausgedrückt, als er sagte, er und seine Kinder zögen ein. Fast nichts war an seinem Platz, da gab es noch eine Menge Arbeit. Er konnte einem so richtig leidtun, er war ein so netter, sympathischer Mann, dieser Herr Dr. Bredenbrock. Also, wenn sie jünger wäre, dann könnte er ihr gefallen. Aber das war jetzt nicht das Thema.

Da die Küche bereits eingerichtet war, hatte sie da wenigstens keine Probleme. Sie sah sich um, deckte schon mal den Tisch für die Kinder, und dann begann sie mit ihrer Arbeit. Es machte Spaß, und um ihre Mutter musste sie sich zum Glück keine Gedanken machen. Die von Roths hatten sie mit nach Hohenborn genommen, ohne Rollstuhl, nur mit einem Rollator, das war eine Premiere, und ihre Mutter war aufgeregt wie ein kleines Mädchen an Weihnachten. Angela dankte dem Himmel immer wieder, dass sie hierher gezogen waren, ohne zu ahnen, dass im Sonnenwinkel auch Magnus und Teresa von Roth lebten, die ihre Mutter von verschiedenen Treffen kannte. Es war ein Glücksfall, und es war so rührend, wie die beiden sich um ihre Mutter kümmerten, aber auch Inge Auerbach tat eine ganze Menge.

Es war für sie selbstverständlich, dass sie hier in diesem Haus aushalf. Sie würde Peter Bredenbrock sagen, dass sie gern hier und da einspringen würde. Sie wusste ja nicht, wie es um die schulischen Leistungen seiner Kinder bestellt war. Kind eines Lehrers zu sein bedeutete ja nicht, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben. Sie würde da gern helfen, die Hausaufgaben beaufsichtigen oder ihnen Nachhilfeunterricht erteilen, ganz besonders in Sprachen. Ja, das war eine gute Idee.

Angela wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Haustür klingelte.

Das mussten die Kinder sein, ein perfektes Timing. Das Essen war gerade fertig geworden.

Angela rannte zur Tür, öffnete, es waren Maren und Tim.

»Wer sind Sie denn?«, herrschte Maren sie unfreundlich an. »Was machen Sie in unserem Haus, und wo ist unser Vater?«

Angela konnte den Kindern gerade noch erklären, dass ihr Vater einen dringenden Termin hatte. »Den hat er verschwitzt, und deswegen musste er ganz schnell weg. Ich bin hier, weil ich …«

Sie kam überhaupt nicht dazu, ihren Satz zu beenden.

»Und Sie glauben, sich bei uns einschleichen zu können …« Maren warf Angela einen bitterbösen Blick zu, »unser Vater hat eine Frau, er braucht keine neue, außerdem hat er uns. Verschwinden Sie.«

Sie riss ihren Bruder mit sich weg, rannte an Angela vorbei, die Treppe hinauf. Man hörte Türenschlagen.

Angela brauchte eine ganze Weile, ehe sie sich davon erholt hatte. Wie war dieses Mädchen denn drauf? Und was reimte sich diese Göre zusammen?

Inge Auerbach hatte ja vorsichtig angedeutet, dass es sich bei Maren und Tim um schwierige Kinder handelte.

Schwierig war überhaupt kein Ausdruck, sie waren unerzogen und frech, wobei sich Angela sofort korrigieren musste, der Junge hatte kein einziges Wort gesagt. Es war offensichtlich die Schwester, die das Sagen hatte.

Angela war für einen Augenblick wie gelähmt, dann wurde sie so richtig wütend und rannte, ohne weiter zu überlegen, die Treppe hinauf.

Aus einem der Zimmer drang laute Musik. Damit beruhigten sich Teenies offensichtlich alle.

Sie klopfte, es tat sich nichts, sie drückte die Türklinke herunter. Es war abgeschlossen.

Angela donnerte an die Tür, rief: »Mach bitte sofort die Tür auf.«

Es tat sich nichts, dafür wurde die Musik lauter gedreht.

Angela hatte keine Ahnung, wie man mit pubertierenden Teenagern umging, aber sie ahnte, dass sie sich jetzt nicht die Butter vom Brot nehmen lassen durfte. Dann hatte sie verloren, sie musste sich behaupten, auch wenn sie Konflikte hasste, die hatte sie mit ihrem Exmann zur Genüge gehabt. Sie hatte sich geschworen, so etwas niemals mehr haben zu wollen, doch manchmal konnte man es sich nicht aussuchen.

Sie versuchte es erneut, und wieder geschah nichts, da wurde sie wütend. Wussten diese Gören eigentlich, was ihr Vater für sie auf sich nahm?

Was sie jetzt tat, das tat sie nicht nur für sich, sondern auch für diesen bedauernswerten Mann.

»Wenn du nicht sofort die Tür aufmachst«, schrie Angela, so laut sie konnte, »dann trete ich sie ein. Und das werde ich tun, so wahr mir Gott helfe.«

Die Musik wurde abgestellt, dann näherten sich Schritte, es wurde aufgeschlossen, und dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit.

Ehe sich das Mädchen es anders überlegen konnte, stieß Angela die Tür auf, so heftig, dass Maren beiseite springen musste. Auf einen Blick sah Angela, dass sich Tim ebenfalls im Zimmer befand. Er saß ein wenig verängstigt auf einem Stuhl.

»So«, sagte Angela, »und nun hört mir bitte mal zu. Euren Vater kenne ich, weil wir uns zufällig am See begegnet sind, wo er mir freundlicherweise die Kette auf mein Fahrrad gemacht hat. Heute sind wir uns auf dem Markt begegnet, haben uns ein wenig unterhalten, und weil euer Vater plötzlich weg musste, habe ich ihm angeboten zu kochen und euch hereinzulassen und zu warten, bis er wieder nach Hause kommt. Was geschehen ist, das nennt man hier bei uns Nachbarschaftshilfe. Und auf Hilfe ist euer armer Vater angewiesen. Ich finde euren Vater sehr nett, doch ich bin nicht an ihm als Mann interessiert. Habt ihr das verstanden?«

Sie wartete überhaupt keine Antwort ab.

»Und selbst wenn ich es wäre, dann würde ich mir das verkneifen, wer will schon einen Mann mit zwei so unausstehlichen Kindern haben wie ihr es seid. Niemand. So, und nachdem das nun geklärt ist, kommt bitte herunter, sonst wird das Essen kalt.«

Angela drehte sich um, ging aus dem Zimmer, den Flur entlang, die Treppe hinunter. Sie hatte keine Ahnung, ob und welche Wirkung ihre Worte auf Maren und Tim gehabt hatten. Sie schämte sich beinahe ein wenig, weil sie ihnen ganz schön die Meinung gesagt hatte. Aber vielleicht war das die Sprache, die sie verstanden.

Eine Weile geschah nichts, sie überlegte bereits, ob sie noch einmal hinaufgehen sollte, als sie ein Gepoltere von der Treppe hörte, und wenig später kamen Maren und Tim zu ihr, als sei nichts geschehen.

»Setzt euch«, befahl Angela, und dann servierte sie den Kindern das Essen.

»Und Sie essen nichts mit uns?«, erkundigte Tim sich leise und blickte verlangend auf eines seiner Lieblingsgerichte. Das sah ja lecker aus, und es roch so gut.

Vielleicht war es gemein, doch Angela sagte unwirsch: »Mir ist der Appetit vergangen.«

Sie hatte nicht mit den Kindern essen wollen, daran hatte sie nicht einen Augenblick gedacht, weil sie und ihre Mutter immer erst abends die Hauptmahlzeit zu sich nahmen. Doch das musste sie den Kindern nicht sagen.

Tim blickte betroffen auf seinen Teller, doch dann begann er, mit Appetit zu essen, und Angela hörte ein begeistertes: »Boah, ist das lecker.«

Man sah Maren an, dass sie mit sich kämpfte, dann sagte sie: »Tut mir leid, Entschuldigung.«

»Entschuldigung angenommen«, sagte Angela großzügig, dann kochte sie sich einen Kaffee. Dagegen würde der Hausherr ganz bestimmt nichts haben. Mit ihrem Kaffee setzte sie sich zu den Kindern an den Tisch, und es kam sogar eine Unterhaltung in Gang. Angela freute sich, dass beide Kinder einen Nachschlag haben wollten, und es blieb sogar noch etwas für den Vater übrig. Ratatouille konnte man gut aufwärmen.

Nach dem Essen wollten die Kinder wieder nach oben laufen, doch weil die Stimmung gerade gut war, schlug Angela vor, dass man doch gemeinsam ein paar Umzugskartons auspacken konnte.

Tim blickte unschlüssig drein.

Maren war voller Abwehr.

»Ihr könntet eurem Vater damit eine große Freude machen«, meinte Angela, »ich finde, das hat er verdient.«

Noch zögerten sie ein wenig, doch dann trauten sie sich nicht, dieser Frau zu widersprechen. Die war ganz schön autoritär aufgetreten. Da hielt man sich besser zurück, außerdem hielt sie nicht viel von ihnen. Es war an der Zeit, ihr das Gegenteil zu beweisen.

»Okay, wir sind einverstanden«, sagte Maren und antwortete gleich für ihren Bruder mit.

Das war ein Sieg auf der ganzen Linie, Angela konnte es kaum fassen, sie bedankte sich bei den Kindern, und dann ging sie noch einen Schritt weiter. Die beiden durften sich aussuchen, welchen Karton, und davon gab es einige, sie zuerst auspacken wollten.

Auch wenn sie anfangs missmutig gewesen waren, so machte es ihnen schließlich sogar Spaß, und das lag in erster Linie daran, dass Angela alle ausgepackten Gegenstände in verschiedenen Fremdsprachen benannte, nicht nur in Englisch und Französisch. Das beeindruckte die Kinder. Sie wollten die Worte unbedingt nachsprechen. Das war manchmal gar nicht so einfach, weil es da so manchen Zungenbrecher darunter gab. Und wenn diese schwierigen Worte falsch ausgesprochen wurden, gab es ein großes Gelächter.

Sie lachten gerade wieder als Dr. Bredenbrock nach Hause kam. Er blieb ganz verblüfft mitten im Raum stehen. Da er wusste, wie seine Kinder derzeit drauf waren, hatte er die schlimmsten Befürchtungen gehabt, und nun herrschte hier eitel Sonnenschein.

»Es gibt ja doch die Heinzelmännchen«, rief er.

»Die hat die Angela bestellt«, kreischte Tim vergnügt.

Peter Bredenbrock musste sich erst einmal setzen. Was hatte er da verpasst? Seine Kinder packten aus und hatten sogar Spaß dabei. Wie oft hatte er sie vergebens gebeten, ihm zu helfen. Und dann sprach Tim auch noch von Angela, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, eine Fremde beim Vornamen zu nennen.

Ein wenig irritiert blickte er zu Angela. Doch die bekam das nicht mit. Sie packte gerade eine Bronzefigur aus, hielt sie in die Luft und erkundigte sich: »In welcher Sprache sollen wir beginnen?«

Sie lachten, sprachen durcheinander.

Peter stand auf, erkundigte sich: »Und was kann ich tun?« Er hatte zwar Hunger, doch das konnte warten. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, seine Kinder so vergnügt gesehen zu haben.

Was hatte Angela Halbach mit ihnen gemacht? Wenn sie da ein Zaubermittel hatte, das musste sie ihm unbedingt verraten.

*

Inge Auerbach ging gern zum See, doch sie entwickelte nie den Ehrgeiz, ihn in Windeseile rekordverdächtig zu umrunden. Das überließ sie anderen. Und wenn sie ganz ehrlich war, dann machte sie meistens spätestens nach der Hälfte einen Stopp und kehrte um. Inge wusste, wie gut körperliche Bewegung war, doch in ihrem Herzen war sie eine Couchpotatoe, und sie redete sich immer heraus, im Haus genug herumzulaufen. Das tat sie allein schon, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Da waren ihre Eltern ganz anders, die gingen bei Wind und Wetter hinaus, deswegen waren sie vermutlich für ihr Alter auch noch so fit und hatten selten Erkältungskrankheiten und andere Infekte, mit denen sich die meisten Menschen herumschlugen, wenn das Schmuddelwetter kam und sich einer bei dem anderen ansteckte. Um nicht angesteckt zu werden, brauchte man ein gutes Immunsystem, und das hatten ihre Eltern. Frau Dr. Steinfeld war stets des Lobes voll, sie waren Vorzeigepatienten, bewegten sich viel, ernährten sich bewusst, vermieden negativen Stress, hatten eine positive Lebenseinstellung.

Ja, an ihren Eltern sollte sie sich ein Beispiel nehmen, sie schlug hier und da leider mal über die Stränge, und negativen Stress, den wollte sie nicht mehr haben. Es hatte ihr gereicht, was der mit ihr gemacht hatte, als Pamela nach Australien gegangen war.

Inge schüttelte die Gedanken ab, die sie wieder einholen wollten. Es war vorbei, sie musste nach vorne blicken. Und sie wollte auch sofort mit den guten Vorsätzen beginnen und mehr als nur den See zur Hälfte umrunden. Es war ein wunderschöner Weg, man musste nur den inneren Schweinehund überwinden.

Inge stand bereits an der Tür, als ihr Telefon klingelte. Einen Augenblick lang überlegte sie, es einfach ignorieren sollte. Doch dann siegte ihr Pflichtbewusstsein. Es konnte ja ein wichtiger Anruf sein. Also ging sie zurück und meldete sich.

Der Anrufer war ihr Werner, und das wunderte Inge allerdings ein wenig. Sie hatten sich doch erst nach dem Frühstück liebevoll voneinander verabschiedet.

»Hervorragend, dass du zu Hause bist, mein Herz«, rief er und war bestens gelaunt, das war nicht zu überhören. »Ich befinde mich gerade im Reisebüro, und es gibt unglaublich gute Angebote für Städtereisen. Was interessiert dich mehr – Rom, Lissabon oder London?«

Inge musste sich erst einmal setzen.

Ihr Werner war wirklich für alle Überraschungen gut!

Dass er in ein Reisebüro gehen wollte, das hatte er mit keinem einzigen Wort erwähnt. Er hatte ein paar Besorgungen machen wollen und einen alten Bekannten treffen.

Weil sie nicht sofort antwortete, drängte Werner: »Inge, es geht um das nächste verlängerte Wochenende. Da fahren deine Eltern doch zusammen mit unserer Pamela nach Berlin. Und was sollen wir da allein zu Hause sitzen? Es ist die allerbeste Gelegenheit, etwas gemeinsam zu unternehmen. Also, sag schon, wohin möchtest du gern? Du hast die freie Entscheidung.«

Damit hatte Inge nicht gerechnet, das kam zu plötzlich für sie.

»Können wir uns das nicht in aller Ruhe gemeinsam überlegen, Werner?«, wollte sie wissen.

Damit war der Professor nicht einverstanden.

»Inge, das geht nicht. Wir müssen uns jetzt entscheiden, ehe diese Superangebote weg sind, es gibt jeweils nur noch ein paar Plätze, und die werden nicht nur in Hohenborn vergeben, sondern überall, und weil es sich um so exzellente Angebote handelt, wird man schnell zugreifen. Jetzt oder nie, Inge, sag was.«

Rom … Lissabon … London …

Inge kannte alle Städte. Wo gefiel es ihr am besten?

Sie konnte sich nicht entscheiden. Jede dieser Städte hatte Vor- und Nachteile, und überall kannte sie längst noch nicht alles.

Also, was tun?

Werner drängte, und sie fühlte sich ein wenig überfordert, auch wenn es ganz rührend war, was ihr Mann sich da ausgedacht hatte.

»Werner, entscheide du, mit dir an meiner Seite ist es überall schön.«

Solche Worte gingen bei ihm herunter wie Öl, er fühlte sich geschmeichelt.

»Also gut, meine Liebe, dann suche ich etwas aus, etwas, von dem ich glaube, dass es dir gefallen wird.«

Sie wechselten noch ein paar Worte, dann beendeten sie das Telefonat, und Inge blieb noch eine ganze Weile sitzen und lächelte versonnen. Ihr Werner, musste sie wieder denken, dann breitete sich große Freude in ihr aus. Es war wirklich nicht wichtig, wohin sie fuhren. Wichtig war allein, dass Werner und sie allein ein verlängertes Wochenende in einer schönen Stadt miteinander verbringen würden. Und da war es wirklich gleichgültig, ob es nun Rom, Lissabon oder London waren.

Am liebsten hätte sie sich jetzt einen Kaffee gekocht, wie sie es immer tat, wenn sie emotional bewegt war. Doch sie kannte sich, danach würde sie tausend Ausreden erfinden, um nicht mehr laufen zu müssen.

Sie stand auf, wenn man in eine Großstadt reiste und sich etwas ansehen wollte, dann musste man gut zu Fuß sein. Also konnte ein kleines Training nicht schaden.

Ehe sie nun endgültig das Haus verließ, ging sie zu dem Schrank, in dem die Süßigkeiten verstaut waren und brach sich ein großes Stück Schokolade ab. Dunkle Schokolade, wohlgemerkt, die durfte man ja essen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, die wurde sogar von Ernährungspäpsten empfohlen.

Sie ließ genüsslich die Schokolade im Mund zergehen, und dann ging sie.

Ihr Werner …

Sein verändertes Verhalten war keine Eintagsfliege gewesen, er meinte es wirklich ernst. Inge begann sich zu freuen, und da sie eine Frau war, machte sie sich auch sofort Gedanken darüber, was sie an Bekleidung mitnehmen sollte.

Es war schon ein Privileg, so nahe am See zu wohnen, und auch wenn die von Carlo Heimberg erbaute Siedlung viele Auszeichnungen erhalten hatte, war Inge froh darüber, in einem Haus zu wohnen, das schon vorher hier gestanden hatte. Das war auch so eine Überraschung gewesen, Werner hatte es einfach gekauft. Es war eine einsame Entscheidung gewesen, und niemand von ihnen war erfreut gewesen. Das allerdings hatte sich sehr schnell gelegt, Werner hatte den richtigen Riecher gehabt, nicht nur, was die Wertsteigerung der Immobilie betraf, sondern auch, dass es das richtige Familienhaus für die Auerbachs gewesen war.

Es war erstaunlich mild, auch wenn die Sonne nicht schien. Inge knöpfte ihre Jacke auf, beschleunigte ihren Schritt.

Sie war noch nicht weit gegangen, als sie das untrügliche Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Sie drehte sich um, da war niemand.

Sie bildete sich da etwas ein. Seit sie diesen falschen Polizisten gestellt hatte, war es nicht mehr so, wie es zuvor gewesen war. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, hier könne nichts passieren, um den Sonnenwinkel machten Einbrecher einen großen Bogen. Die heile Welt hatte einen Riss bekommen. Nicht nur sie war verunsichert, es hatte alle Bewohner dieses schönen Fleckchens Erde berührt. Seitdem fühlte Inge sich beobachtet, und jetzt fühlte sie sich verfolgt. Das war doch verrückt! Was sollte ihr denn hier passieren? Außerdem hatte sich die Polizei der Sache angenommen, und man hatte bereits ein paar Verbrecher auf frischer Spur ertappt. Ob es die Einbrecher waren, die den Sonnenwinkel unsicher machen wollten, das konnte niemand sagen.

Inge drehte sich noch einmal um, dann beschleunigte sie ihre Schritte. An einer Weggabelung blieb sie stehen, überlegte. Sie konnte jetzt weiterhin den Hauptweg nehmen, oder aber sie schlug den Weg ein, der direkt am See entlangführte, der war kürzer. Inge wusste, dass sie sich damit bemogelte, aber dennoch schlug sie den Seeweg ein, der war wesentlich schmaler und dichter bewachsen.

Wofür Werner sich wohl entschieden haben mochte?

Ehe sie diesen Gedanken zu einem Ende bringen konnte, wirbelte sie herum. Es hatte hinter ihr geknackt. Sie lauschte, und als sich nichts tat, ging sie weiter. Vermutlich war es ein Tier gewesen.

Sie hätte vielleicht doch nicht den Seeweg nehmen sollen, denn der wurde immer enger, weil er von Sträuchern zugewachsen wurde. Darum sollte sich wirklich mal jemand kümmern, dachte Inge ärgerlich.

Es gab keinen Grund, abgesehen einmal von diesem kleinen Ärgernis, dennoch fühlte Inge sich immer unbehaglicher. Der Weg sollte der Entspannung dienen, stattdessen wurde sie immer angespannter. Egal, was sie sich auch vorgenommen hatte, sie blieb stehen und drehte sich um. Sie würde zurückgehen, und sie beschloss, sich das nächste Mal ihren Eltern anzuschließen.

Inge war keine zwei Schritte gegangen, als hinter einem Gebüsch eine dunkle Gestalt hervorkam.

Sie hatte sich nicht getäuscht!

Jemand hatte sie verfolgt!

Und es war …

Inge glaubte, ihr Herz müsse vor Angst zerspringen, als sie den Mann erkannte, den sie bei der Polizei angezeigt hatte.

Der Mann kam ihr bedrohlich nahe, und Inge stockte der Atem, als sie in sein Gesicht blickte. Es war wutverzerrt und voller Hass.

»Mit mir hättest du nicht gerechnet, du Miststück, nicht wahr?«

Er war ihr so nahe, dass sie seinen schlechten Atem riechen konnte, doch das war das kleinere Übel. Sie war vor Angst wie gelähmt.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich ungeschoren davonkommen lasse? Wir waren so dicht davor, und du hast uns alles kaputt gemacht.«

Sie starb beinahe vor lauter Angst, doch zum Glück setzte ihr Verstand wieder ein.

Mit ihm reden?

Nein, das würde nichts bringen, also konnte sie nur noch davonlaufen.

Warum hatte sie sich bloß vom Hauptweg entfernt. Diesen Weg ging sie nur selten, und heute hatte sie ihn aus lauter Bequemlichkeit gewählt, weil sie sich selbst etwas vormachen wollte, und nun hatte sie die Quittung.

Sie drehte sich um, begann zu laufen, womit er offensichtlich nicht gerechnet hatte. Leider dauerte dieser Überraschungsmoment nicht lange, nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt. Er riss an ihrer Schulter, drehte sie brutal zu sich herum. »Willst du mich für blöd verkaufen? Du entkommst mir nicht mehr, dich mache ich fertig.«

Er war drauf und dran, seine Worte in die Tat umzusetzen, er begann sie zu würgen, mit der letzten ihr verbleibenden Kraft schrie Inge laut um Hilfe. Ihre Hilferufe verhallten ungehört.

Sie hatte keine Chance, zumal er immer fester zudrückte.

Es war schon merkwürdig, welche Gedanken einem neben einer irren Angst durch den Kopf gingen.

Was würde er mit ihr machen?

Würde er sie in den See werfen?

Würde man sie dort finden?

»Das hast du davon«, sagte er mit heiserer Stimme, »und es war alles vergebens. Wir warten ab, und dann werden wir deinen Schuppen und die anderen, die ich sogar von innen kenne, ausräumen, verstanden? Mit den Fotos wäre es einfacher gewesen, aber wir schaffen es auch so. Irgendwann werden die Bullen aufhören, euer Kaff zu beobachten, und dann schlagen wir zu. Darauf freue ich mich schon.«

Inge spürte, wie ihre Kräfte schwanden, dieser Mann war so hasserfüllt, dass er sich an ihrer Bettelei um ihr Leben nur weiden würde.

Was sollte sie jetzt tun?

Sie konnte nichts machen, sie war ihm ausgeliefert. Oder gab es da doch etwas?

Mit letzter Kraft hob sie ihren rechten Arm, und dann kratzte sie ihn am Hals.

Er schrie auf, ließ sie für einen Augenblick los, den Inge ergriff, um erneut um Hilfe zu schreien.

Sie hatte ihn ganz schön erwischt, er blutete am Hals, das Blut tropfte auf sie, weil er direkt über ihr war.

Sie sank in sich zusammen, aber er ließ nicht locker, er war wieder über ihr, um sein Werk zu vollenden. Er kannte keine Gnade, er wollte sie umbringen.

Inge konnte nicht mehr, sie ergab sich in ihr Schicksal.

Und dann geschah etwas, was sie nur am Rande mitbekam.

Sie vernahm Hundegebell, eine Männerstimme rief: »Hasso, komm her.«

Der Druck an ihrem Hals ließ nach, der Verbrecher stand auf, lief davon, ein Schäferhund war über ihr, doch das war überhaupt nicht bedrohlich, und wenig später sah sie einen Mann, der sich über sie beugte und sich ganz besorgt erkundigte: »Was ist passiert?«

Sie konnte nicht mehr, sie konnte kaum atmen, ihr Hals tat weh. Sie hätte gern etwas gesagt, doch es ging nicht, sie wurde ohnmächtig.

*

Als Inge wieder zu sich kam, entdeckte sie um sich herum Rettungssanitäter, neben ihr kniete ein Arzt, aus den Augenwinkeln sah sie den Mann mit seinem Schäferhund.

Ihre Erinnerung kehrte zurück.

Sie begann am ganzen Körper zu zittern, als ihr bewusst wurde, dass sie lebte, der Mann mit dem Schäferhund hatte ihr in letzter Sekunde das Leben gerettet!

Ihre Nerven hielten das nicht durch, sie begann hemmungslos zu schluchzen.

Der Arzt gab ihr eine Spritze, sie merkte den Einstich nicht, sie bekam auch kaum mit, dass man sie auf eine Trage legte und abtransportierte.

Was machte man da mit ihr?

Sie wollte sich dagegen wehren, doch sie war einfach zu kraftlos, Widerstand zu leisten, irgendwann ließ sie es geschehen. Sie war in Sicherheit, und das war es, was zählte. Außerdem begann die Beruhigungsspritze ihre Wirkung zu zeigen, eine träge Schläfrigkeit breitete sich in ihr aus.

Sie bekam nicht mit, dass man sie nach Hohenborn ins Krankenhaus brachte, dort untersuchte. Als man allerdings ihre blutverschmierte rechte Hand säubern wollte, schrie sie: »Lassen Sie das sein, unter meinen Fingernägeln müssen sich DNA-Spuren meines Angreifers befinden.«

Das war es, was sie zuerst hörte, als sie wieder klar bei Sinnen war, ihr Verstand funktionierte, das war wichtig, dass sie kaum schlucken konnte, das war zweitrangig.

An ihrem Bett saß Kriminalhauptkommissar Fangmann, der ihr das erzählte.

»Wieso sind Sie hier?«, erkundigte sie sich.

Er grinste.

»Weil Sie, halb bewusstlos wie Sie waren, nur zwei Dinge im Kopf hatten, das mit der DNA und nach mir zu verlangen, so einfach ist das.«

Ehe Inge dazu etwas sagen konnte, blickte sie auf ihre rechte Hand, die war sauber, keine Spur von Blut. Sollte alles umsonst gewesen sein?

Der Kommissar war ihrem Blick gefolgt, und ehe sie sich aufregen konnte, ergriff er beruhigend ihre Hand.

»Es ist alles in Ordnung, Frau Auerbach. Wir haben die Spuren gesichert, sie sind zur Auswertung im Labor, und wenn wir ihn im System haben, dann kriegen wir ihn, ansonsten ist es eine Frage der Zeit. Sind Sie noch zu schwach, oder können Sie mir sagen, was da wirklich passiert ist? Ein Mann mit einem Schäferhund, der sich zufällig am See befand, hat Sie offensichtlich gerettet, und er hat auch nach der Polizei und einem Krankenwagen gerufen. Genaue Angaben über Ihren Angreifer konnte er nicht machen, und ich vermute, Sie wahrscheinlich ebenfalls nicht. Aber das hat Zeit, kommen Sie erst einmal zur Ruhe, man wird Sie auf jeden Fall zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, ich kann also später wiederkommen oder morgen.«

Er stand auf, wollte gehen, doch Inge hielt ihn am Ärmel fest.

»Es war der Mann, den ich an unserem Grundstück erwischt und dem ich das Smartphone abgenommen habe«, sagte sie leise, »er muss mich die ganze Zeit über beobachtet haben, und er …«

Sie konnte nicht weitersprechen, weil sie sich daran erinnerte, was am See geschehen war. Ihr Leben war keinen Pfifferling mehr wert gewesen, und wäre dieser Fremde mit seinem Schäferhund nicht hinzugekommen, dann …

Ein trockenes Schluchzen hinderte sie am weitersprechen, sie sah seine teuflische Fratze vor sich, spürte den Druck seiner Hände an ihrem Hals.

»Es ist gut, Frau Auerbach, quälen Sie sich nicht weiter. Ihre Angaben genügen mir schon mal.«

Nein!

Er durfte jetzt nicht gehen, ehe sie ihm alles erzählt hatte. Auch wenn es ein wenig mühsam war, auch wenn sie zwischendurch von Weinkrämpfen geschüttelt wusste. Er musste alles wissen, um diesen Verbrecher dingfest zu machen.

Sie erinnerte sich, sie versuchte, ganz ruhig zu bleiben, was Inge schließlich auch gelang. Dann erzählte sie diesem netten Herrn Fangmann alles, woran sie sich erinnern konnte.

Schon als sie zum ersten Mal bei ihm gewesen war, war dem Beamten aufgefallen, wie präzise diese Frau ihre Aussage gemacht hatte. Es jetzt tun zu können, nach allem, was geschehen war, war verdiente Anerkennung, Bewunderung.

Der Hauptkommissar bedankte sich bei Inge, dann sagte er: »Frau Auerbach, es war ganz großartig, dass Sie in einer solchen Gefahrensituation noch ­einen klaren Kopf behalten ­haben. Dass Sie diesen Mann ­gekratzt haben, das hilft uns sehr weiter, und natürlich werden wir noch häufiger den Sonnenwinkel im Auge behalten. Ich verspreche Ihnen, dass ich alles daransetzen werde, diese Bande zu fassen, damit Sie endlich wieder ruhig schlafen können.«

Inge wurde rot.

Ein Arzt kam herein, hantierte mit einer Spritze herum, die Inge schläfrig machte.

Das war für den Kommissar ein Zeichen, sich zu verabschieden, was Inge nur noch am Rande mitbekam.

Sie war in Sicherheit, das allein war es was zählte, und sie vertraute diesem netten Herrn Fangmann, dass er den Verbrecher und seine Komplizen fangen würde.

Inge bekam nicht mit, wie ihr Werner ins Krankenzimmer gestürmt kam und aufgeregt rief: »Inge, Liebes, was machst du denn für Sachen.«

Sie bekam auch nicht mit, wie Werner sich einen Stuhl neben ihr Bett zog, sich hinsetzte, ihre Hand ergriff und sie unverwandt anblickte. Man hatte ihm erzählt, was geschehen war. Und er wollte einfach nicht daran denken, was passiert wäre, wenn die Rettung nicht im letzten Moment gekommen wäre. Dieser Typ hätte Inge gnadenlos erwürgt.

Nein, das wollte er sich nicht vorstellen, weil ein Leben ohne seine Frau nicht ging. Sie war seine zweite Hälfte, sie war sein anderes Ich.

Eine Krankenschwester kam herein, um sich bei ihm zu erkundigen, ob er vielleicht einen Kaffee haben wollte. Sie zog sich lautlos zurück, als sie bemerkte, dass Professor Auerbach weinte.

*

Nach zwei Tagen war Inge wieder daheim, man brachte ihr Blumen. Inge konnte gerade verhindern, dass man sie für die Zeitung interviewte.

Das Leben im Sonnenwinkel hatte sich verändert. Die angenehme Sorglosigkeit war dahin, Angst ging um. Alle waren sie vorsichtig, allein traute sich niemand mehr an den See. Solange dieser Verbrecher auf freiem Fuß war, konnte es jeden von ihnen treffen. Wusste man denn, was im Kopf eines so skrupellosen Menschen vor sich ging?

Werner hatte sich für die Überraschungsreise für ein noch anderes Ziel entschieden – Kopenhagen. Es wäre schön gewesen, doch Inge stand nicht der Sinn danach, jetzt zu verreisen, sie hatte noch immer Schmerzen, und ihr Hals nahm mittlerweile eine tiefviolette Färbung an.

Ihr Leben war ihr ganz schön um die Ohren geflogen, und Verunsicherung und Angst waren keine guten Wegbegleiter. Sie traute sich kaum noch aus dem Haus, wenn sie Geräusche hörte, zuckte sie zusammen.

Alle waren sie rührend um sie bemüht, doch die Albträume konnte ihr niemand nehmen. Es war ihr richtig unangenehm, so neben der Spur zu sein.

Wie lange sollte es so weitergehen?

Das Leben ging weiter, und das durfte nicht aus Angst bestehen, sie war wie gelähmt. Was war aus der fröhlichen Inge geworden? Ein Wrack, das bei jedem Klingeln an der Tür, bei jedem Telefonanruf zusammenzuckte.

Sie konnte auch nur sehr schlecht allein sein, aber Werner, Pamela und ihre Eltern konnten sich nicht ständig bei ihr aufhalten. Inge schlitterte in eine Depression hinein, nicht einmal Fotos und Nachrichten von der kleinen Teresa konnten sie aufheitern.

Es war ein schreckliches Leben, in das sie da unfreiwillig hineingeraten war.

Zum ersten Mal seit diesem Zwischenfall war Inge allein im Haus, und sie achtete auf alle Geräusche. Hatte der Verbrecher das mitbekommen? Würde er ins Haus eindringen?

Es waren schreckliche Gedanken, die jeder Grundlage entbehrten, aber sie kam nicht davon los.

Als es an der Haustür klingelte, zuckte sie zusammen.

Sie machte nicht auf, doch wer immer da vor der Tür stand, ließ sich nicht abweisen. Langsam schlich sie in den Flur. Es klingelte wieder, heftiger, dann wurde gegen die Tür geklopft. Inge erstarrte.

»Frau Auerbach, bitte machen Sie auf, ich muss mit Ihnen reden …, hier ist Fangmann.«

Die Angst fiel von ihr ab, sie öffnete mit zitternden Fingern die Tür. Sie war bleich, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Man konnte wirklich Mitleid mit ihr haben.

»Frau Auerbach«, begann er sofort, »ich habe gute Nachrichten für Sie. Können wir uns setzen?«

Sie nickte, blickte ihn hoffnungsvoll an, dann führte sie ihn ins Wohnzimmer, bot ihm etwas zu trinken an. Das lehnte er ab.

Und dann hatte er wundervolle Neuigkeiten für sie. Dank ihrer DNA-Sicherung hatte man nicht nur diesen Verbrecher gefasst, sondern auch seine Komplizen.

»Der Mann heißt Hubert Drewe, gegen den läuft bereits ein Haftbefehl, den wir nicht zustellen konnten, weil er untergetaucht war. Bei ihm und seinen Komplizen kommt eine ganze Mange zusammen, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung, Versicherungsbetrug, hinzu kommen ein paar andere Delikte, und bei Drewe noch der Mordversuch an Ihnen. Um Strafminderung zu bekommen, hat er ausgepackt und gesungen wie ein Vögelchen und gnadenlos die anderen verpfiffen. Dieser Drewe ist einer, der über Leichen geht. Aber Sie müssen jetzt keine Sorgen mehr haben, Frau Auerbach, Drewe wird für lange Zeit hinter Gittern sitzen, und ich glaube nicht, dass er es danach noch einmal versuchen wird, Ihnen zu nahe zu treten. Wenn er irgendwann einmal freikommt, wird ihm ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt, und dem muss er über Schritt und Tritt Rechenschaft ablegen.«

Inge starrte den Kommissar an, es war nicht zu fassen, es war zu schön, um wahr zu sein. Sie war glücklich und erleichtert. Sie begann zu weinen.

Henry Fangmann, der mit Schwerstverbrechern umgehen konnte, hatte ein Problem mit Frauentränen.

»Frau Auerbach, liebe Frau Auerbach, ich dachte, Sie freuen sich, wenn ich Ihnen das erzähle. Ich bin extra persönlich hergekommen.«

Sie wischte sich die Tränen weg, versuchte ein schiefes Lächeln.

»Aber ich freue mich doch, Herr Fangmann, Sie glauben überhaupt nicht, wie sehr ich mich freue.«

Der Kommissar blickte sie ein wenig verunsichert an, da kannte sich doch einer mit den Frauen aus.

Er wiederholte, dass das einzig und allein ihr zu verdanken sei, dass man diese Männer gefasst hatte. Er lobte sie, sprach lauter Nettigkeiten aus. Inge hatte dafür kein Ohr.

»Herr Fangmann, ich brauche jetzt dringend einen Kaffee«, sagte sie, und sie freute sich, als er sagte: »Den kann ich ebenfalls gebrauchen.«

Er war ein Netter, das hatte sie sofort erkannt, und dass er Kaffee auch liebte, das machte ihn noch sympathischer. Und weil das so war, dann bat sie ihn auch direkt in ihre schöne große Wohnküche, dort fühlte sie sich wohler, und sie war sich beinahe sicher, dass es ihm ebenfalls so gehen würde.

Der Albtraum war vorüber! Also, diesen Tag würde sie sich rot im Kalender einzeichnen, das stand schon mal fest!

*

Von der ganzen Aufregung hatte natürlich auch Roberta so einiges mitbekommen, doch sie hatte keine Angst gehabt. Bei ihr hatte niemand etwas ausspioniert, und wenn niemand im Haus war, da gab es eine gut funktionierende Alarmanlage, die direkt mit der Polizei verbunden war. Das hatte die Versicherung so verlangt, weil gern in Arztpraxen eingebrochen wurde. Mit illegalen Medikamentenverkäufen ließen sich gute Geschäfte machen, besonders wenn es sich um Opiate handelte.

Aber es war gut, dass der Spuk vorbei war, manche ihrer Patienten waren richtig hysterisch gewesen, nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie all die gewünschten Beru­higungstabletten verschrieben hätte. Für die Apotheken wäre es auf jeden Fall ein Boom gewesen. Es war schon gut für alle Bewohner, dass der Spuk jetzt vorbei war, und Inge Auerbach, chapeau, die hatte großartig reagiert, aber Glück gehabt hatte sie auch.

Als es bei Roberta klingelte, eilte sie zur Tür. Sie wusste, wer da Einlass begehrte. Roberto Andoni hatte seinen Besuch angekündigt, er wollte unbedingt mit ihr reden. Und Roberta sah diesem Gespräch mit recht gemischten Gefühlen entgegen. Sie mochte ihn gern, er war ihr Freund. Warum er heute zu ihr kam … Den Grund ahnte sie, man musste kein Hellseher sein.

»Hallo, Roberta, ich bin etwas früher, ich hoffe, es macht dir nichts aus«, begrüßte er sie. »Doch ich muss beizeiten wieder im ›Seeblick‹ sein, weil sich eine größere Gesellschaft angekündigt hat. Aber es ist mir sehr wichtig, das jetzt loszuwerden. Ich will nicht, dass es dir von anderer Seite zugetragen wird. Du weißt, welch unangenehme Folgen das haben kann, denk an die Geschichte mit der kleinen Auerbach. Auch wenn die gravierender war, so sind wir doch eng genug befreundet, um ganz offen und ehrlich miteinander umzugehen.«

Roberta führte ihn ins Wohnzimmer, trinken wollte er nichts, und Roberto hielt sich auch nicht lange mit der Vorrede auf, sondern er sprach das aus, was sie vermutet und zugleich befürchtet hatte. Die Tage der Andonis im ›Seeblick‹ waren gezählt!

Etwas zu vermuten und dann mit den nackten Tatsachen konfrontiert zu werden, das war ein gewaltiger Unterschied, ein ganz gewaltiger sogar. Roberta musste erst einmal schlucken. Er sah, wie sie das bewegte.

»Roberta, es ging auf einmal ganz schnell. Bei diesem Landgut in der Toscana musste ich eine Entscheidung treffen, sonst wäre es mir durch die Lappen gegangen. Und so etwas bekommt man nicht alle Tage angeboten, das ist ein Schnäppchen, in jeder Hinsicht. Zuerst zögerte ich ja noch, doch als dann Susanne mit der wunderbaren Neuigkeit kam, dass wir ein zweites Kind haben würden, da musste ich nicht mehr überlegen, da war die Entscheidung gefallen. Jetzt ist alles in trockenen Tüchern, die Verträge sind unterschrieben, der Kaufpreis ist bezahlt.«

»Und der ›Seeblick‹?«, wandte Roberta ein.

»Ach, da sieht es ebenfalls ganz gut aus. Es gibt mehrere ernsthafte Interessenten, eine Kette, die einen Burgerladen eröffnen will, ein Chinese, der aus dem ›Seeblick‹ ein Chinarestaurant machen will, er hat bereits mehrere, ein Konzern möchte aus dem ›Seeblick‹ ein Steakhaus machen. Aber ich glaube, ich habe mich entschieden, obwohl die Genannten mehr lukrativere Angebote gemacht haben. Doch Geld ist nicht alles, und der ›Seeblick‹ liegt mir wirklich am Herzen, ich habe ihn mit viel Herzblut zu dem gemacht, was er ist.«

Er wollte nun doch etwas trinken, und Roberta beeilte sich, ihm das gewünschte Wasser zu bringen, das sie ebenfalls gebrauchen konnte, weil sie schon einen ganz trockenen Hals hatte.

Roberto trank etwas, stellte bedächtig sein Glas ab, dann sagte er: »Ich werde an eine junge Frau verkaufen, die sich mit einem eigenen Restaurant ihren Lebenstraum erfüllen möchte. Sie hat für ihren bisherigen Chef mit herkömmlicher Küche einen Stern erkocht, aber sie möchte ein Restaurant eröffnen mit vegetarischer und veganer Küche.«

Roberta blickte ein wenig skeptisch drein.

»So etwas funktioniert vielleicht in der Stadt, aber hier draußen bei uns? Ich weiß nicht. Da wo ich früher lebte, gab es auch in meiner Nähe ein vegetarisches Restaurant, das ist mit Pauken und Trompeten eingegangen.«

»Roberta, es gehen immer wieder Restaurants ein, gleichgültig, welche Küche angeboten wird. Es kommt darauf an, dass du gut bist, und das scheint diese Julia Herzog zu sein, sie weiß, was sie will, und ich finde alles auch durchdacht. Sie hat eine kleine Erbschaft gemacht, und die ermöglicht ihr, ihren Traum zu leben. Ich denke, es kann funktionieren. Ich habe auch ein ganz anderes Angebot als meine Vorgänger, und da gab es ebenfalls viele Skeptiker und Zweifler. Aber ich habe auch an mich geglaubt, und es hat funktioniert. Ich finde, der ›Seeblick‹ darf nicht von einer Kette bewirtschaftet werden, da muss ein Einzelkämpfer mit Visionen und Herzblut dran.«

»Und wie ich dich kenne, hast du auf einen ganzen Batzen Geld verzichtet«, sagte sie.

Roberto lachte.

»Ja, habe ich, aber es ist genug für uns übrig geblieben, und niemand sollte gierig sein.« Er seufzte. »So, jetzt weißt du es, es gibt kein Zurück mehr. Susanne und ich freuen uns, unsere Valentina und unser neues Baby werden unter uralten Olivenbäumen spielen. In das alte Gutshaus müssen wir noch eine Menge hineinstecken, ehe es unseren Vorstellungen entspricht, aber so etwas macht mir ja Freude, und dafür habe ich auch ein Händchen. Alles ist ganz wundervoll, bis auf eines …« Seine Stimme wurde leiser, er blickte sie nachdenklich an, »du wirst uns fehlen, Roberta. Es ist ein Geschenk, dein Freund zu sein, und Susanne ist ganz begeistert von dir, weil du ihr von Anfang an offen und freundschaftlich begegnet bist, obwohl sie die Nachfolge deiner Freundin Nicki angetreten hat.«

»Die dich verlassen hat«, fügte Roberta hinzu. »Was ich bis heute nicht verstehe. Und obwohl Nicki meine Freundin ist, muss ich ganz ehrlich sagen, Susanne ist die bessere Frau für dich. Ihr passt ganz wunderbar zusammen. Sie bringt Ruhe in dein Leben, man kann nicht immer auf Wolke Sieben herumturnen, das Leben findet im Alltag statt. Roberto, es ist alles gut wie es ist. Ihr werdet mir auf jeden Fall auch fehlen. Es war schön, mal kurz zum ›Seeblick‹ zu gehen, wunderbar zu essen und vor allem, um zu entspannen, gute Gespräche zu führen. Aber so ist es wohl, alles hat seine Zeit. Ich wünsche euch auf jeden Fall alles Liebe und Gute für den Neuanfang in Italien.«

»Susanne hat es dir ja bereits gesagt, und ich kann es nur wiederholen. Du bist jederzeit herzlich eingeladen, und für dich steht sogar ein kleines Gästehaus bereit, in dem du dich erholen und entspannen kannst.«

Er stand auf, weil er wirklich in Eile war, Roberta bedankte sich bei ihm, dass er extra hergekommen war, um es ihr zu erzählen, dann begleitete sie ihn zur Tür. Sie umarmten sich, verabschiedeten sich voneinander, sie sah ihm nach wie er zu seinem Auto ging, ihr noch einmal zuwinkte, dann stieg er ein und fuhr davon.

Als Roberta wieder ins Haus ging, war ihr das Herz schon ganz schön schwer. Jetzt konnte sie es nicht mehr verdrängen, nicht mehr auf ein Wunder hoffen. Jetzt stand es fest, Roberto Andoni, Susanne und die kleine Valentina würden ihre Zelte hier abbrechen.

Es waren schon mehr Leute gegangen, und deren Weggang hatte sie auch bedauert. Aber das jetzt mit den Andonis, das ging ihr so richtig ans Herz. Sie würde Roberto und Susanne vermissen, am meisten jedoch die kleine Valentina, diesen Sonnenschein, dieses entzückende Baby, das so viele Wünsche und Träume in ihr erweckt hatte.

Die Einladung stand, und die war von Herzen ausgesprochen. Würde sie ihr folgen?

Darüber musste sie sich jetzt keine Gedanken machen. Sie würde eine Weile traurig sein, dann hatte der Alltag sie wieder eingeholt. Alles hatte seine Zeit, Menschen kamen und gingen, Ehen, Lieben und Freundschaften zerbrachen, nichts war für die Ewigkeit bestimmt.

Sie zog ihre Schuhe an, die sie sich extra für diesen Zweck gekauft hatte, dann schlüpfte sie in ihre Wetterjacke und verließ das Haus. Vorsichtshalber steckte sie den Schlüssel vom Haus am See ein. Sie wollte zwar, um den Kopf freizubekommen, um den See laufen, aber man sollte nie nie sagen. Vielleicht würde sie auch nur bis zu seinem Haus gehen und sich dort ihren Träumen an ihn hingeben. Sie vermisste Lars so sehr. Ganz besonders in Situationen wie dieser jetzt. Wie schön wäre es, jetzt bei ihm zu sein, sich ganz eng an ihn zu kuscheln und sich von ihm trösten zu lassen …

Sie hätte wohl besser nicht an den Mann ihrer Liebe gedacht, denn jetzt wurde sie noch trauriger.

Roberto ging mit seiner Familie nach Italien, um mehr von ihnen zu haben, um mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können, weil ihm Frau und Kinder heilig waren.

Und sie? Was hatte sie?

Einen Traummann, der klug war, der fantastisch aussah, die unglaublichsten Augen der Welt hatte, mit dem sie reden und lachen und weinen konnte, den sie liebte, der sie liebte, aber der sich dennoch für die Eisbären mehr interessierte als für sie.

Sie war jetzt nicht ganz fair, Lars hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Ihm konnte sie keinen Vorwurf machen, er konnte nichts dafür, dass es da neben ihrem über alles geliebten Beruf noch etwas anderes gab …

*

Rosmarie Rückert trank schnell noch einen Tee, dann würde sie sich auf den Weg in die Seniorenresidenz machen. Sie hätte niemals für möglich gehalten, welchen Spaß es machte, den alten Herrschaften etwas vorzulesen, mit ihnen Spiele zu machen, sich mit ihnen zu unterhalten.

Rosmarie hatte sogar schon einen Tanztee organisiert, und es war ganz unglaublich, mit welcher Begeisterung sie alle getanzt und sich gefreut hatten.

Es gab ja Bewohner, die von ihren Angehörigen regelmäßig besucht wurden, aber viele von ihnen hatte man einfach in dem Altenheim, und das war auch eine Seniorenresidenz, auch wenn das hochtrabender klang, geparkt und sie dann vergessen.

Stella wohnte ja jetzt in Stockholm, aber Fabian wohnte nicht weit von ihnen entfernt. Was würde er wohl tun?

Seit sie alles aus der Nähe erlebte, stellte sie sich diese Frage oft. Würde er sie und Heinz ebenfalls irgendwo parken?

Auf Glanzpapier wurden ja immer wieder die Vorteile eines Lebens in verschiedenen Häusern angeboten, die so teuer waren, dass sie sich ein normaler Sterblicher überhaupt nicht erlauben konnte. Geld war nicht das Problem, davon besaßen sie genug. Heinz hatte vor Jahren sogar schon mal überlegt, sich an so einer Edelresidenz gewinnbringend zu beteiligen.

Also, solange sie Herrin ihrer eigenen Sinne war, würde sie freiwillig nie in so ein Haus gehen. Wenn sie nicht mehr konnte, würde sie sich eine Pflegerin ins Haus holen. Heinz sah das anders, er würde irgendwann ganz gern mal in so ein betreutes Wohnen ziehen, doch das musste er dann allein tun, sie nie!

Aber zum Glück war es noch nicht so weit, sich darüber Gedanken zu machen, wenngleich sie Leute kannte, die sich für später bereits vorsorglich in so ein Haus eingekauft hatten. Dafür musste man geboren sein. Schluss jetzt mit diesen Gedanken.

Sie trank etwas von ihrem Tee, es klingelte, Meta, ihre Haushälterin öffnete, sie hörte ein Stimmengemurmel, dann kam jemand in den Raum, und Rosmarie stellte ihre Teetasse weg, sprang auf, glaubte einen Geist zu sehen.

Dieser Geist war allerdings sehr lebendig, kam auf sie zugerannt, umarmte sie stürmisch und begrüßte sie in einem guten Deutsch mit französischem Akzent.

Es war Cecile, die uneheliche Tochter ihres Mannes, um die sie ein solches Theater gemacht hatte, und mit der sie längst ein Herz und eine Seele war. Es war ein inniges, herzliches Verhältnis, das es zwischen ihr und ihren eigenen Kindern leider nicht gab. Das lag an ihrem Fehlverhalten, weil sie sich früher nicht um Stella und Fabian gekümmert hatte, sondern sie von Kinderfrauen aufgezogen worden waren. Cecile war erwachsen gewesen, als sie im Leben der Rückerts aufgetaucht war, und das hatte Rosmaries Einstellung zum Leben geändert.

»Cecile«, rief sie, nachdem sie sich von ihrer freudigen Überraschung erholt hatte, »das ist eine Freude. Wo kommst du her?«

Cecile lachte.

»Vom Flughafen, eigentlich wollte ich ja direkt zu Ricky und Fabian fahren, aber dann dachte ich, dass ich einen kleinen Abstecher machen könnte, um dir Hallo zu sagen, Rosmarie.«

Cecile war ein so liebenswerter Mensch, sie war ihr so sehr ans Herz gewachsen, und jetzt war Rosmarie ganz gerührt. Ihretwegen hatte Cecile einen Umweg gemacht, um sie zu sehen. Dabei hätte sie nach allem, was sie ihr angetan und vorgeworfen hatte, einen weiten Bogen um sie machen müssen. Doch die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Und es war schon verrückt, Heinz war der Vater, und er hatte sich für die plötzlich aufgetauchte Tochter beinahe ein Bein ausgerissen. Doch die Euphorie war verrauscht, Heinz machte wieder sein Ding, und sein Notariat, das Geld, das er damit machte, war ihm wichtiger als seine Familie, zu der Cecile ja nun auch gehörte.

»Eine großartige Idee, mein Kind, komm, setz dich, möchtest du einen Tee mit mir trinken?«

»Ein Kaffee wäre mir lieber, und hast du zufällig diesen wundervollen Käsesahnekuchen im Haus? Davon kann ich nicht genug bekommen.«

Rosmarie lachte.

»Du hast Glück, Meta hat erst heute einen gebacken, es ist fast so, als hätte sie geahnt, dass du kommst. Ach Kind, du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue.«

Meta kam herein, nahm ihre Wünsche entgegen, Rosmarie wollte auch ein Stück Kuchen haben.

Aus dem Besuch in der Altenresidenz würde es nichts mehr werden, aber es wartete auch niemand auf sie, sie hatte sich spontan entschieden. Cecile war natürlich die bessere Alternative, keine Frage.

Kaffee und Kuchen wurden serviert.

Rosmarie erkundigte sich: »Soll ich deinen Vater anrufen? Er wird sich sicherlich freuen, dich zu sehen.«

Cecile winkte ab. »Nein, lass mal, ich werde ihn bei der Kindtaufe sehen. Das reicht«, sagte sie, und ihre Stimme klang dabei ein wenig kühl.

Als sie Rosmaries Blick bemerkter fuhr sie, leise fort: »Ich bin ein wenig von meinem Vater enttäuscht. Er war anfangs so sehr daran interessiert, etwas über mich zu erfahren, doch sein Interesse war sehr bald erloschen. Wir wissen doch kaum etwas voneinander, müsste er denn nicht erfahren wollen, wie all die vielen Jahre ohne ihn verlaufen sind? Über ihn weiß ich dank euch mehr, ich habe zu Fabian und Stella ein herzliches Verhältnis, auch zu deren Familie, und dich, Rosmarie, dich liebe ich. Du hast dich so verändert, du bist eine so tolle Frau geworden. Ich bin froh, dass es dich gibt.«

Rosmarie hatte Tränen in den Augen, sie konnte erst einmal nichts sagen, Ceciles Worte hatten sie sprachlos gemacht.

Aber sie und Heinz standen nicht im Wettbewerb um die Gunst von Cecile, sie sollte auch ein gutes Bild von ihrem Vater haben.

»Cecile, Heinz kann nicht anders, er ist wie er ist, aber glaub mir, er liebt dich sehr, und er ist glücklich und berührt, dass es aus der Beziehung zwischen Adrienne und ihm dich gibt. Sie haben sich ja geliebt, und sie haben sich durch unglückliche Umstände aus den Augen verloren. Soll ich Heinz nicht doch anrufen?«

Cecile schüttelte den Kopf.

»Nein, wirklich nicht. Ich habe nicht viel Zeit, Fabian und Stella warten auf mich. Es war mir einfach nur ein Bedürfnis, dich zu begrüßen.«

Das ging herunter wie Öl.

»Es ist schön, dass Fabian dich als Patentante für die kleine Teresa haben möchte. Darüber freust du dich doch sehr, oder?«

»Ich bin stolz und glücklich, aber Rosmarie, dass ich Patentante werde, das habe ich in erster Linie Ricky zu verdanken. Die wollte es um jeden Preis, und Fabian hat ja gesagt, er wäre aber nicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fragen. Jetzt ist er auch glücklich darüber, und er ärgert sich ein wenig, weil er nicht selbst auf die Idee gekommen ist.«

»Ach weißt du, Cecile, die Ricky ist eine Auerbach, und die treffen ihre Entscheidungen spontan aus dem Herzen, das haben sie von ihrer Mutter. Meine Kinder sind gefühlsmäßig da etwas gebremst, das Beste, was ihnen passieren konnte, die Auerbach-Sprösslinge zu heiraten.«

»Ricky und Jörg sind wunderbare Menschen, ja, ich finde, sie passen zu Fabian und Stella. Geschwister heiraten Geschwister, das kommt auch nicht alle Tage vor. Es sollte wohl so sein, eine Fügung des Himmels. Ich freue mich jetzt auf die Taufe, und es macht mich sehr stolz, dass das kleine Mädchen Teresa Cecile heißen soll, nach mir. Das bringt mich der Familie noch ein Stückchen näher, denn natürlich werde ich das mit der Patenschaft sehr ernst nehmen, ich will nicht nur eine Patentante auf dem Papier sein.«

So war sie, die Cecile, und von ihrem Wesen passte sie zu den Auerbach-Kindern, sie war herzlich, offen, und sie kehrte durch nichts heraus, dass hinter ihr ein riesiges Vermögen stand. Dagegen waren die Rückerts arme Leute, und die hatten dank Heinz schließlich auch eine ganze Menge Vermögen angesammelt.

Cecile wollte noch etwas von dem Kuchen haben, was Meta erfreute, und Rosmarie sprach aus, was sie augenblicklich bewegte. »Ach, Cecile, wenn das Verhältnis zwischen Fabian, Stella und mir nur annähernd so gut wäre wie zwischen uns. Ich bereue es so sehr, mich früher eher um mich als um meine Kinder gekümmert zu haben. Jetzt habe ich die Quittung. Es geschieht mir recht.«

Cecile widersprach sofort.

»Was Stella denkt, dazu kann ich nichts sagen, Es ist schade, dass sie nicht zur Taufe kommen wird, obwohl sie und Familie eingeladen sind. Aber Fabian, der hat eine gute Meinung von dir, Rosmarie. Das hat er mir selbst gesagt, es gefällt ihm sehr, dass du dazu beiträgst, den alten Leuten im Heim ein wenig mehr Lebensqualität zu geben. Er hätte nicht geglaubt, dass du so etwas tun würdest.«

Jetzt war Rosmarie ein wenig erstaunt.

»Das hat er wirklich gesagt, Cecile?«

»Ja, Rosmarie, das hat er. Ich finde, ihr seid auf einem guten Weg. Ihr bewegt euch aufeinander zu. Du musst Geduld haben. Ein Haus steht auch nicht plötzlich da, sondern es wird Stein um Stein gebaut.«

Rosmarie spürte, wie eine Woge des Glücks, des Wohlbehagens, sie erfasste. So hatte sie sich niemals gefühlt, auch nicht, wenn sie diese teure Designertasche ergattern konnte, auf die man normalerweise viele Monate warten musste. Auch nicht, wenn sie sich teure, dicke Klunker gekauft hatte, die blitzten wie der Schmuck an einem Christbaum.

Das musste in einem anderen Leben gewesen sein!

Warum hatte sie früher nicht begriffen, dass man für das, was das Leben wirklich ausmachte, kein Geld brauchte?

Dann wäre alles anders gekommen, doch leider ließ sich das Rad nicht zurückdrehen. Sie musste kleine Schrittchen in die richtige Richtung machen, und sie durfte keine zu große Erwartungshaltung haben. Vertrauen, Zuneigung, Liebe, das alles konnte man sich nicht kaufen.

Als Meta erneut hereinkam, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen, kam wie aus dem Nichts Beauty in den Raum gerannt, sie sprang an Cecile hoch, um sie zu begrüßen, lief schwanzwedelnd zu Rosmarie, ganz so, als wolle sie ihr sagen, dich habe ich auch nicht vergessen. Dann war wieder Cecile an der Reihe.

Beauty …

Wenn man so wollte, hatte es mit ihr angefangen, mit der hübschen, kleinen Beagledame. Nein, Teresa von Roth hatte sie einfach mit ins Tierheim genommen, das sie zuvor nie von innen gesehen hatte, und dann war es so gekommen, dass Rosmarie sich für das Tierheim eingebracht hatte, sie hatte Spenden gesammelt, sogar viel von ihrem teuren Schmuck verkauft, zum Schluss edle Designeroutfits, alles für das Tierheim. Und die kleine Beauty, die war quasi die Belohnung für alles. Rosmaries Leben war so viel reicher geworden, und selbst Heinz war in Beauty verliebt, und das bedeutete schon etwas.

Cecile verstand es auf wunderbare Weise, Beauty so richtig zu bespaßen, und wer weiß, wie lange es noch so weitergegangen wäre, hätte Cecile nicht zufällig auf ihre Uhr geblickt. Sie sprang ganz erschrocken auf.

»Mon dieu, so spät ist es schon? Die Zeit hier ist wie im Fluge vergangen, und es war ganz herrlich. Aber jetzt muss ich los, ehe Ricky und Fabian noch eine Vermisstenmeldung aufgeben.« Sie umarmte Rosmarie, küsste sie und rief: »Ich freue mich, wenn wir uns bei der Taufe erneut sehen werden.« Dann verabschiedete sich, und Beauty sorgte dafür, dass auch sie noch ein paar Streicheleinheiten zum Schluss bekam.

Rosmarie ging mit zur Tür, sie winkte, bis von Cecile und deren Mietwagen nichts mehr zu sehen gab, dann ging sie langsam ins Haus zurück. Sie war noch immer ganz berührt, nicht nur von dem Besuch, sondern auch davon, was Cecile ihr alles erzählt hatte.

Sie überlegte einen Augenblick, dann fasste sie einen Entschluss. Sie konnte noch immer in die Seniorenresidenz gehen, gleich wurde das Abendessen serviert, das gab es für die alten Herrschaften immer sehr, sehr früh. Sie konnte bei den Vorbereitungen helfen, und sie konnte den Leuten behilflich sein, die es allein nicht schafften, die auf Hilfe angewiesen waren.

Ja, das würde sie tun.

Beauty freute sich schon auf einen Spaziergang, und sie war ganz enttäuscht, als ihr Frauchen sagte: »Tut mir leid, meine Schöne, aber jetzt musst du daheim bleiben. Wir machen heute Abend noch einen langen Spaziergang.«

Sie brachte Beauty zu Meta, die noch immer ganz beglückt war, weil Cecile ihr Kuchen so gut geschmeckt hatte. Dann machte sie sich fertig und ging los. Seit sie nicht mehr die Schuhe mit den schwindelerregenden hohen Absätzen trug, war sie sehr gut zu Fuß, und durch bequeme Kleidung fühlte sie sich auch nicht mehr eingeengt. Sie hatte eine anthrazitfarbene Hose an mit sehr viel Elastan, was für Bequemlichkeit sorgte, dazu trug sie ein hellgraues Twinset, das nicht aus einer sündhaft teuren Boutique stammte und auch keinen klangvollen Namen des Designers hatte. Sie hatte es in einem ganz normalen Geschäft gekauft. Die Zeiten, da man für sie den roten Teppich aufrollte und sie die Kreditkarten glühen ließ, die waren längst vorbei. Und verrückt war, dass ihr Heinz, sonst eigentlich ein Modemuffel, ganz entzückt gewesen war, als sie dieses Outfit zum ersten Mal getragen hatte.

Ja, sie hatte sich wirklich verändert, die Rosmarie Rückert! In ihrem früheren Leben wäre es für sie undenkbar gewesen, etwas anzuziehen, was keinen klangvollen Namen trug, was nicht sündhaft teuer war. Dabei produzierten die großen Billigketten, die Textilhändler, aber auch die großen Modelabels alle in Billiglohnländern, und in allen Fabriken arbeiteten die Näherinnen für einen Billiglohn. Das war die Realität, und wenn einem das bewusst war, konnte man sich der Illusion einer Besonderheit überhaupt nicht mehr hingeben.

Die Inge Auerbach, die hatte sich nie von großen Namen blenden lassen, für die musste Kleidung praktisch schön und nicht zu teuer sein, das Preisleistungsverhältnis musste einfach stimmen, dabei waren die Auerbachs auch nicht arm, der Professor verdiente sehr gut, aber sie gaben halt ihr Geld lieber für andere Dinge aus.

Na ja, zum Glück war sie jetzt auch schlauer geworden. Die Zeiten änderten sich.

Als sie die Seniorenresidenz erblickte, beschleunigte Rosmarie ihre Schritte. Dass Cecile so unverhofft gekommen war, um sie zu besuchen, das hatte sie so glücklich gemacht, jetzt wollte sie von ihrem Glück etwas weitergeben, ja, das wollte sie. Auch wenn manche der Bewohner nicht mehr alles mitbekamen, sie hatten schon eine Antenne für nette Worte, für sanfte Berührungen. Sie ging noch einen Schritt schneller. Es gab da einige Damen und Herren, die sie besonders berührten und von denen sie wusste, dass niemand sie besuchte, auch nicht an den Fest- und Feiertagen. Waren sie in ihren früheren Leben so oberflächlich gewesen wie sie? Darüber musste sie jetzt wirklich nicht spekulieren, für Einsamkeit im Alter gab es viele Gründe.

Sie hatte ihr Ziel erreicht, die Dame am Empfang kannte sie schon und begrüßte sie freundlich: »Hallo, Frau Rückert, schön, dass Sie da sind.«

*

Sophia von Bergen konnte ihr Glück noch immer nicht fassen. Es ging ihr so viel besser! Sie bewegte sich, wenn auch sehr vorsichtig, mit dem Rollator im Haus, und wenn jemand bei ihr war, versuchte sie es mit ihren beiden Stöcken. Irgendwann würde sie auf keine Hilfsmittel mehr angewiesen sein, und das war etwas, womit niemand gerechnet hatte.

Sie hatte ja immer damit gehadert, dass sie diesen Unfall gehabt hatte, das war so ungerecht. Doch der Himmel hatte ein Einsehen gehabt und sie in den Sonnenwinkel ziehen lassen, wo sie nicht nur eine ganz hervorragende Ärztin, einen begnadeten Therapeuten gefunden hatte, sondern auch Freunde.

Auf sie traf das Zitat zu: »Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«

Jetzt durfte sie nur wegen ihrer Angela keine Schuldgefühle mehr haben, die für sie ihr eigenes Leben aufgegeben hatte.

Gut, um ihren Exschwiegersohn musste man nicht trauern, der war kein Verlust, doch wie er Angela nach diesen Jahren der Ehe behandelt hatte, das war gemein und das tat weh. Er würde seine Quittung noch bekommen, es holte einen alles ein im Leben. Aber sie davonjagen wie einen Kettenhund, das war unmöglich, keinen Cent hatte sie bei der Scheidung bekommen, dafür hatten windige Anwälte gesorgt und ein harter Ehevertrag, den Angela dummerweise und ohne ihn sich durchzulesen unterschrieben hatte.

Es hätte nicht so kommen müssen, wäre dieser Mann nicht so unerbittlich gewesen, indem er sich geweigert hatte, sie bei sich in der großen Villa aufzunehmen. Da gab es so viel Platz, dass man sich hätte aus dem Weg gehen können.

Sophia wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Haustür klingelte. Sie war allein, da sollte sie nicht die Tür öffnen, das hatte Angela ihr eingetrichtert. Doch was sollte es, die Gefahr für den Sonnenwinkel war doch vorbei, außerdem war es für sie wieder ein Schritt in die richtige Richtung. Sie erhob sich ein wenig mühsam, schnappte sich ihren Rollator, und dann ging sie langsam los. Als er erneut klingelte, diesmal fordernder, rief sie: »Ich komme ja schon, eine alte Frau ist kein D-Zug.« Sie musste lächeln, weil das so treffend war.

Ein wenig mühsam öffnete sie die Tür, entdeckte zwei Jugendliche, das mussten die beiden sein, von denen Angela ihr erzählt hatte.

Die beiden blickten ein wenig enttäuscht drein, sie hatten mit ihr nicht gerechnet.

»Wir möchten …, äh …, ist Angela nicht da?«, erkundigte sich das Mädchen, die ganz offensichtlich diejenige war, die das Sagen hatte, der Junge war ein wenig scheuer. Aber das war oft so, wenn man eine große Schwester hatte.

»Nein, ist sie nicht.«

Die Enttäuschung der beiden war nicht zu übersehen, schon wollten sie sich abwenden, doch damit war Sophia nicht einverstanden. Ein wenig Abwechslung konnte nicht schaden, und Angela hatte viel über die beiden gesprochen.

»Ihr könnt auf sie warten, sie muss bald nach Hause kommen«, schlug Sophia vor.

Maren überlegte, dann nickte sie, sie und ihr Bruder Tim folgten der alten Dame ins Haus.

»Mögt ihr Schokolade?«, erkundigte Sophia sich.

Welche Frage!

Natürlich erfolgte von Maren und Tim ein beinahe einstimmiges »Ja«.

Sie bat das clevere Mädchen, die Schokolade aus dem Schrank zu holen, es gab auch noch Apfelsaft, dann setzten sie sich, Sophia versuchte ein Gespräch, und die beiden gingen darauf ein.

Also, Sophia fand sie nett, kaum vorstellbar, dass sie schwierig sein sollten.

Es war schließlich nicht einfach zu wissen, dass die Mutter mit einem anderen Mann abgehauen war.

»Was möchtet ihr denn von meiner Tochter?«, erkundigte Sophia sich.

»Sie fragen, ob sie wieder für uns kochen kann«, sagte Tim.

»Unser Papa muss verreisen, er wird über Nacht wegbleiben. Eigentlich wollte er uns mitnehmen, aber wir haben ihm vorgeschlagen, die Angela zu fragen, und er ist einverstanden, wenn sie für eine Nacht bei uns bleibt, wir haben ein Gästezimmer.

Macht es Ihnen etwas aus, Frau …, äh …, was müssen wir denn zu Ihnen sagen? Frau Gräfin oder so was? Sie sind doch eine ›von‹, Angela hat uns das erzählt.«

Die Kinder gefielen Sophia.

»Ihr könnt mich einfach Sophia nennen«, sagte sie, und als sie die verunsicherten Blicke der beiden bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich bin doch Angelas Mutter, und die duzt ihr doch auch.«

Das klang plausibel, und Sophia war auf jeden Fall besser als Frau Gräfin oder so.

Nachdem Tim sich genießerisch ein Stück Schokolade in den Mund gestopft hatte, sagte er: »Ist ganz schön blöd, was mit dir passiert ist. Aber das wird schon wieder.«

»Tim, rede keinen Quatsch«, wies ihn seine Schwester zurecht.

Sophia nahm den Jungen in Schutz.

»Das hoffe ich auch, und ich bin auf dem besten Wege, und deswegen kann die Angela auch bei euch schlafen, ich komme allein zurecht. Das wäre vor einiger Zeit noch nicht gegangen. Ihr mögt die Angela, nicht wahr?«

Beide nickten, und Tim sagte: »Es ist schade, dass die Angela schon so alt ist, sonst könnte sie ganz zu uns ziehen, und Papa wäre nicht mehr allein. Er ist manchmal ziemlich traurig, und kochen kann er auch nicht, immer nur Nudeln, Pizza und Sachen, die man nur aufwärmen muss. Das Ratatouille von der Angela, das war klasse. Das könnte ich glatt noch einmal essen.«

Sophia wollte gerade etwas sagen, als Angela nach Hause kam.

»Da bin ich wieder«, rief sie schon von der Diele her, »und ich kann …«

Sie brach ihren Satz ab, blickte von ihrer Mutter auf die beiden Kinder, alle saßen in friedlicher Eintracht beieinander.

»Was ist denn hier los?«

Tim war auf einmal viel redseliger als seine Schwester, er war so richtig aufgetaut, und ihm war anzusehen, wie wohl er sich fühlte. Vielleicht sah er in Sophia so etwas wie eine liebe Omi, die er nie kennengelernt hatte. Es gab keine Großeltern, nicht von ihrer Mamas Seite und auch nicht von der ihres Vaters.

»Wir wollten dich mal besuchen, und da hat die Sophia uns ins Haus gelassen, und von ihr haben wir Apfelsaft und Schokolade bekommen.«

Sophia?

Mit welcher Selbstverständlichkeit er das ausgesprochen hatte. Ein wenig irritiert schaute Angela zu ihrer Mutter, die ganz vergnügt lächelte, sie hatte ihren Spaß, sie war so richtig aufgelebt.

Was ging hier vor sich?

Angela hätte mit allem gerechnet, mit dem Besuch der beiden Kinder allerdings nicht, auch wenn sie sich gut miteinander verstanden hatten. Bei Kindern gab es oft die Devise – aus den Augen, aus dem Sinn. Sie freute sich auf jeden Fall, die beiden zu sehen, und als sie erfuhr, weswegen sie gekommen waren, da freute sie sich noch mehr. Es war etwas geschehen, zuerst war sie sauer auf die beiden gewesen, dann hatte sie Mitleid gehabt, und zum Schluss hatten sie einfach nur Spaß miteinander gehabt, viel Spaß.

Natürlich sagte Angela sofort zu, und sie versprach auch, sich direkt mit Peter Bredenbrock in Verbindung zu setzen.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile miteinander, Sophia forderte Maren und Tim auf, sehr bald wieder zu Besuch zu kommen.

»Ihr seid hier jederzeit herzlich willkommen«, sagte sie, »und das ist nicht nur so dahergesagt, ich meine es wirklich so. Unsere Tür steht jederzeit für euch offen.«

Maren und Tim freuten sich, und noch mehr freuten sie sich, als Sophia ihnen gewissermaßen als Wegzehrung noch eine Tafel Schokolade schenkte.

Angela hätte das nicht getan, das sah man an deren Blick, ­Sophia war auf jeden Fall viel cooler, und deswegen umarmten sie die alte Dame auch, als sie gingen, weil es an der Zeit war, wieder zu ihrem Vater zu gehen.

Als sie gegangen waren, war es richtig still im Haus.

»Angela, ich hatte mit den beiden unglaublich viel Spaß, ich habe all meine Sorgen und Probleme vergessen. Es sind sehr nette Kinder, die wegen der Trennung ihrer Eltern derzeit nur ein wenig den Boden unter den Füßen verloren haben. Doch das wird schon wieder, sie haben einen guten Kern. Der Kleine muss nur aufpassen, dass seine Schwester ihn nicht unterbuttert. Jetzt, da die Mutter nicht mehr da ist, glaubt sie wohl, ein wenig deren Rolle übernehmen zu dürfen.«

Sie begann plötzlich herzhaft zu lachen, und als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, sagte Sophia: »Maren und Tim würden dich sehr gern als die Frau an der Seite ihres Vaters sehen, sie mögen dich. Doch leider bist du zu alt.«

»Zu alt? Wie meinst du das, Mama?«

Sophia erzählte ihrer Tochter, was die Kinder gesagt hatten, und darüber musste Angela lachen.

Welch ein Glück, dass der Kelch an ihr vorübergegangen war. Sie mochte Peter Bredenbrock, sehr sogar. Doch auch wenn sie jünger wäre, käme er niemals als der Mann an ihrer Seite infrage. Als Freund konnte sie sich ihn vorstellen, mehr nicht, und das würde auch immer so sein.

Sie konnte ihm also unbefangen gegenübertreten, und es könnte sich zwischen ihnen eine wunderbare Freundschaft entwickeln, allein schon wegen der Kinder wäre das gut. Die hatte sie wirklich in ihr Herz geschlossen, und es war ganz offensichtlich, dass es ihrer Mutter nicht anders erging. Sie war so richtig aufgelebt, sie erinnerte sie an die Frau, die sie vor dem Unfall gewesen war.

»Mama, ich glaube, ich rufe jetzt Dr. Bredenbrock an und mache alles fest, es ist dir doch recht, oder?«

Welche Frage! Natürlich war es Sophia recht, und wie!

*

Die bevorstehende Taufe der kleinen Teresa war das Ereignis schlechthin. Besonders aufgeregt war Teresa von Roth, die Namensgeberin des Babys.

Eine Urenkelin, die ihren Namen trug!

Konnte es etwas Schöneres geben? Für Teresa nicht, es machte sie so stolz und glücklich. Und natürlich sollte das Baby etwas Besonderes als Erinnerung an diesen Tag bekommen. Es war nicht so einfach, Teresa hatte sich schon viele Gedanken gemacht, sie hatte sogar bereits Geschenke gekauft, um die dann wieder umzutauschen, weil sie für sie nicht das Richtige waren.

Eigentlich war Teresa unkompliziert, und sie wusste, was sie wollte. Es ging deswegen Magnus ganz schön auf die Nerven, weil seine Frau nun plötzlich so unentschlossen war.

Jetzt hatte sie eine Taufkette erstanden, und Magnus wünschte sich insgeheim, dass es diesmal auch dabei bleiben würde. Er brauchte seiner Frau allerdings nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass sie auch damit unzufrieden war.

Er tat so, als habe er das nicht bemerkt und sagte: »Die Kette ist wirklich sehr hübsch«, was ja auch stimmte. »Damit ist das Problem also vom Tisch, es ist ja auch kaum noch Zeit bis zur Taufe.«

»Eben, mein Lieber«, erwiderte Teresa, »aber die Kette ist es auch nicht.«

Oh nein!

Nicht das schon wieder!

Magnus entschloss sich, nichts zu sagen, mit Schweigen kam er bei seiner Teresa manchmal weiter.

Die hatte was auf dem Herzen, das war nicht zu übersehen. Sie packte die Taufkette wieder ein, erkundigte sich, ob er mit ihr einen Tee trinken wollte, sie stellte bereitwillig eine Schale mit seinen Lieblingskeksen auf den Tisch.

Man konnte daran riechen, dass es die Vorbereitungen waren zu etwas, über dessen Ausgang sie sich nicht sicher war. Er kannte seine Teresa. Es wäre ja auch schlimm, wenn es nicht so wäre.

Er hatte schon etwas von seinem Tee getrunken, als sie noch immer in der Tasse herumrührte.

Das war nervig, und deswegen entschloss er sich, etwas zu sagen: »Was ist los, meine Liebe? Du hast doch was auf dem Herzen.«

So, jetzt war es ausgesprochen, und das schien sogar in Teresas Sinn zu sein. Sie wirkte erleichtert.

»Magnus, kannst du dich an das kleine Kreuz erinnern, das seit Generationen im Familienbesitz derer von Roth ist?«

Und ob er das konnte.

Es war eines der wenigen Dinge, auf das sie damals, als sie sich auf den langen, beschwerlichen Weg hierher in ihre neue Heimat gemacht hatten, nicht verzichtet hatten, und sie waren sich beide sicher, dass es ihnen geholfen hatte, alles zu überstehen. An das Kreuz hatte er überhaupt nicht mehr gedacht, es lag immer unter Verschluss.

»Was ist damit?«, erkundigte er sich.

»Nun, eigentlich wäre irgendwann ja einmal unsere Tochter Inge an der Reihe, es zu erben. Ich dachte …, ich meine …«

Das passte auch nicht zu seiner Frau, die konnte normalerweise druckreif sprechen.

Teresa trank etwas, dann stellte sie entschlossen ihre Tasse ab.

»Ich würde es gern meiner Urenkelin Teresa schenken.«

So, jetzt war es heraus. Was würde Magnus dazu sagen? Immerhin stammte es aus dem Besitz seiner Familie, und nur er hatte darüber das Sagen. Auch wenn sie gemeinsame Kasse machten, wenn es bei ihnen kein Mein oder Dein, sondern nur ein gemeinsames Unser gab, mussten doch gewisse Regeln eingehalten werden, wenn es um etwas wie das Kreuz ging.

»Teresa, das ist eine ganz wunderbare Idee«, rief er, »ich wäre darauf nicht gekommen. Das Kreuz ist etwas Besonderes, und wenn die Kleine erst einmal erwachsen ist, wird sie es zu schätzen wissen. Bis dahin kann Ricky ein Auge darauf haben.«

»Und Inge?«, wollte Teresa wissen. »Wird die sich nicht übergangen fühlen?«

Magnus von Roth schenkte seiner geliebten Ehefrau einen nachsichtigen Blick.

»Mein Liebes, warum sollte sie das? Unabhängig davon, dass Inge so nicht denkt, sie wird sich vielmehr freuen, hat sich doch alles verändert. Wir leben nicht mehr auf dem großen Adelssitz, wir sind nicht mehr die allseits bekannten und beliebten von Roths. Und selbst wenn es so wäre, du weißt doch, für uns war Tradition immer wichtig, sie hat aber nicht maßgeblich unser Leben bestimmt. Es war zum Glück nicht der Fall, doch es hätte auch sein können, dass wir das Kreuz hätten verkaufen müssen, um zu überleben. So bleibt es in der Familie, und es ist ein schöner Gedanke, dass die kleine Teresa das Kreuz haben wird.«

Teresa atmete erleichtert auf.

Es fühlte sich jetzt so gut an, und es war ein besonderes Taufgeschenk für ein besonderes Kind, und das war die Kleine, und das nicht etwa, weil sie Teresa hieß.

»Ich bin froh, dass du einverstanden bist, Magnus. Doch ich finde, dass wir vorher mit Inge darüber sprechen müssen.«

Die war unbemerkt ins Zimmer gekommen, sie hatte schließlich einen Schlüssel zum Haus ihrer Eltern.

»Worüber müsst ihr mit mir sprechen, Mama?«, erkundigte sie sich. Sie hatte die letzten Worte ihrer Mutter mitbekommen. »Wäre ich noch ein kleines Mädchen, würde ich mir überlegen, ob ich etwas ausgefressen habe.«

Magnus lachte.

»Oh, meine liebe Tochter, du bist auch jetzt noch für jede Überraschung gut. Schon vergessen, was deine letzten Eskapaden waren?«

»Magnus, Inge war in Lebensgefahr, wie kannst du das Eskapaden nennen«, beschwerte Teresa sich, die noch Höllenängste ausgestanden hatte, als es längst schon vorbei gewesen, als die Gefahr überstanden war.

Magnus winkte ab.

»Reg dich nicht auf, mein Herz, das meine ich doch überhaupt nicht, ich denke an die Geistesgegenwart von Inge, dem Verbrecher das Handwerk zu legen, indem sie ihn gekratzt hat. Das muss man erst mal bringen.«

Inge war es peinlich, wenn noch immer darüber geredet wurde. Sie holte sich eine Tasse aus dem Schrank, schenkte sich Tee ein, dann wollte sie wissen: »Worum also geht es?«

Ihre Mutter erzählte es ihr, sie holte sogar das kleine kostbare Kreuz. Als Inge es erblickte, bekam sie ganz glänzende Augen, Kindheitserinnerungen stiegen in ihr auf, wie hatte sie das Kreuz immer bewundert, wenn sie es mal zu Gesicht bekommen hatte.

Auch jetzt berührte sie es ganz ehrfurchtsvoll und zaghaft.

»Es der kleinen Teresa zu schenken, das ist eine ganz wundervolle Idee, und ich finde auch, es passt. Wenn Teresa es nicht bekommen soll, wer dann?«

Teresa atmete insgeheim auf, sie erkundigte sich vorsichtshalber dennoch noch einmal: »Es macht dir wirklich nichts aus, Inge?«

Die schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, Mama, ganz im Gegenteil, ich freue mich. Und es hat eine solche Symbolkraft. Das Kreuz wird für immer eine Erinnerung an euch sein, an die Kraft und Stärke derer von Roth, an eine lange Tradition, und«, ihre Stimme wurde leiser, »das Kreuz wird die kleine Teresa auf ihrem Lebensweg nicht nur begleiten, sondern sie auch beschützen. Welch wundervoller Gedanke.«

Sie strich noch einmal ganz behutsam über die kleine Kostbarkeit, und sie glaubte, die Kraft zu spüren, die darin lag.

Der neue Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman

Подняться наверх