Читать книгу Die junge Gräfin Staffel 2 – Adelsroman - Michaela Dornberg - Страница 6
ОглавлениеAlexandra von Waldenburg hatte keine Gelegenheit mehr über den unbekannten Besucher nachzudenken, weil ihre Freundin wie ein Schwarm Heuschrecken bei ihr einfiel und sofort anfing zu reden wie ein Buch.
Dass sie sich dabei wiederholte, dass sie diese Geschichte bereits am Telefon erzählt hatte, war Liliane nicht bewusst.
Als Liliane endlich einmal eine Pause machte um Luft zu holen, sagte Alexandra rasch: »Lil, mit der ganzen Rederei kommst du keinen Schritt weiter. Du wiederholst dich. Und irgendwann hat man keine Lust, dir weiter zuzuhören oder man nimmt das, was du sagst, nicht mehr ernst. Ich hab mal gelesen, dass man, wenn man über etwas immer wieder reden oder nachdenken muss, es keinen Platz mehr im Leben hat. Man muss es verändern. Und diesen Rat kann ich dir zum wiederholten Male geben, verändere etwas … Entweder du verlässt Dr. Dammer oder du arrangierst dich mit seiner Einstellung zum Leben, in dem seine Patienten einen wichtigen Platz einnehmen, aber auch seine Eltern.«
Liliane griff so heftig nach ihrem Glas, dass etwas überschwappte.
»Oh, Verzeihung«, murmelte sie und wischte alles rasch weg. Dann trank sie etwas, diesmal allerdings gesittet, stellte behutsam das Glas wieder ab.
Alexandra musste lachen.
»Jetzt übertreibst du aber, meine liebe Lil, und ein solches Verhalten passt nicht zu dir …, dieser Tisch steht auf Schloss Waldenburg seit Jahrhunderten. Ich denk mal, dass du nicht die Erste bist, die auf ihm etwas verschüttet hat, also, benimm dich wieder normal. Es ist überhaupt nichts passiert.«
Liliane seufzte. »Stimmt, den Schaden hier habe ich sofort beseitigen können. In meinem Privatleben reiße ich ein Loch auf, stopfe es wieder zu, um es erneut aufzureißen, ganz wie ein Finanzjongleur, nur geht es dabei nicht um Geld, sondern um Gefühle …, meine Gefühle.«
»Und um die von Lars«, fügte Alexandra hinzu. »Glaubst du, dem gefällt die Achterbahn der Gefühle mit diesem ewigen einmal Ja und einmal Nein und dann ein zögerliches Vielleicht? Lil, was willst du?«
Wieder ein Seufzer.
»Was alle wollen …, glücklich und in Frieden leben und das Gefühl haben, dass ich die Nummer Eins bin.«
Liliane war ja so verbohrt!
Was erwartete sie eigentlich?
Alexandra hatte ihre allerbeste Freundin wirklich gern, aber manchmal verstand sie sie nicht.
»Lil, das bist du. Wenn du es nicht wärst, dann hätte der Doc dir keinen Heiratsantrag gemacht. Es ist doch nicht so, dass in Kaimburg Frauennotstand herrscht und er auf die Erstbeste zurückgreifen musste, weil das Angebot so gering ist. Mensch, Lil, wach auf. Er hätte an jedem Finger seiner Hände zehn Frauen haben können, aber er wollte keine von denen, er wollte dich. Ist das nicht Liebesbeweis genug?«
»Ja, ja, stimmt schon, aber er zeigt mir nicht so oft, dass und wie sehr er mich liebt. Wir sind noch nicht einmal verheiratet, und alles ist mehr oder weniger Routine.«
»Das zeigt, liebe Lil, dass ihr ein gut eingespieltes Team seid, wenn die Werbewochen erst mal vorbei sind, dann kehrt der Alltag ein, in jede Beziehung. Und der Alltag ist es doch auch, was wir leben. Niemand schwebt ewig auf Wolke Sieben in die Glückseligkeit … Ehrlich mal, Lil, was du da von dir gibst, das ist einfach nur pubertär, und deine Erwartungshaltungen sind es auch. Wenn du so weitermachst, dann musst du dir keine Gedanken mehr machen, ob du ihn verlässt oder bei ihm bleibst …, dann hat der Doc von dir die Nase voll und macht Schluss. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«
Liliane starrte ihre Freundin entgeistert an. Ihr war eindeutig anzusehen, dass sie derartige Rückschlüsse noch niemals gezogen hatte. Sie hatte immer nur sich gesehen, gejammert, ohne sich darüber klar zu sein, was sie eigentlich wollte.
»Das …, das wäre ganz grauenvoll«, stammelte sie schließlich voller Entsetzen.
»Na bitte, Lil, da haben wir es doch. Du liebst Lars, oder sagst du das jetzt, weil du es aus lauter Eitelkeit nicht ertragen könntest, die Verlassene zu sein? Kann ich verstehen, und da kann ich aus eigener Erfahrung mitreden …, zu gehen ist einfacher als sitzengelassen zu werden. Das schmerzt mehr. Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht einzig und allein darum, was du willst. Und wiederhole dich jetzt bitte nicht und sag mir zum tausendsten Mal, dass du die Nummer eins bei ihm sein willst, denn dann muss ich dir zum tausendsten Mal sagen, dass du das bist.«
Liliane griff nach ihrem Glas, führte es zum Mund, trank ein wenig von dem köstlichen Rotwein, der wie dunkler Purpur durch das kostbare Kristall schimmerte.
»Ich kann ganz schön nervig sein, stimmt’s? Ach, meine liebe Alex, du bist ganz schön geschlagen mit einer solchen Freundin, bei der es immer nur heißt rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Weißt du, vielleicht zicke ich auch nur so herum, weil ich bereits eine gescheiterte Ehe hinter mir habe und ein solches Fiasko nicht noch einmal erleben möchte. Gebranntes Kind scheut das Feuer.«
»Liebe Lil, jetzt vergleichst du Äpfel mit Birnen. Du kannst doch nicht Lars Dammer mit deinem Ex vergleichen.«
Liliane holte tief Luft, um etwas darauf zu sagen, doch Alexandra ließ es dazu überhaupt nicht kommen.
»Lil, wenn du jetzt wieder sagen willst, dass es mit diesem Robby auch schöne Momente gab, Momente voller Leidenschaft, freudiger Überraschung und Atemlosigkeit, dann lass es. Das habe ich auch schon hinreichend gehört. Und wenn du diese kurzen Glücksmomente mit dem ansonsten nicht so prickelnden Leben an seiner Seite vergleichst, dann, liebe Lil, waren sie teuer bezahlt. Und denke an das Ende, als du aus Amerika wieder nach Deutschland zurückkamst. Ich sage es nicht gern, aber da warst du ein emotionales Wrack, und deine körperliche Verfassung war auch nicht die Beste. Schon alles vergessen? Siehst du, wie sehr dein Vergleich hinkt?«
Lil griff wieder nach ihrem Glas, nicht unbedingt, weil sie jetzt etwas trinken musste, sondern eher aus Verlegenheit. Ihre Freundin hatte recht, und es war Zeit, sich das einzugestehen. Sie musste aufhören, Robby immer wie ein Ass aus dem Ärmel zu holen. Die Ehe war, bis auf ein paar glanzvolle Höhepunkte, schrecklich gewesen. Sonst wäre sie auch nicht gescheitert. Sie wollte ja auch gar nicht Robby mit Lars vergleichen, sie wünschte sich halt nur die wilde Leidenschaft, die es am Anfang ihrer Ehe gegeben hatte. Mit Lars war, zumindest war das ihr Empfinden, alles ein wenig wohltemperiert.
»Alex, du hast recht. Ich begreife allmählich, dass ich mir einen eigenen Partner kreieren will. Die Verlässlichkeit, Güte und treusorgende Liebe von Lars und die Leidenschaft, die Verrücktheit, Spontanität von Robby …, ich glaube, da habe ich mich in etwas verrannt.«
»Ja, Lil, das würde ich auch so sehen, also frage dich nun in aller Ernsthaftigkeit, was wichtig für dich ist …, wenn du meine Meinung hören willst, Lars ist für dich der Richtige. Er ist der ruhige Pol in deinem Leben, bei ihm kannst du dich anlehnen, du weißt, dass er dich auf Händen trägt. Du fühlst es, er beweist es dir immerfort. Warum reicht dir das nicht? Warum brauchst du zur Bestätigung immerfort Worte? Weißt du, Lil, manches kann man totreden, und selbst die heißesten Liebesschwüre klingen irgendwann schal, wenn man sie immer wieder vorgebetet bekommt. Weißt du, vielleicht wäre es für euch gar nicht verkehrt, mal zu einer Paarberatung zu gehen.«
Liliane verdrehte entsetzt die Augen.
»Nicht im Leben, ich gehe doch nicht zu einem Seelenklempner, und Lars kriege ich schon gar nicht dahin.«
»Hast du mit ihm schon mal darüber geredet?«
Liliane schüttelte ihren Kopf so heftig, dass ihre Haare nur so flogen, wie bei einem Strandspaziergang bei stürmischen Wetter.
»Um Himmelswillen, nein, das wäre das Ende.«
»Oder der Anfang«, entgegnete Alexandra. »Wenn etwas so verfahren ist wie eure unendliche Geschichte, dann kann professionelle Hilfe auf keinen Fall schaden.«
Liliane blickte ihre Freundin an.
»Würdest du zu so einem Seelendoktor gehen?«, wollte sie wissen.
Alexandra nickte.
»Ja, unbedingt, wenn es für meine Beziehung wichtig wäre, nur das ist jetzt rein hypothetisch … Wie du nun weißt, habe ich, und ich muss sagen … leider, keinen Partner.«
Liliane schlug sich mit der rechten Hand vor den Mund, starrte ihre Freundin geradezu entsetzt an.
»Entschuldige, Alex, bitte entschuldige tausendmal. Ich mülle dich andauernd mit meinem Müll zu ohne dich zu fragen, ob es bei dir etwas Neues gibt … In deinem Leben ist doch im Augenblick alles wirklich aus dem Lot …, der ständige Ärger mit deinem Bruder Ingo, das unverständliche Verhalten von Mike, und über den unbekannten Joe will ich schon gar nicht mehr reden. Aber den hast du mittlerweile vermutlich aus deinem Leben gestrichen, nachdem alle Bemühungen ihn zu finden, vergeblich waren.«
Liliane war ehrlich bekümmert. Aber so war sie, sie konnte stundenlang über ihre Probleme reden, aber wenn sie sich besann, dass es doch auch noch etwas anderes gab, das andere Leute vielleicht auch mal über das reden wollten, was sie bewegte, dann konnte sie sich auch mit voller Wucht in dieses Thema krallen und sich darin verbeißen.
Alexandra winkte ab.
»Lil, mach dir deswegen jetzt keinen Stress. Es stimmt, an Joe zwinge ich mich nicht mehr zu denken. Dieses kurze Erlebnis, nein, es war ja nicht mehr als eine flüchtige Begegnung, versuche ich zu vergessen. Mittlerweile scheint er für mich nicht mehr als nur ein Phantom zu sein, das in mein Leben eingetaucht ist, mein Herz und meine Seele berührte, um dann sofort wieder zu verschwinden, sich zu verflüchtigen … Ja, und Ingo …, da gibt es andauernd neuen Ärger. Ich zwinge mich, mich davon nicht herunterziehen zu lassen und beschäftige mich damit nur so weit ich muss. Er hat bei den Waldenburgs schon einen solchen Schaden angerichtet, und da meine ich nicht nur den finanziellen, der ist zu verschmerzen. Nein, er trampelt permanent auf unseren Seelen herum, ganz besonders auf der von Mama. Und das ist unerträglich. Ich glaube, Papa ist jetzt so weit, ihn durch seine Anwälte verklagen zu lassen, um ihm endlich Einhalt zu gebieten. Und das ist gut so, der Meinung bin ich mittlerweile auch. Weil er weiß, wie sehr wir auf den guten Ruf bedacht sind, glaubt Ingo, Narrenfreiheit zu haben. Das muss ein Ende haben.«
»Finde ich auch«, bestätigte Liliane. »Ihr habt ja wirklich alles versucht, den Frieden wieder herzustellen. Ihr habt ihm geschrieben, vor seiner Tür gestanden. Und obschon er daheim war, hat er nicht geöffnet. Und da gehört schon was zu, seine Mutter vor der Tür stehen zu lassen.«
»Ach, Lil, das war doch nicht das Schlimmste. Viel grausamer, besonders für Mama, war, dass seine Anwälte uns geschrieben haben, dass wir ihn nicht mehr belästigen sollen und dass bei Zuwiderhandlung eine Prozesslawine anrollt.«
»Alex, er wird seine Quittung, seine Strafe bekommen. So ein Verhalten bleibt einfach nicht ungestraft.«
Alexandra winkte ab.
»Lil, dein Wort in Gottes Ohr …, bislang war davon nichts zu spüren, da hatten wir nämlich die A…karte. Komm, lass uns davon aufhören. Es gibt gewiss andere Themen, die erfreulicher sind, über die wir reden können.«
Alexandra wollte ausweichen, den Rest der Frage nicht beantworten, aber das ließ Liliane nicht zu.
»Können wir gleich, Alex«, sagte sie, »aber vorher möchte ich gern noch erfahren, ob dein Pilot sich gemeldet hat.«
Alexandra wurde rot, sie wusste selbst nicht warum. Lil und sie hatten doch keine Geheimnisse voreinander.
»Mike?«, murmelte sie.
Liliane konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ja, ich denk schon, oder gibt es da noch einen anderen Piloten, von dem ich nichts weiß?«
»Ich …, nein, natürlich nicht …, es gibt …, gab«, korrigierte sie sich sofort, »nur Mike Biesenbach.«
»Und, hat er sich gemeldet?«, wiederholte Liliane ihre Frage.
»Nein, hat er nicht, und deswegen müssen wir auch nicht mehr darüber reden …, das ist Vergangenheit.«
Damit war Liliane nicht einverstanden.
»Halt, mit dieser Antwort gebe ich mich keinesfalls zufrieden. Alex, für mich hast du jedes Mal tausend gute Ratschläge parat. Warum willst du keine von mir annehmen? Und wenn schon keine Ratschläge. Manchmal erleichtert es einen auch, einfach nur zu reden … Ich verspreche dir, keine dummen Einwände zu machen, sondern dir einfach nur zuzuhören.«
Alexandra zuckte hilflos die Achseln. »Du, Lil, ich weiß wirklich nicht, was es da noch zu reden gibt. Zwischen Mike und mir war alles ganz wundervoll, wir standen, so glaubte ich zumindest, am Anfang einer Beziehung mit all dem Zauber, der darin liegt. Alles war gut, bis ich ihn nach Waldenburg brachte und ihn über meine wahre Herkunft aufklärte … Ich hätte es nicht tun sollen, ihm etwas vormachen, vielleicht so lange, bis sich das zwischen uns ein wenig gefestigt hätte. Lange Rede, kurzer Sinn …, eine Gräfin und ein Schloss waren too much für ihn. Das hat er mir auch klar und deutlich gesagt, weißt du, solche Sprüche wie in anderen Welten leben, sich nicht irgendwann vorwerfen lassen, nicht in meine Kreise zu gehören … Ach, was zähle ich das jetzt auf. Es führt zu nichts. Wenn ich eine Verkäuferin bei einem Discounter wäre, hätte ich bessere Chancen bei ihm. Aber vielleicht gibt es ja auch eine ganz andere, einfachere Erklärung. Mike liebt mich nicht … Er hat vermutlich mit mir nur ein bisschen herumtändeln wollen, bekam aber dann kalte Füße, als ihm klar wurde, dass ich nicht so ein unbedarftes Mäuschen bin, mit dem man, solange es Spaß macht, herumspielen kann.«
Liliane antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich in ihren Sessel zurück, fixierte ihre Freundin, die ziemlich unglücklich dreinblickte. Ein sicheres Indiz, dass ihr die Trennung von diesem feschen Piloten Mike durchaus nicht egal war.
»Weißt du, Alex, wenn einem etwas Unbegreiflich ist, nicht nachvollziehbar, dann sucht man Erklärungen um zu verstehen. Was du dir da ausgedacht hast ist …, verzeih mir die Worte …, Pille-Palle, anders ausgedrückt Schwachsinn. Ich kenne diesen Mike ja nicht, aber alles, was du über ihn erzählt hast, hörte sich gut, hörte sich sogar sehr gut an. Versetz dich doch bloß mal in seine Situation. Er lernt dich kennen, du bist für ihn eine absolut normale Bürgerliche, er verliebt sich in dich, du erwiderst seine Gefühle. Ihr verabredet euch in einem Café. Er glaubt, du wolltest ihm nicht deine Wohnung zeigen, weil sie vielleicht nur einfach ist, seine, sagtest du, ist schon beeindruckend und sehr geschmackvoll. Er gesteht dir seine Gefühle, sagt, dass nur du als Person für ihn zählst, er dich über Äußerlichkeiten nicht definiert …, und was machst du? Du setzt ihn in deinen teuren Geländewagen, von dem er glaubt, er sei auch nur geliehen, um ihn zu beeindrucken. Und dann fährst du mit ihm nach Waldenburg, parkst vor dem beeindruckenden Schloss, führst ihn in das noch beeindruckendere Innere, und dort knallst du ihm vor den Kopf, dass du eine Gräfin bist und das alles ringsum dir gehört … Alex, wie hättest du dich verhalten, wenn es andersherum gewesen wäre? Hättest du in die Hände geklatscht und begeistert ausgerufen, aber klar, ganz wunderbar, ich wollte schon immer einen Grafen und Schlossbesitzer kennenlernen und ihn zu meinem Liebhaber nehmen, mit ihm mein weiteres Leben teilen?«
Alexandra antwortete nicht sofort, dann bemerkte sie leise: »Du, Lil, das kann ich dir nicht sagen. Ich kenne die andere Seite, die bürgerliche, ja nicht. Aber wenn ich dich sehe, du gehst doch ganz entspannt mit uns um und auf den Festen ebenfalls mit Grafen, Baronen, Freiherrn und noch mehr.«
»Das tue ich, weil wir zwei schon zusammen im Sandkasten gespielt haben. Du warst wie ich, und selbst wenn du eine goldene Krone auf deinen Locken gehabt hättest, dann hätte ich dem nichts beigemessen, vielleicht die Krone haben wollen, um sie mir aufzusetzen.«
»Mike ist ein selbstbewusster gestandener Mann, verflixt noch mal, als Chefpilot befördert er Tausende und Abertausende von Passagieren, der kann doch keine Angst vor einer kleinen Gräfin haben.«
Wollte Alexandra es nicht begreifen?
»Wer spricht denn von Angst, Alex. Er hat zunächst einmal die Notbremse gezogen, weil er vernünftig ist, weil er dich und sich nicht in eine Situation bringen möchte, die irgendwann für beide Teile unangenehm wird. Er kennt dich nicht gut genug um zu wissen, ob du dich für etwas Besseres hältst, weil du aus einem uralten Adelsgeschlecht stammst. Und er weiß nicht, ob er sich in deinen Kreisen bewegen will. Das ist alles vernünftig, und für mich ist es ein Zeichen von Liebe … Aus Liebe zu verzichten, sich zurückzuziehen, das hat Größe.«
Es hörte sich gut an, was Liliane da gesagt hatte, aber Alexandra konnte und wollte es nicht glauben.
Außerdem wollte sie keinen edelmütigen Helden, sondern einen zärtlichen, verständnisvollen Mann, in dessen Arme sie sich flüchten konnte, einen, der sie liebte, aufbaute, wenn sie Kummer hatte. Und es war ihr dabei vollkommen gleichgültig, ob es sich dabei um einen Adeligen handelte, einen Bürgerlichen. Und er musste auch nicht studiert haben, einen Doktor- oder Professorentitel haben. Das alles waren Äußerlichkeiten, an denen man sich nicht wärmen konnte.
»Ach, Lil, komm, lass uns jetzt wirklich davon aufhören, das mit Mike ist auch schon wieder vorbei, ehe es begonnen hat. Ich weiß nicht, was ich an mir habe, dass ich keinen Partner finde. Ich werde wohl noch einige Frösche küssen müssen, ehe endlich der Prinz für mich kommt, in welcher Form auch immer …, wenn er denn kommt. Vielleicht sollte ich mich eher auf ein Leben als ewige Jungfer einstellen und mich meiner Arbeit widmen, das ist doch auch etwas.«
Irritiert schaute Liliane ihre Freundin an. Wie war Alexandra denn drauf?
»Verfall jetzt bloß nicht in Selbstmitleid. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass du unbeachtet durchs Leben gehst. Es gibt genug Männer, die an dir sehr interessiert sind, allen voran unser guter Olaf Christensen, um nur einen von ihnen beim Namen zu nennen.«
»Bitte, lass uns aufhören, ich will über dieses Thema nicht mehr reden. Es kommt, wie es kommen muss. Nimm meine Worte nicht so ernst, ich bin heute halt ein wenig jammervoll … Weißt du, was die kleine Michelle von sich gegeben hat?«
Alexandra wechselte das Thema und erzählte Liliane eine lustige Begebenheit, die sie von ihrem Vater erfahren hatte.
Bald lachten beide.
Geschichten aus Kindermund waren erheiternder als so mancher Witz.
*
Von Mikes Seite … Schweigen, von Ingo, man konnte sagen, zum Glück, gab es auch nichts Neues. Aber was Alexandra schon sehr irritierte war, dass ihr Vater sich nicht darüber äußerte, was er zu tun gedachte. Er hatte doch angekündigt, diesmal Ingo nicht wieder ungeschoren davonkommen zu lassen, nachdem dieser versucht hatte, ein riesiges Waldstück illegal abholzen zu lassen.
Auch wenn es ein wenig übertrieben war, irgendwie kam Alexandra sich vor, als säße sie auf einem Pulverfass.
Vielleicht würde sie ja gleich etwas erfahren, wenn die Glastüren aufgingen und Marion herauskam. Sie freute sich so sehr auf ihre Ex-Schwägerin, und das nicht, weil sie Neuigkeiten über ihren Ex-Mann mitbringen würde, sondern weil sie Marion mochte. Sie war für sie wie eine Freundin, und daran würde sich niemals etwas ändern.
Alexandra war viel zu früh da, und deswegen schlenderte sie ein wenig auf und ab.
Als sich eine andere Tür öffnete, Menschen herausströmten, schaute sie automatisch hin, und sie glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben.
Mike kam lachend mit seiner Crew heraus. An seiner Seite eine sehr gut aussehende Stewardess, mit der er sich angeregt unterhielt, lachte. Er war so sehr in das Gespräch vertieft, dass er sie nicht bemerkte, obschon sie eigentlich nicht zu übersehen war.
Einem Impuls folgend, wollte sie auf ihn zulaufen, ihn begrüßen. Doch dann hielt sie inne.
Sie war sich nicht sicher, ob ihn das freuen würde, und, wer weiß, vielleicht hatte er sich ja auch bereits getröstet. Er und diese Stewardess schienen sehr vertraut miteinander zu sein, offenkundig war, dass sie sich ausgezeichnet verstanden.
Pilot und Stewardess …
Bediente Mike jetzt auch dieses Klischee?
Wie gut er aussah, und jetzt …
Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen!
Jetzt legte Mike doch wahrhaftig seinen Arm um die Schultern der Stewardess, zog sie an sich? Und ihr, ihr schien es zu gefallen. Sie nickte und himmelte ihn an.
Nun hatte sie den Beweis dafür, warum Mike sich bei ihr nicht mehr gemeldet hatte. Er hatte sie schlichtweg vergessen, sie war für ihn nicht mehr gewesen als eine Episode, oder sollte man richtiger sagen …, ein kleines Intermezzo? Mehr war es doch gar nicht gewesen.
Es zerriss Alexandra fast, und sie vergaß alles um sich herum, auch, dass sie eigentlich aus einem ganz anderen Grund auf den Flughafen gekommen war.
Sie stand noch immer da und starrte ins Leere, obschon Mike und seine Begleiter längst schon verschwunden waren.
Er hatte nur Augen für diese Frau gehabt. War das normal?
Wenn man durch diese Türen kam, dann blickte man sich doch automatisch um, schaute in die wartende Menge.
Oder war das bei Flugpersonal anders? Interessierte man sich dann nicht mehr für seine Umgebung, sondern war nur froh, wieder auf sicherem Boden gelandet zu sein und gleich nach Hause gehen zu dürfen.
Oder aber …
Oder aber man hatte nur Augen für das Objekt seiner Begierde.
Und das schien bei Mike ja der Fall zu sein.
Hatte er eigentlich mal mit ihr so unbeschwert, so glücklich gelacht?
Sie merkte, dass sie sich da in etwas hineinsteigerte, was mit der Realität überhaupt nichts zu tun hatte, dass sie hier so etwas veranstaltete wie eine Märchenstunde.
Mike und eine andere Frau, noch dazu eine Stewardess!
Er war wie alle anderen Männer, kaum war etwas vorbei, jagten sie einer Anderen nach.
Er hätte sie doch bemerken müssen?
Aber wie denn, er hatte ja nicht ein einziges Mal in ihre Richtung geblickt.
Vielleicht hätte sie ja doch auf ihn zugehen und ihn begrüßen sollen.
Und dann?
Wenn er sie unverbindlich und herablassend behandelt hätte, das hätte sie auch nicht ertragen können.
Wie auch immer.
Wenn er es geschafft hatte, sie war mit Mike noch lange nicht fertig, und sie begehrte ihn mehr als je zuvor. Oder es war ihr vorher nicht so bewusst gewesen. Oder sie wollte ihn jetzt haben, da sie ihn mit einer Konkurrentin gesehen hatte.
Konkurrentin, was sollte das denn?
Das war ja wohl ein falscher Begriff, Konkurrenten gab es nur, wenn man noch im Rennen war. Aus dem war sie doch raus, ausgeschieden …
Weswegen eigentlich?
Nur, weil sie eine Gräfin und Schlossbesitzerin war? Oder war sie für Mike auch so etwas wie eine Spaßbremse gewesen? Diese Unbeschwertheit, die sie eben erlebt hatte, war zwischen ihnen nicht gewesen. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern. Und wenn nun …
Ihre Gedanken brachen ab, sie zuckte erschrocken zusammen, als jemand ihre Schulter berührte.
Alexandra wirbelte herum und blickte in Marions lachendes Gesicht.
»Bist du einem Geist begegnet und hast mich deswegen vergessen?«, wollte Marion wissen. »Ich hab erst eine Weile gewartet, dich dann entdeckt und mindestens dreimal gerufen, aber ich glaube, du hättest nicht einmal einen Schuss gehört, so sehr warst du in deine Gedanken versunken …, keine angenehmen Gedanken, oder?«
Wie peinlich!
Sie hatte Marion wirklich vergessen, und das alles nur wegen Mike, der eine solche Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdiente.
Sollte er sich zum Teufel scheren! Sollte er mit allen weiblichen Kolleginnen Affären anfangen. Es ging sie nichts an, und ab sofort wollte sie ihn aus ihrem Leben streichen.
Sie wandte sich Marion zu, nahm sie in die Arme.
»Herzlich willkommen, Marion. Wie schön, dass du da bist. Du siehst fantastisch aus.«
Sie ging auf Marions Worte nicht ein, denn sie konnte ihre Schwägerin wirklich nicht mit dem zumüllen, was sich da ereignet und wohin sich prompt ihre Gedanken verirrt hatten.
Marion sah wirklich phantastisch aus. Ihre Haare waren noch immer raspelkurz und umrahmten ihr schönes Gesicht, das jetzt, sonnengebräunt, noch schöner aussah.
Alexandra würde ihren Bruder niemals verstehen, warum er diese Frau gegen die getunten, austauschbaren Models, eingetauscht hatte. Mit ihr an seiner Seite wäre er niemals so ausgeflippt, und sie wäre ihm ein Halt gewesen, ein Ruhepol. All diese getunten Schönheiten wollten doch nicht wirklich ihn, sondern sich an der Seite eines echten Grafen in all den bunten Gazetten ablichten lassen.
»Danke für das Kompliment, Alexandra, das ich sehr gern zurückgeben würde …, aber du gefällst mir gar nicht. Du bist blass und siehst ein wenig verhärmt aus. Lass dir das mit Ingo doch nicht so nahe an die Substanz gehen. Er hat es nicht verdient.«
Welch ein Glück, dass Marion es auf Ingo schob. Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie soeben einem bösen Geist begegnet war in Form eines feschen Flugkapitäns!
Dachte sie schon wieder an Mike?
Sie hatte doch beschlossen, ihn endgültig aus ihrem Leben und somit auch aus ihrem Sinn zu streichen.
Alexandra versuchte ein Lachen, was ihr erstaunlicherweise sogar gelang.
»Jetzt bist du ja hier«, rief sie. »Hast du mit Papa deine Vorgehensweise besprochen? Ich nehme doch an, dass Mama nicht weiß, aus welchem Grund du nach Deutschland gereist bist.«
Marion seufzte.
»Wir haben es ihr nicht gesagt, aber ich glaube, sie ahnt es. Deine Mutter ist ja nicht dumm. Aber solange sie es nicht anspricht, sagen wir auch nichts.«
»Das ist gut. Bestimmt hat sie Angst vor der Wahrheit und verschließt sich ihr. Weißt du, Marion, ich begreife nicht, dass Ingo auch Mama gegenüber so rücksichtslos und so gemein ist. Sie standen sich immer so nah.«
»Ingo ist ein Egomane, der sieht immer zuerst einmal sich, bei ihm, mit ihm, geht es immer so lange gut, solange ein Anderer der Gebende ist. Ingo kann sehr gut nehmen und dabei all seinen Charme entwickeln. Was Geben bedeutet, dieses Wort hat er leider nicht in seinem Vokabular.«
Alexandra hatte niemals darüber nachgedacht, aber jetzt, da Marion, Ingos Ex-Frau, die es schließlich wissen musste, ausgesprochen hatte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Es war richtig!
Ingo war ein charmanter Blutsauger, und es war immer so gewesen, dass alle nach seiner Pfeife getanzt hatten, weil sie keine Lust hatten, seinen Zorn zu spüren zu bekommen.
Sie kamen in der Tiefgarage an, und dort sah sie Mike ein zweites Mal.
Er half dieser Stewardess galant in sein Auto, stieg, eine launige Bemerkung machend – sie musste launig sein, denn er lachte – ein.
Alexandra blieb stehen, hielt auch Marion zurück.
»Warte mal«, sagte sie, und ihre Stimme klang vor innerer Erregung ganz heiser.
Marion warf Alexandra einen irritierten Blick zu, blieb aber brav stehen.
Menschen kamen und gingen.
Autos fuhren an ihnen vorbei.
Sie standen immer noch wie angewurzelt da.
Irgendwann wurde es Marion zu viel.
Sie tippte Alexandra an.
»He, Alexandra, ich will dich ja nicht nerven, aber sollen wir hier übernachten? Wir bilden übrigens ein Verkehrshindernis. Die Leute müssen mit ihren Koffertransportwagen einen Bogen um uns machen, weil wir mitten im Weg stehen.«
Alexandra zuckte zusammen.
»Wie? Was hast du gesagt?«
Was war mit ihrer Schwägerin los?
Marion warf ihr einen besorgten Blick zu, so kannte sie Alexandra nicht. Erst hatte sie sie vergessen, und nun dieser Zwischenfall.
»Wir stehen hier im Weg herum wie festgewachsen, weil du auf einmal nicht weitergehen wolltest. Alexandra, was ist los? Es kann doch nicht nur wegen Ingo sein? Den sehe ich hier nämlich nicht. Hast du noch eine andere Leiche im Keller?«
Sie musste sich zusammenreißen, zumal Mike schon längst weggefahren war. Warum konnte sie nicht souveräner sein? Sie meisterte doch sonst auch ihr Leben, trug die Verantwortung für ein, ja, man konnte es, wenn man alle Beteiligungen zusammenrechnete, großes Unternehmen.
Nur wegen eines Mannes verhielt sie sich wie ein verhuschter Teenager?
»Entschuldige, Marion, ich hab da jemanden gesehen, dem ich nicht unbedingt begegnen wollte.«
Sie setzte sich wieder in Bewegung, zog Marion mit sich, und bald schon hatte sie ihr Auto erreicht. Es stand in unmittelbarer Nähe des Wagens von Mike. Eigentlich musste er es bemerkt haben.
Aber warum?
Maß sie sich schon wieder mehr Bedeutung bei? Es war ein Geländewagen wie es viele gab. Sie konnte nicht erwarten, dass Mike sich auf jeden Wagen dieses Typs fokussieren würde, nur weil sie mal in einem solchen gesessen hatte.
Alexandra machte den Kofferraum auf, stellte Marions Reisetasche hinein, und als beide im Wagen saßen, fuhr sie los.
Als sie aus der Tiefgarage fuhr, sah sie rechts am Straßenrand wieder Mikes Auto.
Es stiegen noch zwei Leute in Uniform zu, vielleicht sein Copilot und eine andere Stewardess aus der Crew? Vermutlich.
Sollte sie es nun als ein gutes oder als ein schlechtes Zeichen werten.
Zeichen? Wofür?
Mit Mike, das war aus, das war ein never-come-back-Programm. Also konnte er mitnehmen wen er wollte, und wenn es des Teufels Großmutter war.
Bildete sie es sich nur ein, oder kreuzten sich tatsächlich ihre Blicke?
»Was möchtest du, Marion?«, erkundigte sie sich betont fröhlich. »Radio hören oder dich mit mir unterhalten?«
Sie blickte in den Rückspiegel, und da sah sie, dass Mike ausgestiegen war und ihrem Auto nachblickte. Er hatte sie also bemerkt!
»Ich würde gern mit dir reden«, sagte Marion, »aber wenn du lieber Musik hören willst, dann habe ich auch nichts dagegen.«
»Aber Marion, ich bitte dich. Natürlich will ich reden, ich möchte alles erfahren, über Mama, Papa, die kleine Michelle, und da soll es ja auch noch einen heißen Verehrer geben … Mama deutete so etwas an.«
Marion wurde rot.
»Ja, den gibt es tatsächlich. Roberto ist ein reizender Mensch, der sich auch sehr um Michi bemüht. Sie mag ihn auch. Und mir, ehrlich gesagt, tut seine Bewunderung gut. Ich glaube, da unterscheiden wir Frauen uns nicht voneinander.«
Alexandra warf ihrer Schwägerin einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder der Straße zuwandte. In der Nähe von Flughäfen gab es immer ein hohes Verkehrsaufkommen, und da musste man höllisch aufpassen.
»Bewunderung …, mehr nicht?«, wollte sie wissen.
Marion antwortete nicht sofort, dann aber sagte sie: »Nun, ich glaube, von Robertos Seite ist es mehr, aber ich …, weißt du, Alexandra, ich bin noch nicht so weit, einem Mann wieder zu vertrauen. Dazu hat Ingo mich zu sehr gedemütigt, mich zu sehr verletzt. Ich möchte ganz einfach meinen Weg noch ein Stück weiter allein gehen, möchte meine Wunden lecken und mich dann fragen, was ich wirklich will. Irgendwann möchte ich schon wieder einen Partner haben. Es ist schön, mit jemandem zusammen zu sein. Am Anfang war es mit Ingo ja auch das reinste Paradies. Aber ich glaube, im Paradies zu leben ist nicht gut. Man weiß doch, dass irgendwann die böse Schlange kommt und einen daraus vertreibt. Ich möchte irgendwann einen Mann haben, dem ich auf Augenhöhe begegnen kann, eine Partnerschaft mit dem nötigen Respekt, Verständnis und natürlich, das ist die erste Voraussetzung, Liebe … Ich mag Roberto sehr, aber ich liebe ihn nicht. Wenn er Zeit hat zu warten, wer weiß? Vielleicht wächst die Liebe, wird aus mögen mehr? Ich schließe aber auch nicht aus, mich in jemanden so sehr zu verknallen, dass ich all meine guten, vernünftigen Vorsätze über Bord werfe und mich mit meinem ganzen Sein in seine Arme werfe … Weißt du, Alexandra, man kann sich einen Lebensplan machen, aber für die Liebe funktioniert so etwas nicht.«
Wie recht Marion doch hatte!
Alles, was sie sich ausgedacht, zusammengereimt hatte, war verflogen wie vom Wind getriebene Wolken. Auf jeden Fall war es schön, dass Marion, wenn auch nur für ein paar Tage, nach Waldenburg gekommen war. Dann war sie wenigstens nicht mehr so allein in diesem großen Schloss …
*
Als sie auf Schloss Waldenburg eintrafen, kam ihnen sofort die junge Fanny entgegengelaufen, mit einem Block in der Hand.
»Frau von Waldenburg, da war ein Anruf für Sie. Ich habe mir aber den Namen aufgeschrieben. Der Mann heißt Viehoff oder Frieloff, er hat ziemlich schnell gesprochen.«
»Hat er gesagt, was er von mir will?«
Fanny schüttelte den Kopf.
»Nein, aber er will sich in den nächsten Tagen wieder melden.«
»Fanny, das haben Sie gut gemacht, danke schön.«
Sie glaubte, den Namen schon mal gehört zu haben, wusste aber im Augenblick nicht, in welchem Zusammenhang. Und da der Mann ja gesagt hatte, dass er sich wieder melden würde, war es nicht wichtig, sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen.
»Darf ich Ihre Tasche abnehmen?«, wandte Fanny sich an Marion.
»Und nach oben bringen?«
»Das ist ganz lieb, aber überhaupt nicht nötig. Das mache ich gleich selbst …, sie ist nicht schwer.«
Typisch Marion. Auch als sie noch Gräfin von Waldenburg gewesen war, hatte sie ein Problem damit gehabt, sich bedienen zu lassen. Jetzt, wo sie ihren Mädchennamen Bouvier wieder angenommen hatte, kam es wohl überhaupt nicht mehr infrage.
Fanny warf Alexandra einen hilfesuchenden Blick zu. Sie wollte doch nichts falsch machen.
»Ist schon in Ordnung so, Fanny. Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen.«
Fanny atmete erleichtert auf und trollte sich, und Marion wandte sich an Alexandra und sagte: »Es ist immer wieder wundervoll, nach Waldenburg zu kommen. Während meiner Zeit mit Ingo habe ich ja viele Schlösser von Innen kennengelernt, aber keines ist so stimmig, hat ein so herrliches Ambiente wie Waldenburg. Ich kann dich schon verstehen, dass dein Herz so sehr an deiner Heimat hängt. Hier drinnen hat man vor allem auch ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, auch wenn das vielleicht trügerisch sein kann. Es ist unbegreiflich, dass Ingo das alles so leichten Herzens aufgeben und verkaufen wollte. Stell dir nur einmal vor, euer Vater wäre ihm nicht beizeiten auf die Schliche gekommen.«
»Ist er zum Glück, Marion. Deswegen möchte ich mir das Andere gar nicht ausmalen. Es hätte meine Eltern umgebracht, und ich …, nein, auch darüber will ich nicht nachdenken. Aber wir dürfen nicht mehr zurückblicken, sondern müssen nach vorne schauen, und Frieden kehrt wohl erst wieder ein, wenn Ingo aufhört, so herumzuchaoten …«, sie lächelte Marion an. »Du bist unsere letzte Rettung, unser Anker. Auf dich wird er ja vielleicht hören.«
Marion schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht, aber es ist auch nicht meine Mission, Ingo mit dem Rest der Familie zu versöhnen. Eigentlich möchte dein Vater, möchten deine Eltern, dass ich Ingo so schonend wie möglich beibringe, wer sein leiblicher Vater ist. Sie möchten seinen Rechtsanwälten nicht den Namen nennen und ihn dann selbst herausfinden lassen, dass sein Vater zwar aus einer exzellenten Familie stammt, aus der er sich allerdings selbst herauskatapultiert hat und nun von der Sozialhilfe lebt, dass sein Vater ein Zocker war, vielleicht auch noch ist, und dass er Gefängnisse wegen Betrügereien schon von Innen gesehen hat.«
Alexandra seufzte bekümmert.
Sie kannte alle Details, hatte alles nicht nur einmal gehört, und dennoch machte es sie immer wieder betroffen. Nicht wegen Ingos Vater, den außer ihrer Mutter ja niemand kannte. Nein, es tat ihr wegen Ingo weh, der einen solchen Standesdünkel hatte und mit einem solchen Mann, der absolut kein Vorzeige-Vater war, nichts anfangen konnte.
Er hätte alles auf sich beruhen lassen können, Benno von Waldenburg wäre ihm weiterhin ein guter, großzügiger Vater gewesen.
Aber nein …
Ingo hatte da etwas Selbstzerstörerisches an sich! Er hatte, um seine angebliche Rechte, der Nachfolger Bennos zu werden, einklagen wollen und statt, mit der Familie zu reden, sofort Anwälte eingeschaltet.
Er hatte es durch seine Renitenz herausgefordert, nicht durch die Familie zu erfahren, dass er kein echter Waldenburg war, sondern durch die Anwälte.
Und nun?
Wie würde er sich da verhalten? Einem Gespräch mit seiner Ex-Frau zustimmen, oder würde die Familie wieder keine andere Wahl haben, als es den Anwälten mitzuteilen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
»Ach, Marion, ich hoffe so sehr, dass es dir gelingen wird, ihn zu einem Gespräch zu bewegen, dass Ingo nicht wieder mit dem Kopf durch die Wand will und sich dadurch nur selber schadet.«
»Ich hoffe es auch, Alexandra, und eigentlich rechne ich mir gute Chancen aus, gegen mich hat er eigentlich nichts, und er kann auf mich auch nicht sauer sein, weil ich ihm nicht zur Last falle. Schließlich habe ich bei unserer Scheidung auf alles verzichtet, und auch wegen Michelle bin ich nicht an ihn herangetreten … Nein, ich glaube schon, dass er mit mir reden wird.«
»Und wann willst du das tun?«, wollte Alexandra wissen.
Marion lachte.
»Am liebsten sofort, du weißt doch, dass ich von der schnellen Truppe bin und Unangenehmes nicht gern hinausschiebe. Aber dann sollten wir uns einen anderen Platz suchen. Hier mitten in der beeindruckenden Halle von Waldenburg …, ich weiß nicht, ob das der richtige Ort für wichtige Gespräche ist.«
Alexandra lief rot an. Was war bloß los mit ihr? An Mike hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht, und dennoch erwies sie sich als grottenschlechte Gastgeberin.
»Entschuldige, Marion. Willst du erst hinauf in dein Zimmer gehen, und dich ein wenig frisch machen, vielleicht auch ausruhen?«
Marion schüttelte den Kopf.
»Nein, um Himmels willen, ich habe doch keine Weltreise hinter mir, sondern einen nicht allzu langen und dazu sehr angenehm verlaufenden Flug. Lass es uns hinter uns bringen.«
»Okay, dann gehen wir am besten in die Bibliothek, dort sind wir ungestört, und ich weiß noch, wie gern du dich da immer aufgehalten hast.«
Damit war Marion einverstanden, gemeinsam gingen sie in die Bibliothek, die das Herz eines jeden Menschen höherschlagen lassen musste, der gern las.
Sie setzten sich.
Alexandra brachte ihrer Schwägerin das Telefon.
»Willst du vorher noch etwas trinken?«, erkundigte sie sich fürsorglich.
Marion schüttelte den Kopf.
»Nein, danke, alles ist bestens. Ich freue mich gleich auf das Mittagessen.«
»Da darfst du nicht zu enttäuscht sein, Klara ist bei ihrer Familie im Urlaub.«
Lachend winkte Marion ab.
»Ist zwar schade, aber kein Beinbruch. Ich bin nicht so anspruchsvoll wie deine Eltern. Hauptsache ich bekomme irgendwann etwas zu essen. Ich bin überzeugt davon, dass auch Klaras Vertretung etwas Ordentliches auf den Tisch bringt. Also, lass mich jetzt mit Ingo telefonieren. Und damit ich dir hinterher nicht alles noch mal erzählen muss, stelle ich das Gespräch auch auf laut, dann kriegst du gleich alles mit.«
Damit war Alexandra einverstanden. Sie merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und bewunderte Marion dafür, dass sie so ruhig war und es ihr scheinbar überhaupt nichts auszumachen schien, gleich mit ihrem Ex zu reden. Das bedeutete auf jeden Fall, dass sie emotional mit ihm fertig war, sonst hätte sie nicht so gelassen sein können.
Marion nickte ihrer Schwägerin aufmunternd zu, dann wählte sie Ingos Nummer, die sie noch immer auswendig kannte, kein Wunder auch. Es war schließlich auch mal ihre eigene Telefonnummer gewesen.
Der Klingelton war ewig lange zu hören, und Marion wollte gerade wieder auflegen als Ingo sich meldete.
Seine Stimme klang wie eh und je, ein wenig arrogant und beinahe gelangweilt, aber er meldete sich immerhin noch mit von Waldenburg.
Marion begrüßte ihren Ex-Mann, und dabei klang ihre Stimme beinahe fröhlich.
»Marion?«
Aus seiner Stimme war herauszuhören, dass er sich insgeheim fragte, was sie von ihm wollte. Ob sie gar Forderungen hatte, wenigstens Geld für die gemeinsame Tochter Michelle haben wollte.
Marion kannte Ingo nur zu gut, um all das ebenfalls herauszuhören, und so sagte sie rasch: »Keine Angst, Ingo, ich will kein Geld von dir, aber ich würde dich gern treffen, weil ich mit dir reden möchte …, über etwas, was dich betrifft.«
Er lachte. »Oh, wie nett von dir. Aber ja, wir können uns treffen. Sag mir einfach wann und wo. Und ich hoffe doch, dass du mir nur Gutes erzählen willst.«
Das konnte sie nun nicht versprechen, also wand sie sich da heraus und beantwortete das Letzte nicht.
Sie atmete erleichtert auf, weil es bisher besser gelaufen war als gedacht, lächelte Alexandra triumphierend zu.
»Ingo, ich richte mich ganz nach dir. Soll ich zu dir kommen? Treffen wir uns in einem Café? Den Termin kannst du auch bestimmen. Ich bin da sehr flexibel, aber je eher umso lieber. Du weißt doch, dass ich nichts gern aufschiebe.«
Wieder lachte er.
»Und ob ich mich daran erinnern kann. Also gut, meinetwegen können wir uns morgen sehen. Vielleicht zum Mittagessen? Ich kenne da einen ausgezeichneten Italiener, bei dem man nicht nur ganz hervorragend essen kann, sondern auch gut sitzen. Ich lasse am besten einen Platz an einem der Ecktische für uns reservieren. Um dreizehn Uhr, ist dir das recht?«
»Aber ja, Ingo, sehr recht. Du musst mir nur noch verraten, wo dieser Italiener ist.«
»Aber sicher, Marion. Wo bist du denn jetzt? Von wo aus rufst du an?«
Ehe sie ihm eine Antwort geben konnte, hatte er wohl automatisch auf seinem Display die Nummer gesehen und natürlich auch sofort erkannt.
Seine Stimme schlug um.
»Das glaube ich jetzt nicht, du blöde Schlampe. Glaubst du vielleicht, mich mit süßen Worten überlisten zu können? Das ist ja wohl eine Dreistigkeit. Du steckst mit den Waldenburgs unter einer Decke. Vergiss es, vergiss alles. Und ruf mich bloß niemals wieder an, hörst du?«
»Ingo, ich muss dich sehen, es ist wichtig. Es geht um deinen leiblichen Vater, und ich …«
Sie konnte sich alle weiteren Worte ersparen, er hatte wutentbrannt aufgelegt.
»Er hat eure Telefonnummer erkannt«, sagte Marion sichtlich niedergeschlagen. »Das war’s dann ja wohl …, der Satz mit x, nix – verflixt noch mal, dass wir daran nicht dachten. Es lief so gut. Nun ist er natürlich sauer, und wir können es knicken. Ich gehöre ab jetzt auch in die Rubrik Feind.«
Auch Alexandra ärgerte sich, aber nicht lange.
Es war wie es war. Sie hatte daran auch nicht gedacht, aber derartige Gespräche gehörten nicht zu ihren Gepflogenheiten, und deswegen war sie auch nicht geübt darin, vorher alle Eventualitäten abzuwägen.
Dumm gelaufen!
Marion versuchte es ein zweites Mal, aber Ingo ging nicht mehr an sein Telefon, und den Anrufbeantworter hatte er wohlweislich ebenfalls ausgeschaltet.
Sie legte das Telefon weg.
»Dann muss er es eben durch seine Anwälte erfahren, wer sein Vater ist. Ich kann es nicht ändern. Einen Versuch war es wert. Komm, Alexandra, wir lassen uns dadurch nicht den Tag verderben. Ich bin froh, hier zu sein …, vergessen wir Ingo, und auch deine Eltern müssen wir jetzt nicht anrufen. Es reicht, wenn sie es heute Abend oder morgen erfahren …, vielleicht sogar eher morgen, dann haben sie wenigstens eine ruhige Nacht. Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mich um. Nach dem Essen können wir ja vielleicht nach Kaimburg fahren, oder hast du keine Zeit? Dann fahre ich allein.«
»Was sagst du da, Marion, natürlich unternehmen wir, solange du da bist, alles gemeinsam. Ich werde mich doch wohl nicht an meinen Schreibtisch setzen …, keine Arbeit kann so wichtig sein, dass sie nicht aufschiebbar ist. Während du nach oben gehst, rufe ich Mama und Papa an, um ihnen zu sagen, dass du hier gut gelandet bist. Soll ich ihnen etwas ausrichten?«
»Ja, grüße sie von mir, und sie sollen meine kleine Michi knuddeln und ihr ein ganz dickes Küsschen von ihrer Mama geben. Ich vermisse meinen Sonnenschein schon jetzt. Aber ich weiß sie ja bei deinen Eltern gut aufgehoben.«
Marion ging zur Tür, blieb dort noch einmal stehen.
»Alexandra, reg dich bitte nicht auf. Es ist wie es ist. Vielleicht muss Ingo erst so richtig ins Messer laufen, ehe er gescheid wird. Wie dämlich er doch ist, er schimpft über die Waldenburgs wie ein Rohrspatz, lebt aber fröhlich unter diesem Namen weiter. Wenn er erst mal alles über seinen leiblichen Vater weiß, wird er dem Himmel auf Knien danken, dass er den Namen von Waldenburg trägt und wird vielleicht endlich damit aufhören, diesen alten, unbefleckten Namen in den Dreck zu ziehen.«
»Ich gräme mich nicht, Marion«, versprach Alexandra. »Du hast schon recht – es ist wie es ist. Vielleicht ist es ja auch gut so. Niemand weiß, was ein persönliches Gespräch gebracht hätte. Vielleicht wärest du von Ingo beschimpft worden, denn spätestens bei eurem Treffen hätte er ohnehin erfahren, dass du im Auftrag und mit Wissen meiner Eltern zu ihm gekommen wärst.«
»Alexandra, wir können jetzt alles Mögliche da hineininterpretieren …, es ist alles hypothetisch …, also lassen wir es. Ich bin gleich wieder bei dir. Wartest du hier?«
»Ich rufe in Italien an, und dann schaue ich in der Küche nach, wie weit es mit dem Essen ist. Je früher wir essen, umso früher kommen wir nach Kaimburg.«
Während Marion nach oben lief, rief Alexandra ihre Eltern an, die noch nichts von dem missglückten Versuch ahnten. Und das sollten sie auch nicht. Also bemühte Alexandra sich um einen fröhlichen Tonfall, der ihr letztlich auch überhaupt nicht schwerfiel, weil sie sich wirklich freute, dass Marion bei ihr war.
Und auf den Nachmittag in Kaimburg freute sie sich auch.
Alexandra wusste auch schon, was sie tun wollte.
Als erstes in diesen Kinderladen gehen und Geschenke für Michelle und ihre vier anderen Nichten kaufen – Anna, Celia, Melanie und die kleine Elisabeth, denn wenn sie zu Sabrina fuhren, erwarteten die kleinen Mädchen natürlich auch Geschenke von ihren Tanten.
So war das nun mal.
Und es machte auch Freude, kleine Geschenke auszusuchen.
Der Gedanke daran ließ Alexandra für einen Moment vergessen, dass Ingo schon wieder einmal quergeschossen hatte.
*
Marion freute sich so sehr, mal wieder in Deutschland zu sein, mit ihrer Schwägerin bummeln zu gehen, dass Alexandra sehr bald von deren guter Stimmung angesteckt wurde.
In dem Spielzeugladen waren sie sehr schnell fündig geworden, und Alexandra hatte nicht zugelassen, dass Marion Geld ausgab. Sie hatte ja kaum welches, nachdem sie ihre Arbeit in Irland verloren hatte.
Schnell waren die Tüten in Alexandras Auto verstaut, und sie wollten jetzt die Fußgängerzone entlangschlendern und sich einfach treiben lassen und irgendwann irgendwo, wenn ihnen danach war, einen Kaffee trinken.
Eigentlich hatte Alexandra nicht vorgehabt, Olaf Christensen einen Besuch abzustatten, doch der begleitete gerade in diesem Moment eine Kundin zur Tür, als sie an der Galerie vorbeischlendern wollten.
»Alexandra«, rief er freudig überrascht, »und …«
Er starrte Marion an, Marion starrte zurück.
Was war das denn?, dachte Alexandra verwundert, kannten die beiden sich von irgendwoher?
Sie fixierten einander ja wie zwei hypnotisierte Kaninchen. Ihre Blicke hingen ineinander, sie hatten Raum und Zeit vergessen, und sie offensichtlich auch.
Erst als Alexandra sich räusperte, wandten sie sich ihr zu.
»Darf ich euch miteinander bekannt machen? Das ist Olaf Christensen, ein sehr guter Freund«, dann deutete sie auf Marion. »Meine Schwägerin Marion, die für ein paar Tage hergekommen ist.«
»Schwägerin? Die Frau deines Bruders?«, erkundigte Olaf sich grenzenlos enttäuscht. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Ex-Schwägerin?«, korrigierte Marion sofort. »Ingo und ich sind seit Jahren geschieden.«
Er strahlte erleichtert, und das war wirklich nicht zu übersehen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Gräfin«, strahlte er Marion geradezu glücklich an.
Die schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein, keine Gräfin. Ich habe den Titel zusammen mit dem Ehemann abgelegt … Ich heiße Bouvier, Marion Bouvier, das ist mein Mädchenname.«
Er himmelte sie an wie die Buddhisten einen Buddha, und Alexandra fragte sich gerade, in welchem Film sie mitspielte, als Olaf sagte: »Bouvier …, ein wunderschöner Name.«
Dann versanken ihre Blicke wieder ineinander, und Alexandra war auf einmal klar, dass sie gerade Zeugin einer Liebe auf den ersten Blick war, und das rührte an ihr Herz.
Sie war hier vollkommen überflüssig.
»Äh …, ich muss noch in einen Schreibwarenladen, mir sind die Quittungsblocks ausgegangen. Kommst du mit mir, Marion, oder aber …, vielleicht spendiert Olaf dir ja einen Espresso oder Latte … Ich würde dich dann hier wieder aufpicken.«
Sie hätte den beiden kein größeres Geschenk machen können. Vermutlich wären sie ihr jetzt am liebsten um den Hals gefallen.
»Eine gute Idee«, rief Olaf sofort.
»Gegen einen Kaffee, gleich welcher Art, hätte ich überhaupt nichts einzuwenden … Alexandra, wir wollten irgendwann doch ohnehin einen trinken, oder?«
»Klar, aber mach dir um mich keine Sorgen, Marion …, ich denke, bei meinem Freund Olaf«, sie betonte das Wort Freund nachdrücklich, »bist du in besten Händen. Er wird dir auch bestimmt sehr gern die Bilder seiner Ausstellung zeigen, und ansonsten ist er ein brillanter Unterhalter. Aber, Kinders, jetzt muss ich los.«
Sie winkte den beiden nochmals zu, ehe sie sich entfernte.
Olaf und Marion gingen in die Galerie hinein. So sehr sie Olaf sonst auch viele Kunden wünschte, heute sollten sie gefälligst wegbleiben. Sie würden jetzt nur stören in dem Augenblick, in dem sich, wie eine kostbare Rose, eine Liebe entfaltete. Dass es so war, da war Alexandra sich absolut sicher, und sie freute sich sehr darüber.
Sie würde jetzt irgendwo ein paar Quittungsblocks kaufen, obschon sie die nicht benötigte. Aber sie musste ja glaubwürdig sein.
Während sie darauf wartete, dass eine Fußgängerampel auf grün schaltete, musste sie lächeln.
Weither war es mit den Gefühlen des guten Olafs ja wohl nicht gewesen, denn sonst hätte er sich nicht mit voller Kraft Marion zugewandt.
Es gab halt einen Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe. Und wenn es gar die berühmte Liebe auf den ersten Blick war, dann fühlte man nur noch, da war der Verstand erst einmal ausgeschaltet.
Die meisten Menschen glaubten ja nicht daran und hielten das für ein Hirngespinst. Aber sie, sie konnte da mitreden. Genauso war es mit ihr und dem Mann gewesen, den seine Freunde Joe nannten. Auch ihnen hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch bei ihnen hatten sich Herz und Seele berührt.
Alexandra hatte lange nicht mehr an Joe gedacht, weil sie in ihren Gedanken mit Mike beschäftigt gewesen war.
Doch jetzt kam die Erinnerung mit aller Gewalt zurück und machte sie traurig.
Sie hatte Joe verloren, weil sie die Verabredung für den nächsten Tag nicht einhalten konnte.
Die Gefahr bestand bei Marion und Olaf zum Glück nicht. Über beide war alles bekannt. Wenn es nicht nur ein Strohfeuer war, dann konnten sie ihre Liebe leben.
Ihre Gedanken hoppelten der Realität voraus.
Marion und Olaf …
Das bedeutete, dass Marion wieder nach Deutschland kommen würde, zunächst bestimmt erst mal nach Schloss Waldenburg, später, wenn das mit ihr und Olaf von Dauer war, würde sie auf jeden Fall in Kaimburg leben. Es war nicht abzusehen, dass Olaf Kaimburg wieder verlassen würde. Er war ja gerade erst vor kurzer Zeit hier sesshaft geworden, als er die bekannte Galerie seiner Tante übernommen hatte.
Die Ampel schlug auf Grün, dann wieder auf Rot, Gelb und Grün, und Alexandra stand immer noch da, in Gedanken versunken und wie festgewachsen.
Eine Stimme neben ihr ließ sie zusammenzucken.
»Es geht mich ja nichts an, junge Frau. Aber grüner wird die Ampel nicht.«
Verlegen bedankte Alexandra sich, dann lief sie beim nächsten Grün rasch über die Straße.
Irgendwo musste ein Bürobedarfsgeschäft sein, und wenn sie sich recht erinnerte, gab es daneben auch ein nettes, kleines Café. Dort würde sie einen Kaffee trinken, weil sie Marion und Olaf so viel Zeit lassen wollte wie nur möglich.
Auch wenn sie selbst im Moment nicht auf der Gewinnerseite war, freute sie sich unbändig.
Wenn sie so recht darüber nachdachte, dann waren es nur gute Gründe, die dafür sprachen, dass Marion und Olaf zusammenfanden, und da war nicht ihr eigener egoistischer Grund dabei, dass sie Marion und die kleine Michelle so gern in ihrer Nähe haben wollte …
*
Wahrscheinlich hatten weder Marion noch Olaf während ihrer Abwesenheit auf die Uhr geschaut, und weder ihm noch ihr war bewusst, wie viel Zeit Alexandra gebraucht hatte, um ein paar Quittungen zu kaufen. Zum Glück waren keine Leute in der Galerie, Marion und Olaf saßen in den gemütlichen Ledersesseln und unterhielten sich so angeregt, dass sie Alexandra zunächst einmal überhaupt nicht bemerkten.
Marions Wangen glühten, ihre Augen strahlten, keine Frage, sie war verliebt. Und Olaf? Eigentlich eher ein trockener, zurückhaltender Typ, versprühte Charme. So lebhaft hatte sie den Guten noch nie zuvor erlebt.
Liebe …
Man sprach nicht umsonst von ihr als einer Himmelsmacht!
Alexandra überlegte schon wieder zu gehen, als Olaf sie bemerkte.
»Alexandra, da bist du ja wieder«, sagte er.
Belustigt dachte sie daran, dass er früher, vor dem Kennenlernen von Marion, hinzugefügt hätte – ich habe dich schon so vermisst.
Ja, ja, da konnte man mal sehen, wie die Zeiten sich änderten.
»Ach, Alexandra«, rief Marion glücklich, »du glaubst ja überhaupt nicht, wie viele Gemeinsamkeiten Olaf und ich haben.«
Oh, sie waren also schon bei Olaf und ganz gewiss auch bei Marion. Aber warum nicht. Vermutlich wären sie dazu auch übergegangen, wenn sie sich nicht ineinander verliebt hätten.
»Marion ist ja so unglaublich«, schwärmte Olaf. »Sie ist nicht nur eine interessierte Zuhörerin, nein, wenn sie redet, dann kann man nicht anders als nur wie gebannt an ihren Lippen hängen.«
Märchenstunde für Erwachsene, dachte Alexandra und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Herrje! Hier brannte es ja lichterloh, da hatte nicht nur ein Blitz eingeschlagen.
Alexandra setzte sich, denn in seinem Überschwang der Gefühle hatte der sonst so höfliche Olaf vergessen, ihr einen Platz anzubieten. Aber das sah sie ihm nach.
»Hast du deine Quittungen bekommen?«, erkundigte Marion sich.
Welch ein Glück, dass sie die wirklich besorgt hatte.
»Ja, habe ich«, antwortete Alexandra und schwenkte das kleine Tütchen hin und her.
Ehe Marion vielleicht fragen konnte, warum sie nur so wenig davon gekauft hatte, bemerkte Alexandra rasch: »Ich habe mir unterwegs etwas überlegt …, wie wär’s, Olaf, wenn du heute Abend zu uns zum Essen kämst?«
Volltreffer!
Bestimmt hätte keiner von ihnen gewagt zu fragen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie den Abend zusammen verbringen würden. So etwas gehörte sich ganz einfach nicht. Marion war erst angekommen, und sie war Gast bei Alexandra.
So aber konnten sie sich sehen, miteinander sprechen, und Alexandra würde sich bestimmt beizeiten zurückziehen, und sie würden weiter miteinander reden können.
»Eine wunderbare Idee«, rief Olaf auch sofort ganz begeistert aus. »Danke für die Einladung.«
»Ja, Alexandra, ich finde diesen Gedanken auch ganz großartig. Dann können Olaf und ich unsere begonnene Diskussion um die Expressionisten fortsetzen.«
Alexandra konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ach, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen, ihr werdet ganz bestimmt noch andere Gesprächsthemen finden.«
Marion wurde rot, sie fühlte sich durchschaut, aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte vor Alexandra keine Geheimnisse und würde ihr selbstverständlich gleich brühwarm berichten, dass sie sich unsterblich in den charmanten Dr. Olaf Christensen verknallt hatte.
Sie plauderten noch eine Weile miteinander. Es war nicht zu übersehen, dass Marion und Olaf nur Augen füreinander hatten.
Und als die beiden Frauen aufbrachen …
Es war viel, dass Olaf sich nicht vor Marion auf den Boden warf, um sie zum Bleiben zu überreden.
*
Als sie außer Sichtweite waren, warf Marion sich so heftig in Alexandras Arme, dass beide ein wenig taumelten und vermutlich sogar hingefallen wären, wenn ein Mann nicht beherzt zugesprungen und sie aufgefangen hätte.
»Alexandra, du glaubst nicht, was passiert ist«, rief Marion aufgeregt, nachdem sie sich bei dem Mann bedankt hatten, und der weitergegangen war.
»Du bist über beide Ohren in meinen Freund Olaf verknallt«, sagte Alexandra ihrer Schwägerin auf den Kopf zu.
Die starrte sie an.
»Alexandra«, wisperte sie schließlich, »woher weißt du das?«
Diesmal umarmte Alexandra Marion, allerdings nicht stürmisch, sondern sanft und liebevoll.
»Weil es nicht zu übersehen ist, liebste Marion … Und soll ich dir noch etwas sagen? Ich freue mich darüber, ich freue mich sogar sehr. Mein Freund Olaf ist ein wunderbarer Mensch. Ich kann dir nichts Besseres wünschen als ihn.«
»Es macht dir also nichts aus?«
Alexandra schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, Marion, absolut nichts. Olaf ist wirklich nur ein guter, nein, ich muss mich korrigieren, ein sehr guter Freund. Es wäre zwischen uns beiden niemals etwas geworden, auch dann nicht, wenn er der einzige Mann auf Erden wäre. Das musst du mir glauben.«
Marion seufzte erleichtert auf.
»Dann muss ich nur noch herausfinden, ob Olaf meine Gefühle erwidert. Ich mein, dass er mich nett findet, ist nicht zu übersehen. Aber zwischen Nettsein und Liebe gibt es einen Unterschied.«
»Die Antwort kann ich dir geben, Marion. Bei ihm ist der Blitz genauso eingeschlagen wie bei dir. Ich habe Olaf noch nie so aufgeschlossen, so begeistert gesehen, und wie er dich anschaut …, er verschlingt dich doch geradezu mit seinen Blicken. Nein, nein, du musst dir keine Sorgen machen …, es hat wohl so sein sollen, dass ihr euch begegnet.«
Sie gingen wieder nebeneinanderher, um zum Auto zu gelangen, als Marion plötzlich stehen blieb.
»Alexandra, ich muss dir etwas verraten, aber bitte … fange nicht gleich an zu lachen.«
Was war das denn für eine Einleitung?
»Ich werde nicht lachen«, versprach Alexandra hoch und heilig.
Marion überlegte noch einen kurzen Moment, dann nickte sie, als brauche sie eine Selbstbestätigung.
»Also gut …, als ich das letzte Mal in Florenz war, um etwas zu besorgen, kam eine Zigeunerin auf mich zu und wollte mir aus der Hand lesen.«
Marion und eine Handleserin? Das war neu. Eigentlich hielt sie doch nichts von einem solchen Hokuspokus, wie sie es immer ausdrückte. Und so war es auch jetzt.
»Ich lehnte natürlich ab, du kennst mich doch, und ehe die Frau unverrichteter Dinge weiterging, rief sie mir zu, dass ich eine weite Reise machen und dort dem Glück meines Lebens begegnen würde. Nach diesen Worten verschwand sie. Und ich maß dem Zwischenfall keine Bedeutung bei, schließlich hatte ich auch nichts bezahlt. Ich hatte, ehrlich gesagt, diese Worte auch vergessen. Aber vorhin kamen sie mir wieder in den Sinn … Die Zigeunerin war nicht nur eine Handleserin, offensichtlich war sie auch eine Seherin und konnte ein Stück weit in meine Zukunft schauen … Es tut mir jetzt fast leid, dass ich sie abgewiesen habe …, mit dem Wissen von heute hätte ich sie für ihre Voraussage sogar ganz fürstlich entlohnt.«
Es war wirklich unglaublich, aber die Frau schien es in der Tat vorausgesehen zu haben.
Wenn jemand durch Florenz lief, sah man ihm nicht unbedingt an, dass er eine weite Reise machen würde …, und ein großes Glück sagte man auch nicht so ohne weiteres voraus.
»Alexandra, die Reise habe ich gemacht, ich bin mit dem Flieger nach Deutschland gekommen …, glaubst du, dass …, bist du der Auffassung, dass Olaf Christensen das Glück meines Lebens ist?«
Am liebsten hätte Alexandra ihre Schwägerin wieder in die Arme genommen. Aber sie hatten das Auto erreicht, stiegen ein, und Alexandra musste erst einmal die Parklücke freimachen, weil hinter ihnen ein Autofahrer bereits darauf wartete.
Erst als sie Richtung Heimat fuhren, sagte sie: »Leider bin ich keine Hellseherin, aber das, was ich bislang bemerkt habe, spricht eine deutliche Sprache …, ja, wenn nicht noch was Besseres kommt«, neckte sie, »dann könnte es der gute Olaf schon sein, den diese Frau da gesehen hat.«
Dann machte sie das Radio an, weil sie keine Lust hatte, jetzt noch weiter darüber zu reden.
Sie würde sich einen ganzen Abend lang noch im Licht ihrer aufkeimenden Liebe sonnen können.
»Hör mal«, sagte sie und drehte die Musik lauter. »Da singen sie gerade ein Lied, das auf dich und Olaf passt wie die Faust auf’s Auge – Falling in love with you … Marion, das ist ein Zeichen.«
Marion wusste, wie Alexandra das gemeint hatte, und deswegen lehnte sie sich zufrieden zurück, schloss die Augen.
Vielleicht dachte sie ja an Olaf, aber das Lied kannte sie auf jeden Fall und sang laut mit.
Das, was da unverhofft zwischen Marion und Olaf passiert war, war so aufregend, so neu, aber auch so schön, dass Alexandra sich im Augenblick nur mit den beiden freuen und sich wünschen konnte, dass die zwei Wege, die sich da gekreuzt hatten, zu einer breiten, geraden, gemeinsamen Straße führen würden.
Glück war etwas so Unglaubliches.
Es strahlte nicht nur für die beiden Betroffenen, sondern ließ durch sein Licht auch bei den Nichtbetroffenen für einen Moment alles Negative vergessen.
So war es auch bei Alexandra.
Sie dachte nicht an den Ärger mit Ingo, nicht an den geheimnisvollen Joe und auch nicht an Mike, den feschen Flugkapitän, der sie nicht wollte, weil sie eine Gräfin war und der sich ganz offensichtlich schon anderweitig getröstet hatte.
Nein!
An so etwas wollte sie jetzt einfach nicht denken.
Niemand konnte erahnen, wie sehr sie sich für Marion freute. Wenn jemand es verdient hatte, endlich wieder glücklich zu sein, dann sie.
Marion hatte mit Ingo, diesem Schwerenöter, genug mitgemacht. Es war endlich an der Zeit, dass sie wieder auf der Straße der Liebe, des Glücks, wandeln durfte.
Hoffentlich blieben die beiden zusammen, gab es nichts, was sie wieder trennen würde.
Olaf würde Marion niemals betrügen, sie mit langbeinigen Models hintergehen. Er würde sie auf Händen tragen, respektieren und als gleichwertige Partnerin betrachten. Da war Alexandra sich absolut sicher, und genau das hatte Marion verdient.
*
Es gab Zeiten, da passierte rein gar nichts, da lief alles so zäh wie Kaugummi. Ein andermal raste alles so dahin wie ein Rennwagen in der Formel Eins. Ja, es war wie in der Formel Eins. Wenn man bedachte, dass Marion erst ein paar Stunden in Deutschland war, und was hatte sich in dieser kurzen Zeit nicht schon alles ereignet.
An das Negative wollte Alexandra jetzt nicht denken, weil sie sich nicht die gute Laune verderben lassen wollte. Und vor allem sollte Marion ihr aufkeimendes Glück mit Olaf genießen.
Wie aufgeregt sie war, wie ein kleines Mädchen, das an Weihnachten den Weihnachtsmann oder das Christkind kaum erwarten kann.
»Alexandra, ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nicht, was ich heute Abend anziehen soll. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Olaf begegnen werde, hätte ich doch ein hübsches Kleid mitgebracht.«
»Unabhängig davon, dass du in allem, was du anhast, hübsch aussiehst, kann ich Abhilfe schaffen. Komm mal mit.«
Sie stand auf und ging mit Marion nach oben in ihr Schlafzimmer.
»Nein, Alexandra, das geht nicht. Ich kann nichts von dir anziehen«, wehrte Marion ab, als sie ahnte, was Alexandra vorhatte.
»Nicht so schnell, warte es doch einfach mal ab. Natürlich will ich dir nichts von meinen Sachen geben, aber ich …«
Sie brach ihren Satz ab, kramte in ihrem Kleiderschrank herum, der die ganze Breite der Wand einnahm, dann holte sie ein Kleid hervor. Es war ein ärmelloses Etuikleid im Schlangendruck.
Sie zeigte es Marion.
»Hier, das dürfte dir passen, wenn ja, dann schenke ich es dir. Ich habe es niemals getragen.«
»Und warum hast du es dann gekauft?«
Alexandra lachte.
»Es geschah in einem Anflug von Wahnsinn, Liliane und die Verkäuferin haben mich dazu überredet. Sie sagten, ich sähe darin fabelhaft aus. Mag ja sein, aber ich fühle mich darin nicht wohl, es ist einfach nicht mein Stil.«
Marion sah das Kleid mit begehrlichen Augen an. Im Gegensatz zu ihrer Schwägerin mochte sie Reptildrucke aller Art, und dieses Kleid hier war etwas ganz Besonderes.
»Alexandra, es ist von Boretti …, es muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Hat es«, gab Alexandra zu, »aber deswegen ziehe ich es trotzdem nicht an … Los, komm, probier es.«
Das ließ Marion sich nicht zweimal sagen, sie schlüpfte aus ihrer Leinenhose und dem T-Shirt und in das Kleid hinein.
Es passte perfekt, und es stand Marion ganz ausgezeichnet. Und man sah ihr an, wie wohl sie sich in diesem Kleid fühlte.
Und genau drauf kam es an. Wenn man sich wohlfühlte, erkannte man das an der Körperhaltung der Trägerin, sie war souverän. Wenn es andersherum war, kam man sich verkleidet vor, und auch das drückte die Körperhaltung aus
»Alexandra, ich kann es nicht fassen …, es ist ein Traum …, und du willst mir dieses Borettikleid wirklich schenken?«
Alexandra umarmte ihre Schwägerin.
»Ja, von Herzen gern, lieber du trägst es, als dass es in meinem Kleiderschrank verrottet …, aber mal ganz ehrlich, Marion, ich würde das Kleid heute Abend nicht anziehen, für ein zwangloses Abendessen ist es ein wenig overdressed.« Als sie Marions enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Du wirst schon noch eine Gelegenheit finden, es an der Seite von Olaf auszuführen. Er ist sehr kulturbeflissen und wird dich bestimmt in die Oper, ein Konzert oder ins Theater führen, und wenn nicht das, dann in ein Sternerestaurant …, für heute Abend habe ich eine andere Idee.«
Alexandra improvisierte ein wenig. Sie hatte sich einen ganzen Schwung von Sachen gekauft, die sie noch nicht getragen hatte, Marion besaß nicht viel, aber sie war auch zu stolz, etwas anzunehmen, was ihr wie Almosen vorkam, was Alexandra durchaus verstehen konnte. Sie würde sich auch nicht anders verhalten, denn es fühlte sich nicht gut an, die arme Verwandte zu sein, wenngleich ein solches Denken nichts als kopfgesteuert war. Die richtige Einstellung war doch, dass der, der hatte, geben sollte, und der andere sollte sich nicht scheuen, es anzunehmen.
Aber die Menschen waren nun mal wie sie waren.
Alexandra hatte auf jeden Fall jetzt eine fabelhafte Idee, die Marion das Annehmen leichtermachen würde. Da sie ungefähr gleich groß waren und eine ähnliche Figur hatten, passte es.
Sie riss eine der Türen auf und deutete hinein.
»Marion, hier habe ich noch einige Fehlkäufe, die verträumt der Verrottung entgegenschlummern. Tob dich aus, wenn dir was passt und gefällt, dann nimm es. Mir wäre am liebsten, du würdest mich von all diesen Sachen befreien. Irgendwann wandern sie in die Kleiderspende, wenn ich Platz für etwas Neues benötige. Ich würde sie eigentlich lieber an dir sehen als mir vorstellen zu müssen, dass sie in einem Reißwolf landen und zu Putzlappen verarbeitet werden.«
»Um Gottes willen, Alexandra, bist du verrückt?«
Marion trat an den Kleiderschrank, schob die Bügel hin und her, nahm das eine oder andere Teil heraus.
»So wunderschöne Sachen. Alexandra, das können doch unmöglich alles Fehlkäufe sein …, es sind größtenteils deine Farben, die Schnitte, die du trägst.«
»Aber ich zieh das alles nicht an. Würde es denn sonst komplett in diesem Teil des Schrankes hängen?«, sagte Alexandra im Brustton der Überzeugung. Sie musste Marion ja nicht auf die Nase binden, dass sie in diesem Teil des Schrankes immer ihre Neukäufe unterbrachte.
»Also, wenn es so ist, dann probiere ich gern alles an, die Teile dürfen doch nicht in einem Reißwolf landen … Alexandra, Alexandra, was ist los mit dir? Du warst doch früher nicht so unbedacht und hast treffsicher deine Sachen gekauft … Ist es wegen Ingo? Dem ganzen Ärger, den es seinetwegen gibt? Kannst du dich deswegen nicht auf etwas so … Profanes wie den Kauf von Bekleidung konzentrieren?«
Dem Himmel sei dank, Marion hatte ihr ein passendes Stichwort gegeben.
»Du weißt ja, wie wir Frauen gestrickt sind. Wenn wir uns unglücklich fühlen, wenn wir Ärger haben, glauben wir das durch den Kauf von Klamotten kompensieren zu können.
Wie irrig so eine Auffassung ist, siehst du hier an diesem Resultat«, Alexandra deutete auf den Kleiderschrank.
Marion gab sich mit dieser plausibel klingenden Erklärung zufrieden, und sie wäre keine Frau, wenn sie sich jetzt nicht begeistert auf diesen Teil des Schrankes gestürzt und nacheinander alles anprobiert hätte. Wie zu erwarten, passte alles perfekt. Marion sah bezaubernd aus.
Alexandra ließ sich nicht anmerken, dass sie die Sachen gern selbst behalten hätte, weil sie auch ihr ganz hervorragend standen. Aber, was sollte es.
Marion war glücklich, und sie würde sich für eine ganze Weile um ihre Bekleidung keine Sorgen mehr machen müssen.
»Danke, Alexandra, tausend Dank, du bist die Allerbeste«, jubelte Marion und fiel ihrer Schwägerin ungestüm um den Hals. »Du musst mir aber einen Koffer leihen, damit ich alles mit nach Italien nehmen kann.«
»Oder du lässt davon etwas hier, denn ganz bestimmt wirst du doch bald wieder in Deutschland sein … Mein Angebot, hier auf Waldenburg zu arbeiten, gilt noch immer, ebenso das, hier zu wohnen.«
Marion ließ den weitschwingenden seidenen, geschlitzten Rock in Summerdarks, den sie gerade in die Hand genommen hatte, auf Alexandras Bett fallen.
»Ich weiß, Alexandra, ich habe es nicht vergessen, und wenn es nach meiner augenblicklichen Gefühlslage ginge, würde ich sofort zusagen und meine Zelte hier aufschlagen …, aber so einfach ist es nicht. Ich darf nicht nur an mich denken, sondern ich habe auch noch die Verantwortung für Michelle … Es muss also nicht nur für mich passen, sondern auch für Michi.«
»Da musst du dir keine Sorgen machen, Marion. Olaf wird die Kleine vergöttern.«
»Sagst du, und ich wünsche es mir auch, aber … sie sind sich noch nicht begegnet. Außerdem kann ich deine Eltern, die mich so spontan bei sich aufgenommen haben, nicht so einfach im Stich lassen. Sie hängen an Michi, sie bringt Sonne in ihr Leben.«
»Meine Eltern hätten Verständnis, sie würden sich über dein Glück freuen und dir raten, zuzupacken, und es mit beiden Händen festzuhalten.«
»Ja, und dann sind da noch Olaf und ich. Es ist keine Frage, dass wir auf wundersame Weise voneinander fasziniert sind. So etwas wie das jetzt, habe ich noch nie zuvor erlebt, auch mit Ingo war es nicht so, und den habe ich wirklich geliebt.«
»Olaf und du, ihr seid eben seelenverwandt«, sagte Alexandra, »das ist mehr als eine ganz normale Liebe, und mag sie noch so groß sein. Liebe ist normalerweise eine Sache des Herzens, bei einer Seelenverwandtschaft sind Herz und Seele der beiden Menschen im Einklang, und das ist etwas Besonderes, Kostbares.«
Marion blickte ihre Schwägerin nachdenklich an.
»Alexandra, du … sag, hast du so etwas schon einmal erlebt?«
Alexandra hatte im Augenblick einen dicken Kloß im Hals, der sie daran hinderte, eine Antwort zu geben.
Sie nickte heftig.
»Und, was ist daraus geworden?«, wollte Marion wissen.
»Nichts …, es hat sich verflüchtigt wie Wolken im Wind.«
Das hatte so verzweifelt, so traurig geklungen, dass Marion es nicht weiter hinterfragte.
Sie nahm den Rock wieder in die Hand, trat mit ihm vor den Spiegel und beschloss, ihn an diesem Abend zu tragen, zusammen mit einem schlichten schwarzen Seidenshirt. In diesem Outfit würde sie Olaf gefallen, davon war sie fest überzeugt, und genau das wollte sie.
Sie sagte es Alexandra, und auch die fand die Idee gut.
Marion setzte sich neben ihre Schwägerin aufs Bett, legte ihren Arm um deren Schulter.
»Du hättest dieses Glück verdient«, sagte sie leise. »Es tut mir ja so leid.«
Alexandra zwang sich zu einem Lächeln.
»Muss es nicht, Marion, das Leben geht weiter, und irgendwann ist jeder Schmerz vorbei. Wenn eine Tür zugeht, tut sich eine neue auf. Man muss es nur wollen und es zulassen.«
Sie erzählte Marion jetzt nicht, dass es da schon eine neue Tür gegeben hatte, die aber auch wieder zugeschlagen war, ehe man sie richtig geöffnet hatte.
Marion war auf Wolke sieben, sie wollte jetzt keine düsteren Gedanken aufkommen lassen, sondern Marion darin bestärken, an ein Glück mit Olaf Christensen zu glauben.
Sie wollte nicht, dass dieses zarte Pflänzchen zertreten wurde, sondern es sollte behutsam gepflegt und zum Wachsen gebracht werden.
Marion blickte ihre Schwägerin an.
»Alexandra, es ist verrückt, und wir kennen uns doch überhaupt nicht, aber für mich ist Olaf der Mann, bei dem ich mir vorstellen kann, mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen. Das hatte ich beispielsweise bei Roberto nie. Und dabei ist der supernett, an seiner Seite hätte ich ein wunderbares Leben, während ich über Olaf eigentlich so gut wie nichts weiß. Soll ich mich darauf einlassen? Worauf? Wohin wird es führen?«
»Das kann niemand voraussagen, es gibt immer verschiedene Optionen …, hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen.«
Marion nickte.
»Stimmt …, hinter jeder Ecke lauern ein paar Richtungen, den Satz merke ich mir, den hast du dir klug ausgedacht.«
»Sorry, ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken, Marion. Er stammt nicht von mir.«
»Und von wem dann?«
»Von Jarislaw Jerczy Lec«, antwortete Alexandra.
Marion zuckte die Achseln.
»Sagt mir nichts. Muss ich den kennen?«
»Er lebt nicht mehr, er ist schon 1966 gestorben und war ein polnischer Poet.«
»Da habe ich ja noch nicht gelebt, aber«, Marion blickte ihre Schwägerin voller Bewunderung an, »was du nicht alles weißt. Ich hab den Namen schon wieder vergessen, aber die Worte, die werde ich mir merken und hoffentlich aus allen Richtungen die richtige auswählen …, für mich und … Olaf, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass auch du die richtige Richtung für dich findest. Du bist ein so wundervoller Mensch, Alexandra, und du hast wirklich alles Glück der Welt verdient. Weißt du, der liebe Gott wird sich schon darauf besinnen, dass er endlich mal was für dich tun muss.«
»Tut er doch fortwährend, Marion. Ich darf doch nicht undankbar sein …, sieh mal, ich darf das Erbe der Waldenburgs für die nächste Generation bewahren. Ich habe eine wunderbare Familie, reizende Nichten, und ich habe dich … Ich bin so froh, dass du, trotz der Trennung von Ingo, wieder zu uns gehörst.«
Marion nickte.
»Ja, das macht mich auch sehr froh. Es war dumm von mir, mich nach der Scheidung von Ingo einfach aus dem Staub zu machen. Aber ich war so verletzt, und ich dachte irgendwie, dass Blut dicker ist als Wasser und dass ihr natürlich voll auf der Seite von Ingo seid, was immer auch geschehen ist … Welch ein Glück, dass dein Vater mich hat ausfindig machen lassen, weil er mich an seinem sechzigsten Geburtstag dabei haben wollte … Im Grunde genommen war ich egoistisch. Ich habe nur mich und meine verletzten Gefühle gesehen und nicht einen Augenblick daran gedacht, dass ich Michelle die Verwandten und Großeltern genommen hätte, und euch, umgekehrt, die Enkelin und Nichte.«
»Marion, es ist vorbei, du musst dir keine Gedanken mehr um das machen, was war. Die Gegenwart allein zählt, und in der sind wir miteinander glücklich, alle … Wirst du Michelle irgendwann einmal sagen, wer ihr Vater ist?«
»Sie weiß es, so weit sie das jetzt schon begreifen kann, denn ich habe ihr ein Foto von Ingo gegeben. Die Wahrheit, und mag sie noch so bitter sein, darf man einem Kind einfach nicht vorenthalten. So, wie es jetzt aussieht, wird sich zwischen Vater und Tochter niemals etwas entwickeln, denn, wie du weißt, ist Ingo an Michi nicht interessiert. Sie ist Luft für ihn, er hat ihr ja nicht einmal die Hand gegeben oder so etwas wie Gefühl gezeigt, als er sie zum ersten Mal gesehen hat. Schwamm darüber, es ist, wie es ist. Ich will mir ganz einfach irgendwann nichts vorwerfen lassen. Ingo bleibt und ist Michis Vater.«
»Du verhältst dich ganz großartig, Marion. Eine solche Größe zeigt selten jemand, schon gar nicht nach allem, was geschehen ist und wie Ingo dich behandelt hat … Wir sind auf jeden Fall, und das betone ich noch mal, überglücklich, dich wieder in unserem Kreis zu haben.«
*
Wie es mit Marion und Olaf Christensen weitergehen würde, konnte niemand voraussagen, aber die Voraussetzungen waren sehr gut.
Sicherlich bedauerten beide von ganzem Herzen, dass sie nun schon wieder getrennt waren, weil Alexandra und Marion auf dem Weg zu Sabrina und deren Familie waren und dass Marion dann auch wieder nach Italien zurückkehren würde.
Aber es gab so viele moderne Kommunikationsmittel, über die man sich verständigen konnte.
Freilich, menschliche Nähe und Wärme ersetzten sie nicht.
Aber darüber würden Marion und Olaf schon hinwegkommen und Mittel und Wege finden, um sich zu sehen.
Vielleicht war eine Trennung ja sogar auch gut, damit beide sehen konnten, ob der Zauber ihrer aufgekeimten Liebe anhielt. Und Marion wollte es ja ohnehin langsam angehen lassen.
Während der Fahrt hatten sie viele gute Gespräche, doch nun freuten sie sich auf Sabrina und die Kinder. Vor allem Marion war gespannt auf die kleine Elisabeth, sie hatte sie ja noch nicht gesehen.
Elmar würden sie nicht antreffen, der befand sich noch in den USA, wo er sich mit seiner Halbschwester Ariane versöhnen wollte.
»Pass auf, Marion«, rief Alexandra aufgeregt, als sie auf das entzückende Jagdschlösschen zu fuhren, in dem Sabrina mit ihrer Familie, ganz in der Nähe des Greven’schen Stammsitzes, residierte. »Gleich werden Anna, Celia, im Schlepp die kleine Melanie, auf uns zugestürmt kommen und als Erstes danach fragen, was wir ihnen mitgebracht haben. Und danach erfolgt eine Rangelei darum, wer wen zuerst umarmen darf. Das ist ein Ritual, das sich immer wiederholt. Man könnte die Uhr danach stellen.«
Ehe Marion eine Antwort geben konnte, hatten sie das Schlösschen erreicht, sie parkten. Nichts geschah. Niemand kam herausgestürmt. Was war das denn?
Endlich öffnete sich die Tür, doch es war Sabrina, ganz ohne Gefolge, die auf das Auto zugelaufen kam und freudig ihre Gäste begrüßte.
»Wo sind die Kinder?«, erkundigte Alexandra sich ganz enttäuscht. »So was habe ich ja noch niemals erlebt. Hast du sie irgendwo eingesetzt?«
»Klar«, rief Sabrina lachend. »Wie die böse Hexe in dem Märchen von Hänsel und Gretel. Nein«, sie wurde wieder ernst. »Die beiden Großen machen heute mit dem Kindergarten einen Ausflug, unsere Kinderfrau hat Melanie mit zu ihren Eltern genommen, und Elisabeth schläft, hoffentlich noch recht lange. Da habe ich nämlich Gelegenheit, mich euch zu widmen.« Sie umarmte ihre Gäste, dann hakte sie sich, als sie gemeinsam ins Haus gingen, bei Marion ein.
»Schön, dass du mitgekommen bist, Marion. Gut siehst du aus.«
»Es geht mir auch gut«, antwortete Marion, und das war auch die Wahrheit. »Eure Eltern verwöhnen Michi und mich, wir leben in der Toskana wie die Maden im Speck.«
Sabrina war in keiner Weise eifersüchtig, sie mochte ihre ehemalige Schwägerin, und so etwas wie Futterneid war ihr auch vollkommen fremd.
»Das ist gut, dass habt ihr auch verdient. Nach allem, was du mit Ingo mitgemacht hast, müssten dir die Waldenburgs eigentlich eine Medaille verleihen oder dich in Gold aufwiegen.«
Marion wurde rot.
»Es war nicht immer schlimm, Ingo und ich hatten auch gute Zeiten«, bemerkte sie.
»Aber sicher, doch die waren vermutlich in erster Linie nur gut, weil du in dieser Beziehung die Gebende warst. Ingo weiß doch überhaupt nicht, was das ist.«
Marion schaute ihre Ex-Schwägerin von der Seite an, die sich so richtig in Rage geredet hatte.
»Du bist auf deinen Bruder nicht gut zu sprechen, nicht wahr, Sabrina?«
»Nein, bin ich nicht. Er ist nicht mehr mein Bruder … Wenn, wäre es ohnehin nur mein Halbbruder. Nein, ich bin mit Ingo fertig. Und ich würde auch nicht so lange herumhampeln, darauf hoffend, dass er sich besinnt, sondern kurzen Prozess mit ihm machen. Irgendwer muss ihn doch mal in seine Schranken verweisen und ihm seine Grenzen zeigen.«
O Gott, dachte Alexandra, Sabrina war schon so sauer auf Ingo, ohne alles zu wissen. Wenn sie alles wüsste, würde sie niemals mehr in ihrem Leben ein Wort mit Ingo sprechen. Es war ungewiss, ob sie das, so wie sie auf ihn zu sprechen war, ohnehin nochmals tun würde.
»Sabrina, versuche bitte nicht, dich da in etwas hineinzusteigern. Die meiste Zeit deines bisherigen Lebens hast du ihn als deinen Bruder gesehen, und da ward ihr stets ein Herz und eine Seele. Irgendwann wird Ingo sich berappelt haben, und dann müssen wir allesamt bereit sein, ihm zu verzeihen.«
Sabrina wandte sich an ihre Ex-Schwägerin. »Marion, hörst du das? Ist sie nicht so was wie eine zweite Mutter Teresa, unsere Alexandra? Immer Verständnis, immer bereit zu Geben, immer bereit zu verzeihen … Kommt, Mädels, lasst uns das Thema wechseln. Es gibt, weiß Gott, interessantere Themen. Ich bin so froh, dass ihr hier seid, und das möchte ich mir durch überhaupt nichts vermiesen lassen … Stellt eure Taschen ab, ich habe in meinem Salon einen kleinen Imbiss vorbereitet.«
Sabrina führte ihre Besucherinnen durch die Halle in den Salon, den sie ganz für sich eingerichtet hatte. Alles sehr klar, sehr hell und sehr modern.
Staunend sah Marion sich um, diesen Salon kannte sie noch nicht. Es hatte sich in dem kleinen Jagdschlösschen überhaupt einiges verändert. Alles war heller, transparenter geworden, und obschon die Einrichtung in erster Linie modern war, hatte Sabrina doch geschickt einige besonders schöne alte Möbelstücke oder Bilder mit integriert.
»Superschön ist es bei dir, Sabrina. Auch die Halle hat sehr gewonnen … Das alte Schlösschen, das moderne Interieur …, das hat was. Es ist perfekt und wäre etwas für jede exklusive Wohnzeitschrift.«
Sabrina wurde rot bei diesem Lob, und Alexandra sagte launig.
»Na, wir haben unsere Sabrina doch nicht umsonst Grafik- und Wohndesign studieren lassen. Aber jetzt genug von der Lobhudelei, wo ist der Kaffee.«
Den hatten sie schnell in ihren Tassen, und sehr bald waren sie in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Elmar hatte seine Halbschwester Ariane bereits getroffen, und die beiden hatten sich ausgesöhnt und kamen jetzt sehr gut miteinander klar, seit sie entspannt waren.
Sofort wollte Ariane noch nicht nach Deutschland kommen, sondern erst mal in Amerika bleiben und dort weiter studieren.
Aber sie wollte ihren Vater sehen.
»Das ist großartig«, rief Alexandra geradezu begeistert aus. »Da hat Elmar eine ganze Menge erreicht. Mein Gott, was wird Hubertus sich freuen. Weiß er es schon?«
»Nein, noch nicht, und er soll es auch erst durch Elmar erfahren. Schließlich ist es dessen Verdienst.«
»Du kannst stolz auf deinen Mann sein, Sabrina«, bemerkte Marion, die die ganze Geschichte um Graf Hubertus und seine uneheliche Tochter Ariane natürlich auch kannte, die von den Greven-Brüdern weggemobbt worden war. »Immerhin hat Elmar sich für Ariane und gegen seine eigenen Brüder entschieden, denn die werden bestimmt sauer sein, dass sie es nicht geschafft haben, Ariane für immer aus dem Leben der Grevens wegzukicken.«
Sabrina seufzte.
»Ja, es wird da noch einigen Krempel geben, aber ich denke schon, dass Elmar damit leben kann. Ihn hat es sehr belastet zu sehen, wie sehr sein Vater leidet. Und wegen Ariane hatte er ein schlechtes Gewissen. Ich mein, nachdem er der Chef des Hauses von Greven geworden war, hätte er sich mit Arianes Mutter zusammentun können und sich von Henriette scheiden lassen. Schließlich war diese Christine seine große Liebe, und Henriette hatte er nur geheiratet, weil sie standesgemäß und seinen Eltern genehm war … Christine wollte es nicht, sie hat verzichtet, weil sie den Jungen nicht das Elternhaus zerstören wollte, ein Leben mit Vater und Mutter. Und auch später, als sie Ariane auf die Welt gebracht hatte, war von ihr keine Forderung gekommen. Sie hatte ihr Kind allein groß gezogen, und erst nach dem Tod ihrer Mutter hat Ariane erfahren, wer ihr Vater ist.«
Marion nickte.
»Es war gemein von Elmar und seinen Brüdern, dass sie ihre Halbschwester vergrault haben. Es war nicht nur Ariane gegenüber herzlos, sondern auch Hubertus haben sie wehgetan. Er hat wegen ihnen auf die große Liebe seines Lebens verzichtet, und er hat sich immer bemüht, Henriette bis zu deren Tod ein guter Ehemann zu sein. Ich habe sie ja kaum gekannt, aber so ganz ohne war sie nicht.«
»Sprich es nicht aus«, lachte Sabrina, »meine Schwiegermutter Henriette hatte Haare auf den Zähnen, und sie war entsetzlich raffig und geizig …, das haben Friedrich und Arnold von ihr, zum Glück kommt Elmar da mehr auf seinen Vater. Aber, wenn ich nicht eingreifen würde, würde er auch mit seinen Brüdern um das goldene Kalb tanzen …, da sind wir Waldenburgs anders.«
Weder Alexandra noch Marion erinnerten sie daran, dass sie durch ihre Heirat keine Waldenburg mehr war, aber man konnte es auch anders sehen – dem Namen nach war sie Sabrina Gräfin von Greven geworden, in ihrem Herzen würde sie wohl immer eine Waldenburg bleiben, weil sie schöne Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend hatte, begleitet von liebevollen, verständnisvollen Eltern. So etwas prägte einen, und so etwas vergaß man nie.
»Ja, die Waldenburgs sind schon etwas Besonderes«, pflichtete Marion ihr bei. »Eure Eltern haben mich vorbehaltlos in ihren Kreis aufgenommen, und es hat ihnen nichts ausgemacht, dass ich nicht von Adel, sondern nur eine einfache Bürgerliche war.«
»Was heißt denn einfache Bürgerliche?«, rief Sabrina. »Du bist ein ganz wunderbarer Mensch, und das allein zählt. Mit dem von vor dem Namen wird man doch nicht automatisch etwas Besonderes. Ich kenne genug Adelige, das sind die reinsten Pappnasen.«
Alle mussten lachen, aber danach erkundigte Marion sich: »Aber dennoch war es für dich wichtig, standesgemäß zu heiraten?«
Sabrina nickte.
»Ja, weil es sich so ergeben hat. Und ich fühle mich gut dabei. Aber jeder so, wie er mag. Ich würde meinen Kindern niemals vorschreiben, welchen Partner sie sich aussuchen. Auf jeden Fall ist es einfacher, wenn man in seinen Kreisen bleibt, weil man sich da auskennt, sich die Wertvorstellungen ähneln, ein Traditionsbewusstsein vorhanden ist …, abgesehen mal von Ingo, dem geht das ab, und ich …«
Alexandra hatte keine Lust darauf, damit noch einmal von vorn anzufangen, Ingo verdiente die ganze Aufmerksamkeit doch überhaupt nicht, die man ihm andauernd schenkte.
»Wie war denn die Hochzeit?«, unterbrach Alexandra ihre Schwester.
»Hochzeit? Welche Hochzeit?«
»Na, die von eurem guten Freund …, Joachim von Bechstein.«
Warum klopfte ihr Herz denn jetzt so sehr? Warum war sie auf einmal innerlich so angespannt? Sie kannte diesen Mann doch überhaupt nicht, hatte sich stets beharrlich geweigert, ihn kennenzulernen.
»Ach so, die … Daran habe ich schon gar nicht mehr gedacht, vermutlich habe ich das auch verdrängt, weil alles so dumm gelaufen ist.«
»Wieso? Ist die Braut mit einem anderen auf und davon?«, wollte Alexandra wissen.
»Nö, nichts davon ist passiert. Die Hochzeit konnte nicht stattfinden, weil Joachim dringend in die Emirate fliegen musste, er wurde dort dringend gebraucht … Und jetzt sind sie übereingekommen, dass sie ihn nicht begleiten wird, weil er da ohnehin keine Zeit für sie hat, sie die Hitze nicht vertragen kann und solche Länder eigentlich auch nicht mag, in denen die Rechte der Frauen so sehr reduziert sind. Er bleibt ja höchstens ein halbes Jahr weg, kommt zwischendurch nach Hause, und dann wird die Hochzeit im großen Stil stattfinden.«
Es war verrückt.
Alexandra wusste selbst nicht, warum sie das so erleichterte, am liebsten hätte sie vor lauter Freude gelacht.
Ja, ja, sagte sie sich sofort, das hatte nichts mit diesem Mann und seiner Braut zu tun, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte. Es war auf jeden Fall eine von Soundso …
War ja auch egal, sie konnte es halt im Augenblick nicht haben, dass jemand Hochzeit feierte und sie nicht einmal einen Partner hatte.
Das war eine mehr als fadenscheinige Begründung, aber eine andere fiel ihr nicht ein, weil sie ja selbst nicht wusste, warum sie so reagierte.
Laute Geräusche aus dem Babyphone brachten alle Gespräche und Gedanken zum Stoppen!
Elisabeth …
Wie von der Tarantel gebissen standen alle Drei auf, und dann rannten sie hintereinander her in das Babyzimmer, in dem die kleine Elisabeth in ihrem Bettchen lag und aus Leibeskräften schrie. Ihr Gesichtchen war bereits puterrot angelaufen.
Vorsichtig hob Sabrina die Kleine heraus, ein letzter Seufzer, dann war sie still.
»Das macht sie immer so«, lachte Sabrina, »sie ist der reinste Tyrann, und so klein sie auch noch ist, sie hat schon herausgefunden, wie sie uns herumkriegt.«
»Aber sie ist ja so süß«, rief Marion begeistert aus. »Darf ich sie mal auf den Arm nehmen?«
Bereitwillig reichte Sabrina ihrer Schwägerin das Baby, die streichelte das kleine Gesicht und schaukelte Elisabeth sanft hin und her.
»Sieh dir bloß mal unsere Staatsschauspielerin an. Das gefällt ihr.«
Und in der Tat, die kleine Elisabeth hatte ihr Mündchen gespitzt und schaute mit großen, wachen Augen die Tante an, die sie noch nicht kannte, die aber gut mit kleinen Mädchen umgehen konnte.
»Steht dir gut, so ein Kleines«, fuhr Sabrina fort. »Such dir einen Mann und krieg noch ein paar Kinder, es wäre auch für Michelle besser. Es ist nicht gut, wenn ein Kind allein aufwächst.«
Marion lief rot an.
Sabrina schubste ihre Schwester an.
»Weißt du etwas, was ich nicht weiß? Gibt es da etwa bereits einen neuen Mann in Marions Leben?«
Alexandra hütete sich, das zu verraten, die warf Marion einen fragenden Blick zu. Marion nickte.
»Eigentlich sollte Marion dir das selbst verraten, aber schön, ja, es gibt jemanden.«
»Welch ein Glück«, rief Sabrina, »durch einen neuen Mann wird sie ihre traumatischen Erlebnisse mit Ingo endgültig vergessen. Wer ist es denn? Hoffentlich nicht wieder so ein Ekelpaket …, von außen charmant, von innen wie ein fauler Apfel.«
»Es ist noch überhaupt nichts passiert«, wandte Marion ein. »Und niemand kann sagen, ob und was sich daraus entwickeln wird. Eines kann ich allerdings sagen. Olaf ist ein ganz wunderbarer Mensch, und ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt.«
»Und er?«, wollte Sabrina wissen.
»Er sich auch in Marion … Und es ist wahr, Olaf Christensen ist supernett, ich bin mit ihm befreundet und kann das deswegen auch ein wenig beurteilen.«
»Was macht er? Wo wohnt er? Wie sieht er aus?«, erkundigte Sabrina sich, was sowohl Alexandra als auch Marion zum Lachen brachte.
»Dafür, dass es deines Erachtens auf Äußerlichkeiten nicht ankommt, liebe Schwester, hast du jetzt aber die falschen Fragen gestellt. Also, er hat in Philosophie promoviert, sein Vater war auch ein sehr bekannter Galerist, und er hat in Kaimburg die Galerie seiner Tante übernommen. Und wie sieht er aus? Nun, er ist groß, schlank, hat ein feingeschnittenes Gesicht und trägt eine randlose Brille …, zufrieden? Oder willst du noch mehr wissen?«
Sabrina schüttelte den Kopf.
»Nö, das reicht mir. Hört sich alles sehr gut an, ich glaube, mit dem Mann kann man arbeiten.« Sie wurde wieder ernst, als sie sich an Marion wandte. »Marion, wenn du das Gefühl hast, dass er es für dich ist, dann greife zu. Gescheite Männer laufen nicht scharenweise herum, und wenn sie noch zu haben sind, dann bleiben sie nicht lange auf dem Markt. Das habe ich auch bei unserem Freund Joachim gesehen, der war schneller unter der Haube, als man gucken konnte.«
»Noch ist er nicht unter der Haube«, bemerkte Alexandra spitz. »Und in einem halben Jahr kann eine ganze Menge passieren.«
Ein wenig verwundert blickte Sabrina ihre jüngere Schwester an.
»Du, wenn ich nicht genau wüsste, dass du an Joachim nicht die Bohne interessiert warst, dann würde ich jetzt denken, dass es dich freut, dass er noch nicht verheiratet ist.«
Welch ein Glück, dass die kleine Elisabeth urplötzlich anfing zu schreien.
Alexandra musste dazu nichts sagen, hätte es ja auch nicht vermocht. Sie wusste selbst nicht, was sie veranlasst hatte, diese Bemerkung zu machen.
»Jetzt hat sie Hunger, und wenn das der Fall ist, dann kennt sie keine Verwandten. Komm, Marion, ich nehme dir den kleinen Schreihals wieder ab.«
Auch bei Sabrina war die Kleine nicht still, sie brüllte die ganze Zeit über während des Windelwechselns, erst als sie ihr Fläschchen bekam, war sie still und begann schmatzend zu trinken.
Diesmal war Alexandra die Glückliche, die sie während des Trinkens auf dem Arm halten durfte, und das machte sie sehr, sehr glücklich, aber auch sehr sehnsuchtsvoll.
Wie schön wäre es, ein eigenes Kind zu haben!
Aber das war ein Traum, der sich für sie wohl noch lange nicht erfüllen würde, wenn überhaupt.
Sabrina war in ihrem Leben angekommen.
Für Marion war wieder Sonnenschein angesagt.
Und sie?
Nichts …, großes Schweigen im Walde …
Ob sich das je wieder ändern würde?
Zum Glück musste sie sich darüber jetzt keine Gedanken mehr machen, sonst wäre sie tieftraurig geworden.
Ein plötzliches Geschrei, Gepoltere ließ nur einen Schluss zu.
Die großen Mädchen waren wieder da, und da waren sie auch schon zu hören.
Anna, die Älteste, wollte das Kommando übernehmen, Celia wehrte sich dagegen, und die kleine Melanie quäkte auch dazwischen.
»Grevens bunte Bühne«, sagte Sabrina lakonisch und nahm ihrer Schwester das Baby aus der Hand. »Elisabethchen schläft, geht schon mal vor, ehe die Rasselbande hier hereingestürmt kommt und die Kleine wieder wach macht.«
Das ließen Alexandra und Marion sich nicht zweimal sagen. Sie freuten sich ja darauf, die Mädchen zu sehen, und sie hatten ihnen schließlich auch Geschenke mitgebracht, ganz so, wie erwartet.
Sabrina kannte ihre Mädchen und hatte in weiser Voraussicht ihre Besucherinnen aus dem Babyzimmer weggeschickt, denn sie kamen nämlich gerade die Treppe hinaufgestürmt, Anna, wie nicht anders zu erwarten, allen voran, Celia ihr dicht auf den Fersen, nur Melanie hampelte, deutlich abgeschlagen, hinterher.
Für Anna war es wichtig, als Erste bei Alexandra zu sein und sich ihr triumphierend in die Arme zu schmeißen. Sie liebte diese Tante sehr und konnte es nicht verwinden, dass es nicht ihre, sondern Celias Patentante war.
Alexandra ahnte, was nun kommen würde, und deswegen hielt sie mit einem Arm Anna fest, mit dem anderen ihr Patenkind, das mittlerweile auch bei ihr angekommen war.
»Ich bin ja so froh, dass ihr endlich da seid, meine Süßen«, rief sie. »Ich habe euch so sehr vermisst.«
»Wir haben uns auch ganz doll gefreut, Tante Alexandra. Aber wir haben mit dem Kindergarten einen Ausflug gemacht, und der war auch superschön. Zum Schluss kam noch ein Zauberer, der wollte Celia zu sich auf die Bühne holen, aber die hatte Angst, und da bin ich zu ihm gegangen.«
»Ich hatte gar keine Angst«, rief Celia empört. »Ich wollte es mir bloß erst mal überlegen, aber da hast du mich weggeschupst und bist zum Zauberer gelaufen.«
»Das musste ich machen, weil er nämlich sonst ein anderes Mädchen zu sich geholt hätte, und du hattest wohl Angst, das habe ich genau gesehen.«
Ehe es zu einem Kampf auf der Treppe kommen würde, sagte Alexandra rasch: »Die Tante Marion und ich haben euch auch was mitgebracht.«
Erst jetzt wurde den Mädchen bewusst, dass da ja noch jemand war.
Marion hatte mittlerweile die kleine Melanie auf den Arm genommen, und die war durchaus zufrieden damit. Sie fand es toll, herumgetragen zu werden, von wem auch immer.
Alexandra ließ Anna und Celia los, die wandten sich neugierig Marion zu.
Celia wusste nicht mehr ganz genau, wohin sie Marion stecken sollte, aber Anna erinnerte sich genau.
»Und wo hast du deine Tochter, unsere Cousine Michelle?«, wollte sie wissen.
Marion lachte.
»Die habe ich bei euren Großeltern in Italien gelassen«, antwortete sie.
»Bei Opa Benno und Oma Elisabeth?«, fragte Celia.
»Ja, bei denen«, bestätigte Marion, ehe sie Melanie vorsichtig absetzte, um die beiden Großen in den Arm zu nehmen.
Sabrina hatte reizende Töchter, und wie hübsch sie angezogen waren!
»Wir möchten auch nach Italien«, rief Anna, »die Oma und der Opa sind nämlich ganz doll lieb … Wir haben noch einen Opa, den Opa Hubertus, der wohnt drüben im Schloss, den haben wir auch gern. Der ist lustig und erzählt uns immer ganz viele Geschichten. Und er nimmt uns mit in den Wald, und da sagt er uns, welche Vögel da singen, was dort wächst. Er sagt, dass man das alles wissen muss, und er …«
Abrupt brach die Kleine ihren Satz ab. Offensichtlich war ihr eingefallen, dass es da etwas gab, das im Augenblick wichtiger war als die Waldspaziergänge mit dem Opa.
»Und was habt ihr uns mitgebracht?«, wollte sie wissen. »Hoffentlich nichts Süßes, da meckert Mami nämlich, die will nicht, dass wir so viel davon essen, dabei ist das so lecker. Ich mag am allerliebsten Überraschungseier. Manchmal sind da superschöne Sachen drin. Die Celia ärgert sich immer, wenn bei mir eine Figur drin ist und bei ihr nur was zum Zusammenbauen. Das kann sie nämlich nicht, und da müssen die Mami oder der Papi ihr helfen.«
»Du kannst es auch nicht«, rief Celia aufgebracht, die es leid war, immer im Schatten ihrer dominanten großen Schwester zu stehen.
»Überraschungsei«, quietschte Melanie begeistert, die offenbar auch schon wusste, worum es dabei ging.
Marion nahm die Kleine wieder auf den Arm, Alexandra hatte rechts ihr Patenkind, links Anna an ihrer Hand, als sie die Treppe hinunterliefen.
Sabrina gesellte sich zu ihnen.
»Elisabethchen schläft«, sagte sie zufrieden, »jetzt haben wir erst einmal Ruhe vor ihr.« Dann wandte sie sich an ihre drei anderen Töchter. »Hey, meine Süßen, wollt ihr eure Mama nicht begrüßen?«
Sie taten es, aber nicht mit der Freude wie sonst.
Jetzt war Besuch da, zwei Tanten, von denen sie eine ganz besonders gern mochten.
In einem solchen Fall gerieten Mütter ganz einfach ins Hintertreffen, denn die hatte man ja immer, während Tanten nur ab und zu mal kamen, stets nachsichtiger waren, vorlasen und mit einem spielten und, was nicht zu vergessen war, stets Geschenke mitbrachten und das nicht nur an Geburtstagen.
*
Bei Sabrina war es wunderschön gewesen, aber Marion war deutlich anzusehen, dass sie froh war, wieder nach Waldenburg zurückfahren zu können, weil dort Olaf auf sie wartete.
Alexandra und Sabrina hatten mehrfach mitbekommen, wie Marions Handy klingelte und hatten sich sofort zurückgezogen, um Marion Gelegenheit zu geben, ungestört mit Olaf zu telefonieren.
Bei den beiden hatte der Blitz eingeschlagen, heftig und sehr elementar, und nun musste eigentlich nur noch etwas ganz Unvorhergesehenes passieren, um Marion und Olaf wieder auseinanderzubringen.
Auch jetzt würde Alexandra ihre Schwägerin erst einmal zu Olaf bringen, und der würde gemeinsam mit Marion abends nach Waldenburg kommen, allerdings nicht zum Essen, sondern erst viel später.
Und dann würde Marion auch schon wieder nach Italien zurückreisen.
Sie waren kurz vor Kaimburg, als Marion plötzlich sagte: »Du, Alexandra, ich fühle mich richtig schlecht.«
Alexandra ging vom Gas herunter, fuhr auf die rechte Spur und wandte sich Marion zu.
»Du fühlst dich schlecht, aber wieso? Es läuft doch bestens für dich.«
»Das ist es doch. Ich bin eigentlich hergekommen, um die Sache mit Ingo klarzumachen, stattdessen habe ich mich verliebt, denke nur noch an Olaf, dabei hatten deine Eltern eine solche Erwartungshaltung an mich … Ich bin kläglich gescheitert, und das finde ich ganz schrecklich.«
»Aber, Marion, ich bitte dich …, jetzt denkst du aber wirklich um die Ecke. Du hast dich bemüht, aber du konntest Ingo zu diesem Treffen nicht zwingen. Und weil das nicht geklappt hat, hast du jetzt Schuldgefühle wegen deiner Liebe zu Olaf? Das war etwas, was du nicht voraussehen konntest … Freue dich, dass die Liebe auf deinen Weg gekommen ist und mache dich von diesen verqueren Gedanken frei, genieße jeden Augenblick deines Zusammenseins mit Olaf, morgen ist eh schon alles wieder vorbei, es sei denn, du buchst deinen Flug um und bleibst noch ein paar Tage länger.«
Davon allerdings wollte Marion nichts wissen.
»Nein, bei aller Liebe geht es nicht. Es bleibt so wie es ist. Ich habe schreckliche Sehnsucht nach meiner kleinen Michi, und im Übrigen haben deine Eltern mir den Flug nicht bezahlt, damit ich mich privat vergnüge.«
Alexandra widersprach nicht, sie kannte Marion und deren Prinzipien.
Alexandra beschleunigte wieder ihr Tempo, beide Frauen hingen ihren Gedanken nach. Alexandra war bei ihrer Schwester und deren liebreizenden vier Töchtern, und Marion? Vielleicht dachte sie an Olaf oder auch an den Aufenthalt bei den Grevens, oder sie war in Gedanken bei ihrer eigenen kleinen Tochter, die sie über alles liebte.
Als sie nach Kaimburg hineinfuhren, bemerkte Alexandra wie nebenbei: »Marion, wenn du willst, kannst du bei Olaf bleiben, du musst dich nicht verpflichtet fühlen, nach Waldenburg zu kommen.«
»Danke, Alexandra, aber das werde ich nicht tun. Ich habe doch gesagt, dass ich nichts überstürzen will, und dabei bleibe ich auch. Nein, wir machen auch das so wie geplant. Ich werde mit Olaf essen gehen, und danach kommen wir zu dir nach Waldenburg, und wenn du magst, sitzen wir noch ein wenig zusammen und trinken etwas … Weißt du, ich habe jetzt einige Jahre allein gelebt, die letzte Zeit mit Ingo war kein Zuckerschlecken. Eigentlich hatte ich mit dem Thema Männer abgeschlossen. Dass mir so etwas widerfahren würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.«
»Aber du warst doch in keinem Niemandsland, du hast dich mit diesem Roberto Belani getroffen, hast dich von ihm bewundern lassen. So ganz ohne Männer war dein Leben also nicht.«
»Nein, auch vor Roberto hat es Bewunderer gegeben, als ich noch in Irland lebte. Aber das ist etwas Anderes. So etwas braucht man für sein Selbstwertgefühl, ganz besonders dann, wenn es angeschlagen ist. Das mit Olaf hat eine andere Dimension, da geht es ums Herz, um die Seele, den plötzlichen Wunsch, sich auf jemanden einzulassen, sich vorstellen zu können, das Leben mit ihm zu verbringen. Da muss man behutsam sein, um dieses zarte Pflänzchen nicht vorzeitig zu zerstören. Ich bin eher ein vorsichtiger Mensch und kann mich daher nicht voller Wucht in ein Abenteuer werfen, auch wenn es noch so prickelt, die Sehnsucht noch so groß ist, Gefühle im vollen Ausmaß zu genießen. Ich suche kein Abenteuer. Olaf muss Michi kennenlernen, ich muss sehen, wie die beiden miteinander klarkommen, mich fragen, ob ich wirklich mein Leben mit ihm teilen möchte, er mit mir … Wir kennen uns nicht, wir haben Schmetterlinge im Bauch, und das ist wundervoll, aufregend. Wenn ich in dieser frühen Phase unseres Kennens Intimitäten zulassen würde, dann würde ich den Zauber zerstören, uns die Neugier aufeinander nehmen. Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst, Alexandra. Vielleicht bin ich ja auch blöd, hoffnungslos romantisch oder auch nur verklemmt. Ich kann nicht sofort mit jemandem ins Bett hüpfen, das konnte ich noch nie. Auch nicht bei Ingo, was der im Übrigen nicht verstehen konnte, aber dann doch akzeptiert hat.«
Bei der Erwähnung ihres Bruders musste Alexandra unwillkürlich lachen.
»Ingo kann nicht lange warten, denn seine Beziehungen, besser wohl gesagt, Intermezzos, dauern meistens nicht sehr lange an, da käme er ja nie zum Zuge«, sie wurde wieder ernst. »Aber ich kann dich verstehen, weil ich ähnlich denke. Deswegen käme auch für mich einer dieser sogenannten One-Night-Stands niemals infrage, und das bedeutet nicht, dass ich prüde bin.«
Sie waren vor der Galerie angekommen. Alexandra hielt an.
»Und es ist wirklich okay für dich, Alexandra, dass ich jetzt zu Olaf gehe?«
»Ja, durchaus okay.«
»Und du willst auch nicht mit hineinkommen, um Olaf wenigstens Hallo zu sagen?«
»Marion, sieh dich um. Entdeckst du irgendwo einen Parkplatz? Nein, ich müsste um den Block kurven, um vielleicht in einer der Seitenstraße einen zu finden. Das ist die Sache nicht wert, ich sehe Olaf doch heute noch … Nein, grüße ihn, und jetzt steig bitte rasch aus, der LKW-Fahrer hinter mir wird schon ungeduldig, der kommt nicht bei mir vorbei.«
»Also dann, bis heute Abend, Alexandra, und danke.«
»Danke? Wofür?«
»Für alles, für dein Verständnis und für die schönen Klamotten, die du mir so großzügig geschenkt hast. Sieh nur, wie hübsch ich in der schwarzen Leinenhose und der schwarz-weiß-getupften Bluse aussehe …, wie eine Gräfin oder Prinzessin.«
»Die Gräfin warst du ja«, erinnerte Alexandra ihre Schwägerin, »schon vergessen? Aber du hattest es ja sehr eilig, unseren Namen und damit den Titel nach der Scheidung wieder abzulegen.«
»Und das war auch gut so«, antwortete Marion und stieg rasch aus, weil der LKW-Fahrer nämlich jetzt ungeduldig anfing auf die Hupe zu drücken. »Ich bin nicht mehr mit Ingo verheiratet, deswegen wäre es ein sich mit fremden Federn zu schmücken gewesen, auch da habe ich meine Prinzipien.«
»Ja, ja, du und deine Prinzipien«, entgegnete Alexandra. »Manche sind gut, aber ein paar von ihnen könntest du gut und gern ablegen.«
Wieder ein Hupen.
»Grüß Olaf, und macht euch ein paar schöne Stunden, und, meine liebe Marion …, genieße es, ganz ohne Schuldgefühle.«
Marion nickte, dann schlug sie die Autotür zu, Alexandra fuhr los.
Im Rückspiegel sah sie, wie Olaf aus der Galerie kam und Marion in die Arme nahm.
Ach ja, dachte Alexandra, ehe sie um die Ecke bog, das hätte sie jetzt auch gern, eine zärtliche, liebevolle Umarmung. Aber davon konnte sie leider im Augenblick nur träumen.
Aber sie war nicht neidisch!
Sie wünschte Marion und Olaf von ganzem Herzen ihr Glück, den zauberhaften Beginn ihrer Liebe …
*
Und dann war schon wieder alles vorbei. Es war ja immer so, wenn es besonders schön war, hatte man das Gefühl, die Zeit fliege nur so vorbei, während sie, war man unglücklich, stehen zu bleiben schien.
Alexandra hatte Marion zum Flughafen gebracht, was Olaf bestimmt gern getan hätte, aber mitten am Tag hatte er seine Galerie nicht einfach abschließen können und es deswegen schweren Herzens Alexandra überlassen.
Jetzt saß Marion bestimmt schon im Flieger, denn sie waren ziemlich spät am Flughafen angekommen, und der erste Aufruf für den Flug nach Florenz war bereits erfolgt, als sie dort eingetroffen waren.
Alexandra war in der Tiefgarage und überlegte fieberhaft, wo sie ihr Auto abgestellt hatte.
Normalerweise merkte sie sich dass, aber dadurch, dass sie so spät dran gewesen waren, hatte sie daran nicht gedacht, und nun stand sie da.
Die Tiefgarage war groß, und sie hatte wohl keine andere Wahl, als bis zur Einfahrt zurückzulaufen und von dort aus zu versuchen sich zu orientieren.
Alexandra wollte sich gerade in Bewegung setzen, als eine Männerstimme sie stehen bleiben ließ.
»Hallo, Alexandra.«
Sie drehte sich um. Die Stimme hatte sie schon mal gehört. Als sie den Mann sah, wusste sie auch, wann und wo.
Die Stimme gehörte Oliver Vierhoff, Mikes Freund und Kollegen, bei dem und seiner charmanten französischen Ehefrau Madeleine sie und Mike einen wunderschönen Grillabend verbracht hatten.
Wie lange das schon her war!
Und was war inzwischen nicht alles geschehen!
»Oh, hallo, Oliver, das ist aber eine Überraschung, dich jetzt hier zu sehen … Kommst du von deinem Dienst?«
Welche Frage, er trug seine fesche Pilotenuniform, und in der spazierte er gewiss nicht herum, wenn er frei hatte. Und wenn er frei hatte, verbrachte er seine Zeit auch nicht in der Tiefgarage des Flughafens.
»Ja, ich komme gerade aus Rio zurück, und jetzt freue ich mich nur noch auf drei freie Tage. Und du, was machst du hier?«
»Im Augenblick suche ich mein Auto … Ich habe meine Schwägerin zum Flughafen gebracht, und ich habe mir dummerweise nicht gemerkt, wo ich es abgestellt habe. Wir waren ziemlich spät dran, und ich war nervös, wenngleich das keine Entschuldigung ist.«
Oliver lachte.
»Mach dir keinen Kopf deswegen, du bist übrigens nicht die Erste, der das passiert. Das Parksystem ist hier ein wenig verwirrend. Aber mach dir keine Sorgen, bislang hat jeder Fahrer sein Auto noch wiedergefunden … Wir suchen jetzt gemeinsam, und dann fahre ich mit dir hinaus. Direkt neben der Ausfahrt kann man parken, und da gibt es auch eine Cafeteria für Flugpersonal, dort können wir zusammen einen Kaffee trinken.«
»Danke, Oliver, das ist sehr lieb. Aber, willst du dein Auto nicht vorher auch herausholen? Die Parkgebühren hier im Parkhaus sind nicht ohne.«
Er nickte.
»Ja, das stimmt, aber das gilt nicht für uns. Wir haben Dauerparkplätze, die nichts kosten. Komm, wir kümmern uns jetzt um deinen Wagen. Nach was für einem Fahrzeugtyp müssen wir eigentlich Ausschau halten?«
Alexandra erklärte ihm, was für ein Auto sie fuhr und welches Kennzeichen dieses hatte.
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als Oliver sagte. »Was hältst du von dem da auf Platz 415?«
Er wies in eine Richtung, und Alexandra glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es war ihr Auto, und da fiel ihr auch wieder ein, wie froh sie gewesen war, in der Nähe der Tür zum Aufzug einen Parkplatz gefunden zu haben.
»Ja, das ist mein Auto«, rief sie glücklich, froh darüber, sich ein Umherirren erspart zu haben. Und sie war eigentlich auch froh, Oliver getroffen zu haben, sie hatte ihn und seine Frau in allerbester Erinnerung.
Vielleicht würde sie über ihn von Mike etwas erfahren.
Doch wollte sie das wirklich?
Würde das ihre Wunden nicht wieder aufreißen?
Eigentlich wäre es doch unerträglich, von Oliver zu hören, dass sein Freund Mike etwas mit einer Stewardess angefangen hatte, obschon er so etwas eigentlich nicht wollte.
»Schönes Auto«, sagte Oliver, als er neben Alexandra einstieg.
»Ja, und ich bin auch sehr zufrieden damit. Ich muss manchmal ins Gelände hinaus, da könnte ich mit einem heißen, tiefergelegten Sportflitzer nichts anfangen.«
»Wäre ein solcher Wagen dein Traum?«, erkundigte er sich.
Ihre Antwort kam prompt.
»Nie im Leben, das wäre mir alles viel zu eng, viel zu niedrig und es wäre auch ungewohnt … Weißt du, solange ich mich zurückerinnern kann, wurden in unserer Familie immer bequeme, praktische Autos gefahren. Na ja, nicht ganz, mein Bruder ist ein Sportwagenfahrer, der liebt Porsche, Ferrari und was weiß ich noch für Autos.«
Am liebsten hätte sie jetzt hinzugefügt, aber das hat er nicht von uns, nicht von den Waldenburgs. Doch Familieninterna gingen Fremde nichts an.
Im Übrigen waren sie jetzt auch aus der Tiefgarage hinausgefahren, Oliver dirigierte sie zu einem kleinen Platz, der ihr vorher noch niemals aufgefallen war, und auch die kleine Cafeteria hatte sie bislang nicht gesehen.
Aber wenn man aus so einer Parkgarage kam, da war man nur froh, endlich draußen zu sein. Da achtete man auf die Straße und sonst nichts.
Sie stiegen aus, gingen zu dem kleinen, flachen Gebäude. Es war aber auch unscheinbar, von außen, und von innen war es auch nicht schön, aber zweckmäßig eingerichtet. Hier und da saßen Piloten, Stewards und Stewardessen. Alexandra entdeckte auch zwei Frauen in Zivil.
»Unter uns haben sich einige Fahrgemeinschaften gebildet«, erklärte Oliver, während er Alexandra zu einem kleinen Ecktisch dirigierte. Und wenn Maschinen in kurzen Abständen landen, wartet man hier, das ist angenehmer, als sich in der Tiefgarage oder in der Halle die Beine in den Bauch zu stehen. Manchmal macht man auch nur kurz Halt, um einen Kaffee zu trinken, ehe man nach Hause fährt.«
»Bist du oft hier?«, wollte Alexandra wissen.
Oliver schüttelte den Kopf.
»Eher selten, ich bin immer froh, wenn ich nach Hause zu meiner Madeleine kann.«
»Und davon halte ich dich jetzt ab. Tut mir leid, aber wir hätten nicht herkommen müssen, Oliver.«
Er blickte sie ernst an.
»Doch, Alexandra, denn ich muss mit dir reden. Es hat wohl so sein sollen, dass wir uns im Parkhaus begegnet sind … Ich habe schon ein paarmal versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen. Ich war sogar auf Waldenburg.«
Jetzt fiel es Alexandra wie Schuppen von den Augen. Auf einmal machte alles einen Sinn.
Oliver war der unbekannte Besucher gewesen, und er war es auch, der angerufen hatte.
Spätestens bei Viehoff oder so ähnlich, wie Fanny es aufgeschrieben hatte, hätte sie eigentlich darauf kommen müssen.
»Du warst der geheimnisvolle Besucher«, rief Alexandra. »Warum hast du nicht gewartet?«
»Weil ich stand by war und einen Anruf bekam, dass ich einen Flug nach Barcelona übernehmen sollte.«
Der bestellte Kaffee wurde serviert, er schmeckte erstaunlich gut.
Nachdem sie getrunken hatte, blickte Oliver sein Gegenüber an.
»Schloss Waldenburg ist ein sehr beeindruckender Besitz«, sagte er, »kaum vorstellbar, dass du dort residierst. Du machst einen so normalen Eindruck.«
»Oliver, ich residiere nicht, ich wohne dort, es ist zufällig mein Elternhaus. Und ich mache nicht nur einen normalen Eindruck, ich bin normal.«
»Na ja, du bist immerhin eine Gräfin …, ich habe es gegoogelt, die Waldenburgs sind ein uraltes Adelsgeschlecht.«
»Stimmt, Oliver, und darauf bin ich sehr stolz. Und was heißt es schon, eine Gräfin zu sein …, es sind ganz normale Menschen, wie gesagt. Sie haben nur ein von und einen Titel vor ihrem Namen, was aber völlig bedeutungslos ist, weil der Adel abgeschafft wurde und keinerlei Privilegien mehr hat.«
Er trank etwas von seinem Kaffee, stellte die Tasse behutsam ab, warf ihr einen nicht zu deutenden Blick zu, dann räusperte er sich.
»Alexandra, ich möchte nicht mit dir reden, um mit dir über die Stellung des Adels in der Gesellschaft zu diskutieren … Ich habe dich aufgesucht und versucht, dich telefonisch zu erreichen, weil ich mit dir über Mike reden will.«
Alexandra setzte sich kerzengerade hin.
Sie spürte ihre innere Anspannung geradezu körperlich, sie konnte kaum atmen und schloss in einer Schicksalsergebenheit für einen Moment die Augen.
Über Mike?
Warum wollte er mit ihr über Mike reden?
Wusste er denn nicht, dass das vorbei war?
Vorbei, weil Mike es nicht wollte?
»Ich …, äh …, nun …«
Verflixt noch mal, Alexandra, wies sie sich selbst zurecht, hör auf, so herumzustammeln. Was soll er denn von dir denken?
Sie riss sich zusammen und sprach ihre Gedanken aus.
»Über Mike? Ich weiß nicht, was es da noch zu reden gibt, Oliver … Wir sehen uns nicht mehr.«
Er nickte.
»Ich weiß, und Mike leidet ganz entsetzlich unter eurer Trennung.«
Na, das schlug dem Fass ja wohl den Boden aus!
»Oliver, Mike hat sich von mir getrennt, weil ihm nicht passt, dass ich eine Gräfin und Schlossbesitzerin bin. Und im Übrigen scheinst du auch nicht auf dem Laufenden zu sein. Er hat sich getröstet. Ich sah ihn zufällig in inniger Umarmung auf dem Flughafen, da war ich in letzter Zeit einige Male, weil ich entweder jemanden holen oder wegbringen musste, genau wie heute.«
Er begann zu lachen.
»Ach, bestimmt hast du ihn mit Mandy gesehen, das ist eine Stewardess aus seiner Crew, die im Moment einen ganz entsetzlichen Stress mit ihrem eifersüchtigen Ehemann hat … Mike ist für sie so etwas wie ein großer Bruder, sie weint sich ständig bei ihm aus … Nein, du kennst ihn nicht, sonst würdest du nicht glauben, dass er zu der Sorte Mann gehört, die die Frauen täglich wechselt wie die Hemden … Nein, glaub mir, Mike ist fix und fertig. Wenn es nicht so wäre, hätte ich gewiss nicht versucht, dich zu erreichen, um mit dir zu reden.«
Ehe sie eine Antwort gab, trank sie einen Schluck, es ärgerte Alexandra, als sie bemerkte, wie stark ihre Hand zitterte.
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun, Oliver? Meinen Namen und meinen Titel ablegen und in eine Zweizimmerwohnung ziehen?«
»Alexandra, Mike hat überreagiert. Er bereut sein Verhalten längst.«
»Und warum meldet er sich dann nicht bei mir? Er ist der deutschen Sprache mächtig, und er hat meine Telefonnummer und weiß ja selbst auch wo ich wohne.«
»Weil Mike manchmal komisch ist …, ich will nicht sagen, dass er sich schämt. Das wäre jetzt ein wenig übertrieben. Aber er hat sich dir gegenüber schon ein wenig so verhalten, als habest du die Pest am Leib, und deswegen denkt er jetzt, dass du so sauer auf ihn bist, dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben möchtest.«
»Ein Anruf hätte genügt, um das herauszufinden.«
»Ja, ja, das ist richtig. Aber Mike ist ein gebranntes Kind, Männer sind da anders gestrickt als Frauen, sie haben Angst vor einer Niederlage, ganz besonders dann, wenn sie gerade erst mal die letzten Scherben eines großen Scherbenhaufens zusammengefegt haben.«
Alexandras Gedanken überschlugen sich, aber sie wusste nicht, was Oliver jetzt von ihr erwartete.
»Oliver, es tut mir ja leid, dass Mike eine Enttäuschung hinter sich hat. So was erleben wir alle mindestens einmal in unserem Leben auf die eine oder andere Weise. Ich habe ihm keinen Schmerz zugefügt, im Gegenteil, er war es, der mich emotional verletzt hat … Es ist auf jeden Fall sehr nett von dir, dass du dich um deinen Freund sorgst. So etwas passiert in der heutigen Zeit auch nicht mehr so oft. Mike ist eine starke Persönlichkeit, er wird mich schon bald vergessen haben.«
Oliver winkte die Bedienung heran.
»Ich muss noch einen Kaffee haben, möchtest du auch noch einen, Alexandra?«, erkundigte er sich höflich.
Da ihr nichts Besseres einfiel, nickte sie und sagte:
»Ja, gern.«
Als die Bedienung weg war, schaute er sie eindringlich an, wenn sie nicht wüsste, dass er in einer glücklichen Ehe lebte und seine Frau über alles liebte, hätte sie das nervös gemacht.
»Alexandra, empfindest du noch etwas für Mike?«, erkundigte er sich.
Sie spürte, wie sie rot wurde. Vermutlich hatte ihr Gesicht jetzt die Farbe einer überreifen Tomate angenommen.
Sie konnte die Frage nicht sofort beantworten, weil sie doch sehr intim war.
Andererseits saß sie nicht einem Mitarbeiter eines Meinungsforschungsinstituts gegenüber, sondern dem Freund des Mannes, für den sie etwas empfand, noch immer empfand.
»Ja«, antwortete sie schließlich und sah ihn dabei nicht an.
»Das ist gut … Alexandra, spring du doch über deinen Schatten.«
Jetzt blickte sie zu ihm hinüber, und genau in diesem Moment wurde der neue Kaffee serviert.
Das verschaffte ihr die Gelegenheit, nicht sofort antworten oder fragen zu müssen.
Doch da sein Blick nach wie vor auf ihr ruhte, erkundigte sie sich: »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Dich dazu überwinden zu Mike zu gehen und einfach bei ihm zu klingeln.«
»Damit er mich wieder zum Teufel jagt? An den Umständen, die zu unserer Trennung führten, hat sich doch nichts geändert.«
»Nein, aber es macht Mike nichts mehr aus, weil er, wie gesagt, eingesehen hat, dass er sich … dämlich verhalten hat.«
Wollte sie das?
Wollte sie, dass die Geschichte mit Mike wieder begann?
Alexandra konnte sich die Frage nicht beantworten, vielleicht war sie jetzt auch zu verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie hatte Marion zum Flughafen gebracht und nicht damit rechnen können, Oliver zu treffen und schon gar nicht damit, von ihm ermuntert, gedrängt zu werden, wieder Kontakt zu Mike aufzunehmen.
»Alexandra, du musst es nicht jetzt entscheiden. Überleg es dir. Ich weiß eines auf jeden Fall ganz gewiss … Mike liebt dich.«
Mike liebt dich …
Alexandras Gefühle fuhren Achterbahn.
Weil sie nicht sofort antwortete, wiederholte er es nochmals voller Nachdruck. »Alexandra, es ist wirklich so … Mike liebt dich.«
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und sie konnten nicht ewig hier herumsitzen. Bestimmt wartete Madeleine daheim auf ihren Mann und fragte sich schon voller Unruhe, wo er blieb.
Sie konnten jetzt hier noch länger sitzen und den Kaffee eimerweise in sich hineinschütten, sie würde ihm keine ihn befriedigende Antwort geben können.
»Ich …, ich denke über unser Gespräch nach, Oliver«, versprach sie, und er atmete erleichtert auf.
»Das ist gut, Alexandra … Darf ich dich dann anrufen und dir Mikes Flugpläne und seine freien Tage durchgeben?«
Sie nickte.
»Kannst du, aber, wie gesagt …«
»Ist schon klar, du willst darüber nachdenken … Aber danke, Alexandra, dass du mir zugehört hast … Vielleicht solltest du noch eines bedenken …, ist es nicht merkwürdig, dass wir uns vorhin begegnet sind? Bei all dem Gewusel …, das ist ein Zeichen, zumindest sehe ich das so.«
Das tat Alexandra nicht, nicht mehr.
Denn all die Zeichen, die es da scheinbar in ihrer Vergangenheit gegeben, die sie gesehen hatte, hatten sich verflüchtigt wie ein Morgennebel.
»Wir sollten unseren Kaffee austrinken, Oliver. Bestimmt wartet Madeleine schon auf dich.«
Er winkte ab.
»Mach dir keine Sorgen, sie weiß, wo ich bin, ich habe ihr, während du vorhin kurz auf der Toilette warst, eine SMS geschickt. Sie mag Mike auch sehr gern und wünscht sich nichts mehr, als dass er glücklich wird.«
Alexandra hätte einwenden können, dass er das längst hätte sein können, dass er es gewesen war, der den Cut gemacht hatte und sich danach nicht mehr gemeldet hatte.
Aber das brachte jetzt nichts.
Sie griff nach ihrer Handtasche, holte ein Notizbuch hervor und einen Stift.
»Was machst du da?«, erkundigte er sich argwöhnisch.
Alexandra riss ein Blatt heraus, schrieb etwas darauf, dann schob sie ihn über den Tisch.
»Ich habe dir meine Faxnummer aufgeschrieben, dann kannst du mir Mikes Flug- und Freizeiten auch zufaxen.«
Er faltete das Blatt sorgsam zusammen und schob es in die Brusttasche seiner Pilotenuniform, dabei strahlte er Alexandra an, als habe sie ihm ein besonders schönes Geschenk gemacht.
»Danke, Alexandra«, sagte er.
Sie fragte ihn nicht wofür.
Sie plauderten noch ein wenig ganz allgemein miteinander, dann dauerte es nicht mehr lange, und sie brachen auf, ohne ihren Kaffee ausgetrunken zu haben.
Oliver ging zurück in die Garage, um sein Auto herauszuholen und nach Hause zu fahren.
Alexandra setzte sich in ihr Fahrzeug und fuhr nach einem letzten Winken los.
Sie hatte Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, weil in ihrem Inneren alles in Aufruhr war.
Mit einer solchen Entwicklung hatte sie nicht gerechnet.
Sie zweifelte Olivers Worte nicht an, denn niemand unternahm solche Anstrengungen, wenn er sich nicht sicher war.
Mike liebte sie …
Er hatte zwar eine merkwürdige Art, seine Liebe zu zeigen oder richtiger gesagt, nicht zu zeigen.
Wenn Oliver nicht die Initiative ergriffen hätte, hätte sie niemals etwas davon erfahren, und Mike und sie hätten sich nicht wiedergesehen.
Stand es denn schon fest, dass sie sich wieder treffen würden?
Würde sie den ersten Schritt tun?
Alexandra hatte nicht die geringste Ahnung.
Ihr Herz sagte ja, ihr Verstand antwortete mit einem Nein, denn das eigentliche Problem war noch immer nicht ausgeräumt.
Reichte Liebe aus, scheinbar unüberbrückbare Welten miteinander zu vereinen?
Welch ein Durcheinander!
In ihrem Leben war aber rein gar nichts mehr auf seinem richtigen Platz, dabei müsste sie gerade jetzt ganz besonders glücklich sein …, als Alexandra Gräfin von Waldenburg!
Sie durfte nach den Hausgesetzen den Titel Gräfin tragen, ohne verheiratet zu sein, und, das war schöner, wichtiger, ihr Vater, Graf Benno, hatte sie trotz ihres beinahe noch jugendlichen Alters zu seiner Nachfolgerin bestimmt.
Sie war die Chefin des Hauses Waldenburg!
Wäre das nicht ein Grund, um vor lauter Freude begeistert in die Luft zu springen, vor Glück zu jubeln?
Ja, gewiss!
Nur war der Preis, den sie für diese Ehre zahlen musste, einfach zu hoch.
Die Familie war mit Ingo hoffnungslos zerstritten!
Der Mann, dem ihr Herz und auch ihre Seele von der ersten Sekunde an zugeflogen waren, hatte sich wie ein Frühnebel verflüchtigt. Niemand wusste, wo der geheimnisvolle Fremde, den seine Freunde ganz einfach nur Joe nannten, abgeblieben war. Es machte fast den Eindruck, als hätte es ihn nicht gegeben.
Und Mike? Der fesche Pilot Mike Biesenbach?
Alexandra sah ihn vor sich, spürte seine Nähe, seine Wärme, seine Umarmungen und Küsse, und dabei wurde ihr ganz sehnsuchtsvoll zumute, aber …
Wenn bloß dieses Aber nicht wäre …
Mike hatte ihr knallhart auf den Kopf zugesagt, dass er vom Adel nichts hielt, dass er Konflikte fürchtete, weil ihre Welt nicht seine war und er sich nicht verbiegen wollte.
Und dann kam Oliver Viehoff daher und sagte ihr, Mike liebe sie, bereue seine Worte, sein ganzes Verhalten ihr gegenüber.
Wie passte alles zusammen?
Wenn man jemanden richtig liebte, dann konnte man sich über alles hinwegsetzen, also auch über Standesunterschiede, die ja überhaupt nicht wirklich, in der realen Welt, existierten, sondern nur in Mikes Kopf!
Geräusche wurden laut!
Neben ihr trat jemand auf die Bremse. Der Wagen schlingerte gefährlich hin und her. Wildes Gehupe setzte ein. Der Fahrer des Wagens zeigte ihr einen Vogel.
Erschrocken zuckte Alexandra zusammen und fuhr scharf nach rechts.
Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie sie immer mehr auf die linke Fahrspur gefahren war und dadurch praktisch zwei Fahrspuren für sich in Anspruch genommen hatte.
Wäre der Fahrer des anderen Wagens nicht so geistesgegenwärtig gewesen und hätte sofort reagiert, wäre es zu einem argen Zusammenstoß gekommen mit vielleicht Personen-, aber doch auf jeden Fall großen Blechschaden, und für sie hätte es Punkte in der Verkehrssünderkartei gegeben, und das zu recht. So verhielt man sich ganz einfach nicht im Straßenverkehr.
Der zornige Autofahrer war längst an ihr vorbeigefahren, sie konnte sich nicht bei ihm entschuldigen, das hätte sie sonst liebend gern getan.
Was war bloß in sie gefahren!
Sie war doch sonst eine aufmerksame, umsichtige Fahrerin.
Eine Lehre zog Alexandra aus diesem noch einmal glimpflich abgelaufenen Zwischenfall – während einer Autofahrt sollte man sich als Fahrer auf nichts weiter als den Verkehr konzentrieren und keine Probleme wälzen, schon überhaupt keine, die Liebesdinge betrafen.
An Mike konnte sie denken, wenn sie daheim war, und dort konnte sie sich auch den Kopf darüber zerbrechen, ob sie ihn wiedersehen wollte oder nicht, ob sie den ersten Schritt machen sollte, wie ihr von Oliver angeraten.
Als Alexandra ihre Fahrt fortsetzte, erfolgte das in gewohnter und sonst stets üblicher Weise, ruhig und konzentriert.
*
Da Marion ihr einen Brief für Olaf mitgegeben hatte, beschloss Alexandra nicht nach Hause zu fahren, sondern erst mal einen Schlenker nach Kaimburg zu machen.
Olaf würde sich bestimmt freuen sie zu sehen, besonders, wenn er den Brief in Händen hielt, von dem er noch keine Ahnung hatte.
Natürlich würde er sie zutexten und von A bis Z über nichts anderes als Marion reden. Doch das war ihr im Augenblick, auch wenn so etwas nerven konnte, lieber, als sich mit ihren eigene Problemen auseinanderzusetzen.
Alexandra deutete es als ein gutes Zeichen, dass sie direkt vor der Galerie einen Parkplatz fand.
Drinnen saß Olaf Christensen an seinem Schreibtisch, aber er machte nicht den Eindruck, als habe er gearbeitet. Er starrte vor sich hin und zuckte zusammen, als Alexandra unmittelbar vor ihm stand und rief: »Hey, alter Kumpel, wo bist du mit deinen Gedanken? Ich hätte deine ganze Galerie ausräumen können, ohne dass es von dir bemerkt worden wäre.«
Olaf zuckte zusammen.
Wie erwachend strich er sich über die Stirn.
»Alexandra, bitte entschuldige. Weswegen bist du hier? Ist etwas passiert?«
Der gute, alte Olaf, selbst wenn sie es nicht gewusst hätte, wäre sie spätestens jetzt dahintergekommen, dass er verliebt war, dass er lichterloh brannte.
»Na, das ist ja eine Begrüßung, lieber Olaf, das habe ich aber schon ganz anders erlebt.«
Sie hatte es eigentlich nur so dahergesagt ohne darüber nachzudenken, doch er bekam sofort ein schlechtes Gewissen und schaute sie schuldbewusst an.
»Hm …, ja …, also …, nun …«
»Olaf, ganz langsam, hol mal tief Luft, und dann sag mir, was du versuchen möchtest mir nahezubringen.«
Wie süß!
Nun wurde er doch tatsächlich rot!
Alexandra setzte sich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.
Früher hätte er ihr als Erstes Platz angeboten, aber es war nicht mehr früher, in seinem Leben hatte sich einiges verändert, zu seinem Besten, und das freute Alexandra ungemein.
»Ich habe ganz schön Süßholz geraspelt, als ich dir den Hof gemacht habe und glaubte, in dich verliebt zu sein. Alexandra, ich habe dir nichts vorgemacht, du warst wirklich die tollste Frau, das bist du noch immer, aber …«
Sie unterbrach ihn.
»Inzwischen bist du dahintergekommen, dass ich doch nicht deine Auserwählte bin, dass du dich getäuscht hast. Durch Marion und dem Blitzschlag der Liebe, der euch beide getroffen hat, weißt du, was wahre Liebe ist.«
Er nickte.
»Ich hätte es nicht treffender ausdrücken können. Du bist mir also nicht böse, Alexandra?«
»Olaf, warum sollte ich dir böse sein. Für mich warst du niemals mehr als ein Freund, ein guter Freund. Daran hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, ich bin froh, dass alles so gekommen ist, dann muss ich jetzt wenigstens kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil ich in dir nichts anderes sehen kann.«
»Ach, Alexandra, du weißt überhaupt nicht, wie froh mich diese Worte machen. Bist du extra hergekommen, um das klarzustellen?«
Jetzt musste sie lachen.
»Eingebildet bist du ja überhaupt nicht, mein Lieber. Nein, ich bin aus einem anderen Grund gekommen.«
Er wechselte die Gesichtsfarbe, wurde blass.
»Marion …, hat sie etwas gesagt? Sollst du mir etwas ausrichten …, etwas Unangenehmes?«
Olaf Christensen war ein kluger, zurückhaltender, ernsthafter Mann, der stets zuerst seinen Verstand sprechen ließ.
Den hatte er wohl jetzt in einer Ecke abgestellt, denn im Augenblick verhielt er sich nicht anders als ein Sechzehnjähriger, der blind ist vor Liebe.
»Herr Dr. Olaf Christensen«, sagte sie betont akzentuiert, »ich vermisse Ihre Souveränität. Ihren glasklaren Verstand.«
Wieder wurde er auf ganz entzückende Weise rot, sie hätte ihn am liebsten in die Arme genommen, aber das hätte ihn vielleicht noch mehr verwirrt.
Er starrte sie an, und sie fuhr fort: »Mensch, Olaf, Marion und du, ihr seid wie die Turteltauben. Ihr habt euch mit den zärtlichsten Worten voneinander verabschiedet. Was glaubst du wohl, hätte sie sich zwischen Waldenburg und dem Flughafen Unangenehmes für dich überlegen sollen.«
Er atmete tief durch, dann lachte er ein wenig und murmelte: »Ich bin wirklich vollkommen durch den Wind, das mit Marion …, man kann sich ja eine Liebe in den allerschönsten Farben ausmalen, aber selbst mit einer ganz, ganz großen Phantasie kriegt man das nicht hin, was uns widerfahren ist, das übersteigt wirklich alle Vorstellungskraft.«
»Dann genieße es und hinterfrage nichts, mach dir keine verqueren Gedanken. Nein, Marion hat von dir geschwärmt, auch sie kann das alles nicht fassen. Nur, und das ist jetzt kein Zeichen mangelnder Liebe …, sie will es langsam angehen lassen. Sie hat, wie du weißt, eine nicht gerade erfreuliche Ehe hinter sich, und sie hat ein Kind … Bei aller Liebe wird sie immer zuerst an Michelle denken, das tut jede Mutter, die ihr Kind liebt … Ich kann dir als deine Freundin nur den Rat geben, Marion nicht zu bedrängen.«
»Das will ich auch nicht«, sagte er eifrig, »aber in mir ist eine so unendliche Liebe, dass ich vielleicht manchmal ein bisschen über das Ziel hinausschieße. Wäre schön, wenn du mich da zurückhalten könntest und stopp sagst.«
»Will ich gern tun, Olaf, aber ich bin natürlich nicht immer bei dir, und ich …«
Die Tür wurde stürmisch aufgerissen, jemand kam hereingerast.
Alexandra drehte sich um und glaubte ihren Augen kaum zu trauen.
Es war ihre Freundin Liliane!
»Was ist das denn hier?«, wollte Liliane wissen. »Eine geheime Verschwörung? Warum hat niemand mich angerufen, um mir zu sagen, dass ihr euch trefft?«
Sie umarmte zuerst ihre Freundin, dann ging sie um den Schreibtisch und fiel Olaf um den Hals.
»Und warum hast du niemandem gesagt, dass du herkommen willst?«, konterte Alexandra lachend, und dann, an Olaf gewandt, fügte sie hinzu: »Oder hast du gewusst, mein Freund, dass unsere Liliane hier einfliegen wird wie ein Heuschreckenschwarm?«
»Nein, wusste ich nicht«, war seine Antwort, »aber ich freue mich.«
Liliane zog sich einen Stuhl heran, ließ sich darauf fallen.
»Bist du auch hergekommen, Alex, um den armen, verlassenen Mann zu trösten?«
»Nein, eigentlich …«, Liliane ließ sie überhaupt nicht aussprechen. Sie fiel Alexandra ins Wort und erkundigte sich: »Und, ist Marion gut weggekommen? Wollte sie überhaupt abfliegen? Ich mein, das fällt einem doch schwer, wenn man Schmetterlinge im Bauch hat.«
Typisch Lil!
»Sie ist gut weggekommen und trotz der Schmetterlinge geflogen, vergiss nicht, dass sie ein Kind hat. Auf jeden Fall ist es sehr nett von dir, dass du dir um unseren Freund Olaf solche Sorgen machst. Wie kommt’s, dass du jetzt hier sein kannst. Wolltest du nicht mit deinem Doktor was unternehmen?«
Lilianes Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
»Mein Doktor hat seine Pläne kurzfristig geändert, für ihn war es wichtiger, die Vertretung für einen Kollegen zu übernehmen, als mit mir einen Kurztrip zu machen.«
»Ist doch ein netter Zug von ihm«, wandte Olaf ein, und Alexandra war ihm dankbar dafür, dass er auch mal so etwas in der Richtung sagte. Sonst war sie es ja immer, die Liliane ins Gewissen redete und sie aufforderte, toleranter zu sein.
»Aber ja, er ist ja auch ein sooooo großartiger Mensch, immer für die Anderen da, für alle, leider nicht für mich … Aber tut mir einen Gefallen, ich habe jetzt keine Lust, noch länger über Lars zu reden … Mit euch geht das eh nicht, denn ihr habt ihm ja auch schon einen Heiligenschein aufgesetzt … Was ist …, sollen wir heute mal so richtig auf den Putz hauen?«
»Was verstehst du darunter?«, wollte Alexandra wissen.
»Na ganz einfach, wir ziehen zu Dritt um die Häuser«
»Mir ist nicht danach«, wehrte Olaf sofort ab, und Alexandra ahnte, dass er lieber daheim sein wollte, wenn Marions Anruf kam. »Außerdem, Liliane, es ist noch viel zu früh, um die Häuser zieht man spätabends, nachts … Bitte sei mir nicht böse, aber ich klinke mich da aus.«
»Ich auch, denn ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass das gründlich in die Hose geht, so wie du drauf bist. Du bist sauer auf Lars, und deinen Frust kannst du dir nicht wegtrinken oder was immer du vorhast … Komm doch einfach mit nach Waldenburg. Dort fühlst du dich wohl.«
»Normalerweise schon, aber heute will ich Leute um mich haben, ich will …«, sie brach ihren Satz ab, machte eine vage Handbewegung. »Ach, ich weiß doch überhaupt nicht, was ich will, und vermutlich habt ihr beide recht …, mit mir ist im Grunde genommen nichts anzufangen, es fehlt nur noch ein Griff, um mich wegzuschmeißen.«
Das hatte so kläglich geklungen, dass Alexandra nicht anders konnte. Sie stand auf, ging zu Liliane und nahm sie ganz einfach in ihre Arme. »Lil, meine arme, arme Lil, du schadest dir doch nur selbst, wenn du immer so überreagierst. Lars ist Arzt, ein guter, dazu auch sehr pflichtbewusst. Er kann überhaupt nicht anders, er muss sein Privatleben immer hintenanstellen.« Sie strich ihrer besten Freundin beruhigend über die Schulter und setzte sich erst wieder, als sie sicher sein konnte, dass Lil sich ein wenig beruhigt hatte.
»Ihr habt recht«, sagte Liliane schließlich, »es war keine gute Idee, und es wäre auch nicht gut gegangen, sondern hätte meinen Frust nur noch vergrößert … Ich muss mich fragen, was ich wirklich will, ob Lars es für mich ist … Manchmal bin ich mir sicher, dass es das Beste ist, wenn wir uns trennen, aber dann ist er so lieb, dass ich vor Gefühl nur so dahinschmelze … Ich habe das Gefühl, in einem kleinen Boot zu sitzen, das von den Wellen hin und her geschleudert wird. Mal ist es unten, und ich habe Angst zu ertrinken, dann ist es wieder oben, ich …«
Sie brach ihren Satz ab, weil in diesem Augenblick Olafs Telefon klingelte.
Er meldete sich, blickte zu den beiden Frauen hinüber, die jetzt einträchtig nebeneinander saßen.
Er nickte.
»Ja, sie ist hier«, sagte er schließlich, »willst du mit ihr reden?«
Er lachte.
»Wird wohl halb so schlimm sein, mein Lieber. Sie wird dir den Kopf schon nicht abreißen, ich glaube eher, dass sie sich sehr freuen wird.«
Warum machte Olaf es so spannend, warum reichte er den Hörer nicht weiter, an wen auch immer.
Nein, er hörte wieder zu, dann sagte er:
»Okay, finde es selbst heraus, aber ich denke auf jeden Fall, dass du gute …, sehr gute Karten haben wirst.«
Dann reichte er den Hörer weiter an Liliane.
»Ist für dich«, sagte er unnötigerweise dazu, »Lars will mit dir sprechen.«
Liliane nahm den Hörer ans Ohr.
Schade, dass es noch kein Telefon mit Bild gab, denn Lilianes Gesichtsausdruck war sehenswert.
»Ja, Lars«, sagte sie, und ihre Stimme klang pikiert, ihre linke Augenbraue war arrogant hochgezogen, sie wirkte insgesamt arrogant und abwehrend.
Lars redete auf Liliane ein, und es war unglaublich, welche Veränderung mit ihr vorging.
Auf einmal gab es da keine Arroganz mehr, ihr Gesicht begann zu strahlen, und sie flötete zuckersüß ins Telefon: »Aber ja, mein Liebling, ich freue mich …, ich freue mich sehr … Am besten komme ich gleich zu dir in die Praxis und hole dich ab …«
Wieder sagte er etwas, sie lauschte, wurde rot, dann murmelte sie: »Ich dich auch, mein Liebling …, bis gleich.«
Sie reichte Olaf das Telefon und bemerkte: »Das war Lars.«
Olaf und Alexandra sahen sich an, dann begannen sie schallend zu lachen.
»Was ist?«, wollte Liliane wissen. »Warum kichert ihr denn so blöd?«
»Na ja, weil doch wohl klar ist, dass du nicht mit dem Weihnachtsmann telefoniert hast … Liliane, ich habe das Gespräch angenommen, und der Name ist nicht nur einmal gefallen, deine Bemerkung war ja wohl ein bisschen überflüssig, oder.«
Liliane stutzte kurz, dann fiel sie in das Lachen mit ein.
Mit der flachen Hand schlug sie sich auf die Stirn.
»Du liebe Güte, ich bin ja wirklich vollkommen durch den Wind. Gut, dass Ihr meine Freunde seid und wisst, dass ich normalerweise alle auf der Reihe habe. Aber …«, sie atmete tief durch, dann sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme überglücklich: »Lars hat einen Kollegen gefunden, der für ihn einspringt, unserem gemeinsamen Unternehmen steht also nichts mehr im Weg … Er hat schon nach mir gefahndet, aber ich war so wütend, dass ich mein Handy ausgeschaltet hatte, meinen AB natürlich auch. Ist er nicht süß? Er hat sich schon die Finger wundgekurbelt und überall angerufen. Tja, meine Lieben, vergesst alles, was ich gesagt habe. Ich eile zu meinem Liebsten.«
Auch Alexandra stand auf.
»Ich fahr dich zur Praxis«, bot sie an, »mein Auto steht direkt vor der Tür, dann bist du schneller bei deinem Schatz.«
Liliane fiel Alexandra um den Hals, aber vermutlich hätte sie jetzt im Überschwang ihrer Gefühle die ganze Welt umarmt.
»Das wäre natürlich großartig«, flötete sie ganz entzückt. »Ach, Alex, wie gut, dass du meine Freundin bist.«
Mit dem, was jetzt hier stattfand, war Olaf nun überhaupt nicht einverstanden.
»Das könnt ihr doch nicht machen, einfach verduften und mich hier allein zurücklassen. Ich kann nicht allein sein, schon vergessen, dass ich unbedingt getröstet werden muss? Schließlich ist die Frau meines Herzens abgereist … Ich fühle mich sehr, sehr einsam.«
Der Brief!
Alexandra hatte ihn vollkommen vergessen, dabei war sie doch gerade deswegen hergekommen, um ihn Olaf sofort zu geben.
»Lieber Olaf, ich könnte darauf wetten, dass du mich, wenn ich bliebe, sehr schnell zur Tür hinauskomplimentieren würdest«, sagte sie.
»Alexandra, wie kannst du so etwas sagen«, beschwerte er sich. »Das würde ich niemals tun, ich bin sehr froh, dass du da bist.«
»Und du wirst gleich sehr froh sein, dass ich mit meiner Freundin Lil gehe.«
Sie kramte in ihrer Tasche herum und beförderte den länglichen Umschlag zutage.
»Was ist das denn?«, wollte er wissen.
»Post für dich. Marion hat mir den Brief übergeben, als wir uns am Flughafen verabschiedeten … Ich habe nicht die geringste Ahnung, was darin steht. Aber wenn ich mir Marions Gesichtsausdruck in die Erinnerung zurückrufe, dann kann es eigentlich nur etwas Schönes sein.«
Olaf riss ihr den Brief fast aus der Hand, presste ihn kurz an sein Herz, dann rief er aufgeregt: »Alexandra, du hattest wieder mal recht …, unter diesen Umständen habe ich natürlich überhaupt nichts dagegen, dass auch du gehst.«
Er stand ebenfalls auf, kam um seinen Schreibtisch herum, dann umarmte er zuerst Liliane und verabschiedete sich von ihr, und dann war Alexandra an der Reihe, die Verabschiedung fiel ein wenig liebevoller aus. Aber war das ein Wunder? Alexandra hatte schließlich für ihn den Postillion d’ Amour gespielt!
Damit sie nicht noch länger verweilten, brachte er sie sogar noch bis zur Tür, und als Alexandra in ihr Auto steigen wollte und noch einen letzten Blick zurückwarf, sah sie, wie er das in der Tür hängende Schild herumdrehte, jetzt konnte man nicht mehr geöffnet lesen, sondern geschlossen.
Das allerdings konnte sie verstehen, sie selbst hätte es auch nicht anders gemacht.
»Manno, manno, unser guter Olaf ist aber ganz schön verknallt, bei dem sind wirklich alle Sicherungen durchgebrannt«, lachte Liliane. »Es ist doch unglaublich, wie rasch sich manches im Leben verändert. Zuerst glaubte er, in dich verliebt zu sein, und dann sah er Marion und es hat wumm gemacht, wie es in einem Lied doch so schön heißt … Weißt du, Alex«, jetzt war Liliane wieder ernst, »und das vermisse ich, dieses elementare Gefühl, diese Atemlosigkeit.«
Ehe Alexandra startete, wandte sie sich kurz zur Seite, aber nur ganz kurz, sie hatte die Schrecksekunde von unterwegs noch nicht vergessen.
»Lil, du wiederholst dich. Hör doch bitte endlich damit auf. Jeder Mensch ist anders, und jeder zeigt seine Gefühle auf seine Weise. Du wirst aus Lars niemanden machen, der vor lauter Freude jubelt, sein Glück hinausschreit und mit dir vor lauter Übermut auf dem Marktplatz einen Tango tanzt …, er beweist dir seine Liebe auf seine Art. Und als was deutest du denn das, was er gerade getan hat? Er hat gemerkt, wie enttäuscht du bist, und da hat er alles darangesetzt, jemanden zu finden, der einspringt. Verflixt noch mal, für mich ist das ein Zeichen von Liebe.«
Liliane seufzte abgrundtief.
»Du hast ja recht, und vielleicht bin ich undankbar und bekomme irgendwann mal meine Quittung … Ich verspreche dir, mein Verhalten zu verändern.«
Alexandra ordnete sich in den fließenden Straßenverkehr ein, und deswegen antwortete sie nicht sofort.
Später sagte sie: »Lil, mir musst du nichts versprechen. Wir sind Freundinnen, und so, wie wir zwei miteinander umgehen, passt alles, ist es perfekt. Du musst Lars gegenüber eine andere Haltung an den Tag legen. Ich gehe mal davon aus, dass du ihm eine fürchterliche Szene gemacht hast und im Krach davongelaufen bist. Ein Indiz dafür ist ja auch, dass du deinen Anrufbeantworter und dein Handy ausgeschaltet hast … Diesmal ist es dir geglückt, aus diesem Gefecht gehst du als Siegerin hervor. Aber Lil, für mein Dafürhalten ist es ein bitterer Sieg …, du hast Lars mehr oder weniger genötigt, und das ist nicht die feine britische Art. Irgendwann hat er die Nase voll von diesen andauernden Szenen, deinen Spielchen, und da musst vielleicht du dir keine Gedanken mehr darüber machen, ob du ihn verlassen willst, dann wird er es tun. Aber eines sage ich dir schon jetzt, komm dann nicht zu mir, um dich auszuheulen.«
»Alex, du hast recht, ich kann jedes deiner Worte unterschreiben, aber bitte, hör jetzt davon auf. Wenn du mir mein Fehlverhalten so vor Augen führst, dann muss ich mich ja schämen, eine so grässliche Person zu sein.«
Sie waren vor der Praxis angekommen.
Alexandra stellte für einen Augenblick den Motor ab.
»Lil, bedank dich wenigstens bei ihm dafür was er in die Wege geleitet hat, um mit dir zusammen sein zu können, um dir eine Freude zu machen. Nimm es nicht als Selbstverständlichkeit hin.«
Lil versprach es hoch und heilig, sie verabschiedeten sich voneinander, und Alexandra blieb stehen, bis ihre Freundin hinter der Tür der alten Villa verschwunden war, in deren Mauern sich die Praxis befand.
Erst dann startete Alexandra ihren Wagen wieder und fuhr los, diesmal aber endgültig in Richtung Heimat.
Hoffentlich beherzigte Lil wenigstens etwas von dem, was sie ihr gesagt hatte.
Es machte wirklich keinen Spaß, immer mit erhobenem Zeigefinger dazustehen wie eine strenge Lehrerin vor ihren Schülern. Aber sie kannte Lil, und sie wusste auch, dass ein fürchterliches Geschrei einsetzen würde, sollte der Doktor derjenige sein, der die Geschichte beendete.
Er hatte ihr seine Liebe mehrfach bewiesen, sich mit ihr verlobt. Das machte man nicht, weil man eine Frau an seiner Seite haben wollte, sondern wenn man die Frau liebte. Lars Dammer konnte an jedem Finger zehn Bewerberinnen haben.
Er war erfolgreich, attraktiv, und Ärzte, diese Halbgötter in Weiß, lösten bei Frauen ein ganz besonderes Entzücken aus.
Na ja, das war jetzt ein wenig übertrieben, als ein solcher Halbgott präsentierte Lars sich ja überhaupt nicht. Er trat seinen Patienten gegenüber in Zivilkleidung auf, weil er zwischen sich und ihnen keine Barriere aufbauen wollte. Sein Erfolg gab ihm recht, denn seine Patienten hatten sehr großes Vertrauen zu ihm.
Lil sollte sich da bloß nichts kaputt machen. Sie würde es bereuen, das war vorauszusehen, dazu musste man keine Hellseherin sein …
Alexandra hatte Kaimburg verlassen, die Landstraße erreicht, die zu ihrem geliebten Waldenburg führte.
Auf einmal hatte sie es so eilig dorthin zu kommen, dass sie ein wenig mehr Gas gab.
Der schwere Geländewagen schoss dahin, aber hierher kam keine Polizei mehr, denn jetzt befand sie sich auf der Privatstraße, die zum Besitz der Waldenburgs führte.
My home is my Castle …
Wie schön, dass es in ihrem Fall nicht nur sprichwörtlich so war, ihr Heim war wirklich ein Schloss, und was für ein schönes noch dazu.
Wieder verspürte sie in sich dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, als sie ihr Auto direkt neben dem Portal ausrollen ließ.
Ihr Vater sah das ja nicht so gern, er bestand darauf, die Autos immer sofort in die große Remise zu bringen.
Aber …
Ihr Vater war in der Toskana … Vielleicht würde sie den Wagen noch wegfahren, oder vielleicht würde sie auch jemanden vom Personal beauftragen. Vielleicht würde sie ja sogar noch mal wegfahren.
Das glaubte sie zwar nicht wirklich, aber …
Man sollte nie nie sagen.
*
Alexandra ging ins Schloss, durchquerte eilig die Halle, um in ihre Büroräume zu gehen. Irgendwie wirkte sie wie fremdgesteuert, denn das war, wenn sie nach Hause kam, eigentlich niemals ihr erster Weg.
Heute war es eben anders.
Sie warf ihre Tasche auf einen Sessel, und dann rannte sie zu ihrem Faxgerät.
Es waren mehrere Faxe angekommen, die sie allesamt ungelesen auf ihren Schreibtisch legte.
Sie wartete auf ein bestimmtes Fax!
Eigentlich hätte sie sich sagen müssen, dass es so schnell nicht kommen würde, aber ihre innere Stimme hatte recht.
Oliver hatte ihr den Flugplan und auch die freien Tage Mikes zusammen mit lieben Grüßen auch von Madeleine bereits aufs Fax gelegt.
Und er hatte dazugeschrieben…
Liebe Alexandra, Mike weiß nichts von allem.
Solche Informationen können wir bei unserer Zentrale mit einem Knopfdruck abrufen.
Übrigens, Mike hat heute frei …
Alexandra ließ sich auf ihren Stuhl fallen, starrte auf das Blatt.
Mike hat heute frei …
Hatte sie so etwas geahnt?
War sie deswegen sofort in ihr Büro gestürzt?
Hatte sie deswegen den Wagen nicht weggebracht, weil sie geahnt hatte, dass heute noch etwas passieren würde?
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen.
Würde denn etwas passieren?
Sie sah Mikes Gesicht vor sich, und auf einmal bekam sie eine ganz schreckliche Sehnsucht nach ihm.
Lil war mit ihrem Doktor zusammen.
Olaf war vermutlich dabei, Marions Brief zum hundertsten Male zu lesen.
Und sie?
Sie würde irgendwann in dem großen Speisezimmer allein ihr Essen einnehmen und dabei Einsamkeitsgefühle bekommen, später würde sie versuchen ein Buch zu lesen, es beiseite legen, weil sie sich doch nicht konzentrieren konnte.
Sie würde wie verrückt mit der Fernbedienung ihres Fernsehers herumzappen und sich schwarz ärgern, dass es wieder nur lauter Wiederholungen gab.
Irgendwann würde sie frustriert ins Bett gehen und nicht schlafen können, weil ihre Gedanken sich überschlugen.
Sie sollte über ihren Schatten springen und den Anfang machen, hatte Oliver ihr geraten.
Wollte sie das?
Nein, das ging doch überhaupt nicht. Sie musste daheimbleiben, denn Marion würde anrufen.
Alexandra war geradezu erleichtert, dass sie einen Grund hatte, nicht zu Mike fahren zu müssen.
Müssen …
Davon konnte doch überhaupt keine Rede sein. Niemand zwang sie zu irgendwas, wenn, dann würde sie es freiwillig tun. Und wenn sie nicht so feige wäre, wenn sie nicht diese Angst hätte, von ihm vielleicht abgewiesen zu werden, würde sie sich doch eingestehen, dass sie sich nichts mehr wünschte, als mit Mike einen Neuanfang machen zu können.
Sie stand auf, schob ihren Stuhl beiseite, da sah sie, dass sowohl auf ihrem Geschäfts- als auch ihrem zweiten Privattelefon der Anrufbeantworter aufblinkte.
Sie hörte zuerst die geschäftlichen Anrufe ab. Es war nichts Wichtiges. Alexandra notierte sich die Telefonnummern. Es reichte, wenn sie da morgen zurückrief.
Der letzte Anruf war von Marion.
»Alexandra, in deinem Büro bist du also auch nicht. Na ja, vielleicht hast du unterwegs noch was zu erledigen oder bist bereits zu Olaf gefahren, um ihm meinen Brief zu bringen …, danke noch mal. Aber bitte, hör deinen privaten Anrufbeantworter ab.«
Das ließ Alexandra sich nicht zweimal sagen.
Der einzige Anruf war der von Marion.
»Hallo, Alexandra, ich bin gut gelandet, danke noch mal für alles. Deine Eltern haben mich zusammen mit Michelle abgeholt. In Florenz gastiert ein Zirkus, und da wollen wir jetzt gleich noch hin. Heute rufe ich dann nicht mehr an, und ich denke auch nicht, dass deine Eltern sich melden werden … Ich bin über die kleine Verschnaufpause froh, dann muss ich mit ihnen wenigstens nicht über Ingo reden …, bis bald …, es war schön bei dir.«
Es machte Klick, Marion hatte aufgelegt.
Und sie, sie hatte jetzt keinen Grund mehr hierzubleiben und zu warten.
Sie musste eine Entscheidung treffen!
Warum hörte sie eigentlich nicht auf all die Zeichen, die so deutlich erkennbar waren?
Ihr Zusammentreffen mit Oliver, der ihr interessante Neuigkeiten berichtet hatte.
Sein ihr prompt geschicktes Fax.
Die Tatsache, dass Mike ausgerechnet heute seinen freien Tag hatte.
Und aus Italien würde heute kein Anruf mehr kommen.
War das nicht genug? Was erwartete sie jetzt noch?
Dass Mike hierherkommen würde, oder dass er mit einem Hubschrauber Schloss Waldenburg überfliegen und sich abseilen würde, um dann in ihre Arme zu fallen und ihr entgegenstammeln würde – ich liebe dich?
Oliver hatte es klar und deutlich ausgesprochen, dass Mike ganz entsetzlich litt und dass er sie noch immer liebte.
Er liebt dich …
Drei klare, einfache Worte, in die man nichts hineininterpretieren konnte. Man konnte sie auch nicht missverstehen.
Spring über deinen Schatten …
Auch das hatte Oliver gesagt und es war ebenso wenig zu missverstehen wie die Worte zuvor.
Es lag also bei ihr, ob es zwischen ihr und Mike einen Neuanfang gab.
Alexandra griff nach ihrer Tasche und verließ das Büro.
Was sollte sie bloß tun?
Was wollte sie wirklich?
Wie auch immer. Wenn sie sich dafür entscheiden würde zu Mike zu fahren, dann musste sie sich auf jeden Fall umziehen und ein wenig zurechtmachen.
Und dazu musste sie erst mal nach oben in ihre privaten Gemächer gehen, und auf dem Weg dorthin konnte sie sich ja überlegen, wie es nun weitergehen sollte, weitergehen mit ihr und Mike … Es gab nur zwei Möglichkeiten, Ende oder Neubeginn.
Wofür würde sie sich entscheiden?