Читать книгу Die junge Gräfin Staffel 2 – Adelsroman - Michaela Dornberg - Страница 9

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Alexandra von Waldenburg sah sich im Spiegel an, dann schüttelte sie den Kopf.

Nein, das war sie nicht!

Hier hatte sie einfach zu tief in den Farbtopf gegriffen. Sie ging nicht zu einem Fernsehauftritt, wo sie wegen der vielen starken Scheinwerfer mehr als üblich geschminkt sein musste.

Sie wollte zu Mike fahren, und der kannte sie eigentlich eher naturgelassen und würde sich sehr wundern, sie so zu sehen.

Also herunter mit allem.

Als Alexandra sich wenig später wieder ansah, war sie zufrieden. Ja, das war sie. Ein wenig Wimperntusche, Rouge und Lippenstift, das reichte vollkommen.

Das passte auch zu der beigen Leinenhose, dem weißen T-Shirt und der leichten Sommerjacke.

Und die Haare?

Mit denen machte Alexandra auch kurzen Prozess und bürstete sie nur einfach glatt herunter.

Jetzt konnte sie zufrieden sein.

Ja, mit ihrem Aussehen schon, aber ansonsten …

Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche Schnapsidee sie in die Tat umsetzen wollte.

Es war verrückt!

Aber dennoch wusste Alexandra, dass sie, wenn sie es jetzt nicht tun würde, die Finger ganz davon lassen würde. Und dann würde sie vermutlich ihr Leben lang von Vorwürfen der Art geplagt sein wie: warum habe ich nicht, hätte ich doch und ähnlich …

Sehr eilig verließ sie ihre privaten Wohnräume und rannte die Treppe hinunter.

Zum Glück sah sie niemanden vom Personal, der Köchin hatte sie Bescheid gesagt, dass sie zum Essen nicht daheim sein würde, und im Gegensatz zu Klara, die noch immer Urlaub hatte, schien es deren Vertretung nichts auszumachen. Im Gegenteil, Alexandra hatte den Eindruck, dass sie froh darüber war, wenn sie zum Essen nicht zu Hause war, das ersparte der Guten Arbeit.

Für Klara war ihr Beruf im wahrsten Sinne des Wortes Berufung. Sie liebte die Herausforderung, auch bei ihrer täglichen Arbeit, und selbst ein einfaches, von ihr zubereitetes Süppchen, war ein Hochgenuss.

Ihre Vertretung kochte nicht schlecht, sie machte es, weil sie dafür bezahlt wurde, lieferte gute handwerkliche Arbeit ab, mehr allerdings nicht.

Alexandra nahm es hin, aber bei ihren Eltern wäre die gute Frau damit nicht durchgekommen, die hätten mehr verlangt.

Ihre Eltern …

Während Alexandra in ihren Geländewagen stieg, der noch immer vor dem Eingangsportal stand, als hätte sie geahnt, dass sie noch mal wegfahren würde, dachte sie an sie.

Ihr Vater hatte ihr am Telefon erzählt, dass sie schweren Herzens Ingos Anwälten geschrieben hatten, wer sein leiblicher Vater war. Und nun würden die Dinge ihren Lauf nehmen.

Zunächst einmal würde es ihren Halbbruder wohl sehr freuen, dass sein Vater nicht irgendwer war, sondern aus einer sehr guten Familie stammte. Auch die von Dommelns gehörten zum alten Adel, und sie waren, was für Ingo wichtig war, sehr reich.

Aber …

Ingo würde ins offene Messer laufen, und niemand war dann an seiner Seite, um ihn aufzufangen. Er hatte es so gewollt, wie er alles gewollt hatte, was bisher geschehen war.

In seiner Sturheit, seiner Respektlosigkeit, aber auch in seiner Unverschämtheit hatte er einen tiefen Riss verursacht, der quer durch die Familie ging. Ihre Schwester Sabrina hatte es sich am einfachsten gemacht, sie hatte mit Ingo abgeschlossen, am ärgsten hatte es ihre arme Mutter getroffen, die ganz entsetzlich unter der Situation litt und deren Gesundheit dadurch bereits angegriffen war.

Ihr Leben im Ruhestand hatten ihre Eltern sich anders vorgestellt. Es hatte eine fröhliche, unbeschwerte Zeit sein sollen, frei von allen Verpflichtungen. Sie hatten nur füreinander da sein wollen, und endlich hatte Elisabeth von Waldenburg zum Zuge kommen sollen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, nachdem sie jahrzehntelang zurückgesteckt und ihrem Ehemann Benno den Rücken freigehalten, sich um die Kinder und die gesellschaftlichen Verpflichtungen gekümmert hatte.

Es fiel Alexandra immer wieder schwer daran zu denken, dass es ausgerechnet der sechzigste Geburtstag ihres Vaters gewesen war, an dem die Bombe eingeschlagen war.

Es hatte so festlich, so schön angefangen, und die Familie und die geladenen Gäste waren bester Stimmung gewesen. Und wie sehr ihr Vater sich an seinem Ehrentag gefreut hatte über dieses schöne Fest, das sie ihm im Ballsaal auf Schloss Waldenburg ausgerichtet hatte. Alle waren sie da gewesen, ihre Schwester Sabrina, schwanger mit dem vierten Kind, ihren drei kleinen Töchtern und ihrem Ehemann Elmar von Greven.

Ingo war verspätet mit seiner neuen Flamme gekommen und war sofort ins erste Fettnäpfchen getreten, als er sich über Sabrinas Schwangerschaft lustig gemacht hatte. Er war so dreist gewesen, sie und ihren Mann Elmar mit Kaninchen zu vergleichen, die sich auch so rasant vermehrten.

Und danach hatte er sich auch nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, als er Marion, seine Exehefrau gesehen hatte, die von Benno eingeladen worden war. Er hatte sie in Irland ausfindig gemacht, nicht nur sie, sondern auch die kleine Mi­chelle, die, wie sich rasch herausstellte, Marions und Ingos Tochter war. Ingo hatte es mehr oder weniger ungerührt zur Kenntnis genommen. Er hatte sich nicht ein einziges Mal mit Michelle beschäftigt, sie auf den Arm genommen, ein Wort an sie gerichtet. Nichts davon! Seine neue Freundin war ihm wichtiger gewesen. Im Grunde genommen hatte er nicht nur sein eigenes Kind missachtet, sondern auch die gesamte Familie links liegen gelassen.

Für ihn war dieser Geburtstag eine lästige Pflichtveranstaltung gewesen, die man schnell hinter sich bringen und dann wieder abreisen konnte.

Zunächst war es für niemanden überraschend gewesen, weder für die Familie, noch für die zahlreichen Gäste, als ihr Vater das Wort ergriffen hatte und sich für das schöne Fest und das Erscheinen der Gäste bedankte.

Was danach gekommen war, hatte allen den Boden unter den Füßen weggezogen, und damit hatte der Streit angefangen.

Benno von Waldenburg hatte vor allen verkündet, dass er sich ins Privatleben zurückziehen und zu seiner Nachfolgerin seine jüngste Tochter Alexandra, also sie, machen wollte!

Sie, nicht Ingo, den Ältesten!

Mit so etwas hatte niemand gerechnet, Ingo war wutentbrannt davongerannt und hatte seine Rechtsanwälte eingeschaltet, um zu seinem vermeintlichen Recht zu kommen.

Sie war wie benommen gewesen und hatte sich über die von Herzen kommenden Gratulationen nicht so recht freuen können.

Auch dann nicht, als sie erfahren hatte, dass Ingo, wäre er der Nachfolger ihres Vaters geworden, alles verkauft hätte. Er hatte schon im Vorfeld Grundstücksspekulanten, Bauunternehmer und Architekten nach Waldenburg geschickt, damit hernach alles ganz schnell gehen würde. Ingo wollte Geld, viel Geld, sonst nichts. Und er wollte frei sein von allen Verpflichtungen, die das Fortführen der Tradition nun mal mit sich brachten.

Ingo war ihr großer Bruder, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Sie hatte ihn ganz anders gesehen, sehen wollen, als er wirklich war. Die Demontage eines Denkmals tat weh.

Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Noch in dieser Nacht war durch eine unbedachte Äußerung ihres Vaters eine weitere Lawine ins Rollen gekommen!

Ein von ihren Eltern bis dahin streng gehütetes Geheimnis war ans Tageslicht gekommen …

Ingo war nicht der leibliche Sohn von Benno Graf von Waldenburg.

Seine Frau Elisabeth war mit ihm bereits schwanger gewesen, als sie sich kennengelernt hatten.

Niemand, wirklich überhaupt niemand, wäre auf den Gedanken gekommen, dass Ingo kein echter Waldenburg war. Benno hatte ihn geliebt wie einen leiblichen Sohn, und Elisabeth hatte ihn vergöttert.

Und Ingo wäre auch Bennos Nachfolger geworden, wenn er nicht versucht hätte, schon diese Vorverträge zu machen, hinter die Benno zufällig gekommen war.

Obschon Ingo radikal gegen seine Familie vorgegangen war, hatten sie alles versucht, eine Versöhnung herbeizuführen. Ingo hätte, ebenso wie bereits zuvor Sabrina, ein großes Vermögen geerbt, das ihm bis ans Ende seiner Tage ein sorgenfreies Leben ermöglicht hätte.

Aber das war ihm nicht genug, er wollte mehr, er wollte alles!

Alle Versuche, ihm schonend beizubringen, dass Benno nicht sein leiblicher Vater war, hatte er ignoriert. Er wollte mit der Familie nichts mehr zu tun haben, aber Geld zu nehmen, Bennos Unterschrift zu fälschen waren für ihn selbstverständlich, genauso wie die Dreistigkeit, illegal einen großen Baumbestand abholzen zu lassen.

Sie konnte es sich schönreden, sie konnte versuchen, ihm zu verzeihen. Wie ein Gentleman benahm Ingo sich nicht! Und da kam er wohl ganz auf seinen leiblichen Vater.

Er würde die von Dommelns aufsuchen in seiner großkotzigen Art und dort die erste Niederlage erleiden, indem man ihm sagen würde, dass man sich von Wolf losgesagt hatte.

Dann würde er seinen Vater ausfindig machen, und dann …

Alexandra lehnte sich zurück, schloss die Augen. Sie bekam Schweißausbrüche, wenn sie daran dachte.

Es würde wie ein Granatenhagel auf ihn herunterprasseln zu erfahren, dass sein leiblicher Vater Wolf von Dommeln ein Lebemann gewesen war, ein Zocker, der ein riesiges Vermögen durchgebracht hatte, wegen Betruges im Gefängnis war und nun auf Kosten des Staates in einem kleinen Appartement lebte, das ebenfalls vom Staat bezahlt wurde. Kurzum, Wolf von Dommeln war pleite, er besaß nichts mehr, ihm war nur sein Name geblieben, für den er sich allerdings jetzt auch nichts mehr kaufen konnte.

Es war alles ganz furchtbar, aber Ingo hatte auch das nicht anders gewollt. Marion war extra nach Deutschland gekommen, um es ihm im Namen seiner Mutter schonend beizubringen. Als er dahintergekommen war, dass seine Exfrau auf Schloss Waldenburg war, hatte er das Gespräch beendet.

Ingo, Ingo, dachte sie bekümmert, warum chaotest du bloß so herum?

All deine Probleme sind hausgemacht!

Wenn sie wüsste, dass Ingo das Waldenburg’sche Erbe im Sinne der Familie, der Tradition, weiterführen würde, dann hätte sie kein Problem damit, wieder zurückzutreten. Der Familienfrieden war ihr wichtiger als alles andere auf der Welt.

Leider war es nur Wunschdenken.

Ingo würde sich der Familientradition nicht beugen, er pfiff darauf, und durch ein solches Denken war er seinem leiblichen Vater wohl wirklich näher als den Werten, die sein bisheriges Leben begleitet hatten.

Alexandra merkte, wie ihre Gedanken sie immer tiefer hinunterzogen, wie sie traurig und unglücklich wurde, dabei war sie doch eigentlich auf dem Weg zu Mike, den sie überraschen wollte und mit dem sie auf einen Neuanfang hoffte.

Also, wenn sie wirklich zu Mike wollte, dann durfte sie jetzt nicht mehr an Ingo denken, dann musste sie endlich den Dingen ihren Lauf lassen, dann durfte sie ihren Bruder, den sie trotz allem noch immer liebte, nicht länger in Schutz nehmen, dann durfte sie nicht versuchen, für sein unmögliches Verhalten Entschuldigungen zu finden.

Ingo war wie er war!

Jetzt zeigte er seinen wahren Charakter!

Und wenn ihr Tradition, die Familie, Waldenburg so wichtig waren, und das war so, dann musste sie froh sein, dass es so gekommen war, dass man beizeiten Ingos Machenschaften aufgedeckt hatte!

Wenn es nach Ingos Vorstellungen gegangen wäre, hätten sie alles verloren, und dann hätte sie nicht nur ihre Heimat verlassen müssen, sondern sie hätte ihre Eltern nicht in der Toskana, sondern auf dem Friedhof besuchen können. Das hätten sie nicht überlebt.

Das musste sie sich immer vor Augen führen und Ingo endlich loslassen! Nicht lossagen! Das war ein Unterschied. Wenn er reumütig in den Schoß der Familie zurückkehren würde, konnte sie ihn mit offenen Armen empfangen und alles, was gewesen war an Unschönem, vergessen. Aber bis dahin durfte sie sich ihr Leben nicht vergiften lassen und Mutmaßungen anstellen, die sie allesamt nur herunterzogen. Und sie musste sich endlich von Schuldgefühlen freimachen für die es keinen Grund gab.

Ihr Vater hatte sie nicht bevorzugt, sondern so entschieden, wie es für den Fortbestand der Waldenburgs das Beste war.

Sie musste endlich anfangen stolz, glücklich und hocherhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen.

Sie war Alexandra Gräfin von Waldenburg, und auch das war ein Privileg, dass sie nach den Hausgesetzen der Familie den Titel Gräfin tragen durfte ohne verheiratet zu sein.

Das hatte sie Caroline zu verdanken, ihrer Ur-Ur-Großmutter, die ebenfalls jung und unverheiratet die Chefin des Hauses Waldenburg geworden war. Und das zu der damaligen Zeit!

Caroline hatte bestimmt nicht gezaudert, war verzagt gewesen und hatte sich an Widerständen aufgerieben.

Ingo, es tut mir leid, murmelte sie, während sie ihr Auto startete, jeder ist seines Glückes Schmied, und wenn du es vermasselt hast, dann kann ich nichts dafür. Ich lasse dich los, und ich höre jetzt auf, mir deinetwegen Sorgen zu machen oder deinetwegen Schuldgefühle zu haben.

Während sie die lange Schlossauffahrt in Richtung Straße fuhr, merkte Alexandra, wie sie sich allmählich entspannte.

Sie dachte nicht mehr an Ingo, sondern Mike kam ihr in den Sinn, Mike Biesenbach, der Flugkapitän, der sowohl in seiner feschen Uniform als auch lässig gekleidet in Jeans und Shirt umwerfend aussah. Doch mehr noch als von seiner Attraktivität war sie von seinem Charakter beeindruckt.

Mike gefiel ihr, er gefiel ihr sogar sehr …

Sie musste an Caroline denken. Die hätte sich durch nichts ins Bockshorn jagen lassen, auch nicht dadurch, dass ihr Auserwählter Probleme mit Gräfinnen und Schlössern hatte.

Sie musste viel mehr an Caroline denken, sie sich noch mehr zum Vorbild nehmen. Das brachte ihr einen Energieschub, und den benötigte sie jetzt in jeder Hinsicht, denn in ihrem Leben gab es einige Baustellen.

Alexandra machte ihr Autoradio an, und schon im ersten Sender wurde Musik gespielt, die ihr gefiel.

Einen der Songs mochte sie sogar so sehr, dass sie ihn leise mitsummte.

Ja, sie würde sich nicht unterkriegen lassen!

Und nichts würde sie mehr herunterziehen!

Sie wollte wieder so sein, wie sie gewesen war, ehe der ganze Ärger mit ihrem Bruder Ingo angefangen hatte …, positiv!

Ein neues Lied fing an, eine Frauenstimme sang voller Inbrunst »Ich bin stark«.

Na, wenn das kein gutes Omen war.

Alexandra beschleunigte das Tempo, sie hatte es auf einmal sehr eilig.

*

Je näher Alexandra Hornberg kam, Mikes Wohnort, umso mehr wurde sie von unterschiedlichen Stimmungen erfasst, die sich zwischen sentimentalem Wunschdenken und einer herzklopfenbereitenden Aufgeregtheit bewegten.

Die Aufgeregtheit nahm ständig zu, und als Alexandra schließlich in Hornberg angekommen war, nahm sie ihr beinahe den Atem.

Direkt vor Mikes Haus war ein Parkplatz, eine Lücke, die groß genug war für zwei Autos.

Alexandra wusste nicht warum, wie unter einem Zwang fuhr sie um die Ecke, und es dauerte eine Weile, ehe sie aussteigen konnte.

Sie musste innerlich erst zur Ruhe kommen.

Gleich!

Gleich würde sie bei Mike klingeln!

Was würde er sagen, wenn sie so unerwartet vor ihm stand? Und wie würde sie sich verhalten? Ihm einfach ganz spontan um den Hals fallen oder nervös herumdrucksen.

Alexandra hatte nicht die geringste Ahnung!

Die Zeit verging, bis ihr bewusst wurde, dass sie noch immer in ihrem Auto saß.

Also, deswegen war sie nun wirklich nicht hergekommen, um dumm hier herumzusitzen.

Ein wenig steif vor innerer Anspannung schwang sie sich aus ihrem Fahrzeug, dann lief sie geradezu im Schneckentempo los.

Schritt für Schritt, um die Ecke, auf Mikes Haus zu.

Sie spürte, wie sie anfing zu zittern. Ihr Vorhaben kam ihr auf einmal mehr als abenteuerlich vor.

Weswegen war sie hier?

Im Grunde genommen, weil Oliver, Mikes Freund, sie dazu ermuntert hatte.

Mike liebt dich …

Mit diesem Satz hatte er sie geködert, und sie war voll darauf angesprungen.

Und jetzt stand sie kurz vor seiner Haustür und hatte ein Problem weiterzugehen.

Alles hatte sich heute erst ereignet!

War es nicht voreilig, sofort loszudüsen und sich vielleicht unüberlegt in seine Arme zu werfen?

An seinen Gefühlen hatte sie niemals gezweifelt, und er hatte sie im Grunde genommen doch auch bestätigt, als er gegangen war. Die Trennung hatte nichts mit ihr, mit Gefühlen zu tun … Nein, der einzige Grund war, dass sie Gräfin und Schlossherrin war!

Mike hatte ein gestörtes Verhältnis zum Adel, ohne überhaupt etwas darüber zu wissen. Er hatte sich etwas in seinem Kopf zusammengereimt und Komplikationen vorausgesehen wo es überhaupt keine gab.

Wäre sie Sekretärin in einem Büro, würde in einem Appartement oder einer kleinen Wohnung leben, hätte sie vermutlich bereits einen goldenen Ring am Finger ihrer linken Hand.

So war Mike …

Normalerweise wäre es doch umgekehrt! Jeder andere Mann würde sich glücklich preisen, von ihr geliebt zu werden.

Olivers Worte kamen ihr in den Sinn, dass Mike längst alles bereut habe, sich seines pubertären Verhaltens schäme …

Es waren Worte aus zweiter Hand, nicht Mike hatte sie ihr gegenüber ausgesprochen, und nicht er war gekommen.

Obschon er, wie Oliver sagte, und warum sollte sie ihm nicht glauben, litt, fand Mike nicht den Weg zu ihr.

Und sie selbst?

Ohne Oliver wäre sie ihn auch nicht gegangen, da hätte sie weiter herumgejammert und wäre traurig gewesen, Mike aus einem so dummen Grund verloren zu haben.

Sie konnte ihm zuliebe weder ihren Titel ablegen noch aus Schloss Waldenburg ausziehen.

Selbst wenn sie es ihm zuliebe tun wollte, ginge es nicht, denn sie war doch ganz offiziell die Chefin des Hauses Waldenburg, das sie für die nächste Generation bewahren musste. Das bedeutete neben Verantwortung auch Pflicht. Und wenn man wie sie ein verantwortungsbewusster Mensch war, dann musste man eben die Pflicht über die Liebe stellen.

So war sie erzogen worden, hatte es praktisch mit der Muttermilch eingesogen. Und das war wohl auch einer der Gründe dafür, dass die großen alten Adelsfamilien seit Generationen auf ihren Schlössern lebten und die Tradition immer weitergaben, nicht als etwas Lästiges, sondern Wertvolles, was ein Weiterleben im gewohnten Rahmen möglich machte.

Wie erwachend strich Alexandra sich über die Stirn. Sie musste nun auch noch die letzten Meter zurücklegen und konnte hier nicht stehen bleiben und Wurzeln schlagen.

Also ging sie langsam weiter zur Haustür, starrte auf den Namen M. Biesenbach auf dem obersten Klingelschild.

Sie atmete tief durch, ihre Hand ging nach oben, mit dem Daumen rechts wollte sie auf den runden Knopf drücken, als sie plötzlich innehielt.

Sie konnte es nicht.

Es war verrückt, aber sie war wirklich nicht in der Lage, hatte nicht die Kraft, jetzt einfach zu klingeln und mit einem fröhlichen, unverbindlichen Hallo Einlass zu begehren.

Es ging nicht!

Es war ja nicht so, dass sie ihn besuchen und mit ihm Kaffee oder etwas anderes trinken wollte.

Wenn sie durch seine Tür schritt, da ging es um mehr. Da musste sie sich absolut sicher sein, dass sie sich auf ihn einlassen wollte, gegen Vorbehalte ankämpfen, da musste es für mehr sein als einen stundenweisen Besuch.

Auf sentimentale Weise wollte sie Mike. Sie hatte sich in seiner Nähe, seinen Armen wohlgefühlt. Sie hatte seine Küsse genossen und mit ihm lachen können, was ja auch wichtig war.

Nur …

Wollte sie ihn wirklich oder nur aus einem Einsamkeitsgefühl heraus und er der einzige Mann war, bei dem sie Nähe und Gefühle zulassen konnte und wollte.

Warum dachte sie jetzt so?

Auf dem Weg hierher war sie sich doch sicher gewesen. Warum also dann jetzt diese Zweifel?

Weil es da in ihr, versteckt und in eine Kiste gesperrt und abgeschlossen, noch immer den Gedanken an Joe gab, den geheimnisvollen Mann, der ihr Herz und ihre Seele berührt hatte und der auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwunden war, nachdem ein zweites Treffen wegen eines unvorhergesehenen Verkehrsunfalls nicht stattgefunden hatte?

Nein, das war es wohl nicht. Sie hatte sich nach Joe von Mike küssen lassen, und der war doch sehr präsent gewesen und hatte ihr Herz höherschlagen lassen.

Wieder wollte sie klingeln, und wieder ging es nicht.

Resigniert wandte sie sich ab.

Sie war zu überstürzt losgefahren, sie hatte halt für sich auch ein Zipfelchen Glück erhaschen wollen, nachdem Liliane sich mit ihrem Doktor versöhnt hatte und Olaf und Marion vom Blitzschlag der Liebe getroffen worden waren.

Alexandra blickte hinauf zu Mikes Wohnung.

Er war daheim, denn die meisten seiner Fenster standen auf Kipp, und die Terrassentür war offen.

Sollte sie sich überwinden und umkehren?

Sie blieb kurz stehen, dann setzte sie ihren Weg fort.

Nein, solange sie sich nicht absolut sicher war, hatte das keinen Zweck, da tat sie sich und auch ihm keinen Gefallen.

Niemand wusste, dass sie hier war, und deswegen musste sie sich auch vor niemandem rechtfertigen, weil sie feige, vorsichtig oder wie immer man es auch bezeichnen wollte, gewesen war und nicht geklingelt hatte.

Es war nicht Mikes einziger freier Tag, er hatte noch mehr davon.

Sie kannte den Weg hierher und konnte jederzeit wieder herkommen, und vielleicht war sie sich das nächste Mal klarer über das was sie wollte oder aber sie brachte den Mut auf, über ihren Schatten zu springen.

Alexandra lief ohne Eile zurück zu ihrem Auto, wendete, und als sie an Mikes Haus vorbeikam, schaute sie noch einmal ganz sehnsuchtsvoll nach oben.

Jetzt, dachte sie, wäre sie mit dem Fahrstuhl schon oben angelangt. Mike hätte die Tür geöffnet, sie überrascht angesehen und dann liebevoll in seine Arme genommen. Und sie …, sie hätte sich an ihn geschmiegt und sich gewünscht, in seinen Küssen zu ertrinken.

Halt!

War sie denn ganz verrückt geworden?

Das, was sie jetzt veranstaltete, grenzte schon sehr stark an Masochismus.

Niemand hatte sie weggeschickt.

Alles, was sie sich jetzt sehnsuchtsvoll zusammenfantasierte, hätte sie haben können.

Ein Druck auf den Klingelknopf hätte dazu ausgereicht …

Alexandra machte ihr Autoradio an.

Die Stimme eines Nachrichtensprechers meldete eine Katastrophe irgendwo am anderen Ende der Welt.

Bitte, es passte doch, dachte Alexandra, ehe sie entschlossen das Radio wieder ausmachte. Sie wollte nichts über Katastrophen hören, es genügte schon, dass sie ihre eigene hatte.

Sie zwang sich, nicht an Mike zu denken, als sie wieder in Richtung Heimat fuhr, und sie wollte auch nicht daran erinnert werden, dass sie feige – oder war es klug vorausblickend gewesen?, das Weite gesucht hatte.

Zu Hause angekommen, ging sie in ihren geliebten Salon, den sie für sich hergerichtet hatte, als ihr klar geworden war, dass ihr großes Vorbild Caroline sich hier am liebsten aufgehalten hatte.

Sie schenkte sich einen trockenen Sherry ein und setzte sich hin.

Alexandra fühlte sich müde und erschöpft, und das lag nicht an der Autofahrt, die so vollkommen umsonst gewesen war.

Nein, es war eine innere Müdigkeit.

Wie hätte wohl Caroline sich verhalten?, schoss es ihr unwillkürlich durch den Sinn. Sie hatte die Antwort sofort parat – Caroline hätte die Herausforderung angenommen, sie wäre nicht feige geflüchtet.

Alexandra trank noch einen Schluck.

Ja, ja, sie hatte noch viel zu lernen. So sehr sie in ihrem täglichen Leben auch funktionierte und ihre Sache ganz hervorragend machte, im emotionalen Bereich gab es noch einige Defizite, an denen sie unbedingt arbeiten musste.

Warum war das eigentlich so?

Lag es daran, dass sie bislang immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hatte und es die ersten Niederlagen mit dem unbekannten Joe, Mike und natürlich, und das schmerzte am tiefsten, ihrem Bruder Ingo gegeben hatte?

Sie hätte nicht davonlaufen sollen, sondern Mike treffen …

Dafür war es jetzt zu spät, solche Gedanken konnte sie sich ersparen.

Es war ganz einfach, sie hatte es vermasselt …

Dieser Gedanke war so unerträglich, dass sie aufstand und den Raum verließ.

Sollte sie hinauf in ihre Zimmer gehen?

Nein, das brachte nichts, sie würde ihre Gedanken bloß eine Etage höher mitnehmen.

Ein Spaziergang!

Ja, das war genau das Richtige. Sie würde durch den Park laufen und die Geräusche der hereinbrechenden Nacht in sich aufnehmen, und dabei würde sie an nichts und niemanden denken, nur für sich sein.

Es war die Zeit der Sternschnuppen.

Wer weiß, vielleicht fiel ja gerade eine herunter?

Nun, wenn es so sein sollte, dann war sie gewappnet.

Sie wusste ganz genau, was sie sich dann wünschen würde …

*

Es hatte keine Sternschnuppe gegeben, und wider Erwarten hatte Alexandra in der Nacht auch gut schlafen können.

Sie zwang sich am nächsten Morgen nicht an Mike zu denken und ihren Ausflug nach Hornberg, von dem sie unverrichteter Dinge wieder zurückgekommen war.

Ein langer morgendlicher Ausritt mit ihrem Lieblingspferd Ferial hatte ihren Kopf freigemacht, und nach einem ausgiebigen Frühstück mit sehr viel heißem, starkem Kaffee war Alexandra voller Tatendrang, als sie sich an ihren Schreibtisch setzte.

Peter Zumbach, die gute Seele der Waldenburg’schen Forstbetriebe, hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie die verschandelte Waldparzelle zehn wieder in einen ordentlichen Zustand gebracht werden konnte, nachdem Ingo dort wie ein Geistesgestörter illegal hatte abholzen lassen.

Alexandra war so sehr in diese Aufzeichnungen vertieft, dass sie das Klingeln des Telefons zunächst nicht bemerkte.

Im letzten Moment hörte sie es und meldete sich.

»Guten Morgen, mein Kind.«

Es war ihr Vater.

»Ich dachte schon, dass du noch nicht an deinem Arbeitsplatz bist. Nun ja, auch nicht verwunderlich, es ist ja noch sehr früh. Aber ich weiß ja, dass du zu den Frühaufstehern gehörst und nach dem Motto lebst – der frühe Vogel pickt das Korn.«

Alexandra kicherte, weil sie in diesem Augenblick an ihre Freundin Liliane denken musste, die diesen Satz abwandelte in ein – der frühe Vogel kann mich mal.

Aber das durfte sie ihrem Vater jetzt nicht sagen.

»Du bist ja richtig gut gelaunt«, bemerkte Benno von Waldenburg.

»Ja, Papa, es geht mir gut, ich habe einen langen Ausritt mit Ferial hinter mir. Das macht den Kopf frei und vertreibt alle Sorgen. Aber, allein macht es nicht so viel Spaß, du fehlst mir dabei, Papa. Erinnerst du dich an unsere täglichen Ausritte am frühen Morgen, wenn der Tau noch auf den Wiesen lag und die Natur zum Leben erwachte und die Vögel uns mit ihren Liedern begleiteten?«

»Ich erinnere mich, mein Kind, ich erinnere mich. So lange ist das ja auch nicht her. Und, liebste Alexandra, du kannst es schon sehr bald wieder haben.«

»Papa, was willst du damit sagen?«

»Nun, nichts anderes als dass Mama und ich uns entschlossen haben, unsere Zelte hier erst einmal wieder abzubrechen. Solange es den Ärger um Ingo gibt, kommen wir hier nicht zur Ruhe, da ist es besser auf Waldenburg zu sein, näher am Geschehen … Wir hatten es uns anders vorgestellt. Elisabeth gefällt mir gar nicht, sie nimmt sich alles viel zu sehr zu Herzen, ihre Gesundheit ist angeschlagen, da ist es besser in der Nähe von Ärzten zu sein, die sie kennt und denen sie vertraut.«

»Papa, um Gottes willen, so schlimm steht es um Mama?«, rief Alexandra entsetzt aus.

Benno von Waldenburg beruhigte seine Tochter sofort.

»Nein, nein, bitte jetzt keine Panik. Es ist von meiner Seite aus eine reine Vorsichtsmaßnahme …, uns läuft nichts davon. Irgendwann wird die Sache mit Ingo ausgestanden sein, und dann können wir noch mal von vorne beginnen … Im Übrigen hat Marion uns erzählt, dass sie sich unsterblich verliebt hat. Die wird vermutlich auch gern in der Nähe ihres Herzallerliebsten sein wollen. Ich war auch mal jung und kann mich daran erinnern, wie sehnsuchtsvoll man ist im Zustand erster Verliebtheit.«

»Dann hast du nichts dagegen, Papa?«

»Alexandra, ich verstehe jetzt deine Frage nicht. Wogegen sollte ich etwas haben?«

»Na ja, dass mit Marion und Olaf Christensen.«

Er lachte belustigt.

»Aber Kind. Marion ist nicht unsere Leibeigene, sie kann tun und lassen was sie will. Mama und ich sind glücklich darüber, dass sie sich wieder verliebt hat. Wenn jemand ein neues Glück verdient hat dann doch wohl Marion, sie hat an Ingos Seite genug mitgemacht und sein Fremdgehen und seine Demütigungen ertragen … Dieser Christensen scheint ein netter, gestandener und gebildeter Mann zu sein.«

»Papa, er wird dir gefallen. Olaf ist großartig, wir sind miteinander befreundet.«

»Nun, ich werde ihn kennenlernen. Übrigens, Alexandra, ich werde dir in nichts hineinreden. Schloss Waldenburg ist groß, wir haben alle unseren eigenen Bereich und können uns, wenn wir wollen, aus dem Weg gehen.«

Alexandra widersprach ihrem Vater sofort ganz entschieden.

»Und wenn ich das überhaupt nicht will, Papa? Ich freue mich wahnsinnig darauf, euch hier wieder in meine Arme zu schließen, und ich baue auf deine Hilfe. Papa, ich mache mit Freuden deinen Schreibtisch wieder frei und kehre an meinen eigenen zurück. Ich bemühe mich zwar redlich, aber die Fußstapfen, die du zurückgelassen hast, sind wirklich noch entschieden zu groß für mich.«

»Alexandra, ich habe es dir schon mal gesagt, du bist eine Persönlichkeit, jemand, der zu den allergrößten Hoffnungen berechtigt. Du brauchst keine fremden Fußstapfen, du hast deine eigenen. Du musst niemandem nachlaufen, sondern du kannst deinen eigenen Weg finden und gehst ihn ja schon. Ich bin unglaublich stolz auf dich, meine Kleine.«

Alexandra wurde rot bei dem Lob ihres Vaters, aber es freute sie natürlich auch ungemein. Sie bewunderte ihn, er war neben Caroline ihr ganz, ganz großes Vorbild. Sie wollte ihm schon gefallen, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass er seinen Entschluss, sie zu seiner Nachfolgerin zu bestimmen, niemals bereuen würde. Dafür würde sie alles tun.

»Danke, Papa«, rief sie, doch dann wollte sie nicht mehr über sich reden.

»Und wann kann ich mit euch rechnen, Papa?«, erkundigte sie sich.

Benno von Waldenburg lachte.

»Langsam, langsam, mein Kind. So schnell schießen die Preußen nicht. Zuerst werden wir dir Marion und Michael schicken. Mama und ich brauchen schon noch ein paar Wochen. Mama hat doch diesen Malkurs belegt, den will sie auf jeden Fall zu Ende bringen. Das mit Ingo wird sich ja wohl noch eine Weile hinziehen, der will mit dem Kopf durch die Wand, und vermutlich gibt er erst Ruhe, wenn er abgestürzt ist und unten am Boden liegt. Dieser dumme, dumme Junge. Er könnte ein so schönes Leben haben, und niemand will ihm streitig machen, ein Waldenburg zu sein. Er war es sein Leben lang und so kann es bis ans Ende seiner Tage bleiben, und seinen Platz in meinem Herzen wird er auch nicht verlieren, auch wenn ich ihn am liebsten übers Knie legen würde … Er ist und bleibt mein Sohn, Alexandra, auch wenn ich nicht sein leiblicher Vater bin.«

Alexandra konnte ihre Tränen nicht zurückhalten.

So war ihr Vater!

Liebevoll hielt er an denen fest, die ihm etwas bedeuteten. Es machte sie so unendlich froh, dass er, im Gegensatz zu Sabrina, Ingo noch nicht aufgegeben hatte.

»Papa, ich bin so froh darum«, sagte sie leise. »Ingo schadet sich mit allem, was er tut nur selbst. Er reitet sich immer tiefer in sein Unglück rein und lässt keinen von uns an sich heran. Nicht einmal Mama, mit der er immer ein Herz und eine Seele war. Wer wird da sein und ihn auffangen, wenn er erfährt, was mit seinem leiblichen Vater wirklich los ist. Wie wird er das verkraften?«

»Alexandra, darüber darfst du dir den Kopf nicht zerbrechen. Es geschieht alles so, wie es will. Selbst wenn wir es versuchen würden, ihm hilfreich zur Seite zu stehen, hätte das zur Folge, dass er uns seine Anwälte auf den Hals schicken würde mit einer Klageandrohung oder sofort mit einer Klage. Über Marion können wir auch nichts mehr versuchen. Seit er weiß, dass sie weiterhin mit uns in Verbindung steht, will er mit ihr auch nichts mehr zu tun haben. Nur die Zeit kann für uns arbeiten.«

Es gab noch immer eine Frage, die Alexandra auf der Seele brannte, und die stellte sie ihrem Vater jetzt:

»Papa, wir haben nicht mehr darüber gesprochen …, wirst du etwas gegen Ingo unternehmen? Ich mein wegen der Fälschung deiner Unterschrift und weil er den Wald illegal hat abholzen lassen und dadurch einen großen Schaden verursachte.«

Benno von Waldenburg seufzte.

»Meine Anwälte haben mir dazu geraten, aber ich habe mich dagegen entschieden. Der Name Waldenburg soll nicht in Gerichtsakten auftauchen. Wenn Ingo sich allerdings noch mal etwas zuschulden kommen lässt und in unsere Richtung schießt, dann gebe ich grünes Licht. Dann ist es mit meiner Geduld zu Ende. Das haben ihm unsere Anwälte auch unmissverständlich mitgeteilt.«

Das hörte sich gut an.

Während ihres letzten Telefonats hatte ihr Vater noch gedroht, Ingo anzuzeigen.

»Bist du jetzt enttäuscht?«, wollte Benno von Waldenburg wissen, weil Alexandra nichts dazu sagte.

»Nein, Papa, ich bin froh darum. Ingo hat zwar einen großen materiellen Schaden angerichtet. Bei einer Anzeige hätte es einen Prozess gegeben, Ingo wäre verurteilt worden und dadurch wäre er vorbestraft. Ein Waldenburg mit einer Vorstrafe, so etwas geht nicht. Man weiß ja nicht, was noch kommt. Es kann doch sein, dass Ingo irgendwann mal ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen muss, auf dem sieht ein dunkler Fleck nicht gut aus.«

»Alexandra, wir wollen es nicht schönreden. Was Ingo getan hat ist eine Straftat, und normalerweise muss so etwas auch geahndet werden. Und ich sage es jetzt noch mal: Wenn er noch etwas in dieser Richtung unternimmt, dann ist es mit meiner Rücksichtnahme vorbei. Ingo ist nicht dumm, er weiß, was er tut, und er kann sich in uns hineindenken und weiß, dass wir, um unseren guten Namen zu schützen, beide Augen zudrücken. So etwas geht nicht unendlich, der Esel geht so lange aufs Eis tanzen bis es bricht. Es ist kurz davor. Aber lass uns jetzt nicht weiter darüber reden. Sonst verdirbt es dir noch die gute Laune.«

Dass die eigentlich schon wieder dahin war, wollte sie ihrem Vater jetzt nicht sagen. Aber es war wie verhext, sobald das Gespräch auf Ingo kam, zog es sie herunter und alles Schöne war weg. Sie sah nur noch die Probleme, den Ärger mit ihrem Bruder, der wirklich die ganze Familie schaffte.

»Ist schon in Ordnung, Papa«, beeilte Alexandra sich rasch zu sagen, »die Aussicht, euch bald wieder hier zu haben, macht mich so richtig froh. Dann ist es mit den einsamen Abenden vorbei, dann können wir wieder Schach miteinander spielen, uns unterhalten, auch Klara wird sich freuen, weil ihre Kochkünste durch euch wieder so richtig geschätzt werden.«

»Auf das Essen, von der guten Klara zubereitet, freuen wir uns natürlich sehr. Aber du, mein Kind, du darfst dein Leben nicht mit uns Alten vertrödeln. Such dir einen Partner, du bist jung, klug, attraktiv …, da muss es doch auf der Welt jemanden geben, mit dem du glücklich werden kannst.«

Sie wollte ihrem Vater jetzt nicht sagen, dass sie bei der Partnerwahl offensichtlich kein so glückliches Händchen hatte.

»Ach, Papa, wenn es sein soll, dann wird man schon jemand begegnen. Noch habe ich keinen Leidensdruck. Bitte, mach dir meinetwegen bloß keine Sorgen. Manchmal geht es ratzfatz, das beste Beispiel dafür ist Marion. Sie kam nach Deutschland, um mit Ingo zu reden. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, sich unsterblich zu verlieben.«

Er lachte.

»Du hast recht. Und wenn ich zurückdenke, dann war es mit Mama und mir auch nicht anders. Ich sah Elisabeth und wusste, dass das die Frau war, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, und es hat mir überhaupt nichts ausgemacht, dass sie das Kind eines anderen Mannes unter ihrem Herzen trug. Wenn man wirklich liebt, dann fragt man nicht seinen Verstand, sondern lässt nur sein Herz sprechen.«

Sie dachte an Mike.

Sowohl sie als auch er hatten den Verstand die Überhand gewinnen lassen. Was würde passieren, wenn sie ihn nun einfach ausschalteten?

Dann war es egal, wer den ersten Schritt tat, dafür gab es keine Reihenfolge.

»Du hast recht, Papa. Aber glaubst du wirklich, dass Paare so glücklich miteinander werden wie du mit Mama? Das ist doch wohl eher die Ausnahme. Liliane war in Amerika verheiratet, ihre Ehe ist gescheitert, ebenso die von Marion und Ingo. Und Hubertus von Greven hat auf seine große Liebe verzichtet und ist eine standesgemäße Ehe eingegangen, die funktioniert hat, weil man sich arrangierte.«

»Bei Sabrina und Elmar funktioniert es«, warf Benno ein. »Ich denke schon, dass sie glücklich miteinander sind.«

»Papa, mal ganz ehrlich, wären sie es auch, wenn die äußeren Voraussetzungen nicht stimmen würden? Elmar ist standesgemäß, reich … Wäre Sabrina an der Seite eines …, meinetwegen technischen Zeichners in einer Vierzimmerwohnung auch glücklich?«

Wieder lachte Benno.

»Jetzt ist es aber gut, du darfst nicht alles hinterfragen. Die beiden haben sich gefunden, und es passt. Das ist es doch, was zählt. Es ist wie es ist, niemand will wissen was gewesen wäre wenn.«

Ihr Vater hatte recht. Sie dachte manchmal wirklich ein wenig um die Ecke und machte sich vermutlich das Leben unnötig schwer.

Rasch wechselte sie das Thema und erzählte ihrem Vater von den Vorschlägen des Forstwirtes.

Jetzt war sie bei einem Thema, zu dem sie voll und ganz stehen, und bei dem sie ihren klaren Verstand einsetzen konnte.

Im geschäftlichen Bereich machte ihr niemand etwas vor, zum Glück.

*

In den nächsten Tagen nahm Alexandra Mikes Flugpläne mehr als einmal in die Hand und schaute sie sich an, und sie wusste demzufolge auch, dass sein nächster freier Tag der Samstag war.

Was sollte sie denn tun? Wieder nach Hornberg fahren, um mit ihm zu reden?

Ihr Vater hatte gesagt, dass man in Gefühlsdingen einfach den Verstand ausschalten und auf sein Herz hören sollte.

Wenn sie das tat, dann stellte sich die Frage, ob oder ob nicht, überhaupt nicht. Dann war die Antwort ein eindeutiges, klares Ja.

Warum also zögerte sie noch immer und plante den Samstag nicht schon jetzt für Mike ein?

Alexandra zuckte zusammen, als ihr Telefon klingelte.

Die Anruferin war ihre Schwester Sabrina.

»Alexandra, ich habe gerade mit Mama telefoniert, und die hat mir gesagt, dass sie vorübergehend wieder nach Deutschland zurückkommen wollen, bis die leidige Angelegenheit mit Ingo vorbei ist. Ich habe ihr sofort gesagt, dass sie dann auf jeden Fall für einige Zeit zu mir kommen müssen. Meine Töchter sollen endlich was von ihren Waldenburg-Großeltern haben. Ich will nicht, dass sie Mama und Papa vergessen und sich irgendwann nur an den Opa Hubertus erinnern.«

»Sabrina, sie werden sicher zu euch kommen, aber du musst keinen so fadenscheinigen Grund vorschieben. Anna und Celia sind groß genug, um sich immer an ihre Großeltern mütterlicherseits zu erinnern, und ich bin überzeugt davon, dass auch die kleine Melanie sie wiedererkennen wird. Elisabeth ist noch zu klein, die kann man noch nicht ins Feld führen. Ich glaube, liebe Schwester, du willst vorbauen und hast Angst, ich könnte protestieren, wenn du unsere Eltern, kaum in Deutschland, zu dir locken willst. Keine Sorge, Sabrina, ich gönne es dir von Herzen, sie für eine Weile bei dir zu haben, und vor allem gönne ich es den Kindern, aber auch Mama und Papa. Sie finden durch die Kleinen Ablenkung, und mit Hubertus verstehen sie sich auch gut.«

Sabrina lachte.

»Was bist du doch für ein kluges Mädchen«, rief sie, »du hast mich in der Tat durchschaut. Aber weißt du, ich habe eine so schreckliche Sehnsucht nach ihnen, ganz besonders nach Mama. Man kann so alt sein wie man will, kann selber schon Kinder haben. Die Eltern bleiben die Eltern … Apropos Eltern, Hubertus wird in die USA reisen und Ariane besuchen.«

»Moment mal, Sabrina, bedeutet das, dass Elmar wieder daheim ist und seinem Vater von seiner Mission berichtet hat?«

»Stimmt, und Hubertus war überglücklich und sehr gerührt. Ich glaube, dass mein Elmar jetzt bei seinem Vater die allerbesten Karten hat.«

Bei Alexandra gingen alle Alarmglocken an, sie kannte die Greven-Brüder, die waren allesamt hinter dem Geld her wie der Teufel hinter der armen Seele, wenngleich Elmar nicht so schlimm war wie seine Brüder.

»Aber deswegen ist Elmar doch hoffentlich nicht nach Amerika gereist, um Ariane ausfindig zu machen?«

»Nein, nein, beruhige dich, Alexandra, ich hab das jetzt so ein bisschen schnodderig dahergesagt. Elmar ist mit den besten Absichten geflogen. In erster Linie wollte er wirklich seinem Vater eine Freude machen, aber er hat sich auch geschämt, dass er und seine Brüder ihre Halbschwester Ariane praktisch aus Greven weggemobbt haben. Das hat Elmar wirklich belastet, er hat einen sehr weichen Kern, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick erkennt. Auf jeden Fall bin ich froh, ihn wieder hier zu haben. Ich habe ihn sehr vermisst, weißt du, dass es das allererste Mal war, dass er ohne mich irgendwo war? Ich mein privat, geschäftliche Reisen zählen ja nicht. Und du glaubst überhaupt nicht, wie sehr die Kinder sich gefreut haben, ihren Papa wiederzusehen … Er hat ihnen auch Geschenke mitgebracht, und stell dir vor, die hat er allein ausgesucht.«

»Sabrina, dein Mann steigt in meiner Achtung.«

»Wie meinst du das jetzt?«, erkundigte Sabrina sich misstrauisch.

»So wie ich es gesagt habe, ehrlich. Ich mag Elmar. Als Schwager ist er großartig, als Mann hätte ich ihn mir nicht ausgesucht.«

»Zum Glück nicht, er hätte auch nicht zu dir gepasst, und das liegt in erster Linie daran, dass auch wir zwei grundverschieden sind. Du bist wie Papa, eine Waldenburg durch und durch.« Sie kicherte. »Wenn Papa eine Frau wäre, dann hätte er Elmar auch nicht genommen.«

Mit dieser lustigen Bemerkung endete das Telefonat, denn auf einmal war im Hintergrund ein ganz fürchterliches Gebrüll zu hören, was Sabrina veranlasste, ganz schnell zu sagen: »Du, ich muss Schluss machen. Anna und Celia streiten miteinander, wenn ich da jetzt nicht eingreife, geht es böse aus. Wir telefonieren wieder miteinander, also dann, mach’s gut. Auf bald.«

Lächelnd legte Alexandra ihr Telefon weg.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Telefonat mit ihrer Schwester auf diese Weise endete.

Wenn man kleine Kinder hatte, da gab es immer mal einen Machtkampf, einen kleinen Streit, vielleicht auch einen großen, den es zu schlichten gab.

Sabrina war darin ganz große Klasse und ganz souverän.

Das hat sie sich Mama abgeguckt, dachte Alexandra, denn auch Mutter hatte es immer wieder geschafft, sie nach einem Streit miteinander zu versöhnen.

Sie hatten sich zwar immer gut verstanden, Ingo, Sabrina und sie als das Nesthäkchen. Aber Engel waren sie beileibe auch nicht gewesen.

*

Alexandra hatte es sich gerade mit einem Buch auf ihrem Sofa gemütlich gemacht, als ihr Telefon klingelte.

Eigentlich wollte sie es schon klingeln lassen, weil sie keine Lust hatte, heute noch mit jemandem zu reden. Doch eine innere Stimme riet ihr plötzlich, doch dranzugehen.

Ihr Herz blieb fast stehen, als sie die Stimme des Anrufers erkannte.

Sie hätte mit allem gerechnet, aber ganz gewiss nicht mit ihm.

Es war Mike!

»Hallo, Alexandra, ich störe dich doch hoffentlich nicht?«, wollte er wissen.

Welche Frage!

»Natürlich nicht, Mike. Schön, dass du dich meldest. Wo bist du?« So oft, wie sie seine Flugpläne gelesen hatte, hätte sie das jetzt eigentlich wissen müssen, aber in ihr war alles ausgelöscht. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass er am Samstag frei hatte. Und dass heute noch kein Samstag war, das wusste sie.

»Ich bin auf einem Zwischenstop in London und kann deswegen nicht lange mit dir reden. Aber am Sonnabend habe ich frei, und ich möchte dich so gern sehen, mit dir reden. Wenn du das, nach allem, was war, überhaupt noch willst.«

Er hat seinen Verstand ausgeschaltet und auf sein Herz gehört, jubilierte es in ihr.

»Und ob ich das will, Mike«, rief sie glücklich. »Ich …, ich war sogar schon bei dir, stand vor deiner Haustür, aber dann habe ich mich nicht getraut zu klingeln und bin zurückgefahren.«

»Alexandra, ich habe dich gesehen … Ich bin schon zum Fahrstuhl gelaufen, um dich dort in Empfang zu nehmen, aber du kamst nicht ins Haus. Als mir das bewusst wurde, bin ich nach unten auf die Straße gerannt, aber ich habe dich nicht mehr gesehen. Da warst du wohl schon weg … Seit dieser Zeit musste ich immer an dich denken. Und jetzt habe ich mir ein Herz gefasst und mich getraut, dich anzurufen. Alexandra, können wir uns in aller Ruhe unterhalten? Ich habe mich töricht verhalten … Ich habe versucht, dich zu vergessen, aber das geht nicht. Man kann sich die Liebe nicht so einfach aus dem Herzen reißen … Das mit uns, das war so wunderschön …, ich habe alles kaputt gemacht … Kannst du mir verzeihen? Kannst du dir vorstellen, mit mir einen behutsamen Neuanfang zu wagen?«

Es hörte sich an wie im Märchen, Mike sprach das aus, was sie sich zurechtgelegt hatte.

Seine Wünsche waren auch ihre, und auf einmal war alles so einfach, da musste nichts hinterfragt werden, da wurde nichts abgewägt.

Hier sprachen zwei Herzen miteinander, und die brauchten keine Worte, und mochten sie noch so geschliffen schön sein.

Sie war nicht in der Lage, ihm sofort zu antworten, weil sie von ihren Gefühlen überwältigt war.

Mike deutete ihr Schweigen vollkommen falsch.

»Tut mir leid, dass ich dich mit meinen Gefühlen jetzt überfallen habe, es war wohl vermessen von mir zu glauben, dass man mit einem Strich alles ungeschehen machen kann … Verzeih mir diese Überrumpelung.«

»Mike, lieber Mike, hör doch bitte mit diesen Selbstvorwürfen auf. Nicht nur du, auch ich habe Fehler gemacht, ich hätte dich mit meinem Titel und dem Schloss nicht so überrumpeln dürfen, nachdem ich zuvor den Eindruck erweckt habe, eine ganz Normalsterbliche zu sein. Aber das bin ich im Grunde genommen auch, Mike. Ich esse nicht von einem goldenen Teller, und ich laufe auch nicht mit einer goldenen Krone herum … Aber bitte, lass uns davon aufhören. Du hast mir eine Frage gestellt …, ob ich mir einen Neuanfang vorstellen kann. Mike, diese Frage kann ich mit einem klaren Ja beantworten … Ich liebe dich auch, und dieses I. l. d. auf deinem Kühlschrank war nicht nur so dahergekritzelt … Ich freue mich auf Samstag. Wann und wo wollen wir uns treffen?« Sie wollte sofort Nägel mit Köpfen machen, damit sie sich bis dahin auf etwas freuen konnte.

Jetzt war er es, der nicht sofort antworten konnte, weil ihm ihre Worte die Kehle zugeschnürt hatten. Man konnte sprachlos sein vor Kummer, vor Zorn, aber auch vor Glück. Und das Glück war es, das ihn für einen Moment sprachlos gemacht hatte.

»Wann und wo du willst«, antwortete er schließlich, und seine Stimme klang ganz heiser.

»Okay, Mike Biesenbach«, sagte sie, »da du mit meiner Wohnung noch einige Probleme hast, schlage ich vor, dass ich am Samstag in aller Herrgottsfrühe zu dir komme. Wenn du willst, dann bringe ich auch die Brötchen mit.«

Wieder nahmen ihm ihre Worte fast den Atem.

»Das wäre großartig, Alexandra, aber wir können es auch anders machen, nicht du …«

Alexandra ließ ihn nicht ausreden.

»Nein, nein, Mike, es ist schon ganz okay so. Wir müssen nichts übers Knie brechen. Du kannst dich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, wer ich bin und wo ich wohne, und erst wenn du damit klarkommst, solltest du mich auf Waldenburg besuchen … Ich möchte, dass wir beide ganz entspannt sind, wenn wir uns wiedersehen. Du kannst es in deinen eigenen vier Wänden sein, und ich …, nun, ich fühle mich in deiner geschmackvollen Wohnung ausgesprochen wohl.«

»Ja, wenn es so ist, dann …«, er unterbrach seinen Satz, lauschte, dann sagte er hastig: »Ich muss leider weg … Alexandra, du weißt nicht, wie glücklich ich jetzt bin, am liebsten würde ich gleich mit der Maschine vor lauter Glück ein paar Loopings machen.«

Sie lachte.

»Lass es bleiben, Mike, es wäre für die armen Passagiere grauenvoll, mach sie doch einfach in deinen Gedanken.«

Jemand war wohl neben ihn getreten, er sagte: »Ja, ich bin bereit«, dann wieder an Alexandra gerichtet: »Ich freue mich, bis Samstag dann.«

Sie antwortete: »Bis Samstag«, war sich aber nicht so sicher, ob er das überhaupt noch gehört hatte.

Sie hielt noch eine Weile ganz verträumt den Hörer in der Hand, ohne dass es ihr bewusst wurde.

Mike, dachte sie, und ein glückliches Lächeln glitt über ihre Lippen.

Sie würde Mike wiedersehen, und sie würden ganz vorsichtig und behutsam einander nähern.

Es war auf einmal so einfach gewesen, und das lag ganz bestimmt daran, dass sie beide ihren Verstand ausgeschaltet und nur auf ihr Herz gehört hatten.

Mike …

Marion hatte Olaf.

Ihre Freundin Lil war – hoffentlich, bei ihr wusste man ja nie – mit ihrem Doktor glücklich.

Sabrina und ihr Mann Elmar waren ein ganz wunderbares Team.

Und sie …

Sie war nun auch nicht mehr allein. Sie hatte Mike, in dessen Nähe sie sich unbeschreiblich wohlfühlte, mit dem sie sich ganz herrlich unterhalten konnte, und sie konnten miteinander lachen. Die gleiche Art von Humor war in einer Beziehung mehr als nur wichtig.

Mike …

Ach, wenn doch bloß schon Samstag wäre!

Samstag! Wie elektrisiert zuckte sie zusammen. Sie hatten ja überhaupt keine Uhrzeit vereinbart. Wann sollte sie denn bei ihm sein?

Ein Vormittag war lang.

Ach was, sie würde sehr früh bei ihm auftauchen, wenn man wusste, was auf einen zukam, wenn man glücklich auf den anderen wartete, dann konnte man ohnehin nicht schlafen, ganz egal, wie spät man ins Bett gekommen war.

Alexandra war so glücklich, so erleichtert, dass sie am liebsten alle Leute angerufen hätte, die ihr wichtig waren, um ihnen von der glücklichen Wende in ihrem Leben zu erzählen.

Aber das ließ sie dann doch sein. Es würde alle irritieren, denn sie war niemand, der sein Herz auf der Zunge trug.

Aber Oliver …

Ja, Oliver Viehoff, dem musste sie es kurz mitteilen, dass Mike und sie wieder auf einer gemeinsamen Flugbahn waren. Oliver hatten sie ihr Glück schließlich zu verdanken.

Rasch schickte sie ihm eine SMS. Irgendwo, wann und wo auch immer, würde er sie lesen. Und ganz bestimmt würde es ihn sehr freuen, dass er mit seiner Mission so erfolgreich gewesen war. Mike war sein Freund. Niemand konnte ertragen, wenn ein Freund unglücklich war, schon gar nicht, wenn man selbst die Wolke Sieben des Glücks auch nach Jahren noch nicht verlassen hatte. Dort waren Oliver und seine Madeleine noch.

Und Mike und sie?

Wie würde es mit ihnen weitergehen?

Würde aus ihnen auch ein Paar werden, das gemeinsam durch Dick und Dünn ging, dass auch nach Jahrzehnten noch sagen konnte, dass man die richtige Entscheidung getroffen hatte? So wie ihre Eltern, die sich liebten wie am Anfang ihrer Ehe, nein, vielleicht sogar noch mehr. Sie waren an ihrer Liebe gewachsen. So etwas wünschte sie sich auch.

Im Augenblick allerdings musste sie nicht an das denken, was irgendwann einmal sein würde.

In diesem Augenblick war sie ganz einfach nur glücklich.

Mike …

Sie begann vor sich hinzuträumen, und als sie endlich wieder zu ihrem Buch griff um weiterzulesen, war das unmöglich. Obschon es spannend war, konnte sie sich nicht mehr konzentrieren, denn Mikes lachendes Gesicht schob sich dazwischen. Also klappte Alexandra schließlich ihr Buch zu und gab sich ihren Träumen hin.

*

Als Alexandra das Schlossgelände verließ, um zu ihrer Bank nach Kaimburg zu fahren, konnte sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren.

Sie fühlte sich beobachtet, und als sich jetzt hinter ihr ein unauffälliger dunkler Mittelklassewagen in Bewegung setzte, konnte das ein Zufall sein, wenngleich sich allerdings normalerweise niemand so nah bei Schloss Waldenburg aufhielt. Es lag abseits jeder Landstraße, um hinzukommen, musste man ein ganz schönes Stück einen Privatweg fahren. Und Schloss Waldenburg war nicht, wie viele Adelshäuser, zur Besichtigung freigegeben. Vielerorts war das unumgänglich, um die hohen Unterhaltskosten bestreiten zu können. Zum Glück besaßen die Waldenburgs genug Vermögen, um das aus ihrer Privatschatulle bestreiten zu können. Im Übrigen war Waldenburg nicht mehr so groß wie früher vor dem Brand, der fast alles vernichtet hatte.

Der Wagen setzte sich unmittelbar hinter sie, und Alexandra fühlte sich von den Blicken des Mannes mit der dunklen Sonnenbrille durchbohrt.

Es war verrückt!

Da steigerte sie sich doch in etwas hinein, denn sie konnte gerade wegen der Sonnenbrille seinen Blick überhaupt nicht sehen. Außerdem war das andere Auto zwar nah, aber nicht nah genug.

Nein, ihr Gefühl des Unbehagens ließ sich an Äußerlichkeiten nicht festmachen. Es war eine Empfindung, etwas, was man eben fühlte. Es war also etwas, was man mit dem Verstand nicht erfasste, und das war ganz schön gefährlich, denn man konnte in derartige Gefühle alles Mögliche hineininterpretieren.

Tat sie das?

Nein. In solche Empfindungen verlor man sich, wenn das Selbstwertgefühl angeknackst war, wenn man negativ dachte, sich unwohl fühlte. All das traf auf sie nicht zu. Sie war glücklich, voll froher Erwartung. Sie würde Mike wiedersehen, sich in seine Arme fallen lassen, seine Küsse genießen. Sie dachte und fühlte nichts als Positiv.

Was also war los?

Wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegte, fuhren immer oder meistens Autos hinter einem her.

Vielleicht hatte der Mann sich auch verfahren, war unfreiwillig in der Nähe des Schlosses gelandet und fuhr nun hinter ihr her, um wieder auf die Landstraße zu gelangen.

Alexandra versuchte, sich mit dieser doch so vernünftig klingenden Erklärung zufriedenzugeben, aber sie konnte damit zwar ihren Verstand beschwichtigen, ihre innere Stimme nicht.

Auf der Landstraße angekommen, bog sie nach links ab und beschleunigte ihr Tempo.

Das andere Auto blieb hinter ihr.

Das wurde auch in Kaimburg nicht anders, und als sie auf dem bankeigenen Parkplatz stoppte, blieb er hinter ihr.

Alexandra bemühte sich, den Mann nicht zu beachten, aber sie hatte weiche Knie als sie ausstieg und zu dem Bankgebäude lief, denn seine Blicke durchbohrten sie. Es war wirklich so, sie hatte es sich nicht eingebildet.

Aber zum Glück folgte er ihr nicht in die Bank hinein.

Wer war er?

Was wollte er von ihr?

Alexandra hatte nicht die geringste Ahnung. Eines allerdings wusste sie – der Mann würde Ärger machen.

Ehe sie hinauf in die Chefetage fuhr, wo man sie erwartete, setzte Alexandra sich erst mal auf eine der Besucherbänke und versuchte zur Ruhe zu kommen.

Noch war nichts passiert. Gut, jemand hatte sie verfolgt, doch es war hellichter Tag, sie befand sich inmitten einer kleinen Stadt, da würde niemand über sie herfallen, und wenn, dann konnte sie sich wehren, und da gab es ja auch noch immer die Polizei. Im Übrigen sah der Mann nicht gewalttätig aus.

Und außerdem …

Schluss …

Vorbei …

Sie maß diesem kleinen Zwischenfall mehr Aufmerksamkeit zu als er es verdiente.

Es gab Wichtigeres, worauf sie sich konzentrieren musste, und das war zweifelsohne das Gespräch, das sie gleich führen musste. Derartige Verhandlungen waren ihr nicht fremd, aber da war immer ihr Vater der Verhandlungsführer gewesen und sie hatte nur dabei gesessen.

Heute ging es um Millionen, und es war niemand an ihrer Seite. Solche Gespräche waren eine Herausforderung, vor denen hatte sie keine Angst. Und da sollte ein sonnenbebrillter Typ sie ins Bockshorn jagen?

Alexandra stand auf.

Nie im Leben.

Sie wollte an dem Mann im grauen Anzug vorbeimarschieren zu den gläsernen Aufzügen, doch seine Stimme hielt sie zurück.

»Moment, meine Dame, das geht nicht so einfach«, rief er und kam auf sie zugelaufen. »Wo wollen Sie hin?«

»Auf die Vorstandsetage«, antwortete Alexandra und legte Autorität in ihre Stimme.

»Tut mir leid, da können Sie erst recht nicht hin. Dahin kommt niemand ohne Anmeldung, und wenn, dann muss ich mit nach oben fahren. Das ist Vorschrift. Ich käme in Teufels Küche, wenn ich Sie da so einfach durchlassen würde.«

Der Mann machte nur seinen Job, und Alexandra wollte ihn wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Dann schauen Sie doch mal bitte in Ihrem schlauen Buch nach, da werden Sie meinen Namen sicher finden … Waldenburg … Gräfin von Waldenburg«, fügte sie hinzu. Normalerweise ging sie nicht mit ihrem Titel hausieren, doch manchmal öffnete er ihr alle Türen.

Der Mann ging zu seinem Counter zurück, hatte ihren Namen rasch gefunden. Mit wenigen Schritten war er wieder bei ihr.

»Ja, Frau Gräfin, es hat alles seine Ordnung«, sagte er, und seine Stimme klang ehrfürchtig. »Bitte folgen Sie mir. Ich werde Sie nach oben begleiten.«

Alexandra lächelte ihn an.

Er war beeindruckt, vermutlich hatte er vom Adel noch eine Vorstellung, die längst schon überholt war. Das hatte sie nicht gewollt.

»Danke, dass ist sehr nett von Ihnen, Herr …«, rasch schaute sie auf das silberfarbene Namensschild an seinem Revers. »Herr Günther.«

Ihm war anzusehen, dass es ihn freute. Und sie hatte sich durch diese kleine Nettigkeit nichts vergeben.

Auf dem Weg nach oben plauderte sie unbefangen mit ihm über die Sicherheitsbestimmungen in einer Bank und gab ihm ein Gefühl von Wichtigkeit, was er ganz offensichtlich genoss.

Sie waren oben angekommen, lautlos öffneten sich die gläsernen Türen, und da wurde sie auch schon von einer jungen Dame in einem engen taubenblauen Kostüm in Empfang genommen, die den Aufzügen gegenübersaß und offenbar nichts anderes zu tun hatte, als die Besucher zu empfangen und entsprechend weiterzuleiten.

Alexandra bedankte sich bei Herrn Günther, nickte ihm nochmals lächelnd zu, dann folgte sie der Frau zu einem der Besprechungszimmer, wo man sie schon erwartete.

Nett hatten sie es hier, die Herren von der Chefetage. An den Wänden hingen sehr schöne Bilder bekannter Künstler, und es waren keine Drucke, sondern die Originale, also ein Vermögen wert. Und der Teppichboden, in dem man förmlich versank, war auch nicht gerade ein Schnäppchen gewesen.

Eine andere junge Dame kam ihnen entgegen, sie schob einen Teewagen vor sich her, das Geschirr darauf war feinstes Porzellan von KPM, also auch das vom Feinsten. Sabrina hatte sich genau dieses Porzellan zur Hochzeit gewünscht, weil sie es lieber schlichter haben wollte. Alexandra kannte den Preis, der so hoch war, dass man beinahe Angst hatte, eine Tasse davon in die Hand zu nehmen und sie vielleicht zu zertrümmern.

Ja, ja, dachte Alexandra lächelnd, das Bild stimmte schon, das man sich von den Bankern machte, die oben auf der Chefetage, dem Olymp, saßen …, da war alles nur vom Feinsten.

Die junge Frau öffnete eine Tür, trat lächelnd beiseite.

Auch dieser Raum war exquisit eingerichtet, drei Herren im feinsten Zwirn sprangen auf und kamen Alexandra entgegengelaufen, überboten sich mit Höflichkeiten.

Ja, es war schon angenehm, wenn man über ein gewisses Vermögen verfügte, und hier zählte auch ihr Name samt Titel.

Die Herren überschlugen sich, es war ein Wunder, dass sie vor ihr nicht auch noch einen einarmigen Handstand machten.

Geld regiert die Welt …

Alexandra mochte weder diesen Satz noch dessen Bedeutung.

Wie würden sie sich wohl verhalten, wenn sie als Bittstellerin hier wäre, wenn sie nicht die Gräfin von Waldenburg wäre, sondern eine einfache Frau X oder Y.

Ach, solche Gedanken musste sie sich überhaupt nicht machen, dann wäre sie ganz gewiss nicht auf der Chefetage gelandet, sondern jemand hätte sie irgendwo da unten herablassend behandelt und wieder weggeschickt, weil die Voraussetzungen nicht gegeben waren. Banken verliehen Geld am liebsten an die, die es nicht brauchten oder boten einem bei Sonnenschein einen Regenschirm an.

Sie hatte es mit Liliane erlebt, die dringend einen Firmenkredit nötig hatte. Sie hätte ihr das Geld sehr gern gegeben, aber das hätte Liliane niemals angenommen und sich demzufolge bei der Bank um einen Kredit bemüht. Sie hatte ordentliche Zahlen vorzuweisen, aber nicht die nötigen Sicherheiten, und es wäre ausgegangen wie das Hornberger Schießen, wenn sie sich für Lil nicht verbürgt hätte.

»Verehrte Frau von Waldenburg, wie schön, dass wir uns mal wiedersehen. Das letzte Mal war ja noch Ihr Herr Vater dabei, dem es ja hoffentlich gut geht.«

Laber, laber, Rhabarber, dachte Alexandra und verdrehte die Augen. Dieses Gesülze war geradezu unerträglich.

»Danke, meinem Vater geht es ganz ausgezeichnet. Er genießt mit meiner Mutter das Leben in der wunderschönen Toskana«, so, und damit sollte es auch genug sein, dachte Alexandra und lächelte zuckersüß, als sie fortfuhr: »Aber deswegen bin ich ja nicht hier. Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen und denke, wir sollten zum Kern der Sache kommen.«

Als sie sich später am Verhandlungstisch gegenübersaßen, war Alexandra hochkonzentriert. Und da sie sich gut vorbereitet, ihre Vorgehensweise sicherheitshalber auch noch mit ihrem Vater abgesprochen hatte, hätten hier statt der drei Herren zehn sitzen können, keiner von ihnen hätte ihr etwas aufschwatzen oder sie mit wunderschön aussehenden bunten Broschüren beeindrucken können …

*

Alexandra hatte den Mann vollkommen vergessen, doch als sie das Bankgebäude verließ, kam er ihr wieder in den Sinn und sie sah sich vorsichtig um.

Von ihm war keine Spur zu sehen.

Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet, und er war zufällig hinter ihr hergefahren und hatte auch zufällig hier geparkt.

Sie hatte in der letzten Zeit wohl zu viele Krimis gesehen, und ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen.

Wie auch immer, sie atmete erleichtert auf und ging beschwingt zu ihrem Auto, dabei ein leises Liedchen vor sich hinsummend.

Sie hatte allen Grund, fröhlich zu sein, denn die Verhandlung war bestens gelaufen, die Herren im edlen Zwirn hatten sich an ihr die Zähne ausgebissen.

Ein Triumph für sie, und auch ein Triumph für die Frauen, denen man auf den Chefetagen in der Regel nicht viel zutraute.

Sie stieg in ihr Auto, machte das Radio an und sang lauthals ein etwas einfallsloses Liedchen mit, das wegen seines simplen Textes aber sofort zum Mitsingen geeignet war.

Ich li-i-i-i-e-e-e-be di-i-i-ch,

das Glück bist du für m-i-i-i-i-ch

und da-a-a-

Sie brach unvermittelt ab, die Lust am Singen war ihr vergangen, denn beinahe gleichzeitig mit ihr bog das dunkle Auto vom Parkplatz auf die Straße ein.

Jetzt wusste Alexandra es, es war kein Zufall!

Jemand machte sich einen Spaß daraus, sie zu verfolgen.

In ihrer aufsteigenden Panik gab sie Gas, ihr schweres Auto schoss nach vorn, der andere blieb hinter ihr.

Lil…

Ihre Freundin erschien ihr als Rettungsanker. Hoffentlich war sie in ihrer Firma und nicht irgendwo unterwegs. Aber wenn nicht, dann würde sie dort bleiben und auf Liliane warten.

Der Himmel war offensichtlich auf ihrer Seite. Gerade als sie um die Ecke bog, wurde direkt vor Lils Haus eine Parklücke frei.

Obwohl Alexandra normalerweise eine exzellente Einparkerin war, hatte sie Probleme in die wirklich große Lücke hineinzukommen. Sie kurvte herum wie jemand, der gerade seine Fahrprüfung abgelegt hatte und dem die Erfahrung fehlte.

Hoffentlich sah ihr niemand zu!

Endlich stand ihr Auto, zwar ein wenig schräg aber ein bisschen weitab vom Bordstein.

Sie stieg aus, drehte sich um, so etwa drei, vier Autos hinter ihr stand er in der zweiten Reihe und beobachtete sie. Zumindest dieser Mann hatte ihre Einparkversuche bemerkt, aber das war ihr so etwas von egal.

Sollte sie zu ihm gehen, ihn zur Rede stellen?

Das ließ Alexandra sehr schnell wieder bleiben.

Sie hatte absolut keine Handhabe gegen ihn, mit seinem Auto herumzufahren war nicht strafbar, und dass er sie verfolgte, dafür gab es keinen Beweis.

Also ging sie zu Lilianes Haus, die zum Glück nicht unterwegs war.

»Alex, was ist los?«, rief sie besorgt, als sie ihre Freundin sah, »ist dir ein Geist begegnet …, du bist leichenblass.«

Alexandra ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Ich glaube, ich werde verfolgt.«

Liliane begann schallend zu lachen.

»Das glaube ich jetzt aber nicht. Wenn ich so was erzählen würde, könnte man das verstehen, aber eine realistische Person wie du …, hey, Alex, das geht doch überhaupt nicht.«

»Lil, es stimmt, du musst mir glauben.«

Und dann erzählte sie ihrer Freundin, was vorgefallen war.

Liliane stand auf.

»Wo willst du hin?«, wollte Alexandra wissen.

»Nun, nach draußen, mir den Mann mal vorknöpfen.«

»Man kann ihm doch nichts beweisen.«

»Also, hör mal, wenn jemand dir vor eurem Schloss auflauert, dich bis Kaimburg verfolgt. Auf dem Parkplatz wartet, bis du aus der Bank kommst und dann bis hierher hinter dir her ist. Sorry, Alex, das ist mir Beweis genug … Welches Kennzeichen hat das Auto?«

Alexandra lief rot an.

Wie peinlich! Natürlich merkte man sich so etwas zuerst, das konnte man in all den Krimis immer wieder sehen, und aufgrund dessen war der Täter dann meist auch sehr rasch ermittelt.

»Ich …, äh …, darauf habe ich nicht geachtet, ich weiß nur, dass es ein dunkler Mittelklassewagen ist, und der Mann trägt eine dunkle Sonnenbrille.«

»Bravo, Alex, präziser geht es wohl nicht. Dass, was du da sagst, trifft vermutlich auf jeden zweiten Autofahrer hier zu, nun ja, vielleicht trägt nicht jeder eine Sonnenbrille. Was ist bloß los mit dir? So ein kleiner Zwischenfall kann dich doch nicht derartig von der Rolle bringen.«

»Normalerweise nicht, Lil. Aber ich …, ich habe einen furchtbaren Verdacht …, vielleicht steckt Ingo dahinter. Vielleicht hat mein Bruder mir diesen Mann auf den Hals gehetzt.«

Liliane schüttelte den Kopf.

»Und was sollte er davon haben? Dir ein bisschen Angst machen? Nö, das macht für mich keinen Sinn. Wenn es wirklich jemand ist, der dich verfolgt, dann meines Erachtens ein Stalker. Du warst doch vorgestern mit einem wunderschönen Foto in der Zeitung …, als du deinen Spendenscheck für den neuen Kindergarten übergeben hast. Das hat so ein Spinner gesehen und sich in dich verliebt. Und nun ist er hinter dir her.«

Alexandra winkte ab.

»Das glaube ich nicht. Es ist doch schließlich nicht das erste Foto von mir in einer Zeitung. Da gab es sogar schon bessere, und niemals kam jemand auf die Idee, mich zu verfolgen, nein, ich denke, es ist Ingo, ein letzter verzweifelter Versuch, jemandem von den Waldenburgs zu schaden.«

»Alex, ich hab von Ingo nicht die allerbeste Meinung, aber so dämlich ist er nicht. Ein solches Verhalten wäre wirklich mehr als kindisch, nein, ich lass mich nicht davon abbringen, wenn …, dann ist es ein Stalker, und davon werde ich mich jetzt überzeugen, und du, du bleibst hier sitzen und wartest, bis ich wiederkomme. Wenn du Lust auf einen Kaffee hast, ich habe gerade frischen gekocht. Du kennst dich hier aus …, also bis gleich.«

Liliane verließ den Raum, und Alexandra blieb wie festgenagelt auf ihrem Stuhl sitzen.

Ein Kaffee wäre zwar nicht schlecht, aber sie brachte nicht die Energie auf, jetzt aufzustehen.

Ein Stalker …

Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht, und möge der Himmel sie vor einem solchen bewahren.

Nein, sie wollte sich in solche Gedanken überhaupt nicht erst verlieren. Stalker waren psychisch kranke Menschen, vielleicht sogar Psychopathen. Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl, einer Persönlichkeitsstörung.

Sie kannte niemanden, auf den so etwas zutraf, und es gab auch keinen abgewiesenen Liebhaber, der sie nun bestalkte.

Aber der Mann hatte sie doch verfolgt, oder?

Es dauerte nicht lange, da kam Liliane wieder zurück.

»Also, ich bin die ganze Straße entlanggelaufen, da standen zwar dunkle Mittelklassewagen, aber in keinem saß jemand mit Sonnenbrille drin, da saß auch keiner ohne. Alex, tut mir leid, aber da musst du dir was eingebildet haben.«

Hoffentlich!

Alexandra wollte es nur zu gern glauben, und so entspannte sie sich wieder. Wegen des Gesprächs mit der Bank war sie sehr angespannt gewesen, vielleicht hatte sie da wirklich überreagiert und sich verfolgt gefühlt.

»Vielleicht, kann sein, lass uns nicht mehr davon reden. Warum hast du dich nicht gemeldet? Ist wieder etwas passiert, Lil? Gab es neuen Zoff mit deinem Doktor?«

Liliane lief rot an.

»Es ist halt die unendliche Geschichte, einmal sind wir ein Herz und eine Seele, dann wieder klappt überhaupt nichts. Ich gebe ja zu, dass es meistens an mir liegt. Vielleicht bin ich zu egoistisch und will Lars zu oft für mich selbst haben, anstatt ihn mit seinen Patienten zu teilen. Es ist wirklich so, dass er von seinem Beruf besessen ist. Nicht nur, dass er seine Patienten mehr betreut als nötig. Er bürdet sich immer noch zusätzlich etwas auf. Er macht freiwilligen Dienst bei Hilfsorganisationen, und jedes Jahr fährt er für mindestens vier Wochen in unterentwickelte Länder und arbeitet dort umsonst in seinem Urlaub.«

Alexandra konnte ihre Freundin nicht verstehen, dass sie sich dar­über so sehr aufregte.

»Ich finde das großartig, Lil, so mancher seiner Kollegen sollte sich eine Scheibe davon abschneiden. Leider, leider gibt es nicht so viele von Lars’ Format.«

»Alex, ich bin aber auch noch da. Und ich werde nicht aufhören solange herumzuquengeln bis Lars begreift, dass ich die Nummer Eins in seinem Leben bin.«

»Lil, in seinem Herzen bist du das, und wenn ihr zusammen seid, ist es voller Intensität. Das ist doch wohl schöner, als jeden Abend zusammen vor der Glotze zu sitzen und sich nach der Tagesschau einen Film anzusehen, der in der fünften Wiederholung gesendet wird und in dem man eigentlich schon mitspielen kann.«

»Es gibt noch mehr als Fernsehen«, bemerkte Liliane spitz. Sie konnte es nicht haben, dass Alexandra nicht ihre Partei ergriff.

»Sicher, und was? Willst du jeden Abend mit Lars um die Häuser ziehen? Jedes Wochenende mit ihm verreisen? Lil, es kommt nicht auf die Quantität des Beisammenseins an, sondern auf die Qualität.«

»Danke, Frau Lehrerin, du redest wie Lars, der versucht mir das auch immer wieder zu verklickern. Und ich …«, sie brach ihren Satz ab und blickte ihre Freundin schuldbewusst an. »Tut mir leid, Alex, hör nicht auf mich. Im Grunde genommen weiß ich ja, dass ich mich blöd verhalte, aber ich kann nicht anders. Wenn ich sehe, was meine Nachbarin alles mit ihrem Freund unternimmt. Die gehen, wenn er nach Hause kommt, zusammen Eis essen, schwimmen, sie machen eine Radtour oder gehen in den Biergarten, wenn das Wetter es zulässt.«

»Lil, der Freund deiner Nachbarin arbeitet, noch dazu mit Gleitarbeitszeit, in einem Büro. Er fängt früh an zu arbeiten und hat dementsprechend zeitig Feierabend. Wenn das, was du da aufgezählt hast, deine Sehnsüchte sind, dann hättest du dir keinen Arzt mit einer gutgehenden Praxis und mit großem Engagement nehmen müssen, sondern einen Buchhalter oder so etwas, der, wenn er seine Stunden abgekloppt hat, seinen Griffel fallen lassen kann.«

Alexandra stand auf.

»Sei nicht böse, aber ich muss jetzt gehen.«

»Bist du jetzt sauer auf mich? Kannst du mein Gejammere nicht mehr hören, weil es dir schon zu den Ohren rauskommt?«

Alexandra musste lachen. Sie nahm ihre Freundin in den Arm.

»Nein, Lil, das ist es nicht. Ich hätte mir diesen Schlenker zu dir überhaupt nicht erlauben dürfen. Es wartet sehr viel Arbeit auf mich. Heute kommt auch noch Peter Zumbach zu mir nach Waldenburg, der Leiter unserer Forstbetriebe.«

»Wenn es so ist, Alex, da will ich dich nicht länger aufhalten. Telefonieren wir heute Abend denn noch mal?«

Alexandra nickte.

»Klar, können wir tun. Aber jetzt muss ich los.«

Sie verabschiedeten sich voneinander, am liebsten hätte Alexandra ihre Freundin gebeten, sie bis zu ihrem Auto zu begleiten, weil sie auf einmal ein so komisches Gefühl hatte. Aber tapfer unterdrückte sie diesen Wunsch und ging allein hinaus zu ihrem Auto.

Sie sah sich um, atmete erleichtert auf.

Von dem Auto war nichts zu sehen.

Geradezu glücklich stieg sie ein, fuhr los …, nichts.

Sie bog um die nächste Ecke …, noch immer kein Verfolger.

Da begann sie von selbst daran zu glauben, dass sie sich das alles eingebildet hatte, dass alles ein Zufall gewesen war, mehr nicht.

Als Alexandra von der Landstraße auf den Privatweg einbiegen wollte, der zum Schloss führte, entdeckte sie das Auto.

Es stand, zwar hart an der Grenze, aber immerhin noch auf der öffentlichen Straße. Sie hatte keine Handhabe jetzt auszusteigen und den Mann zur Rede zu stellen.

Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen. Als Alexandra langsam an seinem Auto vorbeifuhr, warf sie einen Blick in das Innere.

Der Mann mochte Mitte Zwanzig sein, vielleicht auch ein wenig älter oder jünger. Er war schlecht einzuschätzen. Was ihr auffiel, war sein ungewöhnlich blasses Gesicht, und die Augen, seine dunklen Augen waren starr auf sie gerichtet.

Alexandra wollte diesem Blick nicht standhalten und gab Gas, aber sie prägte sich sein Kennzeichen ein. Der Wagen war in Kaimburg zugelassen worden. Das machte ihre Theorie, ihr Bruder Ingo könnte dahinterstecken, zunichte. Ingo würde niemanden aus Kaimburg beauftragen, sie zu verfolgen.

Normalerweise fuhr Alexandra nicht so schnell den Weg zum Schloss, aber heute hatte sie das Gefühl, ganz schnell ankommen zu müssen, sich in die Geborgenheit der dicken Mauern zu flüchten.

Diesmal brachte sie ihr Auto in die Remise, weil sie sich absolut sicher war, dass sie Waldenburg heute nicht mehr verlassen würde.

*

Alexandra hatte gerade hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen, als das Telefon klingelte.

Sie meldete sich, es war nichts zu hören als das schwere Atmen eines Menschen.

»Hallo? Wer ist da?«, erkundigte sie sich.

Nichts.

Da legte sie wieder auf, wieder klingelte das Telefon, aber diesmal war es der private Anschluss.

Noch ahnte Alexandra nichts Böses, doch nachdem sie sich gemeldet hatte, wurde sie eines Besseren belehrt.

Das Schauspiel wiederholte sich, außer dem schweren Atmen eines Menschen war nichts zu hören.

»Hören Sie auf, mich zu belästigen …, ich rufe die Polizei«, schrie sie wutentbrannt in den Apparat. Dann legte sie wieder auf.

Als unmittelbar danach ihr Handy klingelte, meldete sie sich nicht, kurz darauf kam eine SMS: »Ich weiß, dass du meine Liebe erwiderst. Ich kann ohne dich nicht leben.«

Voller Entsetzen starrte Alexandra auf diese Worte, sie fühlte die Angst in sich aufsteigen.

Woher hatte der Mann all ihre Telefonnummern? Die der Waldenburg’schen Verwaltung war leicht herauszukriegen, die war bekannt, mit der privaten Nummer war es schon schwieriger, und ihre Handy­nummer …, wie war er an die geraten?

Alexandra glaubte, in einem schlechten Film mitzuspielen, in dem sie eine Rolle hatte, die noch nicht ganz klar war. Aber auf jeden Fall war es die Hauptrolle.

Stalker belästigten Menschen, die sie sich als Liebesobjekte ausgeguckt hatten, wenn es sich bei ihnen nicht um abgewiesene Partner handelte. Sie stellten den Opfern ihrer Begierde nach, belästigten sie, wussten nicht, wo die Grenzen lagen. Sie steigerten sich in eine Besessenheit hinein, glaubten, ohne den Bestalkten nicht mehr leben zu können, ohne Rücksicht darauf, dass der andere das überhaupt nicht wollte.

In Alexandras Kopf ratterte all das herunter, was sie über Stalker gehört oder gelesen hatte.

Sie hatte die Opfer eines solchen Angriffs, als was anderes konnte man es ja nicht bezeichnen, stets bedauert. Aber sie hatte nicht im Traum daran gedacht, selbst einmal ein Opfer zu werden. Und das war sie doch jetzt, oder?

Alexandra zuckte zusammen, als es klopfte.

Eines der Mädchen kam herein.

»Frau von Waldenburg, dieser Brief wurde für Sie abgegeben.«

Alexandra sprang plötzlich auf, so heftig, dass ihr Stuhl beinahe umgefallen wäre, rannte zum Fenster, von dem man einen Teil des Schlosshofes und die Auffahrt überblicken konnte.

Kein Fremder war zu sehen, Fritz, der Stallbursche, führte eines der Pferde über den Hof, das ein wenig lahmte und unbedingt bewegt werden musste.

Dieser Aufruhr, dieser Frieden dort draußen …, das passte nicht zusammen.

Obwohl sie es nicht wollte, entschlüpfte ihr so etwas wie ein tiefes Schluchzen, dann riss sie sich zusammen.

»Wann …, wann wurde der Brief abgegeben …, und wer …, wer hat ihn gebracht?«

Irritiert blickte das Mädchen die junge Gräfin an.

Weswegen war sie so aufgeregt?

So kannte sie ihre Chefin überhaupt nicht.

»Ein Mann hat ihn gebracht, so ungefähr vor einer halben Stunde.«

Da war sie noch bei Liliane gewesen und hatte sich in Sicherheit gewiegt, weil sie wirklich an einen Zufall geglaubt hatte.

Dieser Mann war dreist genug, ein privates Grundstück zu betreten, an der Haustür zu klingeln.

Aber warum regte sie das auf?

Stalker machten noch etwas ganz anderes als nur zu klingeln. Die brachen in Wohnungen ein, legten sich in die Betten ihrer Opfer, entwendeten streckenweise Kleidungsstücke.

»Danke«, sagte Alexandra. »Legen Sie den Brief bitte auf meinen Schreibtisch, und wenn noch jemand klingelt …, lassen Sie niemanden herein, niemanden, den Sie nicht kennen.«

»Ist etwas nicht in Ordnung, Frau von Waldenburg?«, wollte das Mädchen wissen.

Sie musste sich zusammenreißen, sie durfte jetzt die Pferde nicht scheu machen. Vielleicht ging ja der Kelch sehr schnell an ihr vorüber, wenn sie sich so verhielt, dass sie dem Stalker keine Angriffsfläche bot.

»Alles okay«, sagte sie.

Das Mädchen ging wieder hinaus.

Alexandra blieb noch eine Weile am Fenster stehen, dann wandte sie sich seufzend ab, ging beinahe widerwillig zu ihrem Schreibtisch zurück, auf dem der Brief lag.

Sie starrte ihn an, schob ihn, wie ein giftiges Reptil, mit zwei Fingern zur Seite.

Sie wollte ihn ignorieren, nicht lesen. Am besten warf sie ihn ungeöffnet in ihren Papierkorb.

Schon wollte sie das in die Tat umsetzen, als sie sich besann. Das war nicht klug. Auch wenn es sie geradezu anekelte, sie musste sich klug verhalten, und das bedeutete auch, dass sie über jeden Schritt dieses Irren informiert war.

Okay!

Sie schüttelte sich fast als sie nach dem Brief griff, aber da musste sie durch.

Auf dem Umschlag stand nichts, Alexandra machte sich nicht die Mühe, ihn ordentlich zu öffnen, sondern riss ihn beinahe gewaltsam auf und zog ein liederlich zusammengefaltetes Blatt heraus.

Es war kein hand- oder maschinengeschriebener Brief, sondern er hatte einzelne Worte und Buchstaben aus einer Zeitung herausgeschnitten, so, wie man es bei Erpresserbriefen machte.

Aber das hier war doch auch so eine Art Erpressung.

Ein Irrer wollte, dass sie ihn liebte, seine kranken Gefühle erwiderte. Klar war das emotionale Erpressung.

Also gut …

Alexandra strich das Blatt glatt, dann las sie:

Ich liebe dich und kann ohne dich nicht leben.

Ich weiß, dass du mich auch liebst.

Unsere gemeinsame Zeit wird kommen, bald …

Alexandra fröstelte, aber sie ließ das Gefühl aufsteigender Angst nicht zu. Sie musste stark sein, die Oberhand behalten.

Stalker legten es darauf an, ihre Opfer emotional zu unterdrücken, sie sich in ihrer Angst gefügig zu machen.

Alexandra erinnerte sich, gelesen zu haben, dass Opfer auf Stalking mit Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Panik, Gereiztheit und Angst reagierten.

Diese Macht wollte sie dem Mann, wer immer es auch war, und warum auch immer er ausgerechnet sie als das Objekt seiner Begierde ausgesucht hatte, nicht geben.

Wütend zerriss sie dieses Pamphlet und warf die Schnipsel in den Papierkorb.

Dumm gelaufen!

Sie hatte in ihrem Zorn ein Beweisstück vernichtet, falls es nötig sein sollte, diesen Mann anzuzeigen.

Stalker waren nicht so harmlos, wie man dachte, und manchmal hatte man überhaupt keine andere Wahl, als die Polizei einzuschalten. Zum Glück konnte man eine einstweilige Verfügung erwirken, nach der ein Stalker sich seinem Opfer nicht mehr als fünfzig Meter nähern konnte.

Dazu würde es bei ihr hoffentlich nicht kommen.

Sie würde ihn deutlich abweisen, all seine Bemühungen ignorieren und keine Unsicherheit und Angst zeigen.

In ihrem Kopf war alles klar, ihr Verstand sprach eine eindeutige Sprache, aber dennoch hatte sie ein mulmiges Gefühl bei der ganzen Sache. Immerhin war dieser Mensch schon so weit in ihr Leben eingedrungen, dass er eine ganze Menge wusste, zum Beispiel auch ihre private Handynummer.

Als ausgerechnet dieses Handy wieder klingelte, griff sie zornig danach und schrie: »Du perverses Monster, hör auf, mich zu belästigen. Verschwinde aus meinem Leben, mich kriegst du nicht klein.«

Schon wollte sie ihr Handy wieder ausschalten, als eine männliche Stimme sie innehalten ließ.

»Alexandra, Liebes, was ist in dich gefahren?«

Es war Mike.

Wie peinlich, er musste sie ja jetzt für eine Furie halten, die da herumgeiferte.

Nein, das war zu viel, sie begann zu schluchzen.

»Liebes, um Gottes willen, so rede doch bitte. Was ist denn passiert?«

Sie riss sich zusammen. Es war Mike, der da am Telefon war, nicht dieser kranke Psychopath. Sie durfte Mike jetzt nicht vorheulen, vermutlich nutzte er auch jetzt nur eine kleine Pause, um sich zu melden.

Deswegen hielt sie sich auch nicht lange mit der Vorrede auf sondern sagte: »Mike, entschuldige. Ich wusste nicht, dass du der Anrufer bist, ich dachte, es sei wieder dieser Stalker.«

»Stalker?«, wiederholte er. »Welcher Stalker?«

Rasch erzählte sie ihm, was seit ihrem letzten Gespräch passiert war.

Mike verhielt sich ganz wunderbar, er sprach beruhigend auf sie ein, tröstete sie liebevoll, und dann sagte er noch: »Alexandra, mein Herz, am Samstag bin ich wieder bei dir, und da gehen wir dieses Problem gemeinsam an. Bis dahin musst du einfach nur Ruhe bewahren. Bitte, lass dich nicht von diesem Menschen provozieren. Ich werde dafür sorgen, dass er dich nicht mehr belästigt. Das verspreche ich dir.«

Alexandra atmete erleichtert auf.

Wie beruhigend seine Worte klangen, und wie schön war es, einen Mann an der Seite zu haben, der den Überblick behielt, der ihr durch seine liebevollen Worte die Angst nahm.

»Danke, Mike«, wisperte sie.

»Alexandra, ich bitte dich, du musst dich nicht bedanken«, wehrte er sofort ab, »noch habe ich nichts getan … Ach, wie gern wäre ich jetzt bei dir, würde dich in meine Arme nehmen, aber fühle dich in Gedanken umarmt und beschützt. Ich kann jetzt auch überhaupt nicht mehr länger mit dir telefonieren, weil es sofort weitergeht. Ich wollte einfach nur mal deine Stimme hören. Ich vermisse dich so sehr und kann es kaum erwarten, dich am Samstag in meine Arme zu schließen. Ich werde dich ganz festhalten und bis Dienstag nicht mehr loslassen.«

»Mike, was willst du damit sagen?«, rief sie.

Er lachte.

»Ganz einfach, dass ich bis Dienstag frei habe. Wenn du willst, können wir verreisen, du kannst bei mir bleiben oder aber, ich komme doch zu dir.«

»Nein, nein, Mike, nicht nach Waldenburg. Nicht, solange der Stalker hier sein Unwesen treibt. Und ich möchte auch nicht verreisen. Lass uns bei dir bleiben. Da fühle ich mich wohl, und wenn du an meiner Seite bist, dann habe ich vor überhaupt nichts mehr Angst.«

»Ach, mein Herz, das hast du schön gesagt. Also sehen wir uns am Sonnabend. Komm bitte so früh du kannst, ob mit oder ohne die Brötchen. Einzig und allein du zählst … Und, Alexandra, versprichst du mir bitte etwas? Ich kann mich nämlich vor Samstag nicht mehr melden.«

»Ich verspreche dir was immer du willst«, rief sie.

»Hey, geh mit Versprechen nicht so leichtfertig um, ehe du nicht genau weißt, worum es sich dabei handelt …«, seine Stimme wurde ernst. »Liebes, bitte pass auf dich auf und behalte die Nerven, und ich möchte dir gern noch etwas sagen … Alexandra, ich liebe dich.«

Sie war so gerührt, dass sie nicht sofort antworten konnte, und als sie es schließlich wollte, war die Leitung unterbrochen.

Schade!

Sie wartete einen Moment, aber Mike rief nicht noch einmal zurück.

Sie hätte ihm auch gern gesagt, was sie für ihn empfand. Aber sie hoffte doch sehr, dass er sich das auch denken konnte.

Sie waren bereit für einen Neuanfang, und dass sie es schaffen würden, davon war Alexandra überzeugt.

Nicht nur das, mit Mike an ihrer Seite würde sie auch den Stalker aus ihrem Leben vertreiben.

Bis Dienstag hatte er frei, das bedeutete, den Samstag eingerechnet, vier wundervolle Tage.

Ihr Handy klingelte erneut. Sie griff danach, weil es ja vielleicht doch noch einmal Mike sein konnte.

Er war es nicht, sie hörte wieder nicht mehr als dieses dumpfe, schwere Atmen.

Aber jetzt beunruhigte sie es nicht mehr.

Sie drückte das Gespräch einfach weg. So würde sie es immer machen.

An ihre Telefone musste sie gehen, denn es gab in ihrem Leben schließlich auch wichtige Gespräche. Wenn dieser Typ jedoch dran war, würde sie kommentarlos auflegen oder das Gespräch wegdrücken.

Welch ein Glück, dass Mike sie angerufen hatte. Schon allein seine Stimme hatte ihr Kraft gegeben, und sein Versprechen, mit ihr dieses Problem gemeinsam anzugehen, machte sie hoffnungsfroh.

Mike war stark, er war ein Mann mit einem klaren Durchblick, das musste er in seinem Beruf auch sein.

Es wäre doch gelacht, wenn er gegen einen Psychopathen mit einem gestörten Selbstwertgefühl nicht ankäme.

Das Telefon klingelte weiter, das Spiel wiederholte sich, wenngleich hier und da Anrufe dazwischen waren, die nicht von diesem Stalker kamen.

Es war ganz schön nervend, aber Alexandra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Bis Samstag war es nicht mehr lange hin, und bis dahin musste sie die Nerven behalten. Sie durfte diesem Irren keine Angriffsfläche bieten.

Es war schwer, aber es war zu schaffen. Sie musste nur auf Mike warten, der würde es schon regeln.

Ach, Mike, dachte sie glücklich, ich bin ja so froh, dich in meinem Leben zu haben …

*

Die Anrufe, die gekommen waren, konnte Alexandra überhaupt nicht zählen, und es waren mindestens zehn Briefe gekommen, mit der Post, oder sie waren vor die Tür gelegt worden, in den Briefkasten geworfen.

Alexandra machte keinen mehr davon auf.

Sie wusste nicht, ob dieser Mann noch immer in der Nähe des Schlosses herumlungerte, weil sie es nicht verlassen hatte.

Heute allerdings musste sie nach Kaimburg fahren, und ein wenig mulmig war ihr schon zumute, auch wenn sie sich das äußerlich nicht anmerken ließ.

Was würde sie erwarten?

Sollte sie jemandem vom Personal als Begleitung mitnehmen?

Nein!

Solche Gedanken verwarf sie so schnell, wie sie ihr gekommen waren. Das war keine gute Idee, denn vielleicht würde dieser Mensch das als ein Zeichen von Schwäche deuten und sie angreifbar machen.

Sie musste Unerschrockenheit zeigen!

Schon wollte Alexandra zu ihrem Auto gehen, als sie umkehrte. Einem Impuls folgend lief sie in ihr Büro zurück und nahm die Briefe an sich, die gestapelt auf ihrem Schreibtisch lagen.

Sie wusste nicht, warum sie es tat. Es war wirklich eine innere Stimme, der sie folgte.

Als sie aus den dicken, sicheren Mauern des Schlosses trat, sah sie sich instinktiv vorsichtig um.

Kein Fremder war zu sehen.

Sie ging zur Remise, stieg in ihr Auto, fuhr los.

Sie fuhr den Privatweg hinunter, von dem Stalker nichts zu sehen.

Sollte er gar schon aufgegeben haben? Das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

Alexandra hatte sich zu früh gefreut. Ehe sie auf die Landstraße einbog, sah sie ihn. Er saß in seinem Auto.

Hätte Mike sie nicht aufgebaut, wäre sie jetzt vermutlich entsetzt, würde Gas geben und versuchen ihn abzuschütteln.

Jetzt war sie nur noch zornig, es war ein kalter Zorn, der sie stark machte.

Sie bremste so abrupt, dass ihr Auto ein wenig schlingerte, dann griff sie nach den Briefen, stieg aus, lief auf das Auto des anderen zu, riss die Fahrertür auf und knallte die Briefe wortlos auf das Armaturenbrett, dann lief sie zu ihrem Auto zurück, stieg ein und fuhr los.

Das war so schnell gegangen, dass es geradezu unwahrscheinlich erschien, und es schien den Stalker verunsichert zu haben.

Als Alexandra in ihren Rückspiegel blickte, stand das Auto noch immer da.

Sie hatte ihn durch ihr spontanes Verhalten aus dem Konzept gebracht, ihm den Wind aus den Segeln genommen.

Sie war zwar aufgeregt, zitterte innerlich auch ein wenig, aber sie gratulierte sich selbst, weil sie fand, dass sie es mehr als gut gemacht hatte.

Jetzt hatte er seine dämlichen Briefe wieder, allesamt, und keiner von ihnen war geöffnet.

Würde er es endlich kapieren, dass sie auf seine Masche nicht ansprang?

Alexandra fuhr nicht sehr konzentriert, weil sie bis Kaimburg unentwegt in den Rückspiegel starrte, irgendwo doch den dunklen Wagen erwartend.

Es fuhren schon dunkle Autos hinter ihr her, überholten sie meistens, weil sie nicht schnell fuhr. Aber es war nicht ihr Verfolger.

Alexandra merkte, wie ihre Anspannung von ihr abfiel, sie aber leichte Kopfschmerzen bekam.

Ein doppelter Espresso würde ihr helfen, den hatte sie sich jetzt ohnehin verdient.

Und sie war noch gut in der Zeit bis zu ihrem Besprechungstermin bei ihrem Steuerberater.

Dort würde sie zwar auch einen Kaffee bekommen, aber sie musste erst mal innerlich wieder zur Ruhe kommen.

Als sie einen Parkplatz entdeckte, sah sie das als ein Zeichen an, denn gegenüber war ein nettes kleines Bis­tro, in dem man nicht nur gut sitzen, sondern auch hervorragende Kaffeespezialitäten bekommen konnte.

Sie fühlte sich zwar in dem Wettstreit mit dem Stalker im Moment als Siegerin, doch das hatte sie sehr viel Kraft gekostet. Einem solchen Irren gegenüberzutreten war nicht so etwas wie ein Spaziergang durch den Rosengarten. Man wusste nie, wie sich solche Menschen verhielten.

Aber jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken, sie hatte es geschafft ihn zu verwirren und allein das war es, was zählte.

Von diesem Gedanken beflügelt lief Alexandra über die Straße und betrat das kleine Bistro, das erstaunlich gut besucht war.

*

Als sie sich noch suchend umblickte, stand jemand auf, kam auf sie zu.

»Hallo, Alexandra, das ist aber eine nette Überraschung, dich zu sehen. Willst du mit an meinen Tisch kommen und mir ein wenig Gesellschaft leisten?«

»Lars«, rief sie, als sie den jungen Arzt Dr. Dammer erkannte. »Die Überraschung ist ganz auf meiner Seite. Dich hätte ich hier niemals erwartet. Musst du um diese Zeit nicht in deiner Praxis sein?«

Er lachte.

»Richtig, aber ich habe mich einfach für einen Moment davongestohlen, weil das Knurren meines Magens nicht mehr zu überhören war. Ich hab heute noch nichts gegessen, und weil wir heute durcharbeiten, kann ich auch keine Mittagspause machen. Im Moment kommt mein junger Kollege allein klar.«

Junger Kollege?

Hatte sie sich da verhört? Davon wusste sie ja nichts.

»Ich leiste dir gern Gesellschaft, Lars«, sagte sie, »ich brauche allerdings jetzt einen doppelten Espresso, weil ich …«

Eigentlich hatte sie ihm jetzt die Geschichte mit dem Stalker erzählen wollen, aber er sah blass und angespannt aus. Da konnte sie ihn nicht auch noch mit ihrem Kram behelligen.

»Den hatte ich auch schon«, sagte er. Ihm war überhaupt nicht aufgefallen, dass sie ihren Satz abgebrochen hatte. Und das war ungewöhnlich. Lars war normalerweise ein Zuhörer, der sich voll und ganz auf seinen Gesprächspartner konzentrierte.

Sie setzten sich.

Die Bedienung kam, Alexandra bestellte ihren Espresso, Lars bekam sein Käse-Schinken-Sandwich serviert, das sehr gut aussah.

Doch ehe er da hineinbiss griff er nach seinem großen Kaffeebecher und trank einen großen Schluck.

So ein Pott Kaffee nach einem Espresso?

Er sah müde aus. Mutete er sich zu viel zu? Arbeitete er zu viel?

Ihre Freundin Liliane war ja aus diesem Grund immer ein wenig jammervoll.

Sie vergaß ihre eigenen Probleme und fragte rundheraus: »Lars, ist etwas nicht in Ordnung?«

Überrascht blickte er zu ihr hinüber.

»Wieso? Wie kommst du darauf?«, wollte er wissen, und am Klang seiner Stimme erkannte Alexandra, dass sie voll ins Schwarze getroffen hatte.

Ihr Espresso wurde serviert, sie antwortete erst, als die Bedienung wieder weg war.

»Ich sehe es dir an, Lars. Bist du überarbeitet, oder gab es wieder Ärger mit Liliane?«

Das konnte passen, sie hatte von Lil nichts mehr gehört, und das war ungewöhnlich, und als sie versucht hatte, sie zu erreichen, war das auch nicht geglückt.

Seiner Körperhaltung war anzusehen, dass es Liliane war, die Ärger machte. Warum, verflixt noch mal, tat sie das immer? Warum setzte sie ihn andauernd unter Druck? Sie hatte doch hoch und heilig versprochen, ihr Verhalten zu ändern. Einen besseren Mann als Lars konnte sie nicht finden, der sie über alles liebte.

»Nein, nein, es gab keinen Ärger«, beeilte er sich zu sagen. »Wir haben uns seit vorgestern nicht mehr gesehen.«

Also hatte es vorher Zoff gegeben, und nun herrschte Funkstille zwischen ihnen, das war im Grunde genommen auch nichts Neues, leider.

Lars biss in sein Sandwich, trank Kaffee hinterher, und das, was er dann sagte, machte Alexandra sprachlos. Welch ein Glück, dass sie saß, es hätte ihr sonst den Boden unter den Füßen weggerissen, so ungeheuerlich war es.

»Ich«, er hatte ich gesagt, nicht wir, das registrierte Alexandra sofort, »habe unsere Beziehung erst mal auf Eis gelegt. Ich fliege übermorgen nach Boston und übernehme dort für ein paar Wochen die Vertretung eines Kollegen. Das war schon lange geplant, ich war mir nur nicht sicher, ob ich das wirklich tun sollte …, wegen Liliane. Aber jetzt gibt es keinen Grund mehr, auf sie Rücksicht zu nehmen. Hier läuft alles in der Praxis weiter, ich habe einen sehr fähigen jungen Kollegen als Vertretung gewinnen können. Wir haben früher schon mal zusammen gearbeitet, und ich weiß, was er kann.«

Alexandra verstand überhaupt nichts, dabei hatte er sich klar und deutlich ausgedrückt.

Beziehung auf Eis legen …

Eine Vertretung in Boston annehmen …

Kein Grund mehr vorhanden, auf Liliane Rücksicht zu nehmen …

»Lars, ihr seid verlobt, wolltet bald heiraten«, ächzte sie schließlich.

Er nickte.

»Ja, stimmt, Alexandra. Liliane scheint das allerdings vergessen zu haben.«

Es wurde immer myteriöser. Sie hatte doch mit Lil darüber gesprochen, dass die Hochzeit im Ballsaal von Schloss Waldenburg stattfinden sollte. Sie hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie Lars nicht mehr heiraten wollte. Im Gegenteil, die Zweifel schienen vorbei zu sein.

»Lars, du musst da was missverstanden haben«, sagte Alexandra.

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.

»Das glaube ich nicht, aber nett von dir, dass du deine Freundin in Schutz nehmen willst.«

»Lars, ich nehme Lil nicht in Schutz, ich weiß, dass sie dich liebt und dich heiraten will, dich und sonst keinen.«

»Dann, liebe Alexandra, scheinst du allerdings nicht auf dem neuesten Stand zu sein mit den Informationen.«

Er sollte nicht in Rätseln sprechen.

»Dann bring mich bitte darauf«, bat sie.

Wieder trank er Kaffee, winkte die Bedienung herbei, um sich noch einen großen Pott zu bestellen. Sein Sandwich hatte er kaum angerührt, dabei war er doch in erster Linie ins Bistro gekommen, um etwas zu essen. Stattdessen schüttete er sich mit Kaffee zu. Er als Arzt musste doch wissen, dass es nicht gerade gesund war, zu viel davon zu trinken.

»Liliane hat Besuch von ihrem Exmann«, sagte er.

Erleichtert winkte Alexandra ab. Das war es also, er war eifersüchtig, der Gute. Nun, diese Sorge konnte sie ihm nehmen.

»Lars, das bedeutet nichts. Sie ist mit diesem Mann fertig, da ist nicht ein Funke von Gefühl. Wenn sie ihn jetzt sieht, dann ist es nichts weiter als eine Geste der Höflichkeit. Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen.«

»Und warum lässt sie ihn bei sich wohnen, Alexandra? Ist das normal? Ist es auch normal, dass sie, seit er da ist, ihre ganze Zeit mit ihm verbringt?«

Darauf konnte Alexandra nichts sagen. War Liliane von Sinnen? Dieser Amerikaner bedeutete ihr doch wirklich nichts. Warum machte sie seinetwegen ihre Beziehung kaputt?

»Das …, das habe ich nicht gewusst«, bemerkte Alexandra mit tonlos klingender Stimme. »Weder etwas von seinem Besuch noch davon, dass er bei ihr wohnt. Ich …, ich rede mit ihr, Lars.«

Er winkte ab.

»Musst du nicht, Alexandra. Es ist doch wohl so, dass Liliane und ich nicht zusammenpassen. Wir lieben uns, daran habe ich keinen Zweifel, aber unsere Liebe ist nicht alltagstauglich. Warum dieser Mann jetzt bei ihr ist, warum sie sich so verhält, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ich denke, das ist es nur, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es gab immer wieder Streitereien, Liliane verhält sich, was Zusammenleben betrifft, ziemlich pubertär. Sie hat eine Erwartungshaltung, die wohl niemand erfüllen kann. Niemand kann den ganzen Tag über händchenhaltend mit ihr verbringen, ich in meinem Beruf schon gar nicht. Einmal waren es meine Eltern, mit denen sie Probleme hatte, dann mit den vielen Hausbesuchen, später mit meinen nebenberuflichen ärztlichen Einsätzen bei Hilfsorganisationen. Ich kann mich nicht andauernd dafür entschuldigen, dass ich arbeite und humanitäre Tätigkeiten übernehme. Was an Freizeit übrig war, und so wenig war das auch nicht, habe ich mit ihr verbracht. Ich habe mich bei der Freizeitgestaltung nach ihren Wünschen gerichtet, und dennoch hat sie sich immer wieder wie ein kleines bockiges Mädchen verhalten, dem man die Puppe weggenommen hat.«

Er blickte zu Alexandra hinüber, am liebsten hätte sie ihn tröstend in die Arme genommen. Ihm war anzusehen wie sehr er litt und dass er sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht hatte.

»Vielleicht war es gut so, dass ihr Exmann gekommen ist. Ich kann jetzt einen Schnitt machen … Ich sage vorsichtig, das ich von meiner Seite aus die Beziehung auf Eis legen will, aber ich denke wohl eher, dass es vernünftiger ist, einen klaren Schnitt zu machen und unsere Verlobung zu lösen. Wir haben keine gemeinsame Basis.«

Wie schrecklich!

»Lars, ihr seid ein so schönes Paar, ihr passt so wunderbar zusammen.«

Er winkte ab.

»Ja, von der Optik her, aber ansonsten.«

»Es wird …, es wird Lil das Herz brechen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Alexandra, wird es nicht. Liliane ist stark, sie wird schnell darüber hinweg sein. Vielleicht hat sie sich ja auch bereits mit ihrem Exmann getröstet. Wenn wir Streit miteinander hatten, hat sie mir mehr als einmal gesagt, wie wunderbar er doch war.«

Diese dumme Lil! Das war so typisch für sie, in ihrem Zorn herumzuchaoten ohne nachzudenken.

»Lars, das war dahergeredet«, versuchte sie ihre Freundin in Schutz zu nehmen.

»Alexandra, in jeder Aussage steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich kenn diesen Amerikaner nicht, aber man muss sich ja doch schon die Frage stellen, warum er hier ist. Ohne Hintergedanken besucht man nicht seine Exfrau. Vielleicht hat er eingesehen, dass die Trennung ein Fehler war, und ihr ist das mittlerweile ebenfalls klar geworden. Aber weißt du, Alexandra, ich möchte darüber nicht nachdenken. Ich bin müde von all diesen Krächen, von denen die meisten so sinnlos waren.«

Er winkte die Bedienung herbei.

»Bitte, sei nicht böse, aber ich muss jetzt in die Praxis zurück, aber schön, dass wir uns vor meinem Abflug noch gesehen haben. Du bist eine tolle Frau, und Liliane kann froh sein, dich als Freundin zu haben.«

Die Bedienung war an den Tisch herangekommen.

»Zahlen bitte«, sagte er, und zu Alexandra gewandt, »darf ich dich zu dem Espresso einladen?«

»Ja, gern«, antwortete sie. Es wäre jetzt dumm gewesen, sich zu zieren und darauf zu bestehen, selbst zu bezahlen.

Nachdem er die Zeche beglichen hatte, stand er auf, nahm Alexandra in den Arm.

»Trink in Ruhe deinen Espresso aus … Ich wünsche dir alles, alles Gute bis zu unserem Wiedersehen.«

»Das wünsche ich dir auch, Lars«, entgegnete sie und erwiderte seine Umarmung.

Als er sie losließ um zu gehen, entdeckte sie den Stalker, der sie aus brennenden Augen ansah.

Er saß an einem der kleinen Tische im Eingangsbereich, sie hatte ihn vorher nicht bemerkt.

Einem Impuls folgend wollte sie Lars hinterherstürzen, doch dann besann sie sich.

Sie durfte keine Angst zeigen, sondern sie musste souverän sein.

Also setzte sie sich wieder, griff nach ihrer Tasse und trank, ohne einen Blick in seine Richtung zu werfen, was ihr sehr schwerfiel. Sie hätte seine Reaktion schon gern gesehen.

Dann griff sie nach einer Zeitung, die jemand am Nebentisch hatte liegen gelassen und tat so, als lese sie ganz interessiert.

Dabei war sie nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu erfassen.

Und diesmal war es nicht der Stalker, der sie so sehr aus dem Tritt brachte, nein, es waren die Worte von Lars, die sie noch immer verfolgten.

Wie verrückt es doch war!

Wie kurios das Leben manchmal spielte.

Liliane hatte, wenn sie wütend auf ihren Verlobten war, mehrfach überlegt, ob sie ihn verlassen sollte. Dabei war es niemals eine ernsthafte Überlegung gewesen, sie hatte mehr oder weniger damit kokettiert. Sie hatte nicht ein einziges Mal in Erwägung gezogen, dass es auch umgekehrt der Fall sein konnte. Und nun war genau das eingetreten.

Lars Dammer hatte sich von Liliane getrennt.

Wenn man davon sprach, etwas vorläufig auf Eis zu legen, dann war das nur der letzte Schritt vor der Endgültigkeit.

Wie würde Liliane das aufnehmen?

Und was hatte das mit ihrem Exmann auf sich?

Wie konnte sie nur so töricht sein, ihn bei sich zu beherbergen? Wollte sie Lars damit provozieren? Ihn eifersüchtig machen? Nun, dann war der Schuss aber ganz gründlich nach hinten losgegangen?

Eine solche Verhaltensweise konnte niemand tolerieren. Sie hätte da auch nicht mitgemacht.

Durch die Zeitung hindurch, die sie sich vors Gesicht hielt, spürte sie die durchbohrenden Blicke des Stalkers.

Sie hatte keine Lust mehr, jetzt irgendwas zu demonstrieren. Sie faltete die Zeitung zusammen, trank ihren Espresso aus, dann stand sie auf, grüßte freundlich in Richtung der Bedienung, danach verließ sie hocherhobenen Hauptes das Bistro, ohne den Stalker auch nur eines Blickes zu würdigen.

Ein wenig weiche Knie hatte sie schon, als sie über die Straße lief und in ihr Auto stieg.

Lieber Gott, betete sie inbrünstig, ehe sie ihr Auto startete, bitte mach, dass dieser Spuk bald vorbei ist.

Als sie sich in den Verkehr einordnete, sah sie, wie auch der Mann über die Straße rannte.

Er würde sie also weiter verfolgen, und ihre Attacke hatte ihn nur kurzfristig abgeschreckt.

Es war unangenehm. Als sie an der Polizeistation vorüberfuhr überlegte sie für einen Augenblick anzuhalten, auszusteigen und den Mann anzuzeigen.

Aber vermutlich reichte das, was sie bislang vorzubringen hatte, nicht aus, um gegen ihn etwas zu unternehmen.

Mike …

Er hatte doch versprochen, die Sache in die Hand zu nehmen. Und im Grunde genommen vertraute sie Mike mehr als der Polizei.

Mike konnte die Angelegenheit auf seine Weise zu regeln versuchen, das durften die Polizeibeamten nicht, die waren an ihre Vorschriften gebunden, die leider so waren, dass sie erst eingreifen durften, wenn wirklich etwas passiert war.

Mike …

An diesen Hoffnungsschimmer klammerte sie sich jetzt und versuchte gelassen und ruhig zu sein, was ihr unendlich schwerfiel, weil ihr Verfolger bereits wieder hinter ihr war und beinahe an ihrer Stoßstange klebte.

Alexandra überlegte kurz, ob sie abrupt auf die Bremse treten sollte, was unweigerlich zur Folge hatte, dass er mit seinem Wagen auf sie auffuhr.

Und dann?

Was hätte sie davon?

Die Polizei würde kommen, den Schaden aufnehmen, und vermutlich würde man sie dann noch als schuldig erklären, weil sie ohne einen erkennbaren Grund gebremst hatte.

Sie würde seinen Namen erfahren, aber das konnte sie durch ihre Rechtsanwälte auch so, wenn sie denen das polizeiliche Kennzeichen durchgab.

Ja, vielleicht sollte sie das schon mal tun. Vielleicht war der Mann sogar aktenkundig.

Nein!

Sie würde erst alles mit Mike besprechen und vorher überhaupt nichts unternehmen, nur auf sich aufpassen und diesen Stalker in Schach halten, keine Schwäche vor ihm zeigen. Das war anstrengend genug.

Alexandra hatte das Haus ihres Steuerberaters erreicht. Hier musste sie nicht auf der Straße parken, sondern es gab für die Mandanten Parkplätze auf dem Hof.

Welch ein Glück!

Dorthin konnte der Stalker sie nicht verfolgen.

Ein beinahe triumphierendes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie in die Einfahrt einbog.

Ende im Gelände für dich, dachte sie, während sie in eine der Parkbuchten fuhr.

Sie stieg aus und ging zum Hintereingang, den es hier zum Glück gab.

Jetzt konnte er lange auf sie warten …

*

Als Alexandra wieder zu ihrem Auto kam, fand sie es über und über mit roten Rosen geschmückt.

Es sah wunderschön aus, und es hätte ihr Herz zum Höherschlagen gebracht, wenn diese Geste von einem geliebten Menschen gekommen wäre, aber nicht von einem unkontrolliert liebenden Irren.

Alexandra sammelte die Rosen ein und warf sie in die in der Nähe stehenden Mülltonne, dann fuhr sie los.

Wie nicht anders zu erwarten, stand das dunkle Auto in der Nähe und setzte sich in Bewegung, als sie aus der Ausfahrt herausfuhr.

Es kostete sie viel Mühe, den Mann zu ignorieren, aber sie schaffte es.

Normalerweise wäre sie jetzt wieder nach Hause gefahren, aber das, was Lars ihr erzählt hatte, ließ sie nicht los und beschäftigte sie noch mehr als der Stalker.

Also fuhr sie zu Lilianes Haus. Normalerweise hätte die jetzt arbeiten müssen.

Alexandra wusste, dass Liliane sich ein paar kleinere Aufträge an Land gezogen hatte, die schnell erledigt sein mussten.

Als sie jedoch klingelte, öffnete niemand die Tür. Es war nicht einmal jemand vom Personal da. Liliane beschäftigte zwei Assistenten, von denen eigentlich immer wenigstens einer da war und Büro- und Telefondienst machte.

Was hatte das denn zu bedeuten?

So etwas war noch niemals da gewesen!

Hatte Liliane die beiden nach Hause geschickt?

Wollte sie mit ihrem Exmann ungestört sein?

Wirklich, es war alles mehr als mysteriös und passte nicht zu Lils Verhalten. Es passte allerdings auch nicht, dass sie, obschon mit einem anderen Mann verlobt, mit ihrem Exmann unter einem Dach schlief und dann ihrem Verlobten dessen Vorgänger nicht einmal vorstellte.

Alexandra versuchte es noch einmal, sie klingelte Sturm, wieder nichts.

Ehe sie zu ihrem Auto ging, blickte sie die Straße entlang. Von Lilianes Auto war nichts zu sehen. Also war sie mit dem Amerikaner unterwegs.

Seufzend stieg Alexandra wieder in ihr Auto. Da konnte sie jetzt auch nichts mehr machen. Da mussten die Dinge eben ihren Lauf nehmen.

Sie konnte Lil nicht begreifen. Warum trat sie ihr Glück denn so mit Füßen? Etwas Besseres als den Doktor konnte sie nicht finden. Erst war sie geradezu besessen davon gewesen für ihren Ex einen Nachfolger zu finden, nun hatte sie ihn und ließ ihn gehen. Oder war sie sich seiner so sicher, dass sie glaubte auf seinem Kopf herumtanzen zu können?

Normalerweise wusste Alexandra, wie es in ihrer Freundin aussah, schließlich kannten sie sich schon aus Sandkastentagen. Das jetzt konnte sie allerdings nicht nachvollziehen.

Sie würde ihr Verhalten bereuen, aber dann war es zu spät. Diese dumme Lil!

Ehe Alexandra losfuhr, versuchte sie, Liliane über das Handy zu erreichen, erfolglos. Sie hatte es ausgeschaltet, und als Alexandra den Versuch unternahm, sie über das Festnetz zu bekommen, musste sie feststellen, dass Liliane nicht einmal ihren Anrufbeantworter eingeschaltet hatte.

So etwas war noch nie, niemals zuvor passiert!

Liliane achtete mit peinlicher Genauigkeit darauf, dass der immer angeschaltet war, weil sie für ihre Auftraggeber Tag und Nacht erreichbar sein wollte.

Was war bloß los?

Was lag da in der Luft?

Im Augenblick wurden sie beide nicht gut bestrahlt.

Liliane war dabei, ihr Lebensglück zu zerstören, und sie wurde durch einen Irren in Angst und Schrecken versetzt. Aber dennoch befand sie sich in der besseren Situation. Sie hatte Mike! Bei dem Gedanken an den feschen Flugkapitän wurde ihr ganz warm ums Herz, und sie vergaß vorübergehend Lil und deren hausgemachten Probleme und den Mann, der sie verfolgte, und der bereits wieder hinter ihr herfuhr.

Am Samstag, dachte sie, würde sie Mike sehen, nicht nur an diesem einen Tag. Er hatte bis Dienstag frei, und eines stand schon jetzt fest, sie würde nicht eine Sekunde von seiner Seite weichen. Sie würde in seinen Armen Schutz suchen, seine Nähe und seine Küsse genießen, und sie hoffte so sehr darauf, dass es ihm gelingen würde, den Mann zu vertreiben, der ihr Angst machte und ihr vorher so schönes Leben verdüsterte.

Sie hatte geglaubt, das Schlimmste in ihrem Dasein sei der Ärger mit ihrem Bruder Ingo. Doch das war nichts gegen das, was sie im Moment durchlebte.

Alexandra blickte in den Rückspiegel.

Das hätte sie sich im Grunde genommen ersparen können, denn, wie nicht anders zu erwarten, folgte ihr das dunkle Auto mit dem Mann mit Sonnenbrille, die er trug, obschon die Sonne derzeit überhaupt nicht schien.

*

Wenn Alexandra geglaubt hatte, mit ihrer Aktion hätte sie den Mann in seine Schranken verwiesen, so sah sie sich getäuscht.

Seine Anrufe kamen in schöner Regelmäßigkeit, er pflasterte sie mit Briefen zu, die er beinahe stündlich vor die Tür legte. Hinzu kamen Pakete mit Geschenken aller Art, die sofort in der Tonne landeten.

Alexandra machte sich nicht die Mühe nachzusehen, was er ihr da schickte.

Aber dumm war er nicht.

Wenn er die Pakete mit der Post geschickt hätte oder einem der zahlreichen Paketdienste, hätte sie ja die Annahme verweigern können.

Nein, er stellte sie alle vor die Tür, und obschon sie ihrem Personal die Anweisung gegeben hatte, keinen Fremden auf das Anwesen zu lassen, gelang es dem Mann doch immer wieder eine Lücke zu finden, wo niemand auf dem Hof oder in der Nähe des Schlosses war.

Alexandras Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Angst hatte sie noch nicht, aber diese ständigen Anrufe zermürbten ganz besonders, weil sie Tag und Nacht erfolgten.

Wann schlief dieser Irre eigentlich?

Aber sie wollte nicht mehr an ihn denken, sich durch ihn nicht das Leben vergällen lassen.

Es war Sonnabend früh, und sie war auf dem Weg zu Mike.

Die gute Klara, die aus ihrem Urlaub zurück war, hatte ihr ein wunderbares großes Carepaket mit allerlei Köstlichkeiten gepackt, und sie war sogar extra früh aufgestanden, um für sie Brötchen und Croissants zu backen, die unvergleichlich waren. Alexandra kannte weit und breit keinen Bäcker, der sie so gut hinbekam.

Sie sah, dass der Irre sie verfolgte, aber heute machte es ihr zum ersten Mal überhaupt nichts aus.

Sie war in allerbester Laune, und die ließ sie sich wirklich durch nichts verderben.

Ihre Augen strahlten, ihre Wangen waren gerötet, und ihr Herz schlug vor lauter Freude eine Spur schneller.

Außerdem war Alexandra mit ihrem Aussehen zufrieden. Sie hatte lange überlegt was sie anziehen sollte, dann hatte sie sich für ein dunkelblaues kniebedecktes Seidenkleid entschieden, dem aufgedruckte kleine weiße Schmetterlinge eine beinahe fröhliche Note gaben. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Füße steckten in dunkelblauen Ballerinas.

In einer solchen Aufmachung sah man nicht unbedingt sexy aus, aber das wollte sie auch überhaupt nicht. Sie wollte Mike gefallen, und in erster Linie wollte sie sich in dem Outfit wohlfühlen und sich nicht verkleidet vorkommen.

Es war so aufregend, was ihr bevorstand.

Der Neuanfang mit Mike!

Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass sie sich so sehr darauf freuen würde.

Kurz vor Erreichen ihres Zieles rief sie Mike an, weil sie unmöglich die große Box und ihre für einige Tage gepackte Reisetasche allein nach oben tragen konnte. Außerdem war es auch vielleicht gar nicht schlecht, dass ihr Verfolger sah, dass es da einen Mann in ihrem Leben gab und er keine Chance hatte und endlich aufgeben sollte.

Als sie an seinem Haus ankam, stand er bereits vor der Haustür, und da sie direkt davor einen Parkplatz fand, kam er auf das Auto zugelaufen, riss die Fahrertür auf, half ihr galant aus dem Wagen.

Und dann war alles wie in einem Traum …

Er nahm sie in seine Arme, sie verharrten eine Weile so, ehe er sich zu ihr herunterbeugte und sie küsste, mit einer unglaublichen Sanftheit und Zärtlichkeit, die Alexandra fast die Sinne nahm, und sie glaubte, vor lauter Glück platzen zu müssen.

Sie war angekommen, angekommen bei Mike, und es fühlte sich alles so wundervoll, so richtig an.

Als er sie nach unendlich langer Zeit, wie ihr schien, losließ, warf sie unwillkürlich einen Blick auf die Straße und erstarrte.

Sie hatte den Stalker vergessen, aber er war wieder da, parkte genau schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite.

Mike bemerkte die Veränderung an ihr und erkundigte sich besorgt: »Liebes, was ist los?«

Sie atmete tief durch, schluckte, dann flüsterte sie: »Er ist da …, auf der anderen Straßenseite.«

Er folgte ihrem Blick.

»Dein Stalker?«

Sie konnte nichts sagen, denn es war so schrecklich, aus dem Zauber der Liebe, der Glückseligkeit in die Realität zurückgerufen zu werden, die sie zwar kannte, aber für einen Augenblick vergessen hatte.

Sie nickte.

»Liebes, ist es das Auto da drüben mit dem Kaimburger Kennzeichen?«

Wieder konnte sie nur nicken.

Er strich ihr beruhigend über das Haar, lächelte sie liebevoll an, dann sagte er: »Bleib bitte hier, und sei ganz ruhig. Den Mann knöpfe ich mir jetzt vor.«

Alexandra wollte ihn zurückhalten, weil sie Angst hatte, der Irre könnte Mike etwas antun. Bei solchen Psychopathen wusste man nie, was sie letztlich tun würden.

»Mike, bitte pass auf dich auf …, lass dich nicht von dem Mann provozieren.«

»Keine Sorge, mein Herz, mir passiert schon nichts.«

Er ging langsam über die Straße, auf das Auto zu.

Alexandra bemerkte, wie ihr Verfolger starten wollte, er traute dem Braten wohl nicht. Vielleicht hatte er aber auch nur Angst, weil von Mike eine so große Souveränität ausging.

Der Motor erstarb, und da war Mike auch schon bei dem Auto, riss die Fahrertür auf und zerrte den Mann aus dem Wagen.

Erst jetzt bemerkte Alexandra, wie groß Mike und wie klein dagegen ihr Verfolger war.

Sie hielt den Atem an.

Was würde jetzt passieren?

Mike ließ den Mann los, dann redete er auf ihn ein, so bestimmt, so leise, dass Alexandra, so sehr sie sich auch anstrengte, kein Wort davon mitbekam.

Auf sie wirkte Mike sehr autoritär, aber ob eine solche Haltung für einen Verhaltensgestörten gut oder schlecht war, wusste sie nicht.

Mike redete und redete, dann wandte er sich ab, kam zu ihr zurück, der Mann stieg in sein Auto.

Würde er losfahren oder nicht?

Alexandra wollte darüber nicht nachdenken, sie war jetzt ganz einfach nur froh, dass Mike nichts passiert war, dass es keinen Riesenkrach gegeben hatte.

Sie fragte nicht, und er sagte zunächst auch nichts, sondern erkundigte sich: »Was soll ich nach oben tragen?«

Sie machte den Kofferraum auf, Mike nahm die Box und ihre Reisetasche, sie ihre Jacke für alle Fälle und ihre Handtasche.

Sie zwang sich, nicht auf die andere Straßenseite zu blicken, als sie Mike ins Haus folgte.

»Und nun?«, erkundigte sie sich, als der Fahrstuhl sie nach oben in seine Wohnung brachte. »Glaubst du, er wird verschwinden?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, ich bin nicht unbedingt erfahren im Umgang mit solchen Menschen. Zumindest hat er mir zugehört. Wie weit sich meine Worte bei ihm manifestiert haben, wird sich zeigen. Zumindest hat der Mann mir zugehört.«

Mit einem leichten Ruck hielt der Fahrstuhl, sie stiegen aus.

»Dass du eine Reisetasche für mehrere Tage mitgebracht hast, finde ich ganz großartig«, lachte er, als er die Wohnungstür öffnete, »aber sag mal, was ist um Himmels willen in dieser Box drin?«

Sie strahlte ihn an.

»Lauter Köstlichkeiten, wenn du das alles sehen könntest, bekämst du sofort Pfützchen auf der Zunge.«

»Hört sich gut an. Aber eigentlich wolltest du doch Brötchen mitbringen, mein Herz.«

»Die habe ich auch dabei, frisch gebacken von unserer Köchin Klara. Du wirst hingerissen sein.«

Drinnen angekommen, stellte er die Box und die Tasche ab, dann nahm er sie kurz entschlossen wieder in seine Arme.

»Mag ja sein«, bemerkte er, ehe er ihren Mund mit einem langen Kuss verschloss, »aber zunächst einmal bin ich hingerissen von dir. Du siehst wundervoll aus, und ich kann mein Glück überhaupt nicht fassen, dich jetzt in meinen Armen halten zu dürfen. Es ist wie ein Traum.«

Wenn er sie nicht geküsst hätte, dann hätte sie das gern bestätigt. Am liebsten hätte sie sich auch in den Arm gekniffen, um sich davon zu überzeugen, dass es wahr war, was sie jetzt erlebte. Doch das ging nicht, sie hatte ihre Arme um seinen Nacken geschlungen und keine Ahnung, wann sie ihn wieder loslassen würde.

Das Leben ist schön, dachte sie, doch dann war es auch mit dem Denken vorbei.

Sie fühlte nur noch, und sie war sich absolut sicher, dass sie jetzt beide eng umschlungen, sich küssend, schnurstracks auf Wolke Sieben zusegelten …

*

Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe sie dazu kamen zu frühstücken, und auch dabei konnten sie die Finger nicht voneinander lassen und verschlangen sich mit Blicken.

Alexandra hätte gern einmal nachgesehen, ob ihr Verfolger noch da war oder ob Mike ihn in die Flucht getrieben hatte, aber sie bezwang ihre Neugier. Sie wollte sich ihre gute Laune, dieses Glücksempfinden, nicht verderben lassen.

Sie und Mike waren wieder zusammen. Na ja, so richtig waren sie ja vorher eigentlich nicht zusammen gewesen, aber jetzt war alles anders.

Sie empfand so viel für diesen Mann, der ihr, lässig gekleidet in Jeans und T-Shirt, gegenübersaß und sie anstrahlte.

Und das auch auf seiner Seite unendlich viel Gefühl war, konnte ein Blinder sehen.

»Ich bin froh, dass du deinen Frust wegen meines törichten Verhaltens überwunden hast und als Erste hergekommen bist.«

Sie strahlte ihn an.

»Ja, genau bis zu deiner Haustür. Schon vergessen, dass ich dann wieder davongelaufen bin?«

»Immerhin habe ich dich gesehen, und das hat mir Mut gemacht, mich zu melden. Ich war ja der Meinung, du würdest niemals mehr ein Wort mit mir reden. Mein Gott, was habe ich mir da bloß für einen Unsinn zusammengeschwafelt, und wie arrogant ich war, wie überheblich. Ich weiß ja noch nicht viel über den Adel, weil das eine Gesellschaftsschicht ist, mit der ich privat nichts zu tun habe. Und wenn ich in meinem Cockpit sitze, dann weiß ich nicht, ob ich Grafen, Fürsten oder Könige befördere … Könige wohl nicht«, schränkte er ein, »die fliegen vermutlich immer mit ihren Privatjets. Eines weiß ich jetzt auf jeden Fall, Adelige sind toleranter, können schneller vergessen, gehen schneller auf andere Menschen zu.«

Alexandra wurde rot, sein Kompliment schmeichelte zwar, aber sie konnte es so nicht im Raum stehen lassen, denn da würde sie sich mit fremden Federn schmücken.

»Mike, ich muss da etwas richtigstellen, Adelige unterscheiden sich nicht von Bürgerlichen, es gibt da wie dort solche und solche … Ich weiß nicht, ob ich von mir aus noch mal zu dir gekommen wäre, nachdem ich nichts mehr von dir gehört hatte und du doch mit recht derben Worten über mich abgezogen hast. Es war dein Freund Oliver, der die Fäden gesponnen hat, und dem es ein Anliegen war, uns wieder zusammenzubringen.«

»Oliver? Was sagst du da?«

Sie nickte.

»Ja, Mike, er hat telefonisch versucht mich zu erreichen, war sogar im Schloss, nur da war ich nicht da. Aber wir haben uns in der Tiefgarage des Flughafens getroffen, und danach waren wir Kaffee trinken, und er hat mich beschworen, über meinen Schatten zu springen und den ersten Schritt zu tun. Oliver ist ein wunderbarer Mensch und dir ein toller Freund. Dein Wohl liegt ihm und auch seiner Frau Madeleine sehr am Herzen.«

Mike schüttelte den Kopf.

»Und ich hatte keine Ahnung.«

»Wer weiß, vielleicht ist es ja auch gut so, denn sonst hättest du es ihm womöglich noch ausgeredet, Kontakt zu mir aufzunehmen.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Niemals, ich habe unter unserer Trennung gelitten wie ein Hund … Das sagt man doch so, wenn einem tief im Inneren ein Schmerz durchbohrt, oder?«

Sie lächelte ihn an.

»Ich weiß es nicht, auf jeden Fall ist es ganz schrecklich, wenn man unglücklich ist, sich nach dem anderen sehnt und weiß, dass die Tür zu ihm verschlossen ist.«

»In so eine Situation dürfen wir niemals mehr kommen«, beschwor er sie, und dann konnte er nicht anders. Er musste sie küssen, weil das Glück auch nicht immer Worte brauchte.

*

Der Sonnabend verging wie im Rausch. Sie hatten ihre Handys abgestellt, und Mike hörte seinen Anrufbeantworter nicht ab.

Sie wollten nichts, nur füreinander da sein, ihre Liebe genießen, Küsse und Zärtlichkeiten austauschen.

Und um ihr leibliches Wohl mussten sie sich ebenfalls keine Sorgen machen, Klara hatte perfekt vorgesorgt. In keinem Luxusrestaurant hätte man feudaler speisen können.

»Köstlich, köstlich«, rief Mike immer wieder begeistert aus, wenn er etwas probiert hatte. »Und so wirst du alle Tage verwöhnt?«

Alexandra strahlte ihn an.

»Wenn ich wollte, könnte ich es haben. Klara nimmt es mit jedem Sternekoch auf. Aber ich glaube, wenn man immer nur Delikatessen zu sich nimmt, wird man sie irgendwann leid. Außerdem bin ich jemand, der bodenständige Hausmannskost durchaus schätzt. Für wirklich leckere Bratkartoffeln lasse ich einen Hummer stehen, und in deftige Eintöpfe könnte ich mich reinlegen.«

Er schaute sie an, konnte von ihrem Anblick gar nicht genug bekommen.

»Ist das eine neue Lektion über den Adel, oder bist du da eine Ausnahme?«

Sie zuckte die Achseln.

»Ich kann nur für mich und meine Familie sprechen, wir sind ganz normal, wenngleich meine Eltern so richtige Gourmets sind, das bedeutet aber nicht, dass jeden Tag Kaviar oder so was auf den Tisch muss. Sie legen halt großen Wert auf die exzellente Zubereitung eines Gerichts, auch eine Kartoffelsuppe kann sterneverdächtig sein. Ich denke, so eine Einstellung hat aber nichts mit Adel oder Nichtadel zu tun. Es gibt Feinschmecker in allen Gesellschaftsschichten, ebenso wie bornierte Snobs. Bitte, mach dich von dem Gedanken frei, dass es eine andere Welt ist. Hab ich dir nicht bewiesen, dass ich ein ganz normaler Mensch bin? Kehre ich irgendwie die Gräfin heraus?«

Er drehte eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz herausgelöst hatte, um einen Finger und sagte ganz ernsthaft: »Du bist für mich keine Gräfin.«

»Sorry, ich kann sie nicht wegretuschieren, du musst dich daran gewöhnen«, antwortete sie.

»Kann ja sein, dass du diesen Titel trägst, mein Herz«, sagte er, »für mich bist du eine Königin. Die Königin meines Herzens, und das wirst du für mich immer bleiben, ganz gleichgültig, was du im wirklichen Leben bist.«

Sie strahlte ihn an und wisperte: »Ach, Mike …«

Mehr konnte Alexandra nicht sagen, denn da war schon wieder sein Mund, der ihre Lippen mit einem glühenden, leidenschaftlichen Kuss verschloss.

Alles war auf einmal so schön, fühlte sich so richtig an, und für den Moment wurde ihr klarblauer Himmel durch keine ach so kleine graue Wolke getrübt.

Alexandra war glücklich, überglücklich, und am liebsten hätte sie jetzt die ganze Welt umarmt, aber weil das absolut unmöglich war, begnügte sie sich damit, sich von Mike umarmen zu lassen und auch ihn ganz fest mit beiden Armen zu umfangen …

*

Leider ging es nicht, die Zeit stehen zu lassen. Und sie konnten auch nicht ewig in ihrer kleinen, glückseligen Welt sein. Dafür gab es ganz einfach zu viele moderne Kommunikationsmittel, die einen in die Realität zurückholten. Und es gab auch so etwas wie einen Alltag, den man auch nicht auf Dauer ignorieren konnte.

Zuerst war es Mikes Firmenhandy, das sie auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte. Das musste Tag und Nacht eingeschaltet sein für eventuelle Notfälle. Das war zwar jetzt nicht unbedingt ein Notfall, aber Mike wurde darüber informiert, dass er seinen Dienst nicht erst am Dienstagabend antreten musste, sondern bereits schon Dienstag früh eine Maschine nach San Francisco fliegen musste.

Das war im Grunde genommen ein Glücksfall, denn Alexandra hatte es schon anders erlebt, da waren Mikes freie Tage ganz gestrichen worden und er hatte zu einem Einsatz gemusst.

Dienstag früh bedeutete immerhin, dass sie jetzt den ganzen Sonntag noch für sich hatten, den ganzen Montag, und, nicht zu vergessen, drei wundervolle Nächte, die sie natürlich nicht wie bisher allein im Gästezimmer verbringen würde, sondern bei ihm.

Es war so großartig, neben jemandem einzuschlafen und neben ihm aufzuwachen. Für Alexandra eine neue Erfahrung, aber eine, die sie nicht mehr missen wollte.

»Bist du traurig, weil meine Gesellschaft wieder querschießt?«, erkundigte er sich und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Nacken, der bei ihr einen wohligen Glücksschauer auslöste.

Alexandra drehte sich um, schmiegte sich an ihn und fühlte sich unbeschreiblich wohl, besonders, als er seine Arme um sie legte, sanft und beschützend.

Wir zwei gegen den Rest der Welt, dachte sie …

Der Rest der Welt, das bedeutete auch der Stalker, den sie vollkommen aus ihrem Leben ausgeklammert hatte, weil scheinbar nur sie und Mike auf diesem Planeten gewesen waren, auf ihrer Wolke der Glückseligkeit.

Von der war sie allerdings jetzt sehr unsanft heruntergepurzelt und hart auf dem Boden aufgeschlagen.

Alexandra wurde ganz steif in seinen Armen.

Mike schob sie ein wenig von sich weg, schaute sie irritiert an.

»Was ist los mit dir, mein Liebes? Was hast du?«, erkundigte er sich besorgt.

»Er …, der Stalker«, die Erkenntnis, dass es ihn gab, war mit einer solchen Gewalt auf sie niedergeprasselt, dass sie kaum sprechen konnte. Aber von traumhaftem Glück wieder in die Realität zurückzukehren war ja auch so etwas wie aus einem kuscheligen, weichen, warmen Bett in eiskalten Schnee geworfen zu werden oder sogar noch schlimmer.

»Liebes, er ist nicht hier, beruhige dich.«

Alexandra befreite sich aus seinen Armen, dann lief sie ans Fenster, danach öffnete sie die Terrassentür, lief zur Brüstung, beugte sich gefährlich weit darüber, blickte von rechts nach links, danach umgekehrt. Dann kam sie in den Raum zurück, wo Mike noch immer an der Stelle stand, an der sie ihn verlassen hatte.

»Ich kann ihn nicht sehen«, murmelte sie, »ich …, sein Auto ist weg.«

Mit zwei, drei Schritten war er wieder bei ihr, umarmte sie.

»Was sollte er auch hier? Bei mir bietest du ihm keine Angriffsfläche. Er wüsste ja nicht einmal, vor welche Tür er Briefe, Blumen, Geschenke oder was auch immer, legen sollte …«

»Oder du hast ihn mit deinem autoritären Auftritt vertrieben, auf immer …«

Er strich ihr über das seidige Haar, drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

»Liebes, ich bin kein Zauberer, jetzt Mutmaßungen anzustellen, wäre Zeitverschwendung. Ich kann mir sehr gut vorstellen, meine Zeit mit dir ganz anders zu verbringen, als über einen Stalker zu reden oder nachzudenken. Hier sind wir allein, wie auf einer einsamen Insel. Nichts kann dir passieren, und wenn wir … ans Festland gehen, dann bin ich an deiner Seite und beschütze dich.«

Das hörte sich gut an, aber sie hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen. Sie wollte bei ihm sein, an seiner Seite, und das am liebsten für immer.

Für immer, das war vielleicht ein wenig vorgegriffen, aber sie fühlte sich wohl an seiner Seite, und noch niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so fallen lassen können wie bei Mike. Von ihm ging eine unglaubliche Ruhe aus, eine Souveränität, die einen alles vergessen ließ, sogar einen Stalker.

Wenn man so angeschlagen war wie sie im Augenblick, da tat ein solcher Fels in der Brandung unglaublich gut.

»Oliver hat heute auch frei«, sagte er, »wir könnten den Viehoffs einen Besuch abstatten. Ich finde, die sollen es als Erste erfahren, dass wir zwei auf einer …, nun, gemeinsamen Woge des Glücks schwimmen.«

Das hatte er schön gesagt. Gemeinsame Wege des Glücks … In seinen Gedanken konnte man die Wärme des Wassers fühlen.

Sie nickte.

»Oliver haben wir es letztlich zu verdanken, dass wir zusammen sind. Er muss es als Erster erfahren, aber wir können doch dort nicht einfach auftauchen, wie die Heuschrecken einfallen. Der Sonntag ist den meisten Menschen heilig.«

Er lächelte sie an.

»Schon vergessen, dass es so was wie ein Telefon gibt? Ich werde einfach bei den Viehoffs anrufen und fragen, ob sie was dagegen haben, wenn ich mal vorbeikomme …, und wenn sie ja sagen, dann stehe ich einfach mit dir vor ihrer Tür. Du bist dann gewissermaßen mein Gastgeschenk. Aber ehe es so weit ist, möchte ich dich küssen, jetzt, sonst sterbe ich vor lauter Sehnsucht nach dir. Und das willst du doch wohl nicht riskieren?«

Wollte sie nicht.

Und so kam es, wie es kommen musste – für eine ganze Weile waren Oliver und seine reizende französische Ehefrau Madeleine erst einmal wieder vergessen …

*

Wenn Alexandra die mit Mike verbrachte Zeit auf einer Skala von eins bis zehn hätte bewerten müssen, dann hätte es für jede Sekunde, jeden Augenblick, eine glatte zehn gegeben.

Es war alles so unglaublich schön gewesen, ob nun die Zeit in seiner Wohnung, die mit Oliver und Madeleine verbrachten Stunden, die gemeinsamen Spaziergänge, das Spaghettiessen in einem kleinen italienischen Restaurant, seine zärtlichen Berührungen, die Gespräche am Abend bei einem Glas Rotwein …

Highlight um Highlight hatten sich aneinandergereiht wie die Perlen einer Kette.

Allerdings war die Zeit verflogen wie Sternenstaub, und Alexandra hatte nicht fassen können, dass nun schon Dienstagmorgen war und sie, wenigstens vorübergehend, getrennte Wege gehen mussten.

Mike war zum Flughafen gefahren, um seinen Job zu machen.

San Francisco …

Da wollte sie auch mal wieder hin. Es war eine traumhafte Stadt, und sie hatte ihren Jungmädchentraum, mit einem roten Klappstuhl einen Tag lang auf der Golden-Gate-Bridge zu sitzen, noch immer nicht wahr gemacht.

Es würde wohl ein Traum bleiben, dachte Alexandra, als sie in Richtung Heimat fuhr, und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht mehr.

Aber Hand in Hand mit Mike durch die Straßen laufen, das einmalige Flair genießen, das wollte sie schon.

Ach, Mike …

Er war wirklich eine Bereicherung für ihr Leben, und sie war sich jetzt schon sicher, dass er ihrer Familie gefallen würde.

Welch ein Glück, dass Mike anfing, seine Vorurteile gegen den Adel und gegen die Schlossbesitzer abzubauen.

Wenn sie zusammenblieben, würden sie dann irgendwann zusammen auf Schloss Waldenburg wohnen, und er …

Alexandra stoppte ihre Gedanken.

Das war Zukunftsmusik, auch wenn es wunderschön mit ihnen war, mussten sie sich doch erst näher kennenlernen. Und wann kannte man jemanden?

Alexandra konnte sich nicht an den Namen des Stammes erinnern, aber es gab bei diesen Indianern den Satz – wenn du jemanden richtig kennenlernen willst, musst du eine ganze Weile in seinen Mokassins gelaufen sein.

Sie lächelte.

Sie hatte in Mikes noch nicht einmal einen Fuß gehabt. Aber das war nicht wichtig.

Sie waren auf einem ganz wunderbaren Weg, und niemand trieb sie zu irgendetwas an. Im Augenblick hatten sie alle Zeit der Welt.

Liebte sie ihn?

Es gab viele Arten die Liebe zu leben, und jeder empfand sie anders. Was für den einen eine Liebelei war, war für den anderen schon ein elementares Erlebnis.

Es war kein Blitzschlag der Liebe, der sie getroffen hatte, so wie Marion und Olaf oder …

Sie wollte nicht mehr daran denken, jetzt wirklich nur noch dieses eine Mal!

Ja, mit ihr und dem Mann, den seine Freunde Joe nannten, da war es auch so ein Gefühl gewesen, das atemlos machte, das Herz und Seele gleichermaßen berührte.

Mit Joe und ihr das hatte nicht sein sollen, das Schicksal, der liebe Gott, der Himmel, was auch immer es gewesen war, es hatte dafür gesorgt, dass es keine zweite Begegnung geben sollte, denn sonst wäre sie nicht in diese Massenkarambolage auf der Landstraße verwickelt worden, die es vorher, aber auch nachher, nie wieder gegeben hatte.

Der Gedanke an Joe tat nicht mehr weh, er erfüllte sie nur mit leiser Wehmut. Aber vielleicht konnte man so ein Gefühl in der Realität, im Alltag, überhaupt nicht leben.

Sie durfte nicht mehr an Joe denken, denn das wäre Mike gegenüber unfair. Ein kleines Plätzchen in ihrem Herzen würde Joe für immer behalten, zusammen mit der Erinnerung an einen nicht gelebten Traum.

Mike war Realität, und dennoch waren da die wunderbaren Gefühle, die sie miteinander teilten, eine große Übereinstimmung in ihrem Denken, sie musste lächeln, als sie ihre Gedanken fortsetzte: Wenn es nicht gerade um den Adel ging, aber auch da waren sie auf einem guten Weg.

Mike tat ihr ganz einfach gut.

Sie verspürte noch jetzt eine wohlige Trägheit in sich, aus der sie allerdings jäh gerissen wurde, als sie hinter sich im Rückspiegel ein dunkles kleines Auto bemerkte.

Der Stalker!

Sie hatte ihn vollkommen aus ihrem Bewusstsein gedrängt, jetzt überfiel sie die Erinnerung an ihn wie die riesige Welle eines Tsunamis.

Alexandra fuhr scharf rechts ran, bremste, die Reifen auf der Beifahrerseite wühlten Erde auf.

Der Stalker!

Was würde er jetzt tun?

Auch bremsen, auf sie zukommen, um zu demonstrieren, dass er noch lange nicht aus ihrem Leben verschwunden war?

Das Auto fuhr vorüber, und jetzt erkannte Alexandra, dass es ein ganz anderes Nummernschild hatte.

Es war nicht der Stalker, und es war auch ein ganz anderer Fahrzeugtyp.

Sollte sie jetzt auf jedes beliebige dunkle Auto der Mittelklasse reagieren, das auf der Straße war?

Nein, das wäre verrückt.

Sie hatte jetzt auch nur so überreagiert, weil sie mit Mike diese wundervolle Zeit hatte.

Jetzt hatte der Alltag sie wieder, und in den musste sie sich erst wieder einfügen …, leider!

Ihr Handy klingelte. Sie angelte es aus ihrer Handtasche, die neben ihr auf dem Beifahrersitz war.

Sie atmete erleichtert und glücklich auf.

Es war Mike.

»Wo bist du gerade, mein Liebes?«, wollte er wissen.

»Das weißt du doch, auf dem Weg nach Hause.«

Er seufzte.

»Ich wollte, du wärest jetzt bei mir. Ich muss unentwegt an dich denken, und halte es vor lauter Sehnsucht jetzt schon kaum aus. Ich möchte mich bei dir bedanken …, für die wunderbaren Stunden und Tage mit dir. Es war wie ein Traum … Ein Traum, den wir hoffentlich in unseren Alltag hinüberretten können.«

»Das …, das wünsche ich mir auch«, antwortete sie, und ihre Stimme klang noch immer ein wenig zittrig, was Mike sofort bemerkte.

»Hast du etwas?«, erkundigte er sich sofort besorgt. »Stimmt etwas nicht?«

Sie wollte ihm jetzt nicht sagen, dass sie Gespenster gesehen hatte, für einen Moment geglaubt hatte, den Stalker hinter sich zu haben.

»Nein, mein Lieber. Es ist alles in Ordnung … Ich bin nur ein wenig traurig, dass die schöne Zeit vorbei ist. Mike, es war herrlich bei dir, mit dir … Ich …, ich … vermisse dich sehr …«, das war nicht gelogen.

»In ein paar Tagen sehen wir uns wieder«, sagte er, dann folgten ein paar liebevolle Worte, die Alexandras Herz erwärmten. Dann war die Verbindung unterbrochen, denn er war zu seinem Platz in der Tiefgarage gefahren, und dort hatte man keinen Empfang. Das wusste Alexandra aus eigener Erfahrung, als sie versucht hatte, von der Flughafen-Garage aus zu telefonieren.

Mike war an seinem Ziel angekommen.

Wie beeindruckt er in seiner Uniform ausgesehen hatte, der Flugkapitän Mike Biesenbach, dem so viele Menschen ihr Leben anvertrauten.

Und sie?

Sie hatte ihm ihr Herz anvertraut und dabei ein gutes Gefühl. Sie wusste, dass er sorgsam damit umgehen würde, und das war sehr, sehr beruhigend.

Ja, es war schön, den charmanten, gut aussehenden Mike im Leben zu haben, diesen Mike, der nicht nur äußerlich beeindruckend war, sondern der ganz wunderbare innere Werte besaß und das war wichtiger als ein gutes Aussehen.

Als die Straße frei war, startete Alexandra ihr Auto und fuhr los.

Schön, dass Mike noch einmal angerufen hatte.

Während sie weiterfuhr, dachte Alexandra an ihn, an die mit ihm verbrachte Zeit.

Welch ein Glück, dass ihr Auto ganz fest auf vier großen Rädern saß, sonst hätte sie für nichts garantieren können, sie wäre mit ihm davongeflogen, hinauf bis zu den Wolken, die sich wie kleine Wattebäuschchen auf dem ansonsten klarblauen Himmel türmten.

*

Alexandra hatte Waldenburg schon fast erreicht, als sie abrupt auf die Bremse trat, wendete und zurück in Richtung Kaimburg fuhr, an dem sie gerade vorübergefahren war.

Vielleicht war es verrückt, vielleicht stand er auch überhaupt nicht da, und Mike war es gelungen, ihn zu vertreiben.

Und es war auch keine Angst, die sie jetzt dazu antrieb, so zu handeln.

Alexandra hatte ganz einfach keine Lust, aus diesem warmen, weichen Gefühl herausgerissen zu werden, das wie ein sanft und träge dahinfließender Fluss in ihr war.

Sie wollte den Stalker nicht sehen!

Und sie konnte sich nicht sicher sein, ob er nicht doch in der Nähe des Schlosses herumlungerte und auf sie wartete.

Vielleicht war es töricht, so zu reagieren, aber manchmal schaltete man eben seinen Verstand aus, um im Gefühl zu bleiben. Und genau das wollte sie jetzt tun, und sonst nichts.

Und was sollte sie machen?

Durch die Gegend herumfahren?

Irgendwann würde sie so oder so nach Hause fahren müssen.

Lil …

Ihre Freundin Liliane fiel ihr ein, und prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte während der ganzen Zeit bei Mike ihr Handy ausgeschaltet und sich dadurch von der Außenwelt abgeschottet.

Ganz schön egoistisch, sie hätte wenigstens an Lil denken müssen.

Ihr Doktor war abgereist. Hatten sie vorher miteinander geredet? Ihre Differenzen geklärt? War der Amerikaner noch da?

Fragen um Fragen, auf die sie nur eine Antwort bekam, wenn sie sie an die richtige Person stellte, und das konnte nur Lil sein.

Im Grunde genommen war Alexandra froh, jetzt wenigstens ein Ziel zu haben, und als sie wenig später vor Lilianes Haus kam, fand sie direkt einen Parkplatz, unmittelbar hinter Lilianes Auto, was bedeutete, dass sie daheim war.

Wenn Alexandra allerdings geahnt hätte, was sie erwarten würde, hätte sie vermutlich lieber die Begegnung mit dem Stalker in Kauf genommen, der überschüttete sie wenigstens nicht mit Vorwürfen, nur mit seiner Liebe, die sie nicht wollte und die ihr lästig war.

Alexandra hatte noch nicht einmal richtig geklingelt, als die Tür auch schon aufgerissen wurde.

»Wo warst du?«, lamentierte Liliane, die ein ganz verquollenes Gesicht hatte. »Ich fahnde seit Tagen nach dir, aber du hast ja nicht nötig gehabt, an dein Handy zu gehen.«

»Es war abgeschaltet, Lil. Darf ich vielleicht erst mal reinkommen, oder willst du, dass alle Hausbewohner Zeuge unseres Gesprächs werden?«

Liliane trat beiseite, ließ Alexandra eintreten und knallte mit Bravour ihre Wohnungstür zu.

»Niemand wusste, wo du warst, nicht mal dein Personal. Ich mein, du bist meine Freundin, mir hättest du ja wohl Bescheid sagen können, dass du verreist oder abtauchst.«

Alexandra verdrehte die Augen.

»Lil, das hätte ich auch getan, wenn du erreichbar gewesen wärst. Ich stand hier vor verschlossener Tür, nicht mal deine Praktikanten waren da. Dein AB war nicht an, dein Handy ausgestellt. Wie hätte ich dir da etwas mitteilen können? Hätte ich etwa trommeln sollen?«

»Ich war nur vorübergehend nicht erreichbar. Du hättest es halt noch mal versuchen können, bist mir schon eine rechte Freundin. Ich stecke in einem Tief, und du kümmerst dich einen Dreck darum.«

Wie war Lil denn drauf?

So kannte Alexandra ihre Freundin nicht, und so wollte sie sie auch überhaupt nicht kennenlernen.

»Lil, du bist nicht der Nabel der Welt, um den sich alles drehen muss, und deine Vorwürfe …, die will ich jetzt nicht hören. Ich könnte jetzt nämlich auch damit anfangen, und meine erste Frage ist – warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Exmann in Kaimburg ist? Warum habe ich nicht erfahren, dass er bei dir wohnt?«

Liliane lief rot an.

»Na ja, ich wusste doch, wie du darauf reagieren würdest. Dabei ist alles ganz harmlos. Robby hat mir Sachen gebracht, die ich bei meinem Aufbruch damals vergessen habe, er brauchte noch eine dringende Unterschrift unter irgendwelchen Papieren, und er …, es geht ihm nicht so gut. Er hatte, nachdem ich weg war, einiges Pech, sowohl beruflich als auch privat.«

»Hört sich alles ganz toll an, aber warum hast du dann ein solches Geheimnis darum gemacht? Warum hast du Lars und deinen Ami nicht miteinander bekannt gemacht? Und warum hast du ihm kein Hotelzimmer besorgt, sondern ihn bei dir schlafen lassen?«

»Verflixt noch mal, ich war schließlich mal mit ihm verheiratet und habe mehr als das Badezimmer mit ihm geteilt. Warum sollte er denn Geld für ein Hotelzimmer ausgeben, das er eh nicht hat, wenn es sich auf meinem Sofa prima schlafen lässt? Ich weiß, dass du mit Lars geredet hast … Bravo, da sind die beiden richtigen Moralapostel zusammengetroffen. Ich sehe es schon vor mir, wie ihr euch ereifert und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht habt. Wieso hast du Lars überhaupt getroffen? Hat er dich angerufen, um sich bei dir auszuweinen?«

Am liebsten hätte Alexandra ihre Freundin jetzt geschüttelt, und sie bereute zutiefst, überhaupt hergekommen zu sein.

Glücksgefühle …

Wärme …

Inneres Entzücken …

Das alles war zerstoben wie Sternenstaub.

»Ich habe ihn zufällig getroffen, da hat er mir von deinem Ex erzählt, und, Lil, es hat ihn nicht aufgeregt, dass du ihn getroffen, sondern ihn vor ihm verheimlicht hast.«

»Mein Gott, vielleicht habe ich es ja getan, um zu vermeiden, dass Lars einen Film daraus dreht?«

»Lil, Dr. Dammer ist dein Verlobter, er hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«

Fast schien es, als hielte Liliane den Atem an, aber nur, um so unvermittelt von einem Weinkrampf geschüttelt zu werden, dass Alexandra betroffen zusammenzuckte. Sie konnte nicht anders als Liliane in den Arm nehmen, ihr tröstend über die Schulter zu streichen.

»War …«, schluchzte Liliane schließlich, »war …«, dann wurde sie von einem neuen Weinkrampf geschüttelt.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Liliane sich ein wenig beruhigt hatte. Sie sah schrecklich aus, bot ein Bild des Erbarmens. Aller Zorn war bei Alexandra verflogen, sie war nur noch um ihre beste Freundin besorgt.

»Mein Gott, wir stehen ja noch immer in der Diele«, rief Liliane. »Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen … Und entschuldige, Alex, wenn ich vielleicht ein wenig grob zu dir war …, meine Nerven sind nicht die besten … Willst du was trinken?«

»Nein, danke, Lil«, sie war froh, dass man mit Liliane wieder einigermaßen vernünftig reden konnte.

Sie setzte sich in einen der hübsch aussehenden, aber äußerst unbequemen Sessel.

»War … Lil, was wolltest du damit sagen?«

Oh Gott, hätte sie Liliane doch bloß nicht daran erinnert. Die Tränen schossen ihr erneut in die Augen, liefen wie zwei reißende Bäche über ihr Gesicht, aber zum Glück war es nicht ein so hysterischer Ausbruch wie zuvor.

»Lars hat …, Lars will …, er hat mich … verlassen.«

Warum regte Liliane sich deswegen so auf?

»Ja, Lil, aber doch nur vorübergehend, er nimmt diese Vertretung an, weil es zum einen schon länger geplant war, zum anderen, um Abstand zu gewinnen. Du kannst die Zeit nutzen, ebenfalls Klarheit darüber zu gewinnen, was du eigentlich willst. Mit deinem einmal Ja, einmal Nein, bringst du nicht unbedingt Ruhe in eure Beziehung.«

Ein tiefer Schluchzer, gefolgt von einem noch tieferen Seufzer.

»Ich muss nicht darüber nachdenken, es ist entschieden«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag so viel Verzweiflung, dass Alexandra am liebsten aufgesprungen wäre und sie in ihre Arme genommen hätte.

»Was ist entschieden, Lil?«

Liliane antwortete nicht sofort, wischte sich die Tränen ab, schniefte in ihr Taschentuch. Dann streckte sie Alexandra ihre linke Hand entgegen. Alexandra sah sofort, dass dort kein goldener Ring mehr blitzte.

»Lars hat die Verlobung gelöst.«

Alexandra wollte es nicht glauben.

»Lil, da musst du was missverstanden haben. Lars hat mir gesagt, dass er Abstand braucht, nicht, dass er dich verlassen und die Verlobung lösen will.«

»Er hat es aber getan, und ich bin der deutschen Sprache so mächtig, dass ich unmissverständlich gesprochene Worte auch verstehen kann.«

»Er hat es vielleicht in Aussicht gestellt, wenn sich zwischen euch nichts ändert«, sagte Alexandra, die sich an das Gespräch mit dem Doktor noch gut erinnern konnte. Gut, er war auf Lil nicht gut zu sprechen gewesen, hatte eine Trennung in Erwägung gezogen, sie aber nicht geplant.

»Alex, lass uns nicht mehr dar­über reden, es ist vorbei, ich bin die längste Zeit verlobt gewesen. Ich habe alles verloren, Lars ist weg, und ich habe nicht einmal mehr Robby, der mich jetzt trösten könnte.«

»Lil, hör auf, solchen Unsinn zu reden. Wie könnte ein Mann dich trösten, von dem du geschieden bist und von dem du, deinen eigenen Worten zufolge, nichts mehr willst.«

»Er könnte mich zum Lachen bringen.«

»Wenn du mehr nicht brauchst, dann gehe ich gleich in den nächsten Buchladen und hole ein Buch mit Witzen für dich, da kannst du auch lachen … Was ist passiert? Ich will jetzt die Wahrheit hören, warum Lars die Verlobung gelöst hat.«

Liliane blickte ihre Freundin an.

»Gut, ich verrate es dir, aber versprich mir, nicht zu meckern, ich bin nicht mehr belastbar.«

»Ich werde nicht meckern, versprochen.«

Liliane musste erst noch eine Runde schluchzen, wieder schniefen, dann sagte sie mit ihr kaum gehorchender Stimme: »Ich habe Lars provoziert, ich …«

»Lil, sprich lauter, ich kann dich nicht verstehen«, unterbrach Alexandra sie.

Liliane richtete sich ein wenig auf, warf Alexandra einen nicht zu definierenden Blick zu, aber immerhin konnte man sie jetzt verstehen, als sie weitersprach.

»Ein Wort ergab das andere, ich war sauer auf Lars, weil er das mit Amerika wirklich durchziehen wollte. Ich war sauer auf ihn, weil er mir wegen Robby diese haltlosen Vorwürfe machte, da, da wollte ich ihm einfach nur wehtun, ihn verletzen, als ich ihm sagte, dass Robby im Gegensatz zu ihm ein ganzer Kerl sei und dass ich es schon gründlich bedauere, ihn überhaupt verlassen zu haben. Und …, und Lars sollte sich das mit den USA noch mal genauestens überlegen, denn, wenn er es wirklich tun würde, dann …, dann würde ich …«

Sie stockte, aber zum Glück fing sie nicht wieder an haltlos zu schluchzen. Sie sagte überhaupt nichts, sondern starrte ihre Freundin nur an, so, als wisse sie nicht, ob sie weiterreden sollte.

»Was dann, Lil«, ermunterte Alexandra sie.

Die atmete tief durch, so tief, dass sich ein Seufzer ihrer Brust entrang.

»Alex, ich schäme mich so … Ich war nicht Herr meiner Sinne, als ich das sagte.«

Alexandra wartete, doch als nichts mehr kam, erkundigte sie sich behutsam: »Was, Lil …, als du was sagtest?«

»Dass ich mit meinem Ex, wenn er noch nicht einmal im Flieger säße, in die Kiste springen würde und dass er gewiss sein könnte, dass dann die Post abginge, weil Robby nämlich eine Granate im Bett sei, ganz im Gegenteil zu ihm.«

Alexandra stockte der Atem.

»Lil, um Himmels willen, das hast du ihm gesagt? Weißt du denn nicht, wie verletzend so etwas ist?«

»Verflixt, Alex, ich habe es doch nicht so gemeint, und es stimmt ja auch nicht. Ich wäre mit Robby nicht ins Bett gegangen, und das mit der Granate ist auch nicht richtig, Lars ist ein viel besserer Liebhaber.«

»Hast du dich bei ihm wenigstens entschuldigt?«

Jetzt weinte sie wieder.

»Dazu kam es nicht mehr. Er ist kreidebleich geworden und hat mir mit eiskalter Stimme gesagt, dass es aus zwischen uns ist, dass er mit mir nichts mehr zu tun haben will, und dann wollte er gehen. Ich …, ich habe mich ihm in den Weg gestellt, aber er hat mich wie …, wie einen lästigen Gegenstand beiseitegeschoben, und an der …, an der Tür hat er sich noch einmal umgedreht, seinen Ring vom Finger gezogen und ihn auf den Boden geschmissen, und dann hat er gesagt, wörtlich: ›Vielleicht passt er ja deinem Amerikaner, dann braucht ihr euch keine neuen Ringe zu kaufen‹. Und dann, dann ist er gegangen …, und ich bin ihm nachgelaufen … Er …, er hat mich nicht mehr angeguckt …, es ist aus. Und ich habe es selbst vermasselt. Alex, ich liebe ihn so, ich weiß das jetzt genau, dass ich nichts lieber sein möchte als seine Frau.«

Alexandra kannte ihre Freundin, aber ein bisschen kannte sie auch den Doktor.

Sie würde jetzt gern alles tun, um Lil zu trösten, ihr sagen, dass sich alles wieder einrenken würde. Aber das konnte sie nicht, sie wusste, dass es vorbei war.

Es hatte schon vorher viel zerschlagenes Porzellan gegeben, aber jetzt, mit ihren Worten wie giftige Pfeile hatte Liliane alles zerstört.

Sie fröstelte.

Es war geradezu unerträglich, jemanden so leiden zu sehen, wenn man selbst so glücklich war. Und da spielte es auch überhaupt keine Rolle, wodurch dieses Leid verursacht worden war und wer Schuld daran hatte.

»Möchtest du mit mir nach Waldenburg kommen?«, erkundigte Alexandra sich.

Liliane schüttelte den Kopf.

»Nein, ich möchte jetzt hier nicht weg. Vielleicht überlegt Lars es sich ja doch noch, da muss ich erreichbar für ihn sein.«

Arme Lil!

Sie würde bis zur nächsten Eiszeit hier sitzen können. Lars würde sie nicht mehr anrufen, niemals mehr.

Ihr Handy klingelte, aber Alexandra traute sich nicht, jetzt dranzugehen, obschon Liliane sie dazu ermunterte.

Sie saßen sich stumm gegenüber, bis das langanhaltende Klingeln verstummte, dann bekam Alexandra eine SMS.

Doch erst als Liliane in ihre Küche gegangen war, um einen Kaffee zu kochen, traute sie sich nachzusehen, von wem die SMS gekommen war.

Von Mike!

Sie wurde rot vor lauter Glück und schämte sich angesichts des heulenden Elends ihrer Freundin fast dafür.

Mein Liebes, habe ich Dir heute schon gesagt, wie sehr ich Dich liebe?

»Was Wichtiges?«, erkundigte Liliane sich mit nur mäßigem Interesse.

Alexandra wollte ihre Freundin nicht belügen, aber sie konnte ihr jetzt nicht sagen, dass es sogar etwas sehr Wichtiges war, etwas Einmaliges, etwas zum Freuen.

Sie tat so, als habe sie die Frage nicht gehört, und Liliane erwartete offensichtlich auch keine Antwort, denn sie fragte sofort hinterher: »Alex, du musst mir helfen, Lars wieder für mich zu gewinnen.«

Sie wünschte es ihrer Freundin von ganzem Herzen, sie würde ihr sogar helfen, aber wenn ein Weg zu Ende war, da konnte niemand mehr etwas tun. Und dieser Weg hier war zu Ende, aus und vorbei. Man konnte Lil nur wünschen, dass sich ein neuer für sie auftat und dass sie den dann gehen würde, ohne ihn selbst mit Steinen und Widerständen zu pflastern.

Die junge Gräfin Staffel 2 – Adelsroman

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