Читать книгу Funkensommer - Michaela Holzinger - Страница 5
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Anfangs ist es immer nur ein Windhauch. So zart, dass er kaum etwas zu ändern vermag. Er kitzelt mich an den Haaren oder streift verheißungsvoll über meine Wangen. Damit ich nicht umkehre. Damit ich weitermache. Nach vorne presche.
Und bald darauf wird er stärker. Er löst ein, was er versprochen hat. Aus dem Windhauch formt sich ein Luftzug. Aus dem Luftzug eine Brise. Eine Brise, die an Kraft gewinnt. An Tempo.
Dadurch verändert sie alles. Denn sie ist wild und unberechenbar. Sie klatscht mir ins Gesicht. Und presst meine Nasenflügel zusammen, bis ich nach Luft schnappen muss. Mein Herz beginnt zu pochen. Ebenfalls im wilden und unberechenbaren Rhythmus. Bis meine Gedanken zu fliegen beginnen. Und schließlich verschwinden.
Dann werde ich ruhig. Ich werde ruhig inmitten der tosenden Bewegung, die an meinen Kleidern rüttelt. Und mir die Haare ins Gesicht peitscht.
Ich schmecke ihren Duft. Sie schmeckt nach Freiheit.
Ich lausche ihrem Klang. Sie klingt nach Aufbruch.
Während die kraftvollen Bewegungen unter mir weit ausholen. Und mich weiterbringen.
Das ist auch der Grund, warum ich mich immer wieder in den Sattel schwinge. Weil es ein unglaubliches Gefühl ist. Weil die Luft da oben anders ist. Freier.
Ich habe nämlich ein Pferd. Ein eigenes. Nur für mich allein. Das ist einer der wenigen Vorteile, wenn man auf einem Bauernhof lebt. Lanzelot, so heißt mein Pferd. Er ist ein brauner Wallach mit weißer Blesse. Seitdem ich in der Stadt zur Schule gehe, habe ich kaum noch Zeit für ihn. Ich will nämlich Matura machen. Auch wenn Papa meint, dass ich als Bäuerin keine Matura brauche. Ich schon. Ich weiß noch nicht, was ich später einmal werden will, aber die Matura will ich haben. Dann könnte ich vielleicht Tierärztin werden. Eine Tierärztin mit einem eigenen Bauernhof. Das wäre doch gut, oder? Oder doch nicht.
Ich muss mich ja mit sechzehn noch nicht entscheiden müssen. Viel ist passiert in der letzten Zeit. Nicht nur wegen der Schule. Auch sonst irgendwie.
Ein paar Schwalben ziehen über meinen Kopf hinweg und jagen den Mücken nach. Irgendwo brummt ein Mähdrescher. Der heiße Juniwind klebt an mir. An meinem Rücken, an meinen Händen, auf meiner Stirn. Und auch auf Lanzelot. Unruhig scharrt er mit den Hufen. Das Klappern von Papas alter Schubkarre macht ihn nervös. Und dann fangen auch noch die Schweine wie verrückt zu grunzen an, als die Schubkarre mit dem Futter in Richtung Freilaufstall angeschoben kommt. Von Papa. In Gummistiefeln und Latzhose. Die Schweine brüllen vor Begeisterung. Hunger, schreien sie. Oder: Futter. So genau kann man das nicht sagen. Auf alle Fälle machen hungrige Schweine einen Höllenlärm. Bis hinauf in den Himmel. Bis der Lärm explodiert. Und Lanzelot auch.
Rasch stiefelt Papa zu mir und versucht, Lanzelot zu beruhigen, damit ich den Sattelgurt festziehen kann. Die Schweine protestieren.
«Vergiss nicht Hannah, dass du nachher die Stallarbeit für uns fertig machen musst. Du weißt schon, wegen dem Fest!», schreit Papa. Das Schweine-Gebrüll ist ohrenbetäubend.
Ich nicke. Lanzelot sabbert. Und wie. Weißer Schaum tropft aus seinem Maul und hinterlässt auf dem dunklen Asphalt eine bizarre Schaumwölkchenlandschaft.
«Aha! Den sticht der Hafer», bemerkt Papa und lacht mich dabei total komisch an. «Ja, so ist das – der Wind an Sonnenwend macht alle verrückt. Stand das nicht auch heute im Bauernkalender?» Er überlegt. «Wie war das noch gleich: Bläst der Wind an Sonnenwend, das junge Herz vor Liebe brennt?!»
In meinem Kopf fängt es zu rumoren an. Weiß Papa etwa Bescheid? Ich werde rot wie eine Tomate, oder vielleicht sogar wie zwei. Oder sogar wie Tomatensuppe.
«Wir müssen jetzt los …», stammle ich und bin froh, als Papa den Blick von meinem verräterischen Tomatensuppengesicht ab- und sich wieder den brüllenden Schweinen zuwendet, um mir nicht mit seinen dämlichen Bauernkalendersprüchen auf den Geist zu gehen.
Dann biegen wir in den Waldweg ein. Das ist meine Lieblingsreitstrecke. Kilometerweit ist hier nichts zu sehen. Da kann ich Lanzelot laufen lassen. Ich verlagere mein Gewicht nach vorne. Lanzelot ist kaum noch zu bremsen. Papa hatte wohl recht. Mit dem Hafer, meine ich. Mit donnernden Hufen prescht er über den Boden.
Da-damm, Da-damm, Da-damm … Schon klatscht mir die Brise ins Gesicht. Sie presst sich auf meine Nase und lässt mich nach Luft schnappen, so wie sie es versprochen hat. Pferdegeruch und der Duft des Waldes vermischen sich und beruhigen meine heißen Wangen. Wie der Blitz brettern wir über den Waldweg. Nichts wird uns in diesem Moment aufhalten können, denke ich mir, und da riecht die Luft auf einmal wirklich anders.
Als wir an dem kleinen Wasserfall vorbeireiten, zügle ich Lanzelot. Ich bin vollkommen aus der Puste. Bis zur großen Eiche ist es nicht mehr weit. Mist. Ich sehe zum Kotzen aus. Es gibt nur eine Eiche, die gemeint sein kann. Und ich bin überrascht, dass Finn den alten Baum kennt.
«Morgen bei der alten Eiche. 16 Uhr. F.», hat auf dem Zettel gestanden. Mehr nicht. Ich hab das Briefchen in meiner Jackentasche gefunden. Gestern nach der Schule. Er muss es mir in der Pause zugesteckt haben. Wenn ich daran denke, schlägt mein Herz wie verrückt. Zum Glück gibt Lanzelot jetzt Ruhe. Das Laufen hat ihm gut getan. Mir auch.
Da liegt auf einmal ein Knacksen in der Luft. Der Sommerwendwind hat es zu mir hergetragen. Hinter der uralten Eiche bewegt sich etwas. Ein blonder Haarschopf kommt zum Vorschein, dann der Rest. Blaue Augen, langer Körper. Vielleicht ein bisschen dürr, mir gefällt das aber.
«Hey», sagt Finn und seine blauen Augen blinzeln neckisch. Er lächelt schief, die Hände baumeln in den Hosentaschen. «Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.»
«Doch», murmle ich und wickle die Zügel um einen Ast. Wir stehen uns gegenüber. Weil ich so schwitze, lasse ich meine Reitkappe lieber auf dem Kopf.
«Kommst du heute zum Fest?», fragt er.
«Ja, aber erst später.» Dass ich davor die Stallarbeit für meine Eltern erledigen muss, sage ich nicht. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil seine Eltern keinen Bauernhof haben?
«Gut, dann warte ich auf dich», flüstert er. Sein Gesicht kommt meinem ganz nah. Anscheinend will er mir einen Kuss geben. Aber das blöde Schild der Reitkappe ist im Weg und Finn kracht mit seiner Stirn dagegen. Wie peinlich! Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Zum Glück fängt in diesem Moment Finns Handy zu läuten an.
«Ich muss ohnehin los», stammle ich und schwinge mich, so elegant es nur geht, in den Sattel. «Bis später», rufe ich ihm noch zu, dann treibe ich Lanzelot an. Finns Lächeln begleitet mich nach Hause.
Mist. Mist. Mist. Nicht jetzt. Bitte.
Mama und Papa sind zum Feuerwehrfest gefahren. Mein doofer Bruder auch. Ich habe die Schweine versorgt und die Ställe sauber gemacht. Wie besprochen. Und jetzt das. Das war nicht abgemacht. Warum muss dieses blöde Schwein ausgerechnet jetzt Junge bekommen? Es scheint tatsächlich Wehen zu haben. Im Abferkelstall hört man die lang gezogenen Atemgeräusche ziemlich deutlich. Es hat auch das Futter nicht aufgefressen. Der Trog ist noch halb voll. Zum Glück finde ich in der Futterkammer den Geburtenplan. Gleich neben dem Computer. Den nennen wir Papas Stallknecht, weil er dafür sorgt, dass jeden Tag die Schweine vollautomatisch gefüttert werden. Also suche ich neben Papas Stallknecht auf der Tabelle nach der Ohren-Marken-Nummer. Noch mal Mist. Da steht es. Das Kürzel, das Mama neben dem voraussichtlichen Geburtstermin hingekritzelt hat, haut mich um. JS, steht da. Das steht für Jungsau und bedeutet, dass dieses Schwein zum ersten Mal Junge bekommt. Jetzt kann ich das Fest garantiert vergessen.
Denn: Jungsau + Geburt = Risiko.
Papa würde ziemlich sauer sein, wenn ich mich jetzt aus dem Staub mache.
Mir ist zum Heulen. Hässliche Bilder ziehen an mir vorüber. Finn, umringt von meinen Freundinnen, die sich für diesen Abend total aufgedonnert haben. Jelly in ihrem knallengen Jeans-Minirock und Lena mit ihren weizenblonden Löckchen. Die ist ja schon immer auf ihn scharf gewesen. Und das nur, weil seine Eltern das neue Elektrocenter besitzen. Pah!
Mir kriecht die Wut in den Bauch, wenn ich daran denke. Alle meine Freundinnen sind auf dem Feuerwehrfest. Alle. Ich hätte mit Finn einen total romantischen Abend verbringen können. Wir hätten uns heimliche Blicke zugeworfen und hinter dem Klowagen geknutscht. Na ja, das vielleicht nicht gerade, aber schön wäre es trotzdem gewesen. Weil wir uns auch noch nie so richtig geküsst haben. Und wer noch nie miteinander so richtig geküsst hat, ist auch nicht fest zusammen, sagt Jelly immer. Und die muss es schließlich wissen. Immerhin hat sie schon Jungs geküsst.
Panisch fische ich mein Handy aus dem Overall. Drei Anrufe in Abwesenheit. Finn. Ich kann ihn unmöglich zurückrufen. Was soll ich ihm sagen – dass ich Schweine hüten muss? Wie blöd ist das?! Ich meine, wer interessiert sich schon für so etwas?
Dafür wähle ich Papas Handynummer und lasse läuten. Ewig. Nichts! Verdammter Mist. Tränen schießen mir in die Augen. Ich komme mir wie Aschenputtel vor und wische mir wütend übers Gesicht. Als ich zurück zur Stallbox komme, hat das Mutterschwein inzwischen drei Babys bekommen. Das dritte gerade eben. Mit Stroh rubble ich das Ferkel sauber, bis die Haut schön rosig ist. Dann lege ich es unter die Wärmelampe ins Ferkelnest.
Wieder probiere ich es bei Papa auf dem Handy. Nichts. Eine halbe Stunde vergeht. Bei der Muttersau tut sich nichts. Sie presst und presst, aber es kommt kein Ferkel raus. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Irgendetwas stimmt da nicht. Ein Ferkel scheint sich im Mutterbauch verkeilt zu haben. Wenn ich jetzt nicht reagiere, stirbt nicht nur das Junge, sondern auch die Mutter. Schnell laufe ich ins Haus und hole einen Eimer mit warmem Wasser, Seife, Öl und ein Handtuch. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das Ferkel mit der Hand herauszuziehen. Das habe ich schon öfters gemacht, weil ich die kleinste Hand von uns allen habe und so ein Geburtskanal ziemlich eng ist. Aber – noch nie alleine! Bis jetzt war Mama immer dabei und hat mir gesagt, was ich tun soll …
Da macht mein Herz auf einmal einen Paukenschlag!
«Hallo», höre ich Finns Stimme hinter mir. «Was ist los? Warum bist du nicht zum Fest gekommen?» Er schaut zuerst auf den Eimer, dann mir ins Gesicht. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen. Keine Jelly, Lena oder sonst eine Tussi. Sondern nur ich. Aber … was wird Finn denken? Er wird danach nie wieder mit mir Händchen halten wollen. Stattdessen wird er sagen: «Bitte, bloß nicht die Schweinehand!»
Verständlich. Ist ja auch nicht so toll. Aber was sein muss, muss sein. Deshalb sage ich: «Schwere Geburt. Ein Schwein braucht Hilfe.»
«Okay», sagt Finn nur und schon marschiert er in Richtung Stallgebäude. Wow, denke ich.
Als ich die Tür zum Abferkelstall öffne, merke ich sofort, dass es höchste Zeit ist einzugreifen. Oder eben hineinzugreifen. Finn setzt sich neben das Ferkelnest ins Stroh und beobachtet mich.
«Was hast du vor?», fragt er, als ich meine Hand einzuseifen beginne.
«Ein Ferkel steckt fest. Ich muss es holen», sage ich und seife wie eine Verrückte. Dann träufle ich mir Öl auf die Hand und den Arm, damit es schön flutscht. Ich kann Finn gar nicht in die Augen schauen, so peinlich ist mir das. Aber mittlerweile habe ich Mitleid mit der Schweinemama und bin ihr gar nicht mehr böse. Finn ist ja hier, und das ist wunderschön. Trotz Schweinegestank und Mistfliegen. Deshalb mache ich meine Hand ganz schmal und beginne vorsichtig denGeburtskanal abzutasten. Das Mutterschwein grunzt. Aber es hilft nichts. Das muss jetzt sein. Zum Glück ist die Sau in einem Abferkelgitter eingeschlossen. Da gibt sie Ruhe.
Furchtbar eng ist es da drinnen. Und schleimig. Und warm. Und weich zugleich. Bis zum Ellenbogen stecke ich mit meiner Hand mittlerweile im Geburtskanal. Igitt!
Aber da – jetzt spüre ich etwas. Vorsichtig schiebe ich meine Finger um den Hals des Ferkels. Ich ziehe. Nichts. Noch einmal. Wieder nichts. Das Mutterschwein grunzt vor Schmerzen. Das Ferkel scheint festzustecken. Panik kommt in mir auf.
Da spüre ich Finns Hand auf meiner Schulter. Sie ist stark und warm. «Wir könnten es gemeinsam versuchen», sagt er und greift nach meinem Oberarm. Dann ziehen wir wie die Verrückten. Ziehen. Und ziehen. Und spüren kurz darauf endlich einen Ruck, und das Ferkel wird mit der nächsten Wehe herausgepresst. Es lebt sogar noch. Wahnsinn!
«Wahnsinn», sagt auch Finn neben mir. «Wir haben gerade ein Schweinebaby zur Welt gebracht.» Er grinst über beide Ohren. «Und noch dazu einen ziemlich dicken Brummer. Kein Wunder, dass sich die Schweinemutter so abgemüht hat.»
Ich bin fertig. Fix und fertig. Und trotzdem fühle ich mich so gut wie noch nie. Gemeinsam rubbeln wir unseren Brummer trocken und legen ihn an die Zitzen der Mutter. Seine Geschwister saugen schon daran. Danach kommen die Ferkel im Rekordtempo. Eines nach dem anderen flutscht heraus. Elf an der Zahl. Dann ist Schluss. Die Nachgeburt kommt, und ich bin unglaublich stolz auf mich. Oder noch besser: auf uns.
Als wir aus dem Stall treten, ist die Luft draußen kühl und angenehm. Eine Million Sterne funkeln am Himmel. Wir stinken wie die Schweine, aber das ist uns schnurz-piep-egal. Wir legen uns ins feuchte Gras mitten in den Obstgarten. Zwischen Apfel- und Birnbäumen. Und dann ... küssen wir uns. Zuerst nur ein bisschen. Ganz sanft. So zum Probieren. Aber dann immer mehr. Und mein Herz pocht. Mein Kopf dröhnt. Und meine Wangen glühen. Es fühlt sich total berauschend an, sogar in meinen Ohren rauscht es. Vor Glück, wahrscheinlich. Oder?
Oder, doch nicht ... das Rauschen kommt nämlich von ganz wo anders her. Es kommt von einem Auto, das die Zufahrtsstraße zum Hof entlangfährt. Meine Eltern, fährt es mir durch den Kopf. Sie kommen. Vom Fest. Schon.
«Schnell», zische ich Finn ins Ohr und befreie mich aus seiner Umarmung. «Du musst gehen!»
Finn sieht mich fragend an. Doch mir bleibt keine Zeit, die Situation zu erklären. Denn schon kommen die Lichtkegel des Autos näher.
«Bitte!»
Finn nickt. Ausdruckslos.
«Ich rufe dich morgen an», flüstere ich ihm nach. «Versprochen!»
Dann verschluckt ihn die Dunkelheit.