Читать книгу Funkensommer - Michaela Holzinger - Страница 6
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«Dass du die Geburt so gut hingekriegt hast», meint Papa am nächsten Morgen und strubbelt mir im Vorbeigehen durchs Haar. Dann lässt er sich auf die Küchenbank plumpsen und schneidet eine dicke Scheibe Brioche ab. «Wird ja doch noch eine Bäuerin aus dir!» Zufrieden tunkt er das Hefegebäck in den Milchkaffee ein, beißt ab und deutet mit vollem Mund auf den vergilbten Bauernkalender, der schon seit Ewigkeiten dort an der Wand hängt. Gleich neben dem Herrgottswinkel. «Menschensinn und Juniwind ändern sich oft sehr geschwind!», nuschelt er grinsend.
«Mhm», sage ich nur und nehme ein paar Zuckerwürfel aus der Dose, Stück für Stück. Sechs oder sieben. Und lasse sie langsam im Kaffee untergehen. Dabei klimpere ich mit dem Löffel, eine Spur zu laut. Denn als sich Mama zum Tisch setzt, schaut sie mich vorwurfsvoll an. Automatisch greift ihre Hand nach der Zuckerdose. «Hannah, glaubst du nicht, dass du schon genug hast?», fragt sie streng und stellt die Dose aufs Fensterbrett.
Genug. Habe ich genug? Nein, brüllt es in mir. Ich habe nicht genug! Und mein Menschensinn hat sich wegen der beschissenen Bauernregel auch nicht geändert! Aber alles, was ich zustande bringe, ist ein mickriger Giftblick, der überhaupt keine Wirkung zeigt, weil die Morgensonne gnadenlos zum Fenster hereinscheint und ich blinzeln muss. Ich finde Mamas Verhalten zum Kotzen. Seitdem Raphael diesen Anfall hatte und Diät halten muss, ist sie total anders geworden. Besonders zu mir. Dabei finde ich, dass mein Bruder mit der Heustauballergie gar nicht so schlecht dran ist. Jedenfalls muss er seitdem nicht mehr die Schweine füttern. Und überhaupt braucht er am Hof nicht mehr mitzuhelfen. Ich dafür umso mehr. Vielleicht ist das ja der Grund, warum Mama jeden Tag die Zuckerdose aufs Fensterbrett stellt. Damit ich weiterhin die Stallarbeit erledigen kann. Na super ...
Wütend nippe ich an meinem Kaffee, der scheußlich schmeckt. Viel zu süß. Und trotzdem werde ich beim nächsten Mal aus Protest noch mehr Zucker hineingeben.
Als sich ein paar Sonnenstrahlen auf die Tischdecke verirren, fällt mir ein, dass ich Finn anrufen sollte. Vielleicht können wir ja zum See gehen. Während ich noch darüber nachdenke, sagt Papa plötzlich: «Und ohne Hilfe», und sieht mich schon wieder so komisch an. «Bei dem fetten Kerl hast du sicher ganz schön ziehen müssen. So alleine ...»
«Brummer», antworte ich leise. Und als mich Mama und Papa nur verständnislos anschauen, erkläre ich: «Der fette Kerl heißt Brummer und ist gar nicht fett! Nur groß!» Dann schießt mir wieder diese blöde Tomatensuppenfarbe ins Gesicht. Daher beschließe ich, für heute genug gefrühstückt zu haben. Als ich die Küchentür aufstemme, steht Raphael vor mir. Mit verstrubbelten Haaren und geröteten Augen. Und einer Alkoholfahne, die mich beinahe umhaut.
«Auch schon wach!», gifte ich ihn an. Schnell dränge ich mich an meinem Bruder vorbei.
Raphael grinst nur: «Für so junge Hühner wie dich heißt es eben früh ins Bett gehen!» Er lässt sich wie Papa auf die Küchenbank fallen und schnappt sich die Zuckerdose. Das reicht! Mit einem Knall schlage ich die Tür hinter mir zu und verschwinde zu Lanzelot.
Doch die Pferdebox ist leer. Sicherlich hat Papa Lanzelot frühmorgens auf die Weide gelassen. Weil um diese Uhrzeit die Fliegen nicht so lästig sind. Also schnappe ich mir den Führstrick und marschiere in Richtung Koppel. Auf dem Weg dorthin summt es in meinem Jeansrock. Jelly is calling.
«Wo warst du denn gestern?», flötet meine Freundin. «Es war so geil, sag ich dir! Tobias war da. Und sogar diese Motorradtypen vom Nachbardorf.»
Ich stelle auf Lautsprecher, so kann ich mich mühelos über den Zaun schwingen. Schon kommt Lanzelot angaloppiert. Schnuppernd durchsucht er meine Taschen nach Leckereien.
«Hannah ... bist du noch da?», tönt es aus dem Handy.
«Ja», sage ich und muss kichern, weil Lanzelots Barthaare so kitzeln. «Wir reden später weiter, okay? Ich muss grad was erledigen. Ich melde mich dann bei dir», versuche ich Jelly abzuwimmeln. Ich will unbedingt vorher mit Finn sprechen. Vielleicht klappt es ja mit dem See.
In der Leitung knistert es. «Ja, gut», meint sie nach einer Weile. «Aber beeil’ dich. Wir treffen uns später nämlich mit den Jungs am See.»
In meinem Kopf schlägt die Alarmsirene an. «Welche Jungs?», frage ich vorsichtig.
Jelly schnaubt. «Tobias natürlich. Und dein Lover soll auch kommen – hab ich jedenfalls gehört. Er war ja gestern auf einmal wie vom Erdboden verschluckt ...»
«Er ist nicht mein Lover. Das weißt du ganz genau!»
Jelly fängt zu lachen an. «Hannah, für wie blöd hältst du mich?!»
Als ich nicht antworte, sagt sie: «Das mit Finn ... das ist ja wohl klar. Immerhin hat er gestern auf der Party ungefähr hundertsiebzigmal nach dir gefragt. Und jetzt pack deinen Bikini ein und schwing deinen Arsch schnellstens her. Klaro?»
Darauf weiß ich keine Antwort. Außer dass Jelly das mit mir und Finn nun doch gewittert hat ... und mich fröstelt, obwohl es schon über dreißig Grad draußen hat.
Ich liege unter der großen Birke im Schatten. Ich mag diesen Platz. Er hat etwas Besonderes, etwas Mystisches. Auch wenn man sich am Seeufer durchs Unterholz schlagen muss, um hierher zu kommen. Und das bei dieser Hitze. Das macht nicht jeder. Aber die Mühe lohnt sich. Denn hier sind kaum Leute. Das liegt nicht nur am beschwerlichen Weg, sondern auch daran, dass das Ufer auf dieser Seite des Sees steil abfällt und das Wasser noch dunkler ist. Wenn man also hinein will, muss man entweder durchs hohe Schilf waten oder von dem Felsen springen, der ein Stück weit vom Ufer ins Wasser ragt. Das ist gar nicht so einfach. Nur die wenigsten trauen sich das. Doch wenn man sich traut, dann wird man jedes Mal aufs Neue belohnt. Denn das Wasser ist so dunkel, dass ich immer das Gefühl habe, in ein schwarzes Loch zu springen. Ohne zu wissen, ob es mich verschlingen wird oder nicht. Und wenn ich springe, in das tiefe schwarze Loch, dann fühle ich mich danach so lebendig wie sonst nie. Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber das Gefühl, wenn man wieder auftaucht, ist überwältigend. Befreiend.
Ich drehe mich auf den Rücken und lasse meinen Blick über den See schweifen. Alles ist so wie immer. Der dunkle Moorsee, umsäumt von weißen Birken. Das Wasser, das leise und unaufhörlich gegen die Felsen schwappt. Das Schilf, das im Wind raschelt. Und Jelly, die mit ihrem rosa Bikini neben mir in der Sonne liegt. Keine zwei Meter entfernt.
Wie immer.
Ich, im Schatten.
Sie, in der Sonne.
Und trotzdem ist etwas anders. Heimlich schiele ich auf das Display meines Handys. 11:47 steht drauf. Sonst nichts. Keine Anrufe in Abwesenheit. Keine neuen SMS. Schon gar nicht von Finn. Ich habe mindestens dreimal bei ihm angerufen. Aber er hat nie abgehoben. Warum?
Ist es doch wegen der Schweinehand? Oder war es der Kuss? Der Kuss mit Schweinegestank? Oder was?
Mein Magen zieht sich düsterlich zusammen. Die winzigen Sonnenstrahlen, die durch das lichte Blätterdach der Birke fallen, können die Kälte in mir nicht vertreiben.
Jelly scheint meine Unruhe zu spüren. Sie schaut über den Rand ihrer Sonnenbrille und fragt mit Kennermiene: «Magst du mir nicht endlich erzählen, was gestern los war?»
Reflexartig verstecke ich mein Handy unter dem Badetuch und winke ab. «Da gibt es nichts zu erzählen. Ich hatte Stalldienst und konnte nicht weg. Wegen der Geburt. Du weißt schon ...»
Meine Freundin stöhnt. «Mensch, Hannah. Setz dich endlich bei deinen Eltern durch! Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Willst du zu Hause versauern, oder was?» Mit einer lässigen Handbewegung rückt sie ihre Sonnenbrille zurecht und kramt einen Sonnenspray aus der Tasche. Sorgfältig beginnt sie ihre Beine damit einzusprühen. Danach sind Bauch, Arme und Gesicht dran. Ein Hauch Kokos weht zu mir herüber, gefolgt von: «Kannst du mal?» Jelly dreht mir ihren Rücken zu. «Eigentlich dachte ich, dass Tobias das übernehmen würde. Aber selbst schuld, wenn diese Affen zu spät kommen! Wo bleiben die eigentlich?»
Ja, wo blieben sie? Noch einmal lasse ich meinen Blick über den See streifen. An der Südseite beginnt sich langsam die Liegewiese zu füllen. Familien mit Kindern und aufblasbaren Rennautos, Ponys und Delfinen. Pärchen, die in der Nähe des Schilfgürtels ein Versteck suchen. Pensionisten mit Akkuradios, die leise dudeln und ab und zu Fetzen von Blasmusik über den See schweben lassen. Aber von Finns bestem Freund Tobias und vor allem von Finn – keine Spur. Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen.
«Na gut, dann spraye ich mich halt selber ein», sagt Jelly neben mir schnippisch.
Ich gucke sie irritiert an, dann begreife ich, dass sie mein Seufzen auf das Einsprühen bezogen hat. «Klar sprühe ich dich ein», sage ich schnell. «Gib schon her dein Kokosnusswunderbräunungszeugs.» Ich schnappe mir die Flasche und spraye ihren Rücken damit ein. Um sie versöhnlich zu stimmen, sage ich: «Erzähl, wie war es gestern sonst noch so?»
Jelly kichert. «Ach, es interessiert dich also doch? Und ich dachte schon, du bist krank oder so.» Und dann fängt Jelly zu erzählen an. Von der coolen Band, die in dem kleinen Zelt neben dem großen gespielt hat, und von der Motorradgang, die aus dem Nachbardorf angerollt ist. Von Goldlöckchen alias Lena, die zur amtierenden Maisprinzessin gewählt wurde (auch kein Wunder, immerhin ist ihr Vater der Bürgermeister). Vom riesigen Sonnwendfeuer, das gebrannt hat wie Zunder. Von Raphael und seinen Freunden Sebi und Manuel, die gesoffen haben wie die Stiere, weil sie ihre bestandene Führerscheinprüfung gefeiert haben. Und natürlich von Tobias. Und Finn.
Als ich fertig mit Einsprühen bin, nimmt sie mich ins Visier. «Also, Hannah», fragt sie. «Was ist denn nun wirklich zwischen euch?» Ihre linke Augenbraue beginnt in Richtung Haaransatz zu wandern. Das tut sie immer, wenn Jelly auf eine heiße Spur gestoßen ist. Dafür scheint sie eine Begabung zu haben. Und obwohl ich meine Freundin schon lange kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was da läuft. Ich mag Jellena. Wirklich! Sie ist schon immer meine Freundin gewesen. Seit dem Kindergarten. Obwohl sie so anders ist als ich. Aber ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir uns so super verstehen.
Ihre Mutter hat den Friseursalon im Dorf. Jellys Vater lebt schon lange nicht mehr hier. Der ist irgendwann abgehauen, als Jelly noch klein war. Nachdem der Krieg zu Ende war, ist er wieder zurück nach Bosnien, ohne die beiden mitgenommen zu haben. Das war schon ziemlich gemein von ihm! Aber Jellena kommt eigentlich super damit zurecht. Das hat sie schon früh gelernt oder einfach in die Wiege gelegt bekommen. Das Alleine-klar-kommen-Gen.
Und ich...? Meine Eltern haben den Bauernhof. Da gibt es immer Arbeit. Meist schmutzige. Dementsprechend läuft man den ganzen Tag dreckig herum. Und zum Fragen hat man nie viel Zeit. Man macht einfach. Man muss einfach. Das habe ich auch schon früh gelernt. Oder es ist mir auch in die Wiege gelegt worden. Das Man-muss-einfach-machen-Gen.
Aber obwohl ich Jellena schon ewig kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was mit Finn läuft. Ich weiß es doch selbst nicht. Und wer weiß, was los ist, wenn es jeder hier im Dorf erfährt. Jeder. Auch meine Eltern. Und vor allem Raphael! Daran will ich gar nicht denken. Wenn der rauskriegt, dass ich mit dem Sohn seines Chefs ...! Der macht mich fertig. Er ist ja auch so kaum noch auszuhalten, seitdem er letztes Jahr diesen Anfall hatte.
Deshalb springe ich auf und sage: «Ich weiß nicht, was du meinst!» und düse in Richtung Wasser ab. «Kommst du mit?»
Jelly sieht mir empört nach. «Dann eben nicht.» Schlendernd folgt sie mir in Richtung See. «Nur damit du es weißt», schnaubt sie, als sie neben mir zum Stehen kommt, «ich springe nicht von diesem Selbstmörderplatz. Verstanden?» Ihr Kopf nickt in Richtung Felsen.
Ein Spiegelbild beginnt sich vor unseren Füßen auf dem Wasser auszubreiten.
Jelly und ich. Beide gleich groß. Die eine schlank, die andere dürr.
Die eine braun, die andere blass. Die eine hat einen rosa Bikini an. Die andere einen braunen. Die eine hat lange, blonde Haare. Die andere hat ihre mausbraunen zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Pony hängt ihr tief ins Gesicht. So stehen wir. Und das schwarze Wasser schlägt über uns Wellen. Schaukelt uns hin und her. Und hin und her. Und dennoch sind wir da. Seite an Seite. So, wie wir es immer gewesen sind. Und wahrscheinlich immer sein werden. Da bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meiner besten Freundin kein Vertrauen schenken kann. Ich drehe mich zu ihr hin und flüstere: «Ich weiß einfach nicht, was da ist. Verstehst du?» Und ich muss kämpfen, damit ich nicht anfange zu weinen.
Jelly lächelt mich an. Wissend. «Erwischt, mhm?» Und dann nimmt sie mich in ihre Arme und flüstert: «Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du jemanden zum Reden brauchst!»
Ich nicke. Stumm. Und klettere auf den Felsen, den wir Jungfrauenfelsen nennen. Meine Zehen krallen sich in den Spalten fest. Ich richte mich auf und blicke ins Wasser. Vor mir tut sich das tiefe schwarze Loch auf. Ich hole Luft. Tief Luft. Und dann springe ich ...
... rauschendes Wasser, kitzelnder Morast, wogende Haare, alles stürzt auf mich ein. Ich lasse mich sinken, es zieht mich hinunter, tiefer und noch tiefer. Um mich herum wird es still. Ich koste den Augenblick aus. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. In meinen Lungen fängt es zu kribbeln an. Jetzt ist es Zeit. Mit einer kraftvollen Bewegung drücke ich mich in Richtung Licht. Wieder rauschendes Wasser, kitzelnder Morast und wogende Haare. Als ich auftauche, hat mich die Welt wieder. Ich ringe nach Luft, öffne die Augen und ...
... blicke direkt in das Gesicht von Finn.