Читать книгу Brich mein Herz - Michaela Santowski - Страница 10
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Оглавление„Guten Morgen, Hübscher“, begrüßte Paula Nico als er das Büro betrat. „Ich hoffe, du hattest einen schönen Samstag. Der Sonntag wird nämlich anstrengend. Hier ist die Hölle los.“
Nico zog die etwa sechzigjährige Frau in eine sanfte Umarmung und entgegnete: „Mit einer Tasse von deinem extra für mich aufgebrühten Kaffee kann mir gar nichts passieren.“
„Charmeur“, murmelte Paula und boxte ihm spielerisch gegen den Arm, bevor sie ihm den bereits eingeschenkten Kaffee reichte.
Nico strich sich mit der freien Hand durch die Haare. Er war zu früh dran, hatte nicht wirklich gut geschlafen. Immer wieder sah er grüne Augen und rote Haare vor sich. Irgendwann hatte er dann aufgegeben und war zum Confianza gegangen. Das Confianza war eine Auffangstation für Straßenkids. Obwohl niemand vom Personal es je als Auffangstation bezeichnet hätte. Es war eine dreistöckige Villa mitten in Wiesbaden, die die Streetworker von einem unbekannten Gönner geerbt hatten. Im Keller waren die Büros fürs Personal. Im Erdgeschoss hatte man den Speiseraum, die Küche, ein Spielzimmer mit Billardtisch, Dartscheibe, Flipperautomaten und Tischkicker und insgesamt vier Toiletten mit teilweise Duschen eingerichtet. Die anderen drei Etagen bestanden aus Einzel oder Doppelzimmer, in denen die Kids Zuflucht finden konnten. Den Dachboden hatten sie ausgebaut und mit Matratzen ausgelegt. Insgesamt konnten sie fünfzig, wenn sie zusammenrückten auch sechzig Jugendliche aufnehmen. Das reichte zwar bei weitem nicht, war aber immerhin ein Anfang. Die einzige Regel: keine Waffen, keine harten Drogen. Alkohol in Maßen war erlaubt. Man konnte nicht erwarten, dass die Jugendlichen auf alles verzichteten, nur, um einen Schlafplatz zu haben. Da waren sie realistisch. Aber bei Kokain, Heroin und Schlimmerem hörte der Spaß auf.
„Mein Samstag war interessant“, beantwortete Nico die Frage und stellte die Tasse auf seinen Schreibtisch. „Ich arbeite an einem neuen Projekt.“
„Du arbeitest zu viel. Männer in deinem Alter sollten eine hübsche junge Frau an ihrer Seite haben, die sie den ganzen Stress hier vergessen lässt.“
„Mach dir keine Sorgen. Mein neues Projekt ist eine hübsche junge Frau, die leider völlig verwöhnt und arrogant ist. Ich denke, ein Einblick in das wahre Leben könnte ihr nicht schaden. Und was meinen Job und den Stress, den er mit sich bringt, angeht: ich arbeite sehr gerne hier. Wenn wir nur eine Einzige retten können, ist das jeden Stress wert.“
„Du bist zu gut für diese Welt.“
„So wie du. Du machst das immerhin schon fast dreißig Jahre.“
„Ja, ja, wir müssen unseren Beruf wirklich lieben“, seufzte Paula.
„Das tun wir. Und dein Kaffee macht ihn noch erträglicher.“ Nico zwinkerte ihr zu und stellte amüsiert fest, dass Paula rot wurde. Schnell verließ sie sein Büro.
Nico setzte sich und nahm sich Astrids Akte vor, eine Zwölfjährige, die niemals wirklich eine Chance gehabt hatte. Ihre Mutter war bereits drogenabhängig, als sie mit Astrid schwanger wurde. Der Vater war unbekannt. Astrid verdankte ihr Leben einer aufmerksamen Nachbarin, der aufgefallen war, dass „die Nutte“ von nebenan nicht mehr fett war. Sie hatte das Jugendamt benachrichtigt, und die hatten das Baby fast verhungert und verdurstet, völlig verdreckt aus der Wohnung geholt. Astrid geriet in die Mühlen der Bürokratie. Trotzdem hatte sie Glück. Man fand eine liebevolle Pflegefamilie. Astrids Pech war, dass ihre Mutter, als Astrid gerade sechs war, ihren Anspruch auf ihre Tochter geltend gemacht hatte. Sie absolvierte erfolgreich ein Entzugsprogramm. Astrid kam zurück zu ihrer Mutter. Nico wurde immer noch schlecht, wenn er darüber nachdachte, dass so etwas rechtens war. Aber da Astrids Mutter nie auf ihr Sorgerecht verzichtet hatte, konnte ihre Pflegefamilie nichts machen. Obwohl sie es weiß Gott versucht hatten. Das ganze ging ein halbes Jahr gut. Dann erlitt Astrids Mutter einen Rückfall. Mittlerweile war Astrid acht Jahre alt und in den Augen ihrer Mutter eine gute Geldquelle. Sie verkaufte ihre Tochter an Freier. Nico wollte sich gar nicht vorstellen, was die Kleine alles durchgemacht hatte. An ihrem zehnten Geburtstag war Astrid schließlich abgehauen und schlug sich seitdem auf der Straße durch. Eine Freundin hatte ihr vom Confianza erzählt. Eines Tages stand Astrid vor der Tür. Nico hatte Dienst an diesem Tag. Er ließ sie rein, setzte sich mit ihr in die Küche, trank einen Kaffee und stellte keine Fragen. Astrid musterte ihn nur, stand auf und ging. Aber sie kam wieder. Es dauerte zwei Wochen, bis sie überhaupt mit Nico sprach.
„Du bist süß. Mit dir hätte ich es sogar umsonst getrieben.“
Nico war nicht überrascht. Solche Sätze hörte er öfter. Die Jugendlichen wollten schockieren. Das war alles, was sie konnten. Er reagiert, wie er das immer tat. Er ignorierte es. Er reichte ihr einfach die Hand und sagte: „Ich bin Nico.“ Er stellte ihr ebenfalls einen Kaffee, Milch und Zucker hin. „Wenn du reden möchtest, höre ich dir sehr gerne zu. Wenn nicht, bin ich froh, meinen Kaffee nicht mehr alleine trinken zu müssen.“
„Soll ich dir einen blasen für den Kaffee?“
Er hatte auch diese Anspielung von Astrid übergangen und ihr ein wenig über die Einrichtung erzählt: Dass confianza das spanische Wort für Vertrauen und Hoffnung war, dass hier niemand etwas von ihr erwartete, dass sie jederzeit kommen und gehen konnte. Es gäbe nur zwei Regel: keine Waffen und keine harten Drogen. Dennoch dauerte es weitere vier Wochen bis Astrid wirklich glauben konnte, dass tatsächlich niemand etwas von ihr erwartete. Sie konnte essen und trinken und schlafen, ohne dass eine Gegenleistung verlangt wurde. Sie konnte kommen und gehen wie sie wollte. Paula und Nico waren einfach für sie da. Ohne Forderungen. Nico hatte schon lange erkannt, dass das der beste Weg war an die Klienten, wie die Jugendlichen genannt wurden, heranzukommen. Aber Astrid war anders. Irgendwie hatte sie sich in Nicos Herz geschlichen. Die Kleine war zäh, ließ sich nicht unterkriegen. Und sie war intelligent.
Nico seufzte und schloss die Akte. Ihm war schon länger klar, dass er den für seine Arbeit dringend benötigten Abstand bei Astrid verloren hatte. Die Vorschriften besagten in so einem Fall, sich zurückzuziehen. Paula hätte übernehmen müssen. Aber Astrid hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Paula zwar mochte, ihre Bezugsperson aber Nico war. Und eins war sicher: Sollte sich das ändern, würde sie nicht wiederkommen und sie hätten sie verloren.
„Nico!“, vernahm er Paulas Stimme vom Treppenaufgang. „Ich könnte hier Hilfe gebrauchen.“ Ihre Stimme klang ruhig. Dennoch wusste Nico, dass es dringend war.
Als er den Essensraum betrat, sah er, dass zwei ihrer Klienten in Streit geraten waren und sich jetzt wütend gegenüberstanden. Einer von ihnen hatte ein Messer in der Hand und fuchtelte damit bedrohlich in der Luft herum. Paula stand direkt neben ihm und redete beruhigend auf ihn ein. Auch auf die Entfernung erkannte Nico, dass die Emotionen bereits so hochgekocht waren, dass Reden nicht mehr helfen würde. Ohne zu zögern trat er hinter den Jungen, griff nach der Hand mit dem Messer und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
„Jetzt gehen wir langsam hier raus, Timo.“ Nico bewegte sich rückwärts und hielt Timo fest, während dieser schrie und zappelte. Paula kümmerte sich derweil um den anderen Jungen.
Nico beförderte Timo ohne große Probleme auf die Straße.
„Du weißt, dass Messer hier nicht erlaubt sind“, stellte er klar.
„Ach, leck mich!“ Wütend stapfte Timo die Straße hinunter und verschwand hinter der nächsten Ecke.
„Hast du jemals in der ganzen Zeit, die du hier bist, so ein Angebot angenommen?“, vernahm Nico Astrids Stimme hinter sich. Sie saß auf der Treppe und hielt eine Kippe in der Hand. Er ließ sich neben ihr nieder.
„Nein“, erklärte er ernst.
„Das solltest du aber.“
„Warum denkst du das?“, fragte er.
„Du wirkst ein wenig verkrampft. Sex entspannt.“
„Sagt wer?“
Astrid drückte die Zigarette auf der Treppe aus und schmiss den verbleibenden Stummel in den Blumentopf, der für solche Zwecke aufgestellt worden war. Dann sah sie ihn aus braunen Augen an, die so viel älter waren als zwölf. „Ich habe davon gehört.“
„Ich auch“, grinste Nico.
Sie blickten sich an und prusteten gleichzeitig los. Nico stand auf, zog Astrid mit sich hoch und gemeinsam betraten sie das Haus.
Acht Stunden später streckte Nico sich. Er hatte Feierabend. Sven war vor einer halben Stunde gekommen und würde die Spätschicht übernehmen. Bis auf den Zwischenfall vom morgen war es trotz des großen Andrangs weitestgehend ruhig gewesen. Gerade als sich Nico seine Jacke anziehen wollte, erschallten von oben wütende Stimmen.
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte er resignierend.
„Du Penner. Nimm deine Drecksgriffel von mir oder ich schlitze dich auf!“
„Leg das Messer weg“, vernahm er Svens ruhige aber bestimmte Stimme.
„Sonst was?“, verhöhnte ihn jemand.
Nico zögerte nicht und eilte die Treppe hoch. Vor ihm sah er Sven, der von einem etwa 14jährigen Jungen in die Ecke gedrängt wurde. Timo stand schräg dahinter und wirkte erstaunt. Ein blondes Mädchen lag wimmernd am Boden, schien aber unverletzt.
„Was ist hier los?“, machte sich Nico mit lauter Stimme bemerkbar.
Der Jugendliche, der Sven bedroht hatte, fuhr herum.
„Wo kommst du Wichser denn her?“
Das Mädchen rappelte sich auf. „Der Kerl hat mich betatscht“, schluchzte sie.
Nico frage sie sanft: „Ist dir etwas passiert?“
Bevor sie antworten konnte, lachte der Typ auf. „Was soll der schon passiert sein? Nichts, was sie auf der Straße nicht sowieso anbietet.“
Nico zwang sich, ruhig zu bleiben. Wut half nicht weiter.
„Du verschwindest jetzt besser!“, forderte er ihn auf.
„Sonst was?“, wiederholte sich der Typ und trat einen Schritt auf Nico zu, das Messer drohend erhoben.
„Mensch, Arno“, ließ sich Timo vernehmen. „Lass gut sein. Komm, wir hauen ab!“
„Du solltest auf deinen Freund hören“, antwortete Nico.
Arno lachte dreckig auf. „Ja klar. Aber das Mädchen nehme ich mit. Ich hatte schon lange keinen guten Fick mehr.“
Ehe Arno reagieren konnte, umschlang Sven ihn von hinten mit den Armen, während Nico ihm das Messer entwand. Brüllend schlug er um sich.
„Ihr elenden Schweine! Lasst mich sofort los oder ihr werdet es bereuen!“
Nico bekam einen Schlag ins Gesicht, ehe er es schaffte, Arnos Arme unter Kontrolle zu bekommen. Gemeinsam beförderten sie Arno auf die Straße.
„Du bist hier nicht willkommen“, sagte Sven, immer noch ruhig, aber mit einem wütenden Funkeln in den Augen.
Arno spuckte auf die Straße. „Wer braucht euch schon!“ Dann verschwand er. Timo warf Sven und Nico noch einen entschuldigenden Blick zu und eilte Arno hinterher.
Sven atmete tief durch und entspannte sich. „Das war knapp“, stellte er fest.
Nico fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und spürte Blut. „Stimmt“, seufzte er. „Ich hasse es, wenn diese Kids auf Droge sind.“
Sven wandte sich ihm zu. „Ich glaube, der war nicht auf Droge. Der ist einfach nur gefährlich.“
„Das macht es nicht wirklich besser.“
„Vielleicht sind wir ihn ja los. Komm, wir versorgen erstmal dein Auge. Und dann verschwinde gefälligst. Du hast schon längst Feierabend.“