Читать книгу Wolkenbruch im siebten Himmel - Michaela Thewes - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

»Ich nix sehen.«

»Wie bitte?«

»Mir tut leid. Ich nix sehen«, wiederholte Tatjana bedauernd.

Mit meinen Ohren war also alles in bester Ordnung. Aber wie stand es um Tatjanas Augen? Vielleicht brauchte sie eine Brille. Sie war schließlich auch nicht mehr die Jüngste. Einer Wahrsagerin zu raten, mal einen Optiker aufzusuchen, wäre mir allerdings irgendwie unpassend, ja fast schon beleidigend erschienen. Die Frau konnte schließlich die Zukunft vorhersagen, da würde sie doch wohl wissen, wann es an der Zeit für eine profane Sehhilfe war. Oder etwa nicht?!

»Könnten wir ... Also ich meine, könnten Sie es nicht noch einmal versuchen?«, krächzte ich nervös.

Scheinbar unschlüssig, ob sie meinem Wunsch nachkommen sollte, neigte Tatjana bedächtig den Kopf zur Seite. Ob das eine Masche war, um das Honorar in die Höhe zu treiben? Doch bevor ich ihr mehr Geld anbieten oder mit dem Gewerbeamt drohen konnte, nickte sie mit einem gequälten Seufzer.

»Okay, noch letzte Versuch.«

Tatjana kniff die Augen zusammen und beugte sich erneut über ihre Kristallkugel. Entgegen der Vorstellung, die man im Allgemeinen von einer Wahrsagerin hat, fielen ihr die Haare dabei keineswegs in wirren Locken über die Schultern, sondern waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Schmuck hingegen entsprach schon eher den gängigen Klischees. An Tatjanas Ohrläppchen baumelten riesige goldene Creolen, die man ohne Weiteres als Hula-Hoop-Reifen hätte benutzen können. Und sie trug mindestens ein halbes Dutzend langer Ketten, die im schwachen Lampenschein mit unzähligen Armreifen um die Wette glitzerten.

Möglicherweise liegt es an der Beleuchtung, kam es mir in den Sinn, während ich mit klopfendem Herzen darauf wartete, dass Tatjana etwas sagte. Es war wirklich verdammt schummrig hier drinnen. Die Vorhänge waren zugezogen, der Raum wurde lediglich von zwei kleinen IKEA-Funzeln, die zweifelsohne mit Energiesparlampen bestückt waren, erleuchtet. Aber das war bei meinen letzten Besuchen auch kein Problem gewesen. Was also war heute anders?

Vor Anspannung krallte ich meine Fingernägel in die Handfläche. Bei allem Respekt vor Tatjanas hellseherischen Fähigkeiten: Es konnte doch nicht sein, dass in meinem Leben GAR NICHTS passierte! Zugegeben – mit einem Ehemann, einem Häuschen, einem Kombi und zwei mehr oder weniger wohlgeratenen Kindern, die aus dem Gröbsten raus waren, erschien es auf den ersten Blick nicht besonders aufregend. Aber was war beispielsweise mit meinem immerwährenden Kampf gegen die Allianz des Bösen – Wühlmäuse und Schnecken –, den ich im heimischen Garten ausfocht? Oder mit den terroristischen Anschlägen verbaler Natur, denen ich ständig durch meine Mutter ausgesetzt war? Sooo ereignislos war mein Leben gar nicht, und meine Zukunft doch sicher auch nicht ...

Die Wahrsagerin legte hochkonzentriert die Stirn in Falten. Dann räusperte sie sich und blickte von ihrer Kugel auf. Doch anstatt mich anzusehen, ließ sie ihre Augen über das Regal mit den Quarzen und Edelsteinen wandern, das rechts von uns an der Wand hing.

»Wie ich sagen: Ich nix sehen.«

»Ja, aber ... aber ... aber das kann doch nicht sein«, stotterte ich verwirrt.

Tatjana seufzte. »Leider doch.«

Auf alles war ich vorbereitet gewesen – auch auf schlechte Zukunftsprognosen. Gar nichts zu erfahren war allerdings, wie ich jetzt feststellen musste, mindestens genauso schlimm. Tatjana wollte mich doch wohl nicht einfach unverrichteter Dinge wieder nach Hause schicken?!?

Sie wollte nicht nur, sie tat es. Indem sie aufstand und die Vorhänge zurückzog, gab sie mir zu verstehen, dass unsere Sitzung hiermit beendet war.

Widerstrebend erhob ich mich von meinem Stuhl. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Mich am Tisch festketten und darauf bestehen, dass sie gefälligst so lange auf ihre dämliche Kugel zu starren hatte, bis sie etwas sehen konnte?

Auf dem Weg zur Tür redete Tatjana entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit in einer Tour.

»Ist Wetter nicht herrlich? Drrringend auch nötig, nicht? Immer nur Rrregen, Rrregen, Rrregen – nix schön.«

Sie gurgelte das R wie Mundwasser. Ob sie vielleicht das Fehlen eines schwarzen Katers oder einer wilden Lockenmähne mit ihrem osteuropäischen Akzent wettzumachen versuchte?

»Hoffen wirrr, dass Rrrest von Sommerr so bleibt.«

Hoffen? Sie als Wahrsagerin müsste das doch eigentlich wissen, schoss es mir durch den Kopf. Sogleich schämte ich mich jedoch für diesen ketzerischen Gedanken.

Als ich mich verabschiedete, reichte ich Tatjana den Umschlag mit ihrem Honorar, doch sie hob abwehrend die Hände.

»Behalten Sie.«

Das sah Tatjana so gar nicht ähnlich. Verdattert schob ich den Umschlag in meine Handtasche zurück. Okay, wenn sie mein Geld nicht wollte ... Es war ja nicht so, als ob ich zu viel davon hätte oder frisch gedruckte Blüten in Umlauf bringen müsste. Aufdrängen würde ich es ihr ganz bestimmt nicht. Sie nicht sehen – ich nicht zahlen. Das klang nach einem fairen Deal.

Ich verließ Tatjanas Wohnung dennoch mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Draußen auf der Straße atmete ich erst einmal tief ein und aus. Dann setzte ich mich wie ein Aufziehfigürchen in Bewegung. Das Klackern meiner Absätze hallte bei jedem Schritt von den Häuserwänden wider: Ich nix sehen. Ich nix sehen ...

Der falsche Satzbau und die fehlerhafte Grammatik bereiteten mir das geringste Kopfzerbrechen. Ich versuchte, meine Gedanken zu entwirren. Dass es Tatjana nicht gelungen war, ihrer Kugel Informationen über meine Zukunft zu entlocken, war für sich allein betrachtet, noch kein echter Grund zur Besorgnis. Wirklich beunruhigend fand ich jedoch, dass Tatjana mein Geld abgelehnt hatte. Bescheidenheit und Genügsamkeit waren nämlich nicht gerade ihre charakteristischsten Eigenschaften. Obwohl sich ihr Stundensatz ohne Weiteres mit dem eines Arztes oder Rechtsanwalts messen konnte, erhöhte sie ihr Honorar ständig. Warum also hatte sie heute mein Geld verschmäht? Aus Mitleid? Hatte sie womöglich doch etwas gesehen und es aus Rücksicht auf meine Gefühle für sich behalten? Oder wusste sie, was es zu bedeuten hatte, wenn die Kugel nichts preisgab? Musste ich schlimmstenfalls damit rechnen, dass ich mir schon bald die Radieschen von unten ansehen würde?

Ach was, sicher ist Tatjana heute nur nicht richtig in Form, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Vielleicht hat sie schlecht geschlafen oder ihre Tage ...

Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln beschleunigte ich meine Schritte. Ich lief so schnell, dass ich schon nach wenigen Minuten das Franziskus-Krankenhaus erreichte. Die Klinik genoss über die Grenzen Düsseldorfs hinaus einen hervorragenden Ruf. Was, wie meine Freundin Britta, die hier als Chirurgin arbeitete, zugab, nur zum Teil an der Leistung der Ärzte lag. Mindestens genauso viel Anteil am hohen Renommee des Krankenhauses hatte Küchenchef Karl. Während man in anderen Kliniken oftmals kränker entlassen wurde, als man gekommen war – zum Herzinfarkt oder Knochenbruch gesellte sich dank des abscheulichen Fraßes, den man vorgesetzt bekam, auch noch eine kleine Magenverstimmung –, ließen die Patienten im Franziskus-Krankenhaus sich gern von Karls guter Küche verwöhnen.

In diesen Genuss kamen im Übrigen auch die Besucher, denn in der Krankenhauscafeteria gab es wirklich leckeres Essen zu zivilen Preisen. Allerdings war das nicht der eigentliche Grund, warum meine Freundinnen und ich uns hier des Öfteren zum Mittagessen trafen. Britta, die durch ihre Doppelbelastung als Ärztin und alleinerziehende Mutter von unserem Viererkleeblatt diejenige war, deren Zeit am knappsten bemessen war, konnte auf diese Weise das Notwendige mit dem Angenehmen verbinden – eine kleine Stärkung in der Mittagspause und ein Treffen mit uns. Auch wenn Britta gelegentlich behauptete, es sei andersherum ...

Vor der Cafeteria bremste ich kurz ab und ließ meinen Blick über die gut besetzten Tischreihen hinweggleiten. Ich brauchte nicht lange zu suchen, denn Nadine konnte man einfach nicht übersehen, zumindest nicht in diesem Aufzug. Sie trug eine pinkfarbene hautenge Jeans, eine bunte Bluse mit Blümchenprint und darüber ein Bolerojäckchen im angesagten Colorblockstyle. Jede andere hätte in dem Outfit wie ein Papagei ausgesehen – Nadine auch, aber es stand ihr. Sie war tatsächlich eine Art Paradiesvogel: exzentrisch, etwas flatterhaft und mitunter ein wenig geschwätzig. Gerade beugte sie sich über den Tisch zu Sophie hinüber und gestikulierte, während sie erzählte, wild in der Luft herum. Es musste wohl etwas Lustiges sein, denn Sophie warf lachend ihre blonden Locken zurück.

Als ich ihren Tisch erreichte, unterbrachen die beiden ihr Gespräch.

»Hallo, Maja.« Nadine sprang auf und drückte mich herzlich an sich.

Sophie stand ebenfalls auf, um mich zu umarmen, und hauchte, wohl um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren, ein Küsschen rechts und ein Küsschen links an meinen Ohren vorbei, dabei verströmte sie wie immer einen zarten Vanilleduft. In ihrem rosafarbenen Etuikleid und den dazu passenden Riemchenpumps sah sie aus, als wäre sie soeben der Titelseite eines Hochglanzmagazins entstiegen. Es war gar nicht so einfach, mit Sophie befreundet zu sein. Vor allem an Tagen, an denen man selbst nicht ganz auf der Höhe war. Denn an Sophie war immer alles vorbildlich – ihre Klamotten, ihr Make-up, ihre Haare, ja sogar ihr Mann und ihre Kinder. Trotzdem mochte ich sie von Herzen, zumindest wenn ich sie nicht gerade umbringen wollte, weil sie so verdammt perfekt war.

»Kannst du mir verraten, warum du schon wieder diesen blöden Schirm mit dir rumschleppst?« Sophie deutete erst auf den Knirps in meiner Hand und dann nach draußen, wo die Sonne vom strahlend blauen Himmel lachte. »Nach Regen sieht es heute ja nun wirklich nicht aus.«

»Man kann nie wissen«, konterte ich. »Auf wetter.com haben die Meteorologen eine Regenwahrscheinlichkeit von zehn Prozent vorhergesagt.«

Nadine verdrehte die Augen gen Himmel. »Die Wahrscheinlichkeit, auf offener Straße überfallen zu werden, ist vermutlich größer.«

»Seht ihr, gleich zwei Gründe, warum es gut ist, immer einen Schirm dabeizuhaben. Sollte ich tatsächlich mal überfallen werden, kann ich mich damit verteidigen«, sagte ich und setzte, als ich in die ungläubigen Gesichter meiner Freundinnen blickte, entschuldigend hinzu: »Ich bin nun mal gern für alles gewappnet.«

Vor allem für die weniger angenehmen Dinge, die das Leben so in petto hat, ergänzte ich im Stillen. Ich wusste selbst, dass positives Denken nicht gerade meine Stärke war. Und wenn schon! Meine Devise lautete: Rechne mit dem Schlimmsten, dann kannst du nicht enttäuscht werden. Und damit war ich die vergangenen achtunddreißig Jahre eigentlich ganz gut gefahren. Auch wenn die wenigsten Menschen dafür Verständnis hatten. Schließlich wurde positives Denken heutzutage als so eine Art Wundermittel gehandelt, mit dem sich Glück und Reichtum wie von selbst einstellten. Pessimisten wie ich waren total out. Damit konnte ich jedoch nicht nur gut, sondern die meiste Zeit auch ziemlich glücklich leben ...

»Wo bleibt Britta bloß? Ich bin kurz vorm Verhungern«, wechselte Nadine in diesem Moment gottlob das Thema.

Den tausendsten Vortrag darüber, dass das Glas nicht halb leer, sondern halb voll war, hätte ich heute echt nicht verkraftet. In Nadines Fall erübrigte sich diese Diskussion allerdings – ihr Bauch war offenbar komplett leer. Sie strich sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck darüber.

»Ist ja mal wieder typisch. Die, die den kürzesten Weg hat, verspätet sich.«

Wie aufs Stichwort kam Britta in diesem Moment um die Ecke gefegt. Beim Anblick ihres wehenden weißen Kittels fühlte ich mich plötzlich wie ein Statist bei Grey’s Anatomy, Emergency Room oder wie die Arztserien sonst so alle hießen. Nur dass die Ärzte hier am Franziskus-Krankenhaus – sehr zu Brittas Leidwesen – weder so charmant waren noch so gut aussahen. Was die Krankenschwestern und Assistenzärztinnen aber trotzdem nicht davon abhielt, sich ihnen scharenweise an den Hals zu werfen.

Britta drückte jeden von uns kurz an sich. »Entschuldigt bitte die Verspätung. Auf der Station ist heute mal wieder die Hölle los.«

»Kein Problem. Ist nicht weiter tragisch, dass ich vor Hunger fast ohnmächtig geworden wäre. Ich bin ja hier in der Klinik in guten Händen.« Nadine legte sich theatralisch die Hand an die Stirn, konnte sich dabei jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich wünschte, bei mir in der Boutique würde genauso viel Andrang herrschen. Nein, halb so viel würde auch schon reichen.«

»Och, wenn’s weiter nichts ist!«, feixte Britta. »Ich kann dir gern mal einen durchgebrochenen Blinddarm oder ein akutes Magengeschwür vorbeischicken. Nimm’s aber bitte nicht persönlich, wenn den Herrschaften nicht der Sinn nach den neuesten Modetrends steht und sie nach OP-Hemdchen verlangen.« Britta wies mit dem Kinn hinüber zur Essensausgabe. »Kommt, lasst uns schnell machen. Ich hab leider nicht viel Zeit.«

Obwohl die Tagesgerichte nicht nur gut aussahen, sondern auch verführerisch dufteten, hatte ich irgendwie keinen richtigen Appetit. Der Besuch bei Tatjana lag mir schwer im Magen. Nur aus Geselligkeit und um nicht aufzufallen – denn das würde zwangsläufig ein Kreuzverhör nach sich ziehen –, fischte ich mir ein Stück Apfelkuchen aus der Selbstbedienungstheke. Und damit er besser rutschte, häufte ich einen extragroßen Berg Schlagsahne darauf. Fünftausend Kalorien todsicher. Nadine, die sich der Figur zuliebe für einen Caesar Salad entschieden hatte, linste neidisch auf meinen Teller.

»Das Leben ist wirklich ungerecht«, seufzte sie. »Irgendwas läuft da verkehrt. Du schaufelst die Kalorien in dich rein, und bei mir landen sie auf den Hüften.«

Britta, die hinter uns in der Schlange stand, gluckste vor Lachen. »Ja, ja, diese bösen Kalorien sind wirklich heimtückisch. Schlimm genug, dass sie sich schon immer überall versteckt haben, nun wandern sie auch noch.«

Nadine rollte mit den Augen. »So, Maja-Schatz, jetzt erzähl«, ermunterte sie mich dann.

Wir bezahlten unser Essen und kehrten zu unserem Tisch zurück.

»Was? Was soll ich erzählen?«, fragte ich, mich absichtlich dumm stellend.

Um Zeit zu schinden, schob ich mir schnell einen Bissen Apfelkuchen mit reichlich Sahne in den Mund. Mist! Ohne die Erinnerungsfunktion ihres Handys vergaß Nadine angefangen von Arztterminen bis hin zum Namen ihres aktuellen Lovers alles. Warum hatte sie sich ausgerechnet diesen Termin gemerkt?

Britta, die ebenfalls im Bilde zu sein schien, sah interessiert von ihrer Pasta auf. »Genau, lass mal hören. Was hat deine Wahrsagerin denn dieses Mal aus dem Kaffeesatz gelesen?«

Auch der größte Bissen war bedauerlicherweise irgendwann einmal fertig gekaut. »Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Vielleicht ist George Clooney mal eben in einer Drehpause vorbeigekommen und hat ihr eine Nespresso-Maschine geschenkt«, ulkte Nadine und spießte mit der Gabel ein Salatblatt auf. »Da wird es schwierig mit dem Kaffeesatz.«

Britta kicherte. »Aber jetzt mal im Ernst. Was hat Tamara dir für deine Zukunft vorhergesagt?«

»Also, erstens heißt meine Wahrsagerin nicht Tamara, sondern Tatjana. Und zweitens verwendet sie eine Kristallkugel und keinen Kaffeesatz.«

»Na, das nenn ich fortschrittlich«, höhnte Nadine, die alles, wofür es noch keine App gab, für vorsintflutlich hielt.

»Braves Mädchen. Dann hast du den Termin also abgesagt.« Britta, die aus der Information, dass Tatjana mit nichts vorhergesagt hatte, falsche Schlüsse gezogen hatte, klopfte mir auf die Schulter. »Ich wusste doch, dass du eines Tages zur Vernunft kommen würdest.«

»Nein, ich hab den Termin nicht abgesagt«, protestierte ich ungehalten. »Ich war bei Tatjana. Aber sie hat sie in ihrer Kristallkugel nichts gesehen.«

»Niiiichts?!?«, quietschte Nadine empört auf. »Das gibt’s doch gar nicht. Zugegeben, dein Leben ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem Filmdrehbücher gemacht werden, aber dass gar nichts passiert, halte ich für ziemlich ausgeschlossen.«

Da waren wir zur Abwechslung mal einer Meinung. »Genau. Darum habe ich Tatjana auch gebeten, es noch mal zu versuchen.«

»Und?«, fragten Britta, Sophie und Nadine dreistimmig.

»Wieder nichts.«

»Vielleicht muss die Kugel einfach mal abgestaubt werden«, spekulierte Britta mit einem Augenzwinkern und nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas. »Das Problem kenne ich. Da glaubt man, gerade erst alles geputzt zu haben, und schon ist die Bude wieder dreckig.«

»Oder es gab irgendwelche atmosphärischen Störungen.«

»Genau. Möglicherweise war auch das Netz überlastet, weil zu viele Wahrsager gleichzeitig ihre Anfrage ans Universum gestellt haben.«

Nadine und Britta ließen es sich nicht nehmen, Tatjana und ihre Kristallkugel ausgiebig durch den Kakao zu ziehen. Dabei übertrumpften sie sich gegenseitig mit Erklärungsversuchen. Auch die von mir kurzzeitig als Ursache in Erwägung gezogene Sehschwäche durfte dabei natürlich nicht fehlen und sorgte für erneute Heiterkeitsausbrüche. Die Einzige, die nicht ihren Senf dazugab, war Sophie. Sie war auffallend still. Nachdenklich zupfte sie an ihrer Serviette herum. Als Nadine und Britta gerade einmal zufällig zur gleichen Zeit den Mund hielten, um Luft zu holen, räusperte sie sich.

»Wenn ... wenn Tatjana nichts gesehen hat, bedeutet das womöglich, dass es gar nichts zu sehen gibt.« Ihre Augen schimmerten mit einem Mal verdächtig feucht.

Nadine legte fragend den Kopf schief. »Sorry, Sophie, aber du sprichst in Rätseln. Könntest du für uns, die wir weder die hohe Kunst des Hellsehens noch des Gedankenlesens beherrschen, vielleicht ein bisschen deutlicher werden?!?«

Sophie sah unsicher von einer zur anderen. »Was, wenn Maja überhaupt keine Zukunft hat?«, fragte sie tonlos und brachte damit meine schlimmsten Befürchtungen auf den Punkt.

Einen Moment lang herrschte beklemmende Stille am Tisch, dann fiel Nadines Gabel mit einem lauten Klirren auf ihren Teller. »Jetzt fang du nicht auch noch an!« Ärgerlich funkelte sie Sophie über den Tisch hinweg an.

»Es reicht wirklich, wenn Maja sich von diesem Schwachsinn verrückt machen lässt«, versuchte Britta schnell die Wogen zu glätten. »Du solltest sie darin nicht auch noch bestärken.«

»Aber ihr müsst doch zugeben, dass das schon ein wenig merkwürdig ist«, beharrte Sophie.

»Ach was, Blödsinn!« Nadine schnaubte wie ein wütender Stier, dabei raufte sie sich ihre schwarz gefärbten Haare. »Das ist doch alles Hokuspokus.«

»Hokuspokus?« Meine Empörung war keineswegs gespielt. »Darf ich dich daran erinnern, dass ihr es gewesen seid, die mich zu Tatjana geschickt habt?«

Britta seufzte. »Wie oft sollen wir dir denn noch sagen, dass das ein Gag sein sollte! Wer konnte denn ahnen, dass du den Schmu, den Tamara verzapft, ernst nimmst...«

»Tatjana«, verbesserte ich meine Freundin mechanisch.

Auch wenn ich mir in diesem Moment eher die Zunge abgebissen hätte, als es zuzugeben: Insgeheim konnte ich Brittas ablehnende Haltung gut verstehen. Als Ärztin hatte sie sich mit Haut und Haaren der Wissenschaft verschrieben. Was sich nicht beweisen ließ, existierte auch nicht. Basta. Davon mal abgesehen hatte ich bis vor ein paar Jahren genauso gedacht wie Britta und Nadine. Eine Wahrsagerin gehörte laut meiner damaligen Überzeugung ins zwielichtige Jahrmarktmilieu, ihre Prophezeiungen hielt ich für genauso vertrauenswürdig wie die Produktversprechen in der Werbung. Wer daran glaubte, war selbst schuld! Doch in der Zwischenzeit hatte ich meine Meinung geändert.

Meine Freundinnen hatten mir meinen ersten Besuch bei Tatjana zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt. Eine witzige Idee und wesentlich origineller als Antifaltencreme, Stützstrümpfe und der ganze Krempel, der an runden Geburtstagen sonst so zur Erheiterung der Gäste und Demoralisierung des Geburtstagskindes verschenkt wird. Wir amüsierten uns königlich und spekulierten wild darüber, was mir diese »Kräuterhexe«, wie Nadine sie nannte, für meine Zukunft vorhersagen würde. Aber aus Spaß wurde schnell bitterer Ernst, denn Tatjana prophezeite mir bei dieser ersten Sitzung den Tod eines geliebten Menschen.

»Es war reiner Zufall, dass dein Vater drei Monate später gestorben ist.« Britta, der es nicht schwerfiel zu erraten, was ich gerade dachte, sah mich durchdringend an. »Eine Lungenembolie kommt häufiger vor, als man denkt.«

»Ein ganz schön großer Zufall, wenn ihr mich fragt«, bekam ich von Sophie, die sich nachdenklich eine blonde Haarsträhne um den Finger wickelte, Unterstützung.

»Eben.« Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Der Tod meines Vaters hatte in meinem Leben zwei Dinge bewirkt: Zum einen gestaltete sich das Verhältnis zu meiner Mutter, nun, da mein Vater nicht mehr als Puffer zwischen uns fungieren konnte, noch schwieriger als vorher. Zum anderen suchte ich seither ein- bis zweimal im Jahr Tatjana auf. So wie ich regelmäßig zur Kontrolle zum Zahn- oder zum Frauenarzt ging. Rein prophylaktisch. Denn auch wenn ich mein Schicksal vermutlich nicht ändern konnte, so wollte ich zumindest vorbereitet sein.

»Und vergesst nicht Tatjanas Prophezeiung, dass Maja ein reicher Geldsegen ins Haus steht«, erinnerte Sophie meine Freundinnen.

»Wie könnten wir das vergessen!«, bemerkte Britta spitz. »Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als Maja jede Woche einen Lottoschein ausgefüllt hat, inklusive Spiel 77 und Super 6. Sogar zu einem Casinobesuch hat sie den armen Oli überredet. Wenn ich mich recht entsinne, ist ein ordentliches Sümmchen dabei draufgegangen.«

»Trotzdem hat Tatjana, wie ihr ja wisst, mit ihrer Vorhersage recht behalten«, beharrte ich ärgerlich.

Der prophezeite Geldsegen war schließlich auf ganz anderem Weg ins Haus gekommen. Dank seines gewieften Steuerberaters erhielt mein Mann Oliver eine satte Steuerrückzahlung, die – wenn man meine Spieleinsätze abzog – leider nicht mehr ganz so stattlich ausfiel. Aber das war schließlich nicht Tatjanas Schuld gewesen.

»Gib’s doch zu: Du möchtest ganz einfach, dass die Prophezeiungen der Wahrsagerin stimmen«, ereiferte sich Britta mit blitzenden Augen. »Dafür drehst und wendest du die Dinge, wie du sie brauchst. Hättest du auf der Straße ein Zweieurostück gefunden, wäre das für dich auch ein Beweis gewesen, dass die alte Kräuterhexe recht gehabt hat.«

»Hört auf zu streiten. Ich hab euch ja gleich gesagt, dass die Sache mit der Wahrsagerin eine absolute Schnapsidee gewesen ist«, mischte Nadine sich ein, bevor Britta und ich uns in die Haare geraten konnten. »Wir hätten Maja stattdessen besser eine Aromaölmassage schenken sollen. Oder einen Vibrator. «

»Einen Vibrator?!?« Trotz Sahne wäre mir der Kuchen beinahe im Hals stecken geblieben. »Wozu denn das?«

»Zum Erdbeeren pürieren.« Nadine verdrehte die Augen. »Herrgott, Maja, was ist denn das für eine Frage? Spaß haben sollst du damit. Was denn sonst? Wie man so hört, wird der Sex im Laufe einer Ehe nicht unbedingt besser. Da kann einem so ein Zauberstab schon mal über die eine oder andere Flaute hinweghelfen.«

Ganz unrecht hatte Nadine damit natürlich nicht. Zwar herrschte bei Oliver und mir nicht unbedingt Flaute im Bett, aber das, was gelegentlich am Wochenende durch unser Schlafzimmer wehte, war keine steife Brise, sondern eher ein laues Lüftchen. Und dafür gab es, wenn ich es mir recht überlegte, noch nicht einmal eine plausible Ausrede. Weder litten wir unter irgendwelchen körperlichen Gebrechen, noch hatten wir existenzielle Sorgen. Mit Ende dreißig waren wir noch nicht zu alt für heißen Sex, wir hatten keinen ständig schreienden Säugling zu versorgen, es mangelte uns auch nicht an Gelegenheit. Im Gegensatz zu früher mussten wir nicht einmal mehr fürchten, in flagranti erwischt zu werden. Unsere Kinder waren endgültig aus dem Alter raus, in dem sie mit einem Kuscheltier unter dem Arm plötzlich vor unserem Bett auftauchten, weil sie schlecht geträumt hatten oder in einer lauen Julinacht wissen wollten, wie lange es noch dauerte, bis das Christkind kam ...

Allerdings hatte ich nun wirklich keine Lust, in der Krankenhauscafeteria nach meiner fehlenden Zukunftsperspektive nun auch noch mein Sexualleben zu diskutieren.

»Und? Was gibt es bei euch Neues?«, versuchte ich in betont munterem Tonfall das Thema zu wechseln. Mein Blick blieb an Nadine hängen, die wie ein Honigkuchenpferd smilte. »Oder sollte ich besser fragen: Wen gibt es Neues?«

»Er heißt Sven und ist ein echtes Schnuckelchen.«

»Schnuckelchen, soso. Ich hoffe, mit ihm zu schlafen, bringt dich nicht mit dem Gesetz in Konflikt. Du bist dir doch wohl darüber im Klaren, dass Sex mit Minderjährigen strafbar ist?« Britta sah Nadine, deren Vorliebe für jüngere Männer uns bestens bekannt war, streng an.

»Keine Sorge, alles im grünen Bereich«, beruhigte uns Nadine. »Sven ist fünfunddreißig, also eigentlich schon ein richtig alter Knacker.«

Skurrilerweise hatte Nadine selbst vergangenes Jahr bereits ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, wobei ... Es war eigentlich eher ein Frustbesäufnis im kleinen Kreis als eine Feier. Und der Kreis war wirklich sehr klein. Nur Nadine und Jim Beam. Nicht einmal uns Mädels hatte sie dabeihaben wollen ...

»Wie hast du diesen alten Knacker denn kennengelernt?«, fragte ich und lehnte mich in Erwartung einer unterhaltsamen Anekdote entspannt zurück.

»Über meine Agentur.«

»Über deine Agentur?!?«, echote Sophie und schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

Von jetzt auf gleich saß ich wieder kerzengerade auf meinem Stuhl. Genau wie Sophie war ich gelinde gesagt ein wenig überrascht. Zwar hatte Nadine einen ziemlich großen Verschleiß an Männern, aber bislang war es ihr immer problemlos gelungen, auf dem freien Markt Nachschub zu finden.

»Seit wann brauchst du eine Agentur? Das hast du doch gar nicht nötig.«

Nadine winkte grinsend ab. »Nicht, was ihr jetzt denkt. Sven ist Fotograf. Die Werbeagentur, die ich damit beauftragt habe, meine Internetseite neu zu gestalten, hat ihn vorbeigeschickt, um ein paar Bilder von der Boutique zu schießen.«

»Und? Bist du mit dem Ergebnis zufrieden?«, wollte Britta zwischen zwei Gabeln Nudeln wissen.

»Ob ich zufrieden bin?« Nadine grinste zweideutig. »Das kannst du aber laut sagen.«

»Ich meine nicht den Sex, sondern die Fotos!«

»Ach so, ja, ja, die sind ganz hübsch geworden. Wollt ihr mal sehen?«

Nadine griff nach ihrem Smartphone und tippte, ohne unsere Antwort abzuwarten, in Rekordgeschwindigkeit auf dem Display herum. Ich rechnete damit, dass sie uns nun ein Bild ihres neusten männlichen Sextoys präsentieren würde, aber es waren tatsächlich nur die Fotos ihres Ladens. Ob Schnuckelchens Performance im Bett tatsächlich so fantastisch war, wie Nadine behauptete, konnte ich nicht beurteilen, von seiner Arbeit als Fotograf schien er allerdings etwas zu verstehen. Er hatte die Boutique gekonnt in Szene gesetzt. Einige ausgefallene Kleidungsstücke waren so geschickt drapiert, dass sie besonders gut zur Geltung kamen. Zudem wirkte das Ladenlokal auf den Fotos um einiges größer, als es in Wirklichkeit war.

Nachdem wir die Leistung ihres neuen Lovers hinreichend gewürdigt hatten, zumindest was die berufliche Ebene betraf, legte Nadine ihr Handy mit einem zufriedenen Lächeln zur Seite. Dann wandte sie sich an Britta.

»Gibt’s was Neues von der Front?«

Jeder am Tisch wusste sofort, welche »Front« Nadine meinte. Ein paar Wochen zuvor hatte Brittas Exmann das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Jannik beantragt, und nun kämpfte Britta wie eine Löwin um ihr Kind.

»Mein Ex sammelt fleißig Munition gegen mich.«

Seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren hieß Markus, wenn Jannik nicht dabei war, bei Britta nur noch »mein Ex«, so als könnte sie mit seinem Vornamen seine komplette Existenz aus ihrem Leben verbannen.

»Gestern zum Beispiel hat Jannik sich mal wieder in der Schule geprügelt«, fuhr Britta fort. »Und wer ist schuld, was glaubt ihr wohl?«

»Der andere Junge?«, fragte ich vorsichtig, obwohl ich genau wusste, dass Jannik ein ziemlich wilder Rabauke und ein echter Hitzkopf war.

»Nein, ich! Ich bin schuld! Behauptet zumindest mein Ex. Ich hätte Jannik besser erziehen müssen.« Britta stieß einen tiefen Seufzer aus. »Eigentlich bin ich ja sowieso an allem schuld. Sogar für Janniks Kieferfehlstellung macht er mich verantwortlich. Alles mein Erbgut. Als Mutter bin ich eine absolute Niete.«

»Aber das stimmt doch gar nicht«, mischte Sophie, die, seit ich von meinem Besuch bei Tatjana erzählt hatte, ziemlich still gewesen war, sich nun wieder in das Gespräch ein. »Du bist eine wirklich gute Mutter und gibst dein Bestes.«

Britta stieß einen tiefen Seufzer aus. »Erzähl das mal meinem Ex. In seinen Augen bin ich eine echte Rabenmutter. Nur weil ich nicht bei jedem Schulfest einen selbstgebackenen, mit Vitaminen angereicherten und mit Smarties und Lachgummis verzierten Kuchen aus Vollkornmehl spende.« Mit einem gehetzten Blick auf ihre Armbanduhr stand sie auf. »So, jetzt muss ich aber los.« Sie warf uns eine Kusshand zu. »War schön mit euch, Mädels.« Im Gehen drehte sie sich noch einmal um. »Ach, und Maja, tu mir bitte einen Gefallen – vergiss diese Tamara!«

Würde ich ja gern! Nur war das leichter gesagt als getan. Tamara alias Tatjana hatte sich wie ein Parasit in meinem Kopf eingenistet, fraß sich mit beachtlicher Geschwindigkeit durch meine Gehirnwindungen und dachte nicht im Traum daran zu verschwinden.

Wieder zu Hause angekommen, war ich ausnahmsweise dankbar für das Chaos, das meine Familie am Morgen hinterlassen hatte. Ich krempelte die Ärmel hoch und beschloss, nachdem ich mir ein genaues Bild vom Grad der Verwüstung gemacht hatte, erst einmal klar Schiff zu machen. Damit würde ich die nächsten ein bis zwei Stunden locker beschäftigt sein. Sehr gut, dann blieb mir wenigstens keine Zeit zum Grübeln!

Als Tobias und Kathi noch klein gewesen waren, hatte ich angenommen, dass die Unordnung, die sie auf Schritt und Tritt verbreiteten, im Laufe der Jahre weniger werden würde. Doch das Gegenteil war der Fall! Nur dass meine Kinder jetzt nicht mehr Legosteine und Barbiepuppen, sondern CDs, Magazine, Schminkutensilien und Klamotten herumliegen ließen. Kopfschüttelnd fischte ich eine schwarz-weiß geringelte Socke aus der Sofaritze hervor. Die gehörte zweifelsohne Kathi. Abgesehen von der Frage, wie die Socke dorthin gekommen war, interessierte mich brennend, wo ich das passende Gegenstück finden würde. Lediglich einen Ort konnte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen: die Wäschetonne ...

Als ich die Couchecke und die Küche wieder in einen halbwegs repräsentablen Zustand zurückversetzt hatte, wandte ich mich dem Esstisch zu. Neben einem Stillleben aus Computerzeitschriften, Haarbändern und Stiften lagen dort ein rosafarbener Briefumschlag und eine Karte, die am Tag zuvor mit der Post gekommen war. Eine Einladung zur Hochzeit von Olivers Cousin. Die Vorderseite der Karte wurde von kleinen fliegenden Herzen mit neckischen Flügelchen und einem fetten Honigfleck geschmückt. Zwar war der Honig beim Eintreffen der Einladung meines Wissens noch nicht darauf gewesen, aber er passte wunderbar zum Rest: klebrig-süß.

Es war ziemlich lange her, dass Oliver und ich zum letzten Mal zu Gast auf einer Hochzeit gewesen waren. Während ich den Termin hübsch ordentlich in unseren großen Wandkalender eintrug, überlegte ich, ob ich für diesen Anlass etwas Passendes zum Anziehen hatte. Vielleicht das blaue Satinkleid? Obwohl es schon ein bisschen eng saß ...

Auf dem Weg nach oben ins Schlafzimmer blieb ich wie vom Donner gerührt auf der Treppe stehen. Was machte mich so sicher, dass ich überhaupt zu diesem Fest gehen würde? Die Hochzeit fand erst im September statt. Noch fast fünf Monate. Fünf Monate, in denen so einiges passieren konnte. Möglicherweise war ich im September längst tot!

Meine Glieder waren mit einem Mal bleischwer. Ermattet ließ ich mich auf eine Treppenstufe sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Meine Augen brannten. War der Gedanke, dass ich den Löffel abgeben musste, denn wirklich so abwegig, wie Britta und Nadine behauptet hatten? Litt ich unter Paranoia, oder war ich komplett übergeschnappt? Nein, Sophie hatte aus meiner Sitzung bei Tatjana die gleichen Schlüsse gezogen wie ich. So weit hergeholt waren meine Befürchtungen also nicht.

Meine Gedanken überschlugen sich. War das Risiko, eine Lungenembolie zu bekommen, eigentlich erblich? Würde ich womöglich genauso sterben wie mein Vater? Oder an Krebs? Und wann hatte ich eigentlich zuletzt meine Tetanusimpfung auffrischen lassen? Vielleicht würde ich aber auch bei einem Unfall ums Leben kommen oder vom Blitz getroffen werden. Oder, oder, oder ... Es gab unendlich viele Todesursachen, trotz der beeindruckenden Auswahl fand ich jedoch keine einzige davon besonders erstrebenswert.

Während ich mich immer weiter in meine düsteren Gedanken hineinsteigerte, klingelte es plötzlich an der Haustür. Einerseits hätte ich den ungebetenen Gast am liebsten zum Teufel gejagt, andererseits war ich dankbar, dass ich nun einen Grund hatte aufzustehen. Bald würden die Kinder aus der Schule heimkehren, und ich wollte auf gar keinen Fall, dass sie mich wie ein Häufchen Elend auf der Treppe kauernd vorfanden.

Vor der Haustür stand Jacqueline, unsere Nachbarin. Obwohl sie im Rheinland geboren und aufgewachsen war, stand sie mit der deutschen Sprache auf dem Kriegsfuß. »Kirche« klang aus ihrem Mund wie »Kirsche«, außerdem sagte sie immer »borgen«, wenn sie »schenken« meinte. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass sich in meinem Küchenschrank stets die neuste Tupperschüsselkollektion befand. Die älteren Modelle hatten irgendwie Beine bekommen – sehr schöne Beine, wie ich mit einem Blick auf Jacquelines schlanke, zart gebräunte Waden neidlos anerkennen musste – und waren auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Nachbarhauses verschwunden.

»Sag mal, Maja, könntest du mir vielleicht deinen Mixer borgen? Meiner hat seinen Geist aufgegeben. Und wo soll ich auf die Schnelle einen neuen herbekommen?«

Ich war mir sicher, dass ich mir genau dieselbe Frage auch schon sehr bald stellen würde, falls ich meiner Nachbarin den Mixer »borgte«. Dennoch zockelte ich brav in die Küche, um das gewünschte Gerät zu holen. Hätte Jacqueline meinen Herd oder meine Waschmaschine haben wollen – bitte sehr, ich hätte bestimmt keinen Widerstand geleistet. Unter normalen Umständen schaffte ich es schon nicht, Nein zu sagen, aber an diesem Tag war ich nicht einmal in der Lage, wenigstens pro forma »Wiedersehen macht Freude« oder »Zurückbringen nicht vergessen« zu sagen. Wozu auch? Wie ich aus Erfahrung wusste, war das sowieso überflüssig. Wenn ich meinen Mixer wiederhaben wollte, würde ich schon einen richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl erwirken müssen.

Nachdem Jacqueline mit ihrer Beute abgezogen war, kamen kurz darauf Tobias und Kathi nach Hause. Während Tobias sofort auf sein Zimmer verschwand, um, wie er sagte, vor dem Abendessen noch etwas am Computer zu »zocken«, »chillte« Kathi im Wohnzimmer. Wie man durch reines Nichtstun ein solches Chaos verbreiten konnte, war mir ein Rätsel. Es dauerte keine fünf Minuten, und die Couchecke sah genauso unordentlich aus wie vor meiner Aufräumaktion.

Anstatt zu schimpfen, beschloss ich, meine spärlichen Energiereserven für sinnvollere Dinge einzusetzen und bereitete in der Küche, die nur durch eine Theke und zwei Barhocker vom Wohnzimmer getrennt war, die Lasagne fürs Abendessen vor. Dabei versuchte ich, nicht an die blöde Kristallkugel zu denken – und dachte ununterbrochen an nichts anderes.

»Mama, hast du meine rote Bluse gebügelt?«, brüllte Kathi mit einem Mal so laut, dass ich zusammenzuckte und um ein Haar die Auflaufform hätte fallen lassen.

Himmel, ich war vielleicht alt, aber doch nicht schwerhörig! Mittels Handzeichen gab ich Kathi zu verstehen, die Kopfhörer ihres iPods aus den Ohren zu nehmen, bevor ich antwortete.

»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen.«

»Ich brauche sie morgen!« Obwohl sie die vermaledeiten Ohrstöpsel zur Seite gelegt hatte, schrie sie immer noch. »Dringend !«

Das klang ja gerade so, als müsste sie sonst nackt zur Schule gehen! Kathis Kleiderschrank war wesentlich besser bestückt als mein eigener. Grob geschätzt hingen darin mindestens ein bis zwei Dutzend Blusen. Allesamt frisch gebügelt. Und da waren die Oberteile, die sie sich heimlich aus meinem Schrank stibitzte, noch nicht miteingerechnet. Warum musste es also ausgerechnet diese eine sein?

»Wenn du die Bluse morgen anziehen willst, kannst du sie ja selbst bügeln«, schlug ich meiner Tochter vor.

»Nein, kann ich nicht. Ich muss noch für die Matheklausur büffeln. Oder willst du, dass ich wieder eine Fünf schreibe?«

Es war mir schleierhaft, warum Kathi in Mathematik solche Probleme hatte. Wenn es darum ging, ihre Mutter zu erpressen, war sie doch auch so clever. Und ihren Vater wickelte sie einfach um den Finger.

Als er gegen sechs zur Tür hereinkam, schaffte sie es im Handumdrehen, ihm die Erlaubnis für einen Konzertbesuch abzuringen. Inklusive elterlicher Kostenbeteiligung! Das alles ging so schnell, dass Oliver noch nicht einmal Zeit fand, sich vorher die Jacke auszuziehen. Respekt, selbst für Kathis Verhältnisse war das rekordverdächtig.

Nachdem er von seiner fünfzehnjährigen Tochter zum besten und liebsten Papi der Welt gekürt worden war, besann Oliver sich endlich darauf, dass er auch noch eine Frau hatte, die brav in der Küche werkelte.

»Hallo, Bienchen.« Er drückte mir einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange. »Alles klar bei dir?«

»Wie man’s nimmt.« Ich überlegte, wie ich ihm Tatjanas Zukunftsprognose möglichst schonend beibringen konnte, doch da hatte Oliver sich bereits wieder abgewandt und flachste mit seiner Tochter herum.

Während die beiden herumalberten, deckte ich rasch den Tisch und rief Tobias zum Essen herunter. Mit seinen siebzehn Jahren befand sich unser Sohn in einem merkwürdigen Zwischenstadium – nicht mehr ganz Junge, aber auch noch nicht ganz Mann. Gerührt betrachtete ich den immer noch etwas flaumigen Bartwuchs. Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendlichen seines Alters hatte Tobias die Null-Bock-Phase innerhalb weniger Wochen hinter sich gelassen. Er war politisch sehr interessiert und vertrat bei den meisten Dingen einen klaren Standpunkt – auch wenn dieser mitunter etwas gewöhnungsbedürftig war. Nach dem Abi wollte er eine Journalistenschule besuchen.

»Habt ihr eigentlich schon eure Deutschklausur zurückbekommen?«, fragte ich ihn, nachdem alle am Tisch Platz genommen hatten und gefräßige Stille eingekehrt war.

»Yep.« Tobias formte mit den Fingern grinsend das Victoryzeichen. »Volle Punktzahl.«

Während Oliver und ich ihn zu dieser tollen Leistung beglückwünschten, hatte Kathi nur ein abfälliges »Streber« für ihren Bruder übrig.

»Nur kein Neid, Schwesterherz. Ich bin sicher, dein Mathelehrer weiß zu schätzen, wie sehr du dich anstrengst. Deinen Namen fehlerfrei auf die Klausur zu schreiben ist doch zumindest schon mal ein vielversprechender Anfang. Aber nimm beim nächsten Mal lieber einen Kugelschreiber. Dein Kajalstift schmiert so ...«

Kathis hübsche blaue Augen begannen wütend zu funkeln. »Ich hab gar nicht meinen Kajal ...«

»Seid friedlich«, ermahnte ich meine Kinder und warf Tobias einen warnenden Blick zu.

Kathi tat mir leid. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, dem alles einfach so zuflog, fiel ihr das Lernen wesentlich schwerer.

Bevor der verbale Schlagabtausch in einen handfesten Streit ausarten konnte, lenkte ich das Gespräch schnell auf Kathis Theater-AG, die gerade Sindbad der Seefahrer einstudierte, und erkundigte mich nach den Fortschritten bei den Proben.

Danach erzählte Oliver von seinem Tag bei Gericht. Oliver war Anwalt, ein sehr guter. Zumindest nahm ich das an, denn seine Erfolgsbilanz war beachtlich. Auf amüsante Anekdötchen über Nachbarschaftsstreitigkeiten am Gartenzaun, Schlammschlachten bei Ehescheidungen oder ähnlich unterhaltsame Geschichten mussten wir am Abendbrottisch jedoch verzichten, denn leider Gottes hatte Oliver sich auf IT-Recht spezialisiert, was, wie ich fand, nicht nur ziemlich dröge, sondern darüber hinaus für einen Laien auch noch nahezu unverständlich war. Oliver zuliebe versuchte ich dennoch, Interesse zu zeigen. Bevor er allerdings zu sehr ins Detail gehen konnte – das demonstrative Gähnen seiner Kinder übersah Oliver einfach oder interpretierte es als Anzeichen von zu wenig Schlaf –, sorgte ich dafür, dass Tobias wieder zu Wort kam.

Wie jeden Abend fühlte ich mich wie der Moderator einer Talkshow, dessen Aufgabe es war, Fragen zu stellen, geschickte Überleitungen zu finden und das Gespräch zu lenken.

Wieder einmal fiel mir auf, dass mich nie jemand fragte, wie mein Tag gewesen war. Und falls das aus Versehen doch einmal passierte, merkte ich schnell, dass die Antwort weder meine Kinder noch meinen Ehemann ernsthaft interessierte. Was sollte die liebe Mutti auch daheim oder bei der Arbeit im Blumengeschäft groß erleben?

Ich spürte, dass sich Unmut in mir breitmachte, der sich noch verstärkte, als die Kinder nach dem Essen alles einfach stehen und liegen ließen. Wenn ich nicht mehr da war, würden die Herrschaften sich wohl einen anderen Dummen suchen müssen, der ihnen hinterherräumte ...

»Ist es zu viel verlangt, dass ihr wenigstens eure schmutzigen Teller in die Küche tragt?«, rief ich Kathi und Tobias gereizt hinterher.

Was ich mir ebenso gut hätte sparen können. An den rhythmischen Zuckungen von Kathis Gliedmaßen, die von einem epileptischen Krampfanfall nur schwer zu unterscheiden waren, erkannte ich, dass sie sich die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren gesteckt hatte. War vorhin nicht von Mathe lernen die Rede gewesen? Auch Tobias zeigte keine Reaktion. Er war bereits wieder oben in seinem Zimmer verschwunden.

»Och, Bienchen, jetzt stress hier doch nicht so rum«, versuchte Oliver mich zu beschwichtigen – und traf damit genau den falschen Ton. Innerlich kletterte ich auf meiner Palme noch ein bis zwei Meter weiter in die Höhe. »Sei nicht so streng mit den Kindern. Die hatten bestimmt einen anstrengenden Tag«, nahm er die faule Bande auch noch in Schutz.

»Ach, und ich hab hier von morgens bis abends bloß rumgesessen und Däumchen gedreht, oder was?«, blaffte ich ärgerlich.

Oliver, der solche Töne von mir nicht gewohnt war, quittierte meinen Ausbruch mit einem verdutzten Seitenblick. Doch ich war mindestens genauso überrascht wie er. Dass ich heute so aggressiv reagierte, lag garantiert an meinem Besuch bei Tatjana. Natürlich konnte meine Familie nichts dafür, dass die Wahrsagerin mich im Ungewissen gelassen hatte, aber zumindest Oliver hätte mal nachfragen können, wie die Sitzung gelaufen war. Ich erinnerte mich genau, dass ich gestern Abend vor dem Schlafengehen erwähnt hatte, dass ich heute zu Tatjana gehen würde. Interessierte ihn überhaupt nicht, was sie mir mitgeteilt hatte? Oder hatte er es einfach vergessen? Schwer zu sagen, was schlimmer war ...

Unwillkürlich entfuhr mir ein kleiner Seufzer. Früher hatte Oliver jedes kleine, noch so unwichtige Detail von mir wissen wollen. Was fühlst du, was denkst du ...? Heute war er froh, wenn ich ihn mit meinen komplizierten, typisch weiblichen Gedankengängen und diffusen Gefühlsregungen nicht behelligte. Kein gutes Zeichen, schoss es mir durch den Kopf. Oder war es völlig normal, dass nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren das Interesse aneinander erlahmte? Interesse hatte schließlich immer etwas mit Neugier zu tun. Und worauf sollte man nach so langer Zeit noch neugierig sein? Spätestens bei der zehnten Wiederholung verlor auch der beste Film an Reiz. Oft wusste ich bereits vor Oliver selbst, was er gleich denken, sagen oder tun würde. Wir kannten uns halt in- und auswendig. Was ja eigentlich keineswegs schlecht sein musste ...

Nachdenklich räumte ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Natürlich war unsere Ehe nicht perfekt. Aber meine Güte, was war schon perfekt? Abgesehen von Sophie natürlich. Du solltest dankbar sein, dankbar für das, was du hast!, ermahnte ich mich selbst. Einen netten Mann, zwei gesunde Kinder, ein hübsches Haus ... Wer konnte wissen, wie lange es mir noch vergönnt war, diesen Luxus, den ich in all den Jahren als selbstverständlich hingenommen hatte, zu genießen! Von jetzt auf gleich konnte es damit vorbei sein. Ende, aus, Feierabend.

Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln versuchte ich die beklemmenden Gedanken in eine angenehmere Richtung zu lenken: Alles wird gut ...

... oder auch nicht.

Mist! In Sachen positivem Denken fehlte mir ganz einfach die Übung.

Wolkenbruch im siebten Himmel

Подняться наверх