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Kapitel 2

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Oliver fragte nicht am nächsten Tag nach meinem Besuch bei Tatjana und auch nicht am Tag danach. Er fragte gar nicht. Und vermutlich hätte ich selbst diese beunruhigende Begebenheit irgendwann vergessen oder zumindest verdrängt, wenn ich nicht gut eine Woche später eine Entdeckung gemacht hätte, die mich völlig aus der Bahn warf.

Oliver und die Kinder waren bereits aus dem Haus, und ich stand gerade unter der Dusche, als mir trotz des heißen Wassers, das auf mich herabprasselte, das Blut in den Adern gefror.

Ich tastete noch einmal. Und noch einmal. Aber egal, wie sehr ich mir auch wünschte, mich getäuscht zu haben: Der Knoten war da. Schräg über meiner rechten Brustwarze, etwa so groß wie ein Kirschkern. Wie ein verdammt großer Kirschkern, also eigentlich hatte er schon eher den Durchmesser einer Haselnuss.

Tropfnass und ohne darauf zu achten, ob sich in meinen Haaren oder an meinem Körper noch irgendwo Schaum befand, stieg ich mit zittrigen Knien aus der Dusche und ließ mich splitternackt auf den Badezimmerboden sinken. Während sich meine Arme und Beine seltsam taub, ja beinahe wie gelähmt anfühlten, kribbelte meine Kopfhaut, als würde ein ganzer Ameisenstamm darauf herumkrabbeln. Das durfte doch nicht wahr sein. Nein, das konnte nicht wahr sein! So etwas passierte doch sonst immer nur anderen, nicht einem selbst. Die letzte Vorsorgeuntersuchung bei meiner Frauenärztin lag gerade mal ein halbes Jahr zurück, da war noch alles in bester Ordnung gewesen.

Keine Ahnung, wie lange ich nackt auf dem Boden gekauert hatte. Irgendwann merkte ich, dass ich vor Kälte zu zittern begann. Meine Zähne schlugen kastagnettenartig aufeinander. Du wirst dem Brustkrebs einfach ein Schnippchen schlagen und an einer Lungenentzündung sterben, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor. Reiß dich zusammen! Der Knoten kann sich als völlig harmlos erweisen.

Ich versuchte mir selbst Mut zuzusprechen, ohne wirklich daran zu glauben.

Mühsam rappelte ich mich vom Boden hoch, schlüpfte in meine Klamotten, kämmte mich notdürftig und band meine langen dunklen Haare, die noch feucht waren, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann griff ich nach meiner Armbanduhr, die ich auf dem Waschbeckenrand abgelegt hatte. Erschrocken stellte ich fest, dass ich längst im Geschäft hätte sein müssen.

Mit zitternden Fingern versuchte ich, die Nummer meiner Chefin zu wählen, brauchte jedoch geschlagene drei Anläufe, bevor es mir endlich gelang. Obwohl Marianne in den drei Jahren, in denen ich nun schon für sie arbeitete, fast so etwas wie eine mütterliche Freundin für mich geworden war, sagte ich lediglich, dass es mir nicht gut gehe und ich zum Arzt müsse. Marianne fragte nicht weiter nach. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich sie wegen eines kleinen Schnupfens oder etwas Magengrummelns nicht einfach so hängen lassen würde.

»Alles Gute«, wünschte sie mir, bevor sie auflegte.

Das konnte ich brauchen.

Zum Glück war bei meiner Frauenärztin an diesem Vormittag nicht allzu viel los. Vielleicht lag es aber auch an dem panischen Funkeln in meinen Augen oder den hysterischen Kieksern in meiner Stimme, mit der ich der Sprechstundenhilfe den Grund meines Besuches vortrug, dass ich so schnell drankam. Vielleicht hatte sie auch einfach Schiss, dass ich mir, um Zeit zu sparen, schon am Empfang die Bluse herunterreißen würde. Was nicht einmal so abwegig war, denn ich hatte das Gefühl, eine tickende Zeitbombe mit mir herumzutragen.

»Ja, das ist zweifelsfrei ein Knoten«, sagte Frau Dr. Leonhardt, nachdem sie meine Brust gründlich abgetastet hatte.

Nicht dass sie mir damit etwas erzählte, das ich noch nicht gewusst hätte, aber es aus ihrem Mund zu hören, machte die Sache mit einem Mal erschreckend real. Prompt schossen mir die Tränen in die Augen.

»Das muss noch nichts heißen, es kann sich dabei auch um eine verhärtete Milchdrüse oder eine harmlose Gewebeveränderung handeln.« Frau Dr. Leonhardt tätschelte beruhigend meinen Arm. »Wahrscheinlich ist die ganze Aufregung umsonst.«

Wahrscheinlich? Das war mir ein bisschen dünn. »Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit?«

»Hm ... meinen Sie, die Wahrscheinlichkeit, dass es harmlos ist oder dass es nicht harmlos ist?«

»Egal.« Im Zahlenraum bis hundert bewegte ich mich recht sicher.

»Tut mir leid. Ich bin Ärztin und keine Hellseherin.« Beinahe entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Zur Sicherheit sollten wir aber auf jeden Fall eine Mammografie machen lassen. Ich rufe gleich mal beim radiologischen Zentrum an, um einen Termin für Sie zu bekommen.« Sie ging zurück an ihren Schreibtisch und griff geschäftig nach dem Telefonhörer. »Sie können sich in der Zwischenzeit wieder anziehen.«

Während ich in die Umkleidekabine verschwand und mich verzweifelt mit den Knöpfen meiner Bluse abmühte, hörte ich, wie Frau Dr. Leonhardt am Telefon alles gab. Vielleicht sollten wir sie beim nächsten Mal anheuern, wenn Oliver es mal wieder verschwitzt hatte, bei meinem Kombi rechtzeitig die Winterreifen aufziehen zu lassen. So bestimmt und beharrlich, wie sie am Telefon auftrat, würde es ihr garantiert gelingen, sogar nach einen überraschenden Wintereinbruch sofort einen Termin für den Reifenwechsel zu ergattern.

Allerdings wäre es mir in diesem Fall fast ein bisschen lieber gewesen, wenn sie nicht ganz so forsch vorgeprescht wäre. Dafür, dass diese Mammografie nur zur Sicherheit durchgeführt werden sollte, benutzte sie für meinen Geschmack nämlich ein bisschen zu oft Worte wie »dringend«, »unbedingt noch heute« und »keine Zeit verlieren«, das hörte ich klar und deutlich. Auch wenn der dünne Vorhangstoff als Schallschutz absolut unbrauchbar war, so war ich doch froh, dass ich Frau Dr. Leonhardts besorgten Gesichtsausdruck nicht sah. Der besorgte Klang ihrer Stimme reichte mir vollkommen.

Ein paar Minuten später stand ich, ausgestattet mit vielen guten Wünschen und der Überweisung zur Mammografie, wieder auf der Straße. Obwohl es frühlingshaft warm war, zog ich fröstelnd die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Den Weg zu meinem Auto legte ich wie in Trance zurück. Irgendjemand grüßte freundlich. Ich grüßte zurück, ohne zu wissen, ob es sich um die englische Queen oder eine Nachbarin handelte.

Zum Glück befand sich das radiologische Zentrum in einem Nebengebäude des Franziskus-Krankenhauses, sodass ich den Weg dorthin zur Not sogar im Schlaf gefunden hätte. An einer roten Ampel machte ich den Fehler, einen Blick auf die Überweisung zu werfen, die ich neben mich auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Wie Saugnäpfe blieben meine Augen an zwei Worten haften. Derber Knoten stand dort unter der Rubrik Diagnose. Oh Gott! Knoten allein klang schon furchtbar, aber derber Knoten ...

Mir schnürte es vor Angst die Kehle zu. Meine Güte, sonst verstand das ganze medizinische Fachchinesisch doch auch kein Schwein. Hätten sie diesen unschönen Sachverhalt nicht etwas geschickter verklausulieren können?!

Glücklicherweise blieb mir nicht viel Zeit, weiter über die Diagnose nachzugrübeln, denn als ich in der Klinik ankam, ging auf einmal alles rasend schnell. Ehe ich wusste, wie mir geschah, klemmte mein Busen in einem Schraubstock. Streng genommen war es kein richtiger Schraubstock, es waren zwei unangenehm kalte Platten eines furchteinflößend aussehenden Gerätes. Aber der Effekt war der gleiche. Als ich schon glaubte, dass meine Brust bereits so flach wie ein Spiegelei war, presste die ganz in Weiß gekleidete Helferin – schwarzes Lack oder Leder und eine Peitsche wären irgendwie passender gewesen – die Platten noch weiter zusammen. Masochistisch veranlagte Patienten hatten an der Prozedur sicher ihre helle Freude, ich hingegen hätte auf die Erfahrung sehr gut verzichten können ...

Leider brachte die Mammografie nicht die erhoffte Entwarnung. Streng genommen brachte sie überhaupt nichts. Schuld daran war, wie mir der behandelnde Arzt erklärte, mein dichtes Bindegewebe. Eine klare Diagnose war anhand der Bilder unmöglich. Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht hysterisch loszukichern. Bei dem von Nadine immer wieder propagierten Bleistifttest würde vermutlich nicht nur ein einzelner Stift, sondern ein ganzes Federmäppchen ohne Hilfsmittel unter meinen Brüsten klemmen bleiben. So weit her konnte es mit meinem Bindegewebe also nicht sein.

Der Arzt war da offenbar anderer Meinung. »Wir müssen eine Biopsie machen«, sagte er. Das Entsetzen auf meinem Gesicht – vermutlich nur ein zarter Abklatsch dessen, was in meinem Inneren vor sich ging – veranlasste ihn wohl, hastig hinzuzufügen: »Nur zur Sicherheit.«

Das hatte Frau Dr. Leonhardt auch gesagt. Schon komisch. Je öfter man manche Dinge hört, desto weniger glaubt man daran ...

»Wenn Sie möchten, können wir die Biopsie jetzt sofort durchführen.«

Eine Biopsie-to-go! Wie praktisch, dachte ich bitter.

Und tatsächlich verlief die ganze Sache erstaunlich unspektakulär. Die Gewebeprobe wurde mit einem Stanzer entnommen. Ruck, zuck war alles vorbei, sogar ein Friseurbesuch dauerte länger. Auch die Schmerzen hielten sich wider Erwarten in Grenzen.

»Morgen früh gegen zehn Uhr müsste das Ergebnis vorliegen«, sagte der Arzt, als er mir zum Abschied erst ein Kühlkissen für meine Brust und dann die Hand reichte. »Wir faxen den Befund sofort an Ihre Frauenärztin, die wird dann alles Weitere mit Ihnen besprechen.«

Alles Weitere? Der Kloß in meinem Hals schwoll auf die Größe eines Tennishalls an. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was alles Weitere sein würde. Chemotherapie? Bestrahlung? Womöglich würden mir nicht nur die Haare ausfallen, sondern auch die Brust abgenommen werden. Und wofür das alles? Im Prinzip war doch eh schon klar, wie die Sache ausgehen würde. Man musste nur eins und eins zusammenzählen.

Nun ergab es einen Sinn, dass Tatjana in ihrer Kristallkugel nichts gesehen hatte. Oder möglicherweise hatte sie sogar etwas gesehen und es für sich behalten. Was ich ihr noch nicht einmal verübeln könnte. Denn wie bringt man jemandem schonend bei, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat?

Am liebsten hätte ich Britta angerufen. Von meinen Freundinnen war sie diejenige, die mir am nächsten stand. Doch in diesem speziellen Fall schied sie als Seelentrösterin und Ratgeberin aus. Britta würde mir bestimmt aus dem Stegreif einen druckreifen, mit medizinischen Fakten und zahlreichen Statistiken gespickten Vortrag über die Heilungschancen von Brustkrebs halten. Danach stand mir jetzt echt nicht der Sinn. Von Ärzten hatte ich für heute gestrichen die Nase voll!

Sophie kam auch nicht infrage. Sie hatte bereits nach meinem Besuch bei der Wahrsagerin Pipi in den Augen stehen gehabt. Im Zweifelsfall würde ich diejenige sein, die sie trösten musste. Dazu fühlte ich mich in meiner gegenwärtigen Verfassung einfach nicht in der Lage.

Und Nadine? Ich mochte Nadine von Herzen, aber Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl zählten nicht gerade zu ihren Kernkompetenzen. Oder anders formuliert – Nadine war etwa so sensibel wie eine Dampfwalze.

Wem konnte ich mich sonst noch anvertrauen? Meiner Mutter? Ganz sicher nicht! Zwar fiel mir so ad hoc nicht ein, wie sie mir die Schuld an dieser scheußlichen Situation geben könnte, aber meine Mutter war, wie ich aus leidvoller Erfahrung wusste, in dieser Hinsicht wesentlich kreativer als ich. Wahrscheinlich würde sie mir am Telefon noch Vorhaltungen machen.

»Kind, wenn du mehr frisches Obst und Gemüse gegessen hättest, wäre das nicht passiert.« Oder: »Maja, wie kannst du das deiner Familie bloß antun?«

Eigenartigerweise fühlte ich mich tatsächlich schuldig. Als würde ich meine Familie und insbesondere meine Kinder im Stich lassen. Seit sie auf der Welt waren, hatte ich mich immer bemüht, jeglichen Kummer von ihnen fernzuhalten – und meistens war mir das sogar ganz gut gelungen. Nun würde ausgerechnet ich es sein, die ihnen solches Leid zufügte! Das konnte ich nicht verhindern, auch wenn ich alles dafür gegeben hätte, aber es war zumindest meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihr Leben ohne mich möglichst reibungslos weiterlief.

Ich dachte fieberhaft nach. Wie viel Zeit blieb mir eigentlich noch? Ein paar Wochen? Oder mit etwas Glück einige Monate? Der Knoten musste verdammt schnell gewachsen sein, was sich garantiert nicht positiv auf meine Lebenserwartung auswirkte. Das Beste würde sein, wenn ich bereits jetzt damit begann, für den Ernstfall Vorkehrungen zu treffen, denn meine Familie würde ohne mich ganz schön aufgeschmissen sein. Und das begann schon bei den einfachsten Dingen des Lebens. Meine drei Pappenheimer erkannten eine Kartoffel vermutlich nur, wenn sie geschält und fertig gekocht auf ihrem Teller lag. Ergo galt es erst einmal, die Grundversorgung sicherzustellen. Eine warme Mahlzeit am Tag – vorzugsweise nicht aus einem Pizzakarton – sollte schon sein. Ich würde vorkochen!

Erleichtert, etwas Sinnvolles gefunden zu haben, womit ich mich beschäftigen konnte, fuhr ich in den nächstgelegenen Supermarkt und kaufte ein. Aus rein praktischen Erwägungen beschloss ich, mich erst einmal auf zwei Gerichte zu beschränken: Hühnerfrikassee und Spaghetti Bolognese. Das mochten alle drei, was fast schon einem kleinen Wunder gleichkam.

Nachdem ich fünf Liter Hühnerfrikassee gekocht und portionsweise zum Einfrieren vorbereitet hatte, gingen mir langsam, aber sicher die Tupperschüsseln aus. Ich hoffte, dass die restlichen Gefäße für die Bolognese-Soße reichten, sonst würde ich zu Jacqueline gehen und auf die Herausgabe meiner großen Hitparade sowie meiner diversen Wichtel und Julchen bestehen müssen. Keine besonders angenehme Vorstellung. Denn während Jacqueline immer sehr nett und freundlich war, wenn sie sich etwas von mir »borgte«, konnte sie, wenn ich mal etwas von ihr haben wollte – meine Gewürzmühle oder unsere Heckenschere –, ziemlich zickig reagieren. Sollte ich mich also erdreisten, meine diversen Tupperbehältnisse zurückzufordern, würde sie mir das vermutlich bis ans Ende meiner Tage übel nehmen. Aber da es bis dahin aller Voraussicht nach nicht mehr allzu lange hin war, konnte mir das eigentlich herzlich egal sein. Das war zweifelsohne ein Vorteil – leider wohl auch der einzige, wenn man nicht mehr lange zu leben hatte ...

Plötzlich bahnten sich die aufgestauten Tränen, die ich bislang mühsam zurückgehalten hatte, mit Brachialgewalt ihren Weg nach draußen. Als hätte jemand ein Schleusentor geöffnet, das sich nun nicht mehr schließen ließ. Während ich Berge von Zwiebeln für die Bolognese-Soße schnitt, heulte ich Rotz und Wasser. Blind vor Tränen hackte ich auf die wehrlosen Zwiebeln ein, als es unerwartet an der Tür klingelte. Vor Schreck zuckte ich zusammen und verfehlte mit der Messerklinge nur um Haaresbreite meine Fingerkuppe. Wer konnte das sein? Hatte Kathi beim Frühstück nicht erwähnt, dass bei ihr heute Englisch ausfiel? Vielleicht hatte sie früher Schulschluss und ihren Schlüssel vergessen. Das passierte ständig.

Oh Gott, wie sollte ich meiner Tochter bloß die desolate Verfassung erklären, in der ich mich befand? Ich musste total verheult aussehen, zumindest waren meine Lider so geschwollen, dass ich kaum noch aus den Augen gucken konnte.

Mein Blick blieb an den Zwiebelwürfeln hängen. Es gab schlechtere Erklärungen. Beispielsweise, dass ihre Mutter bald sterben würde. Bewaffnet mit dem Küchenmesser und einer halben Zwiebel öffnete ich die Haustür.

Vor mir stand jedoch nicht Kathi, sondern Nadine.

»Oh Gott, Maja. Was ist denn mit dir los? Als hätte ich’s geahnt, dass etwas nicht stimmt! Ich war gerade zufällig in der Gegend, um einer Stammkundin ein paar Klamotten vorbeizubringen, da hab ich dein Auto vor der Tür stehen sehen und dachte ... Ach, ist ja auch egal. Also, raus mit der Sprache! Was ist los?«

Meine Freundin schob ihre dunkle Sonnenbrille ins Haar und betrachtete mit einer Mischung aus Entsetzen und Besorgnis mein Gesicht.

»Was soll los sein?« Ich versuchte einen harmlosen Augenaufschlag, doch der ging aufgrund meiner geschwollenen Lider wohl ziemlich daneben, und so zuckte ich sicherheitshalber noch betont gleichmütig mit den Schultern. »Ich schneide Zwiebeln.«

Froh über diese brillante Ausrede hielt ich meine Beweisstücke in die Höhe und gab Nadine mit einem Messerwink zu verstehen, mir in die Küche zu folgen.

»Von ein bisschen Zwiebelschneiden siehst du aus, als wärst du mit einem Preisboxer in den Ring gestiegen?«

»Es sind viele Zwiebeln«, rechtfertigte ich mich und wies auf den hohen Berg fein säuberlich geschnittener Würfel.

»Sag mal, wer soll denn das alles essen? Erwartest du Besuch? Oder betreibst du seit Neuestem eine Suppenküche für Obdachlose?«

»Hm«, gab ich vage zurück und wich Nadines Blick aus.

Sollte ich meine Freundin ins Vertrauen ziehen oder lieber warten, bis das Ergebnis der Biopsie vorlag?

»Eine Party, zu der ich nicht eingeladen bin? Spuck’s schon aus, Maja!«

»Höchstens eine Abschiedsparty ...«

Nun, da der Anfang gemacht war, sprudelte die ganze Geschichte wie aus einer gut geschüttelten Sektflasche aus mir heraus.

Offenbar hatte ich Nadines Einfühlungsvermögen gründlich unterschätzt, denn nachdem ich geendet hatte, fand sie genau die richtigen Worte.

»Schöne Scheiße!« Treffender hätte ich es auch nicht formulieren können. »Das braucht kein Mensch.« Auch damit hatte sie recht. »Aber noch steht überhaupt nicht fest, ob der Knoten wirklich bösartig ist. Morgen hast du Klarheit. Und bis dahin müssen wir dich ablenken, damit du nicht ganz Düsseldorf mit Bolognese-Soße überflutest.« Nachdenklich kaute Nadine auf ihrer Unterlippe herum, dann hellten sich ihre Gesichtszüge plötzlich auf. »Ich trommle die Mädels zu einem Weiberabend zusammen. Wird eh mal wieder Zeit. Zwanzig Uhr im Down Under. Und wehe, du kommst nicht, dann hol ich dich und schleif dich an den Haaren in die Kneipe.«

Ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Nadine diese Drohung wahrmachen würde.

Den Rest des Tages stand ich komplett neben mir, auch das gemeinsame Abendessen mit meiner Familie zog wie ein Film an mir vorbei. Ein Stummfilm, aber immerhin in Farbe. Ich sah, wie Oliver und die Kinder den Mund bewegten. Wenn sie nicht mit offenem Mund kauten, unterhielten sie sich angeregt, ich hatte jedoch nicht den leisesten Schimmer, worüber. Auf einen Moderator schienen sie an diesem Abend verzichten zu können, auf ein Dienstmädchen nicht. Das musste sich schnellstens ändern. Aber Rom war schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden ...

Nachdem ich – wieder einmal allein – den Tisch abgeräumt hatte, ging ich ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Ich streifte mir das T-Shirt über den Kopf und stellte mich vor den großen Spiegel. Dann tastete ich bestimmt schon zum hundertsten Mal an diesem Tag vorsichtig meine rechte Brust ab. Der Knoten war noch da. Auch drei Minuten später beim Anziehen der Bluse war er weder verschwunden noch kleiner geworden.

Als ich fertig umgezogen das Wohnzimmer betrat, saß Oliver auf der Couch vor dem Fernseher. In seiner linken Hand hielt er die Fernbedienung, mit der rechten Hand wühlte er geräuschvoll in einer Chipstüte herum.

»Muss das sein? So kurz nach dem Abendessen?«

Eine rein rhetorische Frage, auf die ich keine Antwort erwartete und erst recht keine bekam.

»Du gehst noch weg?«, fragte Oliver nach einem flüchtigen Seitenblick erstaunt.

»Ja, ich wollte mich noch mit den Mädels treffen. Auf ein, zwei Gläschen Wein, ein bisschen quatschen ... Weiberkram halt.«

»Na dann viel Spaß.«

Spaß war vermutlich das Letzte, was wir an diesem Abend haben würden. Bedauerlicherweise war Brustkrebs kein allzu amüsantes Thema.

Auf einmal überkamen mich heftige Schuldgefühle. Oliver war mein Mann! Hätte ich nicht das Bedürfnis haben müssen, mit ihm über meine Sorgen zu reden? Nach der Biopsie hatte ich nicht eine Sekunde daran gedacht, ihn anzurufen. Britta, Nadine, Sophie, ja sogar meine Mutter – sie alle waren mir zumindest kurzzeitig in den Sinn gekommen. Nur Oliver nicht. Dabei war er derjenige, der im Falle eines positiven Befunds am stärksten von der ganzen Sache betroffen war.

Ich ließ meine Strickjacke und meine Handtasche achtlos auf einen Stuhl fallen und setzte mich neben Oliver auf die Couch.

»Eigentlich habe ich überhaupt keine richtige Lust, noch wegzugehen. Ich könnte hier bei dir bleiben«, schlug ich vor.

»Aber du bist doch verabredet.«

Verdammt, konnte er nicht wenigstens mal für einen klitzekleinen Moment den Blick vom Fernseher abwenden? So interessant war der Werbespot, der gerade über die Mattscheibe flimmerte, nun wirklich nicht. Oder benutzte mein Mann neuerdings Anti-Cellulite-Creme. Ich spürte, wie es in meinem Bauch heiß wurde, versuchte jedoch, ruhig zu bleiben.

»Kein Problem, ich sag einfach ab.«

Um zu unterstreichen, wie ernst es mir mit diesem Vorschlag war, griff ich nach seiner Hand. Da ich mich rechts neben ihn gesetzt hatte, erwischte ich seine Chipshand, ließ sie jedoch, als ich spürte, wie fettig sie sich anfühlte, schnell wieder los.

»Wir öffnen eine schöne Flasche Wein und reden ein bisschen. Was hältst du davon?«

Oliver gähnte. »Ich fürchte, das müssen wir verschieben.«

Klar, dachte ich, Reden ist nicht unbedingt seine Lieblingsbeschäftigung. Zumindest nicht nach Feierabend. Und schon gar nicht, wenn mir danach ist. Vor Gericht konnte Oli seine Gegner in Grund und Boden quatschen. Aber wehe, ich wollte mal mit ihm über Kathis schlechte Mathenoten oder seine Schwiegermutter sprechen, dann war der Arme schlagartig furchtbar beschäftigt oder wahnsinnig müde.

»Nicht böse sein. Ich bin todmüde.«

Das war wohl die Steigerung von wahnsinnig müde.

»Ich muss morgen schon ganz früh bei Gericht sein. Da geht’s um die Wurst.«

Sicher hatte er beim Abendessen erzählt, um welche Wurst er morgen mit der gegnerischen Partei streiten würde. Aber da ich nicht zugehört hatte, war es wohl besser, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.

»Triff du dich mal mit den Mädels, Bienchen.«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht immer Bienchen nennen sollst?!«, machte ich meiner Verärgerung und Enttäuschung Luft.

»Früher hast du das gemocht.«

»Früher habe ich auch die Spider Murphy Gang und Dauerwellen gemocht.«

Wenn man Maja heißt, wird einem der Spitzname automatisch mit in die Wiege gelegt. Auch meine Freundinnen nannten mich mitunter »Biene«, was ich nicht weiter schlimm fand. Ich wusste auch nicht so genau, warum es mich neuerdings störte, dass Oliver Bienchen zu mir sagte. Vielleicht weil er diesen Kosenamen nur noch aus reiner Gewohnheit benutzte? Andererseits gab es schon gewisse Parallelen zu der Zeichentrickserie. Denn wenn ich Maja war, dann musste Oliver Willi sein, und der war, wenn ich mich recht entsann, auch nicht gerade ein Kostverächter. Missbilligend ließ ich meinen Blick über Olivers Bauch wandern, der sich unter dem schwarzen verwaschenen T-Shirt, gegen das er Hemd und Krawatte eingetauscht hatte, abzeichnete. Eine ganz schöne Kugel! In den letzten Jahren hatte Oli peu à peu etliche Kilo zugelegt. Unwillkürlich entfuhr mir ein kleiner Seufzer. Meine Güte, im Augenblick hatte ich nun wirklich andere Sorgen als Olivers Plauze!

Ich drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, die nach Paprika schmeckten. »Mach’s gut.«

»Mach’s besser, Bienchen.«

Das Down Under war auch unter der Woche abends gut besucht. Trotzdem war es den Mädels mal wieder irgendwie gelungen, unseren Stammplatz zu ergattern. Von dem Ecktisch auf der kleinen Empore aus konnte man die ganze Kneipe überblicken, was immer für reichlich Gesprächsstoff sorgte.

Meine Freundinnen waren bereits vollzählig versammelt. Vermutlich hatten sie sich schon etwas früher verabredet, um zu beratschlagen, wie sie mich am besten aufbauen konnten. Über die generelle Vorgehensweise schien noch Uneinigkeit zu herrschen, denn Nadine, Britta und Sophie diskutierten heftig. Als ich mich dem Tisch näherte, erstarb das Gespräch schlagartig.

»Ihr könnt ruhig weiterreden. Und diese mitleidigen Blicke könnt ihr euch auch schenken«, fauchte ich. »Noch steht überhaupt nicht fest, ob ich Brustkrebs habe.«

»Eben«, versuchte Britta mich mit ruhiger Stimme zu beschwichtigen. » Da du das ja selbst weißt, brauchen wir dir das nicht mehr zu sagen. Vermutlich ist dir ebenfalls bekannt, dass die Heilungschancen bei Brustkrebs, sofern er frühzeitig erkannt wird, sehr gut stehen. Also müssen wir auch darüber nicht mehr reden.« Sie klopfte auf die Sitzfläche des freien Stuhles neben sich. »So, und jetzt setz dich erst einmal.«

»Entschuldigung«, murmelte ich zerknirscht. »Ich wollte euch nicht so anpampen.«

»Schon gut«, lenkte Sophie für meinen Geschmack ein bisschen zu schnell ein. War das etwa schon der Krebsbonus? »Ist doch verständlich, dass deine Nerven blank liegen. Bei uns musst du dich nicht zusammenreißen«, fügte sie noch mit sanfter Stimme hinzu.

Da! Da war er wieder! Dieser Blick, in dem sich Mitleid und Besorgnis widerspiegelten. Dieses Mal schluckte ich jedoch den bissigen Kommentar, der mir bereits auf der Zunge lag, herunter. Ich wäre vermutlich auch vor Sorge völlig außer mir gewesen, wenn bei Sophie, Britta oder Nadine ein Knoten in der Brust festgestellt worden wäre.

»Hallo zusammen«, unterbrach die Bedienung in diesem Moment meine trüben Gedanken. Sie schien neu zu sein, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, sie vorher schon mal im Down Under gesehen zu haben. »Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?«

»Ja«, behauptete Nadine. »Trinkt einer von euch einen Hugo mit?«

»Für dich also einen Hugo«, folgerte die Bedienung.

»Nein, lieber doch nicht«, machte Nadine, als niemand von uns mitzog, einen Rückzieher.

»Für mich bitte eine Weißweinschorle.«

»Klingt gut. Ich glaub, die nehme ich auch«, schloss ich mich Britta an.

»Kommt gar nicht infrage. Du brauchst heute etwas mit mehr Umdrehungen«, entschied Nadine über meinen Kopf hinweg. »Wir nehmen zwei Caipirinhas.«

»Zwei Caipis, ist gebongt. Und was ist mit dir?«, wandte die Kellnerin sich nun an Sophie, die gerade mit konzentrierter Miene die Getränkekarte auswendig zu lernen schien.

Nach einem kurzen Zögern bestellte Sophie ein Wasser. Als die Kellnerin gerade ihr Blöckchen und ihren Stift wegstecken wollte, überlegte sie es sich jedoch noch einmal anders.

»Ach nein, für mich bitte doch kein Wasser, sondern eine Cola. Mit Zitrone, aber ohne Eis.«

Wahrscheinlich verfluchte uns die Bedienung gerade insgeheim. Oder wünschte sich, wir wären Männer. Bei denen bestellte einfach einer aus der Runde ein Bier, und alle anderen nickten mit dem Kopf oder grunzten zustimmend. Was natürlich noch lange nicht hieß, dass wir Frauen komplizierter waren. Wir durchdachten unsere Entscheidungen einfach nur gründlicher.

Bevor wir unsere Getränkebestellung noch einmal in letzter Sekunde revidieren konnten, flüchtete die Kellnerin eilig in Richtung Theke. Als sie weg war, herrschte plötzlich beklemmende Stille am Tisch. Ich hatte doch gewusst, dass der Abend nicht besonders spaßig werden würde! Nadine interessierte sich mit einem Mal auffallend stark für ihre rot lackierten Fingernägel und begutachtete sie prüfend von allen Seiten, Sophie vertiefte sich erneut in die Getränkekarte, als handelte es sich dabei um einen spannenden Krimi, den sie unbedingt zu Ende lesen musste, und Britta spielte mit einem Stapel Bierdeckel. Ich saß einfach nur da und starrte Löcher in die Luft.

Erleichtert atmete ich auf, als die Bedienung unsere Getränke brachte.

Nadine hob ihr Glas. »Auf ein gutes Ergebnis der Biopsie«, brach sie endlich das Schweigen.

»Auf ein gutes Ergebnis«, echote Sophie mit beschwörender Stimme, als wir alle miteinander anstießen.

Ich bohrte meinen Strohhalm in den braunen Zucker, der sich am Boden des Cocktailglases befand, und stocherte mit gerunzelter Stirn darin herum. »Und was ... Was, wenn das Ergebnis der Biopsie ergibt, dass es doch Krebs ist und ich sterben werde?«, sprach ich, ohne die anderen dabei anzusehen, laut aus, was jeder am Tisch vermutlich gerade dachte.

»Ach was, papperlapapp. Jetzt mach dich doch nicht unnötig verrückt. Warte erst einmal den Befund ab. Es wird dich vielleicht überraschen, aber wir müssen alle sterben – früher oder später.«

»Oh Gott, was wird nur aus den Kindern und aus Oliver, wenn ich nicht mehr da bin?«, murmelte ich, ohne auf Nadines Kommentar einzugehen, tonlos.

»Ich glaub es einfach nicht!« Britta pfefferte den Stapel Bierdeckel auf die hölzerne Tischplatte. »Könntest du vielleicht ausnahmsweise mal ein bisschen an dich denken?«

»Oliver kann sich noch nicht mal ein Spiegelei braten!«

»Dann wird es höchste Zeit, dass er es lernt«, konterte Britta. »Es ist sowieso nicht fair, dass du bei euch zu Hause alles allein wuppst. Warum suchst du dir nicht wenigstens eine Putzhilfe? Dann könntest du auch wieder mehr arbeiten.«

»Oliver mag keine Fremden im Haus«, erklärte ich kleinlaut, obwohl ich wusste, wie dämlich das klang ...

»Apropos Oliver: Wie hat er auf die Sache mit der Biopsie denn überhaupt reagiert?«, wollte Sophie wissen.

Sie hielt immer noch ihre Lieblingslektüre in der Hand. Wenn wir nicht achtgaben, nahm sie die Getränkekarte bestimmt heimlich mit nach Hause.

»Ich habe es ihm gar nicht erzählt.« Als ich die fassungslosen Gesichter meiner Freundinnen sah, fügte ich hastig hinzu: »Warum soll er sich unnötig Sorgen machen? Ist doch niemandem damit gedient, wenn er sich auch noch verrückt macht.«

Britta sah mich über den Rand ihres Weinglases hinweg nachdenklich an. »Liebst du Oli eigentlich noch?«

»Was ist denn das für eine Frage?«, empörte ich mich anstelle einer Antwort.

Nadine zog die Augenbrauen hoch und gab ein kurzes Schnalzen von sich. »Nach fast zwanzig Ehejahren eine berechtigte.«

Na klar! War ja logisch, dass Nadine, die ihre Männer fast genauso schnell wechselte wie ihre verrückten Outfits, sich bei diesem Thema nicht zurückhalten konnte.

»Auch wenn du dir das sicher nur schwer vorstellen kannst, liebe Nadine, aber bei manchen Menschen hat Liebe ’ne längere Haltbarkeitsdauer als ein Liter Vollmilch.«

Mist, das hatte schärfer geklungen als beabsichtigt. Heute versuchte ich es mir aber auch wirklich mit jedem zu verscherzen. Hoffentlich war Nadine jetzt nicht beleidigt, denn bei ihr gab es so etwas wie einen Krebsbonus sicher nicht. Und einen Beinahekrebsbonus schon gar nicht ...

Doch Nadine schien’s zum Glück nicht persönlich zu nehmen. »Mag sein. Ich find die Vorstellung, dass zwei Menschen sich ein Leben lang lieben, ja auch ganz toll. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Märchen. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende ... Aber die traurige Realität sieht in der Regel anders aus.« Nadine zog ihren Strohhalm aus dem Caipirinha-Glas und zeigte damit auf Britta. »Nämlich so.«

»Oh, schönen Dank auch.« Britta zog eine Grimasse und deutete eine kleine Verbeugung an. »Seht her, so sieht sie aus, die traurige Realität. Zu viel Speck auf den Hüften, und die Haare hätten auch mal wieder dringend einen neuen Schnitt nötig.« Sie fuhr sich mit der Hand grinsend durch ihre kurzen Zotteln, denen ein Friseurbesuch in der Tat nicht geschadet hätte. »Wenn du allerdings auf meinen Ex anspielst, so muss ich sagen, dass die Scheidung von ihm das Beste war, das mir seit Janniks Geburt passiert ist.«

»Aber irgendwann müsst ihr doch auch mal geglaubt haben, dass eure Liebe ein ganzes Leben hält«, sagte Sophie, in deren heile Welt Scheidungen genauso wenig hineinpassten wie Blattläuse oder Schimmelpilze. »Sonst hättet ihr doch nicht geheiratet.«

»Bis dass der Tod uns scheidet ... Natürlich haben wir das bei unserer Hochzeit gedacht. Wie Tausende andere Paare, die jetzt glücklich geschieden sind, auch.« Britta seufzte. »Nur wäre Markus’ Tod vermutlich nicht auf natürlichem Weg eingetreten, wenn wir uns nicht getrennt hätten. Aber falls mich nicht alles täuscht, ging’s doch hier gar nicht um mich, oder?«

»Ach ja, richtig. Wo waren wir noch gleich stehen geblieben?« Nadine wandte sich wieder mir zu. »Also, wann hast du das letzte Mal mit Oliver geschlafen?«

Ich versuchte mich zu erinnern, was, wie ich leider zugeben musste, gar nicht so einfach war. Vergangenes Wochenende hatten wir garantiert keinen Sex gehabt, denn Oliver hatte sich aus der Kanzlei jede Menge Arbeit mit nach Hause gebracht und war irgendwann im Arbeitszimmer über seinen Akten eingeschlafen. Vielleicht am Wochenende davor? Ziemlich unwahrscheinlich, denn wenn ich mich recht entsann, hatten wir uns an besagtem Samstag heftig gestritten. Das ganze Wochenende über hatte dicke Luft geherrscht. Und Versöhnungssex war noch nie Olis Ding gewesen.

»Weißt du es, oder weißt du es nicht?«, unterbrach Nadine meine Rechnerei.

Zerknirscht schüttelte ich den Kopf. »Na ja, so ganz ohne Kalender ...«

»Kalender? Von diesem oder vom letzten Jahr? Auf jeden Fall scheint es schon eine ganze Weile her zu sein.«

»Aber da kommt es doch gar nicht drauf an«, bekam ich von Sophie Schützenhilfe. »Als ob es ein Indiz für eine gute Beziehung wäre, wie oft man miteinander schläft. Viel wichtiger ist gegenseitiger Respekt, Vertrauen und dass man mit dem Partner über alles reden kann. Sicher weiß Maja auf Anhieb, wann sie sich mit Oliver das letzte Mal richtig gut unterhalten hat. Oder, Maja?«

Ich schwieg.

»Oder, Maja?« Sophies Stimme klang flehend.

Natürlich redeten Oliver und ich miteinander, fast täglich sogar. Über das defekte Garagentor, die Rechnung von den Stadtwerken oder über die Kanzlei. Aber wann hatten wir das letzte Mal über uns geredet? Über das, was uns bewegte, unsere Wünsche und unsere Träume?

Sophie, Nadine und Britta sahen mich abwartend an. Was machte es für einen Sinn, meinen Freundinnen und mir selbst etwas vorzulügen.

»Wenn ich ehrlich bin, liegt das letzte gute Gespräch zwischen Oliver und mir länger zurück als der letzte Sex.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Viel länger sogar ...«

»Oh ...«

Es herrschte betretenes Schweigen am Tisch. Nicht einmal Nadine traute sich, einen Scherz zu reißen.

»So, jetzt haben wir aber lange genug über mich geredet. Wolltet ihr mich nicht ablenken? War das nicht der eigentliche Zweck unseres Treffens?« Ich sah in drei schuldbewusste Gesichter. »Erzählt doch zur Abwechslung mal was von euch.«

»Gestern ist Jannik mit zwei Schildkröten nach Hause gekommen« , sprang Britta für Nadine und Sophie hastig in die Bresche.

»Schildkröten? Wo hat er die denn her?«

»Dreimal dürft ihr raten.«

Schönen Dank, aber so viele Versuche brauchten wir gar nicht. Da nicht davon auszugehen war, dass ihm die Tierchen auf dem Schulweg zugelaufen waren, handelte es sich wohl um einen von Markus’ Versuchen, Britta das Leben schwer zu machen und Jannik auf seine Seite zu ziehen.

»Tausendmal habe ich meinem Ex gesagt, dass mir kein Tier ins Haus kommt. Denn an wem bleibt die ganze Arbeit natürlich hängen, wenn die erste Begeisterung verflogen ist? Ich weiß ja so schon kaum, wie ich zeitlich alles packen soll. So ein Tier braucht schließlich Pflege! Es reicht schon, dass ich meine Zimmerpflanzen alle paar Wochen austauschen muss, weil sie vertrocknet sind. Einem Haustier würde ich dieses tragische Ende gern ersparen.«

In puncto Blumenpflege war Britta tatsächlich ein hoffnungsloser Fall. Unter meiner fachkundigen Beratung hatte sie es schon mit zig verschiedenen Pflanzensorten probiert, die allesamt als besonders robust und pflegeleicht galten. Aber keine davon hatte sich als widerstandsfähig genug erwiesen, es mit Britta aufzunehmen. Früher oder später kapitulierten sie alle. Die einzige Sorte, die bei ihr eine reelle Überlebenschance hatte, waren künstliche Blumen. Insofern teilte ich ihre Vorbehalte in puncto Haustiere voll und ganz.

»Davon abgesehen habe ich auch gar nicht genug Platz im Kühlschrank, um den Winter über darin zwei Schildkröten zu beherbergen«, fuhr Britta aufgebracht fort.

»Wie bitte?« Sophies Augen wurden vor Entsetzen kugelrund.

Britta zuckte ungerührt die Achseln. »Angeblich soll man die Viecher im Kühlschrank überwintern lassen. Zumindest behauptet das mein Ex. Keine Ahnung, ob es stimmt.«

Nadine kicherte und stocherte mit dem Strohhalm geräuschvoll in dem zerstoßenen Eis ihres Caipirinhas herum. »Wo deponiert man die lieben Turtles denn da? Im Gemüse- oder im Butterfach? Ach, halt, jetzt weiß ich endlich, wozu mein neuer Kühlschrank eine Biofresh-Zone hat.«

»Igitt.« Sophie schüttelte sich. »Ist das unhygienisch.«

»Glaub mir, ich kann mir auch Schöneres vorstellen.«

»Sieh’s positiv. Wenn du mal nicht dazu gekommen bist einzukaufen und die Läden schon geschlossen haben, kannst du immer noch ein feines Schildkrötensüppchen kochen.«

Nadine lächelte, allerdings schien sie dabei durch uns hindurchzusehen oder vielmehr an uns vorbei. Ich folgte ihrem Blick und entdeckte an der Theke das Objekt, dem ihr Lächeln gegolten hatte. Obwohl wir bei Männern selten den gleichen Geschmack hatten, konnte ich Nadines Interesse in diesem Fall verstehen. Der Typ, den sie so ungeniert anflirtete, war ziemlich groß, ich schätzte ihn gut und gern auf knapp einen Meter neunzig. Allerdings war er nicht einer dieser langen Lulatsche, an denen Arme und Beine ungelenk herunterbaumelten, sondern ziemlich gut gebaut. Breite Schultern, athletischer Körperbau, blonde Haare und fröhlich blitzende Augen. Aus der Entfernung war nur schwer zu sagen, welche Augenfarbe er hatte. Ich tippte auf Dunkelbraun. Oder vielleicht doch eher Blau?

»Nadine!«, rügte Sophie, der die Anbandelversuche ebenfalls nicht entgangen waren, empört. »Was zum Teufel machst du da?!? Du hast doch einen Freund.«

»Freund? So würde ich das nicht unbedingt nennen.«

»Wie würdest du es denn nennen?«

»Sagen wir mal, wir haben da so etwas am Laufen.«

»Was am Laufen? Klingt gut.« Britta grinste süffisant. »Komm, Nadine, lass deine Freundinnen an deinem aufregenden Liebesleben teilhaben. Denk dran, du redest hier mit zwei verheirateten Frauen und einer alleinerziehenden Mutter, die seit Monaten keinen Sex mehr gehabt hat. Also her mit den Details. Je versauter, desto besser.«

Nadine beugte sich vor und senkte die Stimme. »Neulich abends hat er angerufen und gefragt, ob er zum Fernsehgucken vorbeikommen kann.«

»Aber dazu ist es nicht gekommen«, mutmaßte Britta feixend, »weil ihr euch schon an der Wohnungstür die Klamotten vom Leib gerissen habt und unter den Augen deiner neugierigen Nachbarin leidenschaftlich übereinander hergefallen seid.«

»Eben nicht. Wir haben wirklich ferngesehen.«

»Einen Porno?«, fragte Britta gespannt.

»Nein, einen Tatort. Bis zum Ende.«

»Sag bloß!«, tat ich gespielt entrüstet. »Das klingt aber ganz schön pervers.«

»Seht ihr, ihr findet das auch nicht normal.« Nadine riskierte einen schnellen Blick zur Theke, wo der blonde Hüne sich immer noch mit seinem Begleiter unterhielt, bevor sie mit gerunzelter Stirn fortfuhr: »Glaubt ihr, ich muss mir Sorgen machen? Ob irgendwas nicht mit ihm stimmt? Oder mit mir? Ich meine, wir sind ja gerade erst seit drei Wochen zusammen, und schon verbringen wir einen Abend vor der Glotze.«

»Und wie war’s?«, wollte Britta mit einem amüsierten Funkeln in den Augen wissen.

Nadine kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Eigentlich ganz nett.«

»Dann ist doch alles bestens«, sagte Britta, und Sophie und ich nickten wie Background-Tänzer simultan mit dem Kopf.

»Na, wenn ihr meint.« Nadine sah nicht restlos überzeugt aus.

Trotzdem war das Thema erst einmal erledigt, und wir quatschten noch eine Weile über dies und das. Langsam, aber sicher merkte ich jedoch, wie die Müdigkeit in mir hochkroch. Der Tag hatte ganz schön an meinen Kräften gezehrt. Vielleicht lag es auch am Zuckerrohrschnaps im Caipirinha, dass ich das Bedürfnis verspürte, mich aufs Ohr zu hauen.

»Ich glaube, ich werde jetzt nach Hause gehen und versuchen zu schlafen.« Nadine hatte recht behalten, der Abend hatte mir gutgetan. Anstatt ununterbrochen über das Untersuchungsergebnis nachzudenken, das wie ein feindliches Flugobjekt drohend über meinem Kopf kreiste, war ich zumindest kurzzeitig auf andere Gedanken gekommen. »Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt.«

»Das ist doch wohl selbstverständlich«, sagte Sophie, griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand und drückte sie liebevoll.

»Bild dir bloß nicht ein, dass ich wegen dir gekommen bin«, erstickte Nadine die aufkommende sentimentale Stimmung gottlob bereits im Keim. »Ich hatte einfach nichts Alkoholisches mehr im Haus.«

Britta gähnte. »Jetzt wird’s aber echt höchste Zeit, dass ich in die Kiste komme. Morgen früh um acht habe ich eine Gallenblasen-OP. An und für sich ein Routineeingriff, in diesem Fall allerdings ...«

Sophie hob abwehrend die Hände. »Bitte erspar uns die Einzelheiten.«

Ich konnte auch nicht gut Blut sehen, in Sophies Anwesenheit durfte man jedoch nicht mal darüber reden. Ich fragte mich, wie sie reagieren würde, wenn sich eines ihrer Kinder mal ein Knie aufschlug. Aber wahrscheinlich kam das nie vor, weil Sophies Mädchen so brav und ruhig miteinander spielten, dass die Verletzungsgefahr praktisch gleich null war. Würde Sophie wie Nadine zur Vergesslichkeit neigen, müsste sie sich ein Post-it an die Kühlschranktür kleben, das sie daran erinnerte, dass sie Kinder hatte, die es zu versorgen galt. Brittas Sohnemann hingegen konnte man gar nicht vergessen. Jannik hörte man immer, und zwar im Umkreis von ein bis zwei Kilometern. Kinder kamen eben selten auf fremde Leute ...

»Oh, das Aufschneiden ist noch gar nichts«, ärgerte Britta Sophie gerade. »Danach wird es richtig blutig, denn ...«

»Hör auf!«, quietschte Sophie.

Wir suchten unsere Jacken und unsere Handtaschen zusammen, und nachdem ich endlich auch meinen Schirm gefunden hatte, machten wir uns auf den Weg zur Theke, um zu bezahlen. Alle Versuche, unsere Kellnerin auf uns aufmerksam zu machen, waren nämlich fehlgeschlagen. Seit sie uns unsere Getränke gebracht hatte, mied sie unseren Tisch wie atomar verseuchtes Sperrgebiet.

Während wir an der Theke darauf warteten, dass jemand vom Personal Zeit zum Kassieren fand, wurden wir plötzlich von der Seite angesprochen.

»’n Abend, die Damen.«

Ich erkannte den blonden Hünen, der uns freundlich anlächelte, sofort. Es war der Typ, den Nadine so ungeniert angeflirtet hatte. Jetzt, da wir ihm unmittelbar gegenüberstanden, kam mir irgendwas an ihm seltsam bekannt vor. Aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war.

»Ihr wollt schon gehen? Schade, wir hätten euch gern auf ein Bier eingeladen.« Dabei schaute er jedoch nicht Nadine an, sondern mich.

Verlegen sah ich zur Seite und überließ es Nadine zu antworten. »Tolle Idee, meine Herren. Möglicherweise hätten wir eure Einladung sogar angenommen, wenn ihr uns vor einer Stunde gefragt hättet. Tja, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«

Nun meldete sich der Freund des großen Blonden zu Wort. »Seid nicht so streng mit uns«, witzelte er. »Jungs sind Spätzünder. Wir brauchen eben für alles etwas länger.«

»Ich gratuliere dir zu dieser Einsicht«, sagte Nadine in gönnerhaftem Tonfall. »Wie viele Jahre, sagtest du, habt ihr gebraucht, bis ihr zu dieser bahnbrechenden Erkenntnis gelangt seid?«

Britta und Sophie waren hinter uns stehen geblieben, sie bekamen von dem kleinen Geplänkel nichts mit. Britta, die ziemlich penetrant sein konnte, ließ es sich nämlich nicht nehmen, Sophie weiter mit den unappetitlichen Details ihrer Gallenblasen-OP zu quälen. Ich nutzte die Wartezeit, um eine offene Frage zu klären. Die Antwort lautete: blau! Seine Augen waren blau, geradezu unverschämt blau, beinahe schon türkisfarben. So wie das Meer in der Karibik. Wunderschön. Also, das Meer natürlich ...

Als Oliver und ich geheiratet hatten, war ich bereits schwanger und das Geld knapp gewesen. Darum hatten wir unsere Flitterwochen an der holländischen Nordseeküste verbracht, aber wir hatten oft darüber gesprochen, dass wir unsere Traumreise zu den Antillen nachholen wollten. Irgendwann, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sein würden ... Nun waren unsere Kinder fast erwachsen, aber aus der Reise würde wohl trotzdem nichts werden. Unwillkürlich entfuhr mir ein kleiner Seufzer.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte der Mann, dessen Augen heftiges Fernweh in mir entfachten, leise und sah mich prüfend an. »Du siehst aus, als könntest du noch gut ein Bier vertragen.«

»Ein Bier kann mir nicht helfen.«

Er blinzelte mich treuherzig an. »Ich würde dir auch drei oder vier ausgeben.«

Wider Willen musste ich tatsächlich schmunzeln. »Nett von dir, aber daraus wird heute nichts mehr.«

»Na, dann vielleicht ein andermal.«

»Ja, vielleicht.«

Wolkenbruch im siebten Himmel

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