Читать книгу Geträumte Welten - Anthologie fantastischer Autoren - Michael Haag - Страница 5
Wunschzauberfluch
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Daniela Zörner
Ein dunkler Schatten fiel durch die offen stehende Küchentür herein. „Das Kind gehört den Göttinnen. Sein Schicksal ist besiegelt“, murmelte die Dorfhexe und humpelte davon.
Am späten Abend ihres von allen Menschen vergessenen 16. Geburtstags sitzt Birgit mal wieder bei weit geöffnetem Fenster bibbernd auf der harten Fensterbank. Im Zimmer herrscht völlige Finsternis. Sie hält Ausschau nach Orion, ihrem Lieblingssternbild, und, aber das würde sie angesichts ihres nun fortgeschrittenen Alters keinesfalls zugeben, linst nach Sternschnuppen.
Diese insgeheim besondere Nacht ihres Lebens führt jedoch etwas viel Bedeutenderes als Sternschnuppen herbei. Die Sterne selbst scheinen Birgit einen Schicksalsfaden hinab zu senden, dem die Elbe Elin folgt.
„Du wirst dich erkälten.“
Angesichts der fremden, nahen Stimme in ihrem Zimmer dreht Birgit sich so ruckartig um, dass sie von der schmalen Fensterbank fällt und schmerzhaft auf den grauen Filzboden knallt. „Aaah, aua.“ Ihre Gedanken sprießen derweil ins sinnfreie Kraut, ihre Augen glotzen, ihr Mund öffnet sich ungebeten bis zum Gähnweitenanschlag. Die Erscheinung neben ihrem Klapptisch sieht aus wie Barbie im Hochzeitskleid für Fortgeschrittene. „Ist das ein Mensch? Eine zu groß geratene Fee?“ Birgit versucht ihr Gedächtnis zu durchwühlen. „Eine weiße Hexe? Eine echte Zauberin? Oder – etwa ein Engel ohne Flügel? Dann wäre die einzig mögliche Erklärung: Ich muss gerade gestorben sein.“ Birgit runzelt die Stirn. „Nein, das wüsste ich dann bestimmt.“
Vielleicht 30 Sekunden später erfasst Birgit das absolut Fantastische an der überwältigenden Erscheinung: „Si-ie leu-leuchtet!“
„Mein Name ist Elin. Ich bin eine Elbe.“ Ebenso nüchtern hätte sie sagen können: „Das Wetter bleibt frostig.“
Das darauf folgende Schweigen dauert gefühlt so lange wie die große Pause in der Schule. So sehr sich Birgit bemüht, das ganze Gesicht des fremden Wesens zu erfassen, sieht sie einzig die seltsamsten Augen, in die sie je geblickt hat. Weder feindliche noch freundliche Augen. „Irgendwie komisch unergründlich“, denkt Birgit, während ihr Hinterkopf nach einer logischen Erklärung für die fantastische Szenerie sucht. „Ich muss auf der Fensterbank eingeschlafen sein.“ Gleichzeitig flirrt durch ihre Gedanken: „So merkwürdige Augen.“
„Du, Kind, trägst Sternenlicht in dir.“
Birgits Verstand merkt auf. „Das ist bloß wieder ein Albtraum über meine doofe Mutter!“ Niemand sonst nennt sie ausschließlich Kind anstatt Birgit – oder, na ja, Igitt, in der Schule.
Wäre in dem Augenblick ein höchst selten vorkommender Halbelb anwesend, der ein winziges bisschen über Elben weiß, so könnte jener Halbelb das Mädchen warnen: „Elin verfolgt mühelos all die unausgesprochenen Gedanken in deinem Kopf.“ Doch niemand klopft an die Zimmertür, um Birgit über die peinliche Tatsache aufzuklären. Und die anwesende Elin hält derlei Offenbarung für überflüssig. Elben geben höchst ungern Geheimnisse preis. Auch sonst sind die Lichtgeschöpfe sehr zugeknöpft.
Gerade weist besagte Elbe mit ausgestrecktem Leuchtarm auf die noch herunter geklappte Arbeitsplatte. Buchstäblich aus dem Nichts erscheint dort im schemenhaften elbischen Licht ein Gegenstand. Birgit japst. Gleichzeitig flammt die Deckenlampe auf.
Mäßig erstaunt, da sie fest an einen Traum glaubt, fragt Birgit: „Ein Buch?“
„Ein Geschenk für dich.“
„Ein Geschenk? Für mich?“, wiederholt das Mädchen fassungslos. Selbst für einen Traum ist das ein unvorstellbares Ereignis. Ihre hartherzige Mutter macht Birgit grundsätzlich keine Geschenke, egal ob zum Geburtstag oder an Weihnachten oder auch nur ein Osterei. Deshalb wünscht Birgit sich von erhaschten Sternschnuppen manchmal Dinge wie einen kleinen Fernseher für ihr winziges Zimmer. Im Wohnzimmer, dem Herrschaftssitz ihrer Mutter, befindet sich selbstverständlich ein Fernsehgerät. Doch beides ist für die zähneknirschend geduldete Tochter tabu. „Geh sofort auf dein Zimmer“ und „sei leise“ sind die meist gehörten – halt, nein, es fehlt noch „räum die Küche auf“ – und beinahe einzigen Verlautbarungen der Mutter.
Die Elbe unterbricht ihre abschweifenden Gedanken. „Du solltest jetzt schlafen. Wir unterhalten uns morgen früh weiter.“
„Aber das geht nicht!“, protestiert Birgit viel zu laut. Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Hoffentlich hat ihre Mutter das nicht gehört, sonst setzt es ein fieses Donnerwetter. Leise erklärt Birgit: „Samstags muss ich die gesamte Wohnung putzen.“
Doch die Elbe ist bereits verschwunden. Kurz starrt Birgit auf die Stelle ihrer Entscheinung. Dann siegt die Neugier. Rasch rappelt sie sich vom Fußboden auf und greift nach dem Buch. „Oh!“ Auf dem kostbaren weißen Ledereinband ist das Symbol Ying und Yang eingraviert. „Wie wunderschön!“ Behutsam streicht sie mit den Fingern darüber, bevor sie das Buch aufschlägt. Nichts als leere Seiten. „Etwa ein dämliches Kleinmädchen-Tagebuch?“ Also tatsächlich alles nur ein Albtraum. Tief enttäuscht geht sie zu ihrem viel zu kurz gewordenen Kinderbett, faltet ihre Beine unter die Decke und schläft umgehend traumlos ein.
Unsichtbar steht die Elbe Elin, einer Statue gleich, am Fenster und wacht über das auserwählte Menschenkind.
Kaum ist Birgits Mutter am Samstag pünktlich um 7 Uhr 30 zur Apotheke aufgebrochen und hat ihre Tochter daraufhin erleichtert tief Luft geholt, steht die Elbe weiß leuchtend in der Küche.
Zwar widerstrebt es Elin, die grobe Menschensprache auch noch laut auszusprechen. Elben unterhalten sich grundsätzlich von Gedanke zu Gedanke in ihrer eigenen melodischen Sprache. Dennoch sagt sie höflich: „Sei gegrüßt.“
„W-was?“ Birgit will nicht. Nicht in ihrer geliebten samstäglichen Ruhe gestört werden und schon gar nicht verrückt geworden sein. Sie knallt ihre Fäuste auf den Küchentisch. „Autsch!“ Wütend blickt sie die Elbe an. Wütend kann Birgit richtig gut – wenn auch nur innerlich, dafür hat ihre Mutter gesorgt. „Du bist bloß ein Albtraum. Ich will, dass er jetzt auf der Stelle endet.“
„Sei bitte nicht kindisch.“
Statt einer frechen Antwort springt Birgit auf, flüchtet ins Bad, verriegelt die Tür und setzt sich auf den Toilettendeckel. Drei Möglichkeiten stehen in ihrem aufgewühlten Kopf zur Auswahl: „Ich träume noch immer, ich bin durchgeknallt, Mutter hat mir etwas Giftiges in meinen Früchtetee getan.“ Beharrlich drängen Tränen aus ihren Augen hervor. „Ich will aufwachen“, schluchzt sie verzweifelt. Dickköpfig schiebt Birgit laut nach: „Kindisch benehme ich mich? Eben noch war ich ja auch ein Kind!“ In ihrem Hinterkopf erklingt: „Aber jetzt bist du 16 Jahre alt.“ Der schwergewichtige Gedanke löst etwas Neues in ihr aus. Stoisch wischt Birgit die Tränen ab, steht auf und geht, über sich selbst erstaunt, zurück in die Küche.
Die Elbe hat sich anscheinend keinen Zentimeter vom Fleck bewegt.
„Setz dich her und frühstücke. Du bist viel zu dürr.“
Birgit blickt in den leeren Brotkorb. Da nimmt sie eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Mitten auf dem Küchentisch steht jetzt ein fremder Teller voll mit merkwürdigen Schnittchen. Fragend blickt sie die Elbe an.
„Das sind Sandwiches.“
Mit spitzen Fingern greift Birgit zu, knabbert ein Eckchen ab, kaut und schluckt mit Verwunderung hinunter. „Hmmh!“ Drei Happen und das erste Sandwich ist verputzt. Ungeniert greift sie zum zweiten, zum dritten. „Richtig satt machen Ihre Schnittchen aber nicht.“ Dabei angelt sie sich forsch das vierte von dem Teller. „Haben Sie das gezaubert? Können Sie auch leckeren Kakao zaubern?“
Ein großer Becher mit herrlich duftendem Kakao taucht vor Birgit auf. „Ich träume das.“
„Nein.“
„Dann bin ich wirklich verrückt geworden?“
„Nein.“
Ängstlich presst Birgit den dritten Versuch hervor: „Tot?“
„Nein.“
„Aber?“
Die Elbe setzt sich auf den zweiten Küchenstuhl. „Ein Teil deiner Seele stammt von uns Elben ab.“
„Das ist doch ein Märchen“, protestiert Birgit.
„Muss es deshalb falsch sein?“
Das Menschenkind schaut Elin unsicher an. „Märchen sind für Kinder.“
„Was du nicht mehr bist. Dennoch sitze ich hier ganz real.“
„Kein Traum?“
„Nein.“
„Aber – woher kann ich das wissen?“
„Was sagt dir dein Herz, dein Gefühl?“
„Mein …?“ Das ist die seltsamste Frage, die ihr je gestellt wurde. Verwirrt lauscht Birgit versuchsweise dem Gefühlschaos in ihrem Innern. Minuten verstreichen.
„Das macht mir Angst“, piepst sie kläglich. „Da ist eine Stimme oder ein Gefühl oder ich weiß auch nicht. Jedenfalls sagt die, Sie sind wirklich. All das hier ist wirklich.“
„Du musst deiner Herzensstimme reiner Wahrheit vertrauen. Sie kann dich leiten, dir helfen, wenn dein Kopf versagt.“
Für ein zustimmendes Nicken fehlt es Birgit noch an Mut und wirklichem Verstehen. Stattdessen fragt sie die mysteriöse Lichtgestalt schüchtern: „Wenn Sie so etwas Ähnliches wie ein Engel sind, wo sind dann Ihre Flügel?“
„Uns Elben wurden keine Flügel gegeben.“
In den blaugrauen Elbenaugen entdeckt Birgit eine frische Spur von Traurigkeit. Plötzlich ist ihr der Heißhunger vergangen.
Elin wechselt abrupt das Thema. „Deine lockigen Haare gefallen dir nicht. Richtig?“
Unbewusst zwirbelt Birgit seit Minuten mit dem Zeigefinger in ihren haselnussbraunen Locken herum. Pausenlos beneidet sie die Mädchen mit seidig glatten Haaren an ihrer Schule. Der Groschen fällt. In freudiger Erwartung reißt Birgit die Augen auf. „Könnten Sie …?“
„Geh zum Badspiegel“, befiehlt Elin.
Aufgeregt spurtet das Menschenkind ins Bad, guckt in den Spiegel und – „Iiiiih! So sehe ich mit glatten Haaren aus?“
Die Elbe tritt hinter Birgit und befindet trocken: „Ebenso gut könntest du dir gleich einen Fluch an den eigenen Hals wünschen.“ Scharf blickt sie Birgits Spiegelbild an. „Was lernst du daraus?“
„Erst genau überlegen vor dem Wünschen?“, flüstert Birgit eingeschüchtert.
„Das wäre ein Anfang.“
Nach der unglaublichen Peinlichkeit mit ihren Haaren verspürt Birgit den dringenden Wunsch, ihren leuchtenden Gast schnell loszuwerden. „Ähem, ich muss jetzt wirklich die Wohnung putzen.“
„Eure Wohnung ist geputzt.“
Der Badspiegel blinkt plötzlich fast wie neu, das Waschbecken glänzt, die Badewanne sieht aus wie poliert und der Fußboden ist streifenfrei gereinigt. Mit offenem Mund marschiert Birgit durch den perfekt gereinigten Flur in die Küche. Kein noch so winziger Krümel verunziert den blanken, leer geräumten Esstisch.
„Aber wieso – was tun Sie da?“, ruft Birgit halb entsetzt und halb begeistert angesichts echter Magie. Wobei ihre Gedanken unentwegt flüstern: „Ich träume. Ich träume. Ich träume.“
„Zaubern nennt ihr Menschen das.“
„Ja, ja. Aber warum?“
„Damit wir heute genügend Zeit finden, in dir ebenfalls solch eine lichtmagische Fähigkeit zu erwecken.“
„Lichtmagisch?“ Birgit ist vollkommen verwirrt. „Aber was soll das sein?“
„Wie ich gerade sagte“, seufzt Elin, „nennt ihr Menschen es Zauberei.“
„Aber wer sind Sie überhaupt?“
Langsam ist Elin mit ihrer Geduld am Ende. „Eine Elbe, wie ich dir bereits gestern Abend erklärte.“
An eine Erklärung kann sich Birgit keineswegs erinnern. „Aber woher kommen Sie so plötzlich und warum klingeln Sie nie?“
„Das erfährst du später. Nun haben wir Wichtigeres zu tun“, versetzt die Elbe.
„Aber …!“
„Entweder du reißt dich jetzt zusammen und konzentrierst dich auf das Wesentliche, oder ich nenne dich ‚Miss Aber‘“, droht Elin.
„Wie in der blöden Schule“, denkt Birgit, „bloß keine Fragen stellen.“ Übellaunig setzt sie sich erneut an den Küchentisch. Gesenkten Hauptes schaut sie auf ihre gefalteten Hände. „Ich will wieder allein sein, so wie vor meinem Geburtstag. Nie hat sich irgendwer für mich interessiert. Und jetzt habe ich hier zuhause solch eine Oberlehrerin am Hals.“
Die Elbe zieht eine Augenbraue hoch, verkneift sich jedoch einen scharfen Kommentar zu den aufmüpfigen Gedanken ihrer Schülerin.
Elin hat sich die Aufgabe, einen störrischen Teenager zu unterrichten, ebenfalls nicht ausgesucht. Doch als pflichtbewusste Dienerin unter den Elben erfüllt sie seit ungezählten Jahrhunderten klaglos jeden Auftrag. Mehrere Jahrzehnte verschlang allein ihre Suche nach dem besonderen Kind.
Laut verkündet Elin: „Genug für heute. Wir treffen uns morgen nach dem Frühstück am Springbrunnen im Stadtpark.“
„Aber …“ Verdutzt schaut sich Birgit in der leeren Küche um. „Ja! Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Endlich allein.“ Bestens gelaunt geht sie in ihr Zimmer, um es sich mit einem spannenden Buch aus der Leihbücherei am putzfreien Samstag gemütlich zu machen. Doch ihr Hinterkopf echot beharrlich: „Lichtmagisch.“
Am Abend erhält der denkwürdige Tag einen schier unvorstellbaren Abschluss. Kopfschüttelnd betritt Birgit ihr Zimmer, während sie denkt: „Mutter hat wahrhaftig zum ersten Mal kein mauliges Wort über schlampig ausgeführte Putzarbeiten verloren.“ Zum ersten Mal, seit sie alt genug dafür ist, muss Birgit am Sonntagmorgen nicht nachputzen.
Um 7 Uhr deckt Birgit, wie immer sonntags, den Frühstückstisch. Aus heiterem Himmel fällt ihr die unfreiwillige Verabredung ein. „Da gehe ich keinesfalls hin. Das alles habe ich vergangene Nacht bloß geträumt.“ Nein, sie würde gleich in ihrem tollen Roman weiterlesen und den Sonntag genießen. Punkt.
Kaum hat es sich Birgit auf ihrem Bett gemütlich gemacht und vier, fünf Seiten gelesen, passiert das Unausweichliche: Die Elbe steht vor dem Bett.
„Warum lässt du mich am Springbrunnen warten?“
Birgits Gedanken verknoten sich, das ist zu viel des Albtraumhaften. „Bitte – nein - ich – äh …“
„Zieh dich warm an, draußen herrscht Frost.“
„Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe!“, platzt es aus Birgit heraus. Tränen rinnen aus ihren Augen hinab. „Ich verstehe das alles nicht. Gehen Sie endlich!“
Doch Elin setzt sich auf die Bettkante und betrachtet das Mädchen. „Welch hoffnungsloser Fall“, geht ihr durch den Kopf. „Wäre die Angelegenheit von weniger schicksalhafter Bedeutung, würden meine Sternschwestern das unbedarfte Kind sicher in Ruhe lassen.“
Der Stadtpark liegt verlassen vor ihnen. Obwohl die Elbe ein flottes Tempo vorgegeben hat, schlottert Birgit in ihrer fadenscheinigen Winterkleidung vor Kälte. Elin jedoch trägt allein ihr weißes, langes Kleid und, wie Birgit unterwegs irritiert bemerkt hat, keine Schuhe. Wüsste das Menschenkind obendrein, dass die Elbe für niemanden, ausgenommen es selbst, sichtbar ist, wäre es garantiert zum ersten Tobsuchtsanfall seines Lebens gekommen. Das Auftauchen und Verschwinden der elbischen Erscheinung mitsamt einer Vielzahl anderer schwergewichtiger Fragen verdrängt Birgit meisterlich. Stattdessen zappeln ihre Gedanken unentschieden zwischen Märchen, Albtraum und Schauerroman wie eine Spinnenbeute am klebrigen Schicksalsfaden.
Mit Raureif überzogene Pflanzen glitzern in der Morgensonne. Die üblichen Gassigeher haben den Park bereits verlassen. Elin steuert auf den zugefrorenen Springbrunnen zu. Trotz dünner Eisschicht ist das Glitzern der vielen hinein geworfenen Glücksmünzen zu sehen. Als die Elbe ihre Hand ausstreckt, liegen darauf sechs Pfennigstücke.
„Sie gehören dir.“
Birgit bekommt einen knallroten Kopf. „Ab – aber woher …?“
„Die richtige Frage lautet eher, was das soll“, versetzt Elin. Zugleich hebt sie abwehrend ihre Hände. „Erspare uns bitte den Kinderkram.“
Trotzig dreht Birgit sich um.
„Hier geblieben!“
„Sie haben mir gar nichts zu befehlen. Mit Fremden soll man ohnehin nie mitgehen.“
„Und was tust du dann verbotenerweise hier?“, verlangt die Elbe mit hochgezogenen Augenbrauen zu wissen.
Bevor Birgit sich auf die Zunge beißen kann, flutscht ihr heraus: „Lichtmagie.“
„Verrate mir zunächst einmal, was du dir sehr ernsthaft wünschen würdest, wenn du wüsstest, dass deine Wünsche tatsächlich in Erfüllung gehen.“
Obwohl Birgit sich denken kann, dass sie die absolut falsche Antwort gibt, sprudelt sofort aus ihrem darbenden Herzen: „Ich möchte furchtbar gerne ein Bücherregal in meinem Zimmer, voll mit meinen Lieblingsbüchern. Auch einen kleinen Fernseher. Außerdem möchte ich zuhause anständiges Essen bekommen – und überhaupt eine richtige Mutter.“ Grübelnd legt sie den Zeigefinger an ihre Unterlippe. „Ja, richtiges Taschengeld und so schicke Anziehsachen, wie es andere Mädchen in meiner Klasse haben. Dann bessere Schulnoten, am besten ohne Schularbeiten erledigen zu müssen. Oh, und ein Fahrrad!“ Treuherzig, mehr noch erwartungsvoll blickt Birgit die Elbe an.
Während die egoistischen Wünsche an Elin abgeprallt sind, hat sie etwas Erstaunliches bemerkt. „Das Menschenkind wünscht sich keine Freunde.“ Wie tief muss es sich in seiner jahrelangen, von der schwarzseeligen Mutter erzwungenen Einsamkeit vergraben haben. Denn offenbar betrachtet es die Einsamkeit als seine einzig denkbare Freundin. „Nie im Leben kann das kleine Mädchen eine Prophezeiung von schicksalhafter Bedeutung für die Menschheit erfüllen. Was haben sich meine Sternschwestern nur dabei gedacht?“ Elin schüttelt innerlich den Kopf. „Bleibt zu hoffen, dass das Kind an der Aufgabe, seine lichtmagische Begabung zu erwecken, scheitern wird.“ Seufzend gibt die Elbe laut von sich: „Ist dir nie in den Sinn gekommen, deine Wünsche könnten funktionieren, sobald sie keinem egoistischen Eigennutz entspringen? Wenn sie aus reinster Seele und reinstem Herzen kommen?“
„Ich habe meiner Mutter mal eine fette Warze an die Nase gewünscht. Auch das hat nicht geklappt.“
„War das ein herzensreiner Wunsch?“, fragt Elin tadelnd.
Entrüstet gibt Birgit zurück: „Er kam aus tiefstem Herzen!“
Folgerichtig verbringt das ungleiche Gespann die nächste dreiviertel Stunde auf dem Brunnenrand sitzend damit, den gewaltigen Unterschied zwischen reinem und tiefem Herzen abzustecken.
„Wie in der Schule“, seufzt Birgit manches Mal zwischendrin.
Daher beschließt Elin, die offensichtliche Unwilligkeit des Kindes mit weiteren Geschenken zu zähmen.
Montag spät abends, Birgit sollte längst schlafen. Sie kann sich aber unmöglich von ihrem spannenden Buch trennen. Das Mädchen liebt Bücher über alles. Schon aus der Leihbücherei ihrer Grundschule lieh sie sich fast immer Märchenbücher aus. Ihrer Begeisterung für Zauberer mit spitzen Hüten, die mit Zauberei in allerbester Absicht fürchterliches Unheil anrichten, ist Birgit als Teenager treu geblieben. Geschichten über düstere Hexen hingegen sind ihr ein Gräuel. Die erinnern sie zu stark an ihre eigene Mutter.
Elin steht mitten im Zimmer. „Nun, hast du über die gestrige Lektion nachgedacht?“ Nebenbei lässt sie vor ihren nackten Füßen einen kleinen Karton erscheinen.
Birgit stiert. „Was ist da drin?“
„Bücher für dich, die ich lichtmagisch herbeigeholt habe.“ Im selben Moment wird der Elbe bewusst, einen Riesenfehler fabriziert zu haben.
„Bücher? Für mich?“ Birgit springt aus dem Bett und kniet sich vor den Karton. Ehrfürchtig hebt sie das erste Buch heraus. „Irische Sagen“, liest sie vor. Sofort greift sie nach dem zweiten Buch. „,Der kleine Hobbit‘. Bestimmt ein Märchen.“
„Wie man es betrachtet“, kommentiert die Elbe.
Birgit überhört die Bemerkung, weil sie bereits den nächsten Buchdeckel begutachtet. Sie runzelt die Stirn. „Einführung in die nordische Mythologie?“
„Wenn du magst, werden wir das Buch später gemeinsam lesen.“
Auch das überhört Birgit geflissentlich. „Noch einmal Tolkien, ‚Der Herr der Ringe‘. Ich liebe dicke Bücher“, verkündet sie mit leuchtenden Augen. „So viele Geschenke!“
„Wäre es dir möglich, die übrigen Bücher später auszupacken?“, bringt Elin mühsam beherrscht heraus.
„Ach nein“, quengelt Birgit. „Warum denn?“
„Nachdem ich dir Bücher geschenkt habe, möchte ich, dass du mir ebenfalls ein Buch schenkst. Und zwar, indem du es lichtmagisch herbeizauberst.“
Das Mädchen fängt an zu prusten. „Ich? Im Ernst?“
„Konzentriere dich bitte! Schließe deine Augen und spüre deinen Zauberwunsch tief in deiner Seele.“
Minuten verstreichen, bis Birgit aufhört zu kichern. Und weitere, bis sie bei geschlossenen Augen ruhig atmet.
Leise spricht die Elbe, als ginge es hier um die selbstverständlichste, einfachste Sache der Welt: „Suche in deiner Seele nach dem magischen Licht. Tauche hinein. Führe dir deinen Wunsch vor Augen.“
Birgits Wecker tickt leise vor sich hin. Der Minutenzeiger dreht Runde um Runde um Runde. Elin wartet vergeblich auf ihr Geschenk. Das Menschenkind ist eingeschlafen.
Drei Wochen später. Der schmale, eintürige Kleiderschrank hat sich in eine Geschenktruhe verwandelt. Sämtliche Dinge, die Birgit sich sehnlichst gewünscht und nun von der Elbe erhalten hat, liegen darin verstaut. Vor allem Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Dazu schicke Pullover, Blusen, Cordhosen und Ledergürtel. Natürlich darf ihre Mutter die Geschenke auf gar keinen Fall entdecken. Deren Antrieb, das Zimmer ihrer Tochter zu betreten, ist jedoch verschwindend gering. Es sei denn, die Mutter müsste dringend ein Donnerwetter mit angehängter Forderung loswerden.
„Das Verrückte ist“, denkt Birgit, als sie ein weiteres Buch aus dem Schrank nimmt, „je mehr sich anhäuft, desto stärker wird das Gefühl, auch ohne all die Geschenke leben zu können.“
Die ungeschönte Wahrheit dahinter besteht aus riesigem Frust. All die wunderschönen Kleidungsstücke liegen nutzlos im Schrank. Denn Birgits Plan, sie heimlich in ihrer Schultasche aus der Wohnung zu schmuggeln und sich dann vor dem Unterrichtsbeginn rasch umzuziehen, zerplatzte, kurz bevor die Nähte ihrer Schultasche rissen.
So verlor die Wunschzauberei nach und nach ihren Reiz. Zumal Birgit bisher keinen noch so winzigen Gegenstand lichtmagisch herbeischaffen kann. Die zweite schonungslose Wahrheit lautet: Jeden einzelnen der vergangenen 21 Abende ist Birgit über der vertrackten Wunschaufgabe eingeschlafen.
„Der Elbenkrieg“, liest sie den Titel des hervor geholten Buches ab. „Das klingt eher nicht so nach meinem Geschmack.“ Dennoch macht sie es sich mit dem Buch auf ihrem Bett bequem. Ein unbestimmtes Bauchgefühl sagt ihr, dass auch dieser Titel absichtlich von der Elbe ausgewählt wurde. Lesend vergisst das Mädchen die Zeit.
„Guten Abend, Birgit.“
„Guten Abend – äh – Elin.“ Die Elbe zu duzen, wie sie es neuerdings wünscht, fällt Birgit schwer. Für eine Freundin ist sie nun wirklich zu alt. „Wie alt eigentlich? Vielleicht 25 Jahre?“
Elin schmunzelt innerlich über Birgits naive Altersvorstellung. Ihre spontane Schätzung greift unzählige Jahrhunderte zu kurz. „Wir machen jetzt einen Ausflug, zieh dich an.“
„Aber – wenn meine Mutter …“
„Keine Sorge. Ein Zauber wird sie davon abhalten, dein Zimmer betreten zu wollen.“
„So etwas könnte ich mir wünschen?“ Zumindest theoretisch offenbaren sich gerade ganz neue magische Möglichkeiten für Birgit. Sie grinst – aber nur kurz.
„Nein“, zerstört Elin den Hoffnungsschimmer, „das erfordert eine völlig andere Art von Lichtmagie.“
Enttäuscht greift Birgit nach ihrem schäbigen Mantel. „Aber wie gelangen wir unbemerkt aus der Wohnung?“
„Indem wir unsichtbar werden.“
Birgit schluckt. „Das war ein Scherz.“
„Fertig? Dann lass uns gehen.“
„Aber …“
„Still jetzt!“
Die Elbe nimmt Birgit an die Hand, öffnet die Zimmertür, zieht das Mädchen den kurzen Flur entlang. Birgit schaut an ihrem Körper hinunter. „Doch ein Scherz.“
Im Wohnzimmer ihrer Mutter läuft der Fernseher. Auf Zehenspitzen folgt sie Elin durch die magisch geöffnete Wohnungstür. Draußen auf dem Treppenabsatz japst Birgit geräuschvoll nach Luft. Mahnend legt Elin einen Finger an den Mund. Stumm schleichen sie durch das Treppenhaus bis hinaus auf den Plattenweg.
„Das war doch ein Scherz!“, protestiert Birgit.
„Keineswegs.“
Das Mädchen legt eine Vollbremsung hin. „Entweder Sie erklären mir das jetzt sofort oder ich gehe wieder hinein.“
„Du hast keinen Schlüssel dabei.“
Zornig funkelt Birgit die Elbe an.
„Nun gut. Unterwegs erzähle ich dir ein wenig mehr über elbische Magie.“
Birgit erfährt, während sie Elin widerwillig durch nächtliche Wohnstraßen folgt, dass Unsichtbarkeit gegenüber Menschen bei Elben der Normalzustand ist.
„Leuchten alle Elben?“, fällt Birgit eine ihrer angehäuften Fragen ein.
„Ja.“
„Warum?“
„Ein Schutzzauber wirkt unsere Lichthülle.“ Elin erzählt weiter. Seit ungezählten Jahrhunderten verfolgen Elben das Schicksal der Menschen, und sie überwachen das schwarzmagische Treiben von Dämonen.
„Dämonen?“, krächzt Birgit dazwischen.
Kein elbischer Kommentar.
Einer Prophezeiung zufolge soll einst ein Menschenkind die Erde von dem Dämonfürsten befreien, bevor er sein Ziel, die Menschheit zu unterjochen, erreicht. Hätte Birgit in diesem Moment die ganze Wahrheit um die mysteriöse Prophezeiung erfahren – sie stellt sich dabei eine orakelnde Medusa vor – wäre sie postwendend nach Hause gerannt. Sie wäre zitternd unter ihr Bett gekrabbelt, anstatt sich, wann auch immer, einer globalen Katastrophe entgegen zu stellen.
„Dämonen?“, wiederholt sie hartnäckig.
Nachgiebig erklärt Elin: „Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Elben und Dämonen, ein jedes besitzt ein Gegenstück.“
„Ying und Yang“, flüstert Birgit.
„Sehr gut“, lobt die Elbe. „Zwischen rein und unrein existiert eine Vielfalt an Nuancen. Von weißen Seelen über hellgraue, graue und dunkelgraue bis hin zu völlig schwarzen Seelen. Lediglich den weißen Seelen kann Lichtmagie gegeben werden. Ein großes Geschenk!“
„Und ich? Besitze ich wirklich Lichtmagie?“
„Eine gute Frage. Wir werden sehen.“
Birgit lässt den Kopf hängen. Sie, eine 16-Jährige, passt unmöglich in die fantastisch klingenden Schilderungen der Elbe. „Dämonen!“ Nun verspürt sie keine Lust mehr zu fragen, warum die Elben überhaupt vor angeblichen Urzeiten auf die Erde kamen.
Eine Weile gehen die Zwei schweigend nebeneinander her, jede tief in eigene Gedanken versunken.
„Wohin bringen Sie – du mich eigentlich?“
„Zu einer bitterarmen Familie. Wir sind fast am Ziel.“
In der fremden Straße reiht sich ein altes, heruntergekommenes Mietshaus an das nächste. Rußschwarze Fassaden, abbröckelnder Putz, blinde Fensterscheiben. Aus den Wohnungen fällt kaum Licht auf die Straße.
In Birgit regt sich ein mulmiges Gefühl. Trotzig begehrt sie zu wissen: „Was soll ich hier?“
„Ich möchte, dass du ein Geschenk überbringst. Nutze die Gelegenheit gut, sieh genau hin, wie die Familie lebt.“
„Aber ich kenne die Leute gar nicht!“
„Das spielt keine Rolle“, gibt Elin zurück. Sie bleibt vor einer Haustür stehen, deren ehedem weißer Anstrich nur mehr zu erahnen ist.
Auf der untersten Stufe erscheint ein Karton.
„Hier.“ Die Elbe drückt ihn Birgit in die Arme. „Darin befinden sich Babynahrung und Stoffwindeln.“
Bevor das Menschenkind protestieren kann, drückt Elin auf den Klingelknopf von Papke. Schon schiebt sie die schleifende Haustür auf. Im Treppenhaus funktioniert höchstens jede zweite Lampe.
Elin gibt dem Mädchen einen kleinen Schubs. „Fünfte Etage.“
„Und Sie – du kommst nicht mit?“
„Selbstverständlich gehe ich mit, allerdings wird mich kein Mensch sehen.“
Kurz glaubt Birgit, dass ihr angesichts der verlangten Aufgabe plus unfassbarer Unsichtbarkeit ihrer Begleiterin die Nerven durchgehen. Mit etwas zu feuchten Augen atmet sie tief den muffigen, von Kohlsuppengeruch durchsetzten Mief des Hauses ein. „Was soll das alles nur? Bin ich doch verrückt?“, spukt es durch ihren Kopf.
Die Elbe schweigt und wartet ab.
Endlich setzt sich ihr Schützling mit versteinerter Miene und zögerlichen Schritten in Bewegung, begleitet vom Knarzen ausgetretener Holzstufen.
Kaum eine Stunde später betreten Birgit und Elin wieder den Gehweg. Das erlebte Grausen und Elend steht dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Wortlos, mit gesenktem Kopf trottet es neben der Elbe heimwärts.
Dort angekommen, schlüpft Birgit ungewaschen ins Bett. Doch der ersehnte Schlaf will sich nicht einstellen. Vielleicht auch, weil Birgit schlimme Albträume über das gerade Erlebte befürchtet. So wälzt sie sich hin und her, steht alsbald auf und setzt sich zum Sterne gucken auf das Fensterbrett. Allein, selbst der Anblick in frostiger Nacht so rein funkelnder Gestirne kann die schrecklichen Bilder in ihrem Kopf nicht bezwingen.
Sechs Kinder lagen, notdürftig zugedeckt, auf drei Matratzen in einem kalten Raum mit groben, abgewetzten Dielen, der nur das Wohnzimmer sein konnte. Zumindest das Neugeborene lag bequem in seiner Wiege in der vom Kohleofen lauwarm beheizten Küche. Hier stank es nach Kohl, dreckigen Windeln und Alkohol. Die hagere Mutter mit ihrem verheulten Gesicht saß im schmierigen Kittel am Küchentisch. Ihr gegenüber lagen Kopf und Arme eines schlafenden Mannes, die Schnapsflasche noch mit einer Hand umklammert. Kein Kühlschrank, kein Elektroherd, von der Decke hing die nackte Glühbirne zwischen zwei Wäscheleinen, behängt mit zerschlissenen Kleidungsstücken. Das Baby begann zu wimmern.
Birgit versucht so heftig gegen die Bilderflut anzukämpfen, dass sie von einem Weinkrampf geschüttelt wird.
Eine sanfte Hand legt sich auf ihren Lockenkopf. „Geh zu Bett. Ich werde dir ein Lied vorsingen, damit du gut schlafen kannst.“
Schluchzend zieht sich Birgit die Decke bis unter ihr Kinn. Aus verquollenen Augen schaut sie die Elbe vorwurfsvoll an. Diese beginnt mit einer wundervoll weichen Stimme zu singen. Überrascht vernimmt das Mädchen eine zwar melodische, doch ihr gänzlich unbekannte Sprache. Langsam schließt Birgit die Augen und lauscht. Durch ihren Geist wandern so reale Bilder von blühenden Wiesen, wogendem Meer und tiefblauem Sommerhimmel, als wäre sie selbst dort. Mit einem Lächeln schläft das Menschenkind ein.
Der nächste Schultag nach halb durchwachter Nacht ist hart. Mittags steht mal wieder bloß Brot auf dem Tisch. Die anschließenden Schularbeiten wollen Birgit überhaupt nicht gelingen. Zwangsläufig muss sie nach dem abendlichen Küchendienst erneut ans Werk. Aber nun schießen ihr zwischen Gähnattacken halbwegs verdrängte Gruselbilder des Vorabends durch den Kopf. Mehr noch verstört denn wütend fegt sie ihre Schulsachen von der Arbeitsplatte.
„Es ist nur gut für dich, mit größerer Begeisterung zu lernen.“ Elin steht neben ihrem Hocker und blickt ernst auf das Mädchen herab.
Das fehlt jetzt gerade noch. Pampig erwidert Birgit: „Ja, ja. Das sagt meine Mutter ständig. Damit sie mich möglichst schnell wieder loswird.“
Die Elbe geht darüber hinweg. „Dich erwartet eine große Aufgabe. Soll sie etwa scheitern, weil du zu dumm bist, sie zu lösen?“
„Was kann ich für die dämliche Aufgabe. Ich habe sie mir ja nicht ausgesucht. Nicht einmal richtig verstanden habe ich das bisschen, was Sie mir davon erzählt haben!“ Birgit beschließt, die anwesende Elbe zu ignorieren. Betont langsam sammelt sie die Schulsachen vom Filzboden auf.
Das störrische Menschenkind entwickelt sich zum reinsten Fluch für Elin. Ein unbrauchbares Kind mit wundem Herzen. Dessen frühe und einzige Erinnerung daran, geliebt worden zu sein, vom Schmerz über den Tod seines Großvaters und dem Schock über seine anschließende Verfrachtung zu einer unbekannten Mutter überschrieben wurde.
Dennoch legt die Elbe eine Kehrtwende um 180 Grad hin. „Es tut mir leid. Eigentlich möchte ich mit dir über unseren gestrigen Ausflug reden.“
„Ausflug?“, protestiert Birgit. „Das war die Hölle!“
„Sprich nicht über Dinge, von denen du keinen Schimmer einer Vorstellung hast“, rügt Elin.
„Dann lass mich einfach in Ruhe!“, keift Birgit. „Ich muss lernen. Oder spricht plötzlich etwas dagegen?“
„Ich komme zurück, wenn du dich beruhigt hast.“
„Meinetwegen bleiben Sie ganz weg!“
Da ist die Elbe bereits entschienen.
Birgit schmeißt ihre aufgehobenen Schulsachen wieder auf den Boden. „Warum sind alle gegen mich? Warum darf ich mich nicht für den Rest meines Lebens in schönen Büchern vergraben? Warum?“ Entschlossen setzt sie sich auf ihr Bett und greift nach dem begonnenen Buch. Kurz flattert ihr durch den Kopf: „Das gibt morgen Ärger in der Schule. Ach, was soll’s.“
Am folgenden Abend, wie könnte es anders sein, taucht die Elbe auf. Birgit guckt sofort weg, ihre Lektüre ist gerade überaus interessant.
„Gefällt dir das Buch?“
Keine Antwort.
„Birgit.“
Ein Hauch von Verzweiflung in der Stimme lässt das Mädchen aufblicken. „Was?“
„Wollen wir es mit der Lichtmagie ein letztes Mal versuchen?“
Birgit springt auf die elbische Finte an. „Ein letztes Mal?“, echot sie bestürzter, als sie es sich eingestehen mag.
„Ich möchte, dass du deine Erinnerungen an die Familie wachrufst.“
„Oh nein“, stöhnt das Mädchen.
„Bitte! Erinnere dich an all das Elend und überlege dir, womit du der Familie helfen möchtest.“
„Auch dem saufenden Vater?“
„Ein guter Einwand, den du dabei bedenken solltest.“
Mechanisch klappt Birgit das Buch zu. Helfen möchte sie der Mutter mit ihren sieben Kindern furchtbar gerne. Sie beginnt zu grübeln. „Viel Geld? Dann säuft sich der Vater zu Tode. Kleidung für die Kinder? Macht nicht satt. Ein Herd? Der würde bestimmt vom Vater verscherbelt.“
Aufmerksam verfolgt Elin die Gedanken und aufgewühlten Emotionen des Menschenkindes.
Birgit nagt an ihrer Unterlippe. Laut überlegt sie: „Eigentlich muss der Vater weg. Könnte man ihn wegwünschen?“ Unsicher sieht sie die Elbe an.
„Wäre das ein reiner Wunsch?“
„Nein“, gibt das Mädchen zu. „Aber alles andere, was mir einfällt, funktioniert auch nicht.“
„Fang mit einem kleinen Wunsch an“, rät Elin.
„So wie der Karton mit Babysachen?“
Die Elbe nickt.
„Und jetzt?“
„Erinnere dich an die lichtmagische Lektion.“
Birgit schließt folgsam die Augen und lehnt sich entspannt zurück.
Elektrisiert verfolgt Elin das Geschehen.
„Licht, ich suche mein Licht“, hallt der Ruf durch Birgits Geist. „Licht, wo bist du?“ Tiefer und tiefer versinkt sie in sich selbst. Viel Schwärze, durchzogen mit winzigen Lichtblitzen. „Da muss mehr sein. Ein Licht in meiner Finsternis. Wo nur?“ Die Finsternis zu ertragen, fällt ihr von Minute zu Minute schwerer. Sie fühlt sich orientierungslos. Panik flammt auf. „Wohin? Wo bin ich?“ Plötzlich vernimmt Birgit elbischen Gesang. Er flutet süß ihr Herz, schenkt frischen Mut. „Licht, wo bist du?“ Fernes Glimmen in der Finsternis wird zu einem feinen Lichtstrahl, dem Birgit entgegeneilt. „Ein See aus Licht!“ Pures Glück durchflutet sie und Birgit spürt, sie möchte es teilen. Ein gefüllter Karton für die Armen. „Au!“ Erschrocken reißt sie die Augen auf, starrt auf ihre schmerzenden Beine. Darauf thront ein sehr großer, schwerer Karton. Birgit verschlägt es die Sprache. Im nächsten Augenblick findet sie sich in einer innigen Umarmung von Elin wieder.
„Der erste Schritt ist vollbracht.“
Große Müdigkeit überfällt das Mädchen. All die Aufregung um den ersten lichtmagischen Zauber fordert ihren Tribut. Noch während Birgit die Augen zufallen, denkt sie voller Stolz: „Ich bin eine Zauberin.“
Allein, für Elben ist solche Art der Magie reine Spielerei zum gelegentlichen Zeitvertreib. Elin weiß, lange Jahre liegen vor dem Menschenkind, bis es wahre Lichtmagie beherrscht. Jahre, in denen das Mädchen niemals die Wahrheit erfahren darf. Niemals darf es auch nur den Hauch einer Ahnung spüren, dass ursprünglich Irma, ihre Mutter, auserwählt wurde. Irma verweigerte sich dem Licht und verschenkte, dem Wahnsinn nahe, ihre Seele an das Urböse. „Nachts, zur Dämonenzeit, steht die Verlorene gleich nebenan in ihrer Küche und braut tödliche Tränke.“ Die Elbe schüttelt es bei dem Gedanken. Für das uralte Rezeptbuch musste die Dorfhexe ihr Leben lassen.
Am Pfingstsonntag zaubert Birgit mit Leichtigkeit eine kleine Vase, gefüllt mit Nelken, auf den Frühstückstisch. Sie setzt sich hin, betrachtet strahlend ihr Werk und wartet auf die Mutter. Jeden Augenblick wird sie aus dem Bad kommen. Einmal mehr staunt Birgit über ihre magischen Fortschritte in den zurückliegenden Wochen. Ein oder zwei Mal konnte sie sogar Elin verblüffen.
Die tiefe Freude darüber, anderen Menschen mit ihren magischen Fähigkeiten helfen zu dürfen, heilt ihr wundes Herz zusehends.
Eine blitzartige Erkenntnis reißt das Mädchen so heftig wie eine Ohrfeige aus seinen umherschweifenden Gedanken. „Mutter wird fragen, woher die Blumen stammen! Sie gibt mir ja nie Taschengeld.“ Hektisch blickt sie sich nach einem Versteck um. „Nein, nein, nein!“ Birgit springt auf, flitzt mit der Vase los, quer über den heiklen Flur. Eben noch rechtzeitig verschwindet sie in ihrem Zimmer, bevor die Badtür aufgeht. Bei pochendem Herzen mahnt eine bedeutsame Lektion der Elbe: „Deine Magie darf niemals für andere Menschen erkennbar sein. Niemals!“
So schnell, wie sich das Malheur verflüchtigt, ist auch das Menschenkind über den Schreck hinweg. Auf dem Rückweg grinst Birgit schon wieder vergnügt. „Wenn Mutter wüsste, dass ausgerechnet ich eine Zauberin bin. Hihihi!“
Es ist längst Abend geworden. Elin zögert. Sie ringt mit dem Gedanken, sich ein letztes Mal zu zeigen. Seit mindestens einer Stunde steht sie im Kinderzimmer, ohne sichtbar zu werden. Deutlich spürt sie die wachsende Unruhe in Birgit. Deren Augen schauen immer häufiger von dem Buch auf, um nach ihr suchend durch den Raum zu schweifen.
„Nein, sinnlos“, beschließt die Elbe. „Ich zögere die unangenehme Angelegenheit nur hinaus.“
Ihre weisen Sternschwestern haben einen neuen Befehl erteilt. Sie wird ihn befolgen, wie üblich. „Je eher ich den eingeforderten Zauber vollführe, desto länger kann er über Nacht seine volle Wirkung entfalten.“
Sie strafft die Schultern, tritt an das Bett heran und schickt das ahnungslose Menschenkind in einen tiefen Schlaf des Vergessens. Die unreine Magie lässt Elins weiße Lichthülle gräulich flackern. Schließlich wendet sie sich bleichgesichtig und erschöpft ab. Sämtliche Geschenke, ausgenommen Birgits Tagebuch, verschwinden aus dem Kinderzimmer. Zuletzt nimmt Elin das Tagebuch an sich, in dem jede magische Lektion fein säuberlich notiert ist. „Das Schicksal mit seinen unvorhersehbaren Schwingungen ist und bleibt eine heikle Geschichte“, seufzt die Elbe. Insgeheim hofft sie darauf, das Schicksal werde einen völlig neuen Weg gegen die Prophezeiung offenbaren und ihr so weiteren Kinderkram ersparen.
Eine ferne Stimme raunt: „Ihr werdet einander wiedersehen.“
Copyright © 2018 Daniela Zörner
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