Читать книгу Geträumte Welten - Anthologie fantastischer Autoren - Michael Haag - Страница 7
Am Ende des Tages
Оглавлениеvon
Yves Patak
Stirnrunzelnd liest Cannagan den Vertrag ein letztes Mal. Auf dem Ebenholzschreibtisch scheint das Dokument zu leuchten.
Schließlich nickt er und lehnt sich zurück. Er lächelt.
Ich gewinne. Wie immer.
Mit den Händen im Nacken blickt er durch das Panoramafenster auf Midtown Manhattan. Das weitläufige Penthouse im zweiundsechzigsten Stock eines der exklusivsten Gebäude der City ist sein sicherer Hafen, sein Stolz, seine Kommandozentrale. In der Stille hinter Fenstern aus Panzerglas, die jedem Hurrikan standhalten, entwarf er den Plan, der nun den Untergang seines letzten Rivalen einläutet.
Noch einmal berührt er den Vertrag, vergewissert sich, dass er wirklich da ist. Unglaublich. Nur eine Unterschrift entfernt von der absoluten petrochemischen Macht.
Und hat er sich diesen Triumph nicht verdient? Seit sein Vater an Lungenkrebs starb und ihm eine kleine Erdölfirma hinterließ, hatte er sich Tag und Nacht abgerackert, Pläne geschmiedet und intrigiert, und den Betrieb seines Vaters schließlich zu einem der global führenden Konzerne gemacht. Ganz bestimmt wäre der alte Mann stolz auf ihn gewesen, hätte ihm für diese Meisterleistung jene Zuneigung geschenkt, derer er nie fähig gewesen war.
NaphtaCo war heimlich und still gewachsen und keiner der großen Ölmoguln hatte Cannagan ernst genommen. Nicht bis zum Jahr der ‚Schwarzen Welle’. Genau ein Jahr nach Trumps Einzug ins Weiße Haus war Manhattan von einem beispiellosen Tsunami verwüstet worden. Danach änderte sich alles. NaphtaCo schluckte Shell im Jahr 2019. Ein Jahr später fiel British Petroleum Cannagans unersättlichem Appetit zum Opfer. Dean R. Cannagan, der unterschätzte Underdog, führte der Welt den spektakulären Feldzug eines modernen Julius Cäesar vor.
Nur ein Unternehmen hatte es geschafft, NaphtaCo die Stirn zu bieten – zumindest bis vor einer Woche.
Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, das Gefühl ungewohnt. Cannagan hatte nie Zeit mit eitler Vorfreude vertrödelt. Die wenigen Niederlagen in seinem Leben haben ihn gelehrt, das Schwert nicht zurückzuziehen, bis das Herz des Gegners zu schlagen aufhört. Doch jetzt, als er den Vertrag auf seinem Schreibtisch betrachtet, kann er den unmittelbar bevorstehenden Sieg förmlich schmecken. Der Vertrag ist da – wirklich da! – und wartet nur auf seine Unterschrift.
Er blättert auf die letzte Seite. Da ist sie: Alfred Reineckes elegante Signatur. Reinecke, CEO von Omega Oil, hat endlich die Waffen gestreckt.
Cannagan blickt auf die schwarze Tinte hinab, zögert den Augenblick hinaus, in dem er den Pakt mit seiner eigenen Unterschrift besiegelt. Seine Augen wandern zu der leeren Zeile über seinem Namen und es juckt ihn in den Fingern, sein Meisterstück zu beenden.
Noch nicht. Er spürt, dass die Süße dieses Augenblicks nie wiederkommen wird. Noch eine Minute.
Und wozu sich beeilen? In wenigen Augenblicken wird Omega Oil Geschichte sein – der letzte hartnäckige Gegner, der nun doch vom allmächtigen NaphtaCo-Imperium verschluckt wird. Nur der Nachmittagshimmel wird Zeuge seines ultimativen Triumphes sein. Und niemand wird jemals ahnen, dass Reineckes Untergang einem hässlichen Zwischenfall mit einer schwarzen Hure und einem weißen Pulver zuzuschreiben ist – einer toten Hure.
Armer Alfie. Cannagan betrachtet die Waterman-Füllfeder in seiner Hand. Ein Senkrechtstarter. Ein Finanzgenie. Und doch nicht schlau genug, die Lunte zu riechen, als ich ihm die Fusion anbot …
Reinecke mit der äthiopischen Nutte hereinzulegen erwies sich als Kinderspiel. Wie viele machtbesessene Männer war Reinecke ein Schürzenjäger und seine Vorliebe für schwarze Frauen kein Geheimnis. Ein junger Banker, der Cannagan noch etwas schuldete, stellte Reinecke die Äthiopierin auf einer Party vor, und schnell verfiel der Deutsche Arsemas Reizen.
Cannagan fand heraus, dass Reinecke zu schlau war, um selbst zu koksen. So war es ein Klacks, der Nutte mit tödlichem Strychnin verschnittenen Schnee zuzuschieben, ohne das Leben des Deutschen zu riskieren.
Cannagan und einer seiner Handlanger, Milo, hatten Reinecke zu einem Fünf-Sterne-Hotel verfolgt. Mit dem Stethoskop an der Tür hatte er gewartet, bis der Aufruhr begann – bis der deutsche Tycoon erkannte, dass die Hure gestorben war, während er erschöpft neben ihr lag.
Sobald sie hörten, wie der Deutsche in Panik geriet – „Arsema! Aufwachen, um Himmels Willen, wach auf!“ – schloss Milo das elektronische Türschloss mit einem Magneten kurz und marschierte mit blitzender Kamera in die Suite, Cannagan dicht hinter ihm. Reineckes unverhohlene Bestürzung war unbezahlbar gewesen. Allerdings – bei näherem Hinsehen, nicht wirklich unbezahlbar.
Cannagan hatte seinen splitternackten Konkurrenten mit einem Hauch von Mitleid angesehen.
„Hey Alfie!“ Er warf einen Blick zu der toten Frau auf dem Bett.
„Sieht aus, als hättest du hier ein kleines Problem.“
Reinecke starrte ihn an – und verstand. In stummem Entsetzen schaute er zu, wie Cannagan seine Aktentasche neben die dunkelhäutige Leiche legte und einen dicken Vertrag hervorholte.
„Dean“, sagte er heiser. „Nicht –“
„Halt die Schnauze, Alfie, ja?“ Cannagan zog einen Füllfederhalter aus der Brusttasche. „Ich möchte deine Unterschrift hier auf dem Vertrag. Deine schriftliche Zustimmung, mir Omega Oil zu verkaufen. Gleich hier und jetzt, zu meinen Bedingungen. Im Gegenzug erspare ich dir fünfzehn Jahre nicht einvernehmlichen Homo-Sex hinter schwedischen Gardinen. Haben wir einen Deal?“
Reinecke schüttelte den Kopf. „Ich habe die Suite mit meiner Kreditkarte gebucht! Die haben meinen Namen!“
Cannagan lächelte sein Krokodillächeln.
„Alfie. Dieses Hotel gehört mir. Ich kann die Dinge arrangieren lassen.“
Alfred Reinecke unterschrieb. Rettete seinen Hals, indem er seinen 40-Milliarden-Dollar-Konzern für einen Apfel und ein Ei verkaufte.
Cannagan reißt sich aus seiner Träumerei und schaut auf die Uhr.
Zeit, mir die Krone aufzusetzen!
Er rückt den Vertrag zurecht, lässt die goldene Spitze des Waterman über der leeren Zeile schweben – und erstarrt.
Nein!
Seine Augen weiten sich, als er den Namen unterhalb der Linie wieder und wieder liest.
Dean Robert Canganan
Canganan ... nicht Cannagan!
Er springt auf die Füße, die Fäuste auf den Schreibtisch gestützt, während er ungläubig auf den Tippfehler starrt.
„Fuck!“
Schlagartig richtet sich sein Zorn gegen Sheryl, seine Sekretärin. Die dämliche Schlampe! Vertippt sich auf dem wichtigsten Dokument meines verdammten Lebens!
Bleich vor Wut hämmert er auf den Knopf der Sprechanlage.
Das kleine Flittchen denkt also, sie habe ein Recht, schlampig zu arbeiten, nur weil sie gelegentlich das Bett ihres Herrn teilt! Da irrt sie sich aber gewaltig! Zugegeben, sie ist hübsch, und sie weiß einen Mann zu befriedigen. Was sie übersieht, ist, dass gleich um die Ecke eine unendliche Reihe von Sheryls wartet, Sahneschnitten, die alles tun würden, um für einen der mächtigsten Tycoons der Welt arbeiten zu dürfen.
Zeit, das Miststück zu feuern.
Seine Finger trommeln einen Rhythmus auf den Schreibtisch, während er auf Sheryls Antwort wartet. Jetzt, wo sie einen seiner seltenen Glücksmomente mit ihrem unverzeihlichen Tippfehler ruiniert hat, kann er es kaum erwarten, sie in Tränen aufgelöst zu sehen, zuzuschauen, wie sie zusammenbricht, wenn er ihr befiehlt, ihr Zeug zu packen und sich zu verpissen.
Sekunden vergehen. Keine Antwort. Sein Zorn verdichtet sich zu etwas Hässlichem auf. In Ordnung, du kleine Hure. Ich mach’ dich fertig.
Er packt den Vertrag und stampft zur Tür. Als er nach dem Knauf greift, überkommt ihn plötzliche Besorgnis. Sicherlich wird Reinecke die berichtigte Version des Vertrages noch einmal unterzeichnen. Was, wenn nicht?, flüstert eine kühle Stimme. Was, wenn er einen Ausweg gefunden hat?
Niemals!
Cannagan hat Fotos. Prächtige, hochauflösende Fotos von Alfie und der toten Hure. Auf keinen Fall würde Reinecke einer deftigen Gefängnisstrafe entgehen, falls Cannagan beschließen sollte, die Fotos den Behörden zu schicken.
Er schiebt seine Zweifel beiseite, zieht die schalldichte Tür auf und stürmt in das Vorzimmersekretariat.
Wie angewurzelt bleibt er stehen und starrt auf den leeren Bürosessel. Was in aller Welt? Er schaut auf seine Uhr. Halb sechs. Sheryl wird großzügig dafür bezahlt, ihm täglich bis acht zur Verfügung zu stehen. Selbst wenn sie zur Toilette geht, ist es ihre verdammte Pflicht, ihr Handy griffbereit zu halten! Mit gerunzelter Stirn schaut er sich um. Ungeachtet ihrer Abwesenheit ist die Stille außerhalb seines Büros ungewöhnlich. Unheilverkündend. Er blickt durch die hohe Glastür zu den sechs patronenförmigen Fassadenaufzügen im Atrium des Wolkenkratzers. Alle Aufzüge stehen still. Niemand zu sehen. Keine hektischen Sekretärinnen, keine gestressten Geschäftsleute, keine Botenjungen.
Keine Wachmänner.
Hat es Feueralarm gegeben? Eine Bombendrohung?
„Hallo?“, ruft er ins Leere. „Sheryl!“
Die Wände schlucken seine Worte. Unbehaglich geht er den Korridor entlang, das Geräusch seiner Schuhe durch den Hochflorteppich gedämpft. Er drückt die Glastür auf und geht zur Brüstung des Atriums. Der Blick in den Abgrund ist so unangenehm wie die Leere des Gebäudes. Er drückt den Fahrstuhlknopf. Sofort hört er das vertraute Bling als eine der Türen aufgleitet. Also kein Stromausfall. Mit wachsender Unruhe betritt er die leere Kabine und rast in beinahe freiem Fall zur Lobby hinunter. Wie das übrige Gebäude scheint auch die Empfangshalle verlassen.
„Hallo?“, ruft Cannagan.
Nichts. Keine Menschenseele. Selbst der Portier ist verschwunden. Er eilt durch die Drehtür auf die Straße – und prallt zurück. Unter den hoch aufragenden Wolkenkratzern liegen der Broadway und die 56th Street menschenleer vor ihm. Schlimmer noch, kein Geräusch ist zu hören, nicht einmal ein Vogel. Der Geruch des Frühlings hängt in der Luft, aber auch etwas Anderes, das Cannagan nicht genau ausmachen kann. Der Verkehr auf der Straße ist zum völligen Stillstand gekommen. Rasch geht er an der endlosen Reihe leerer Fahrzeuge vorbei. Was zur Hölle ist hier los? Wo sind alle? Nichts bewegt sich – aber da ist ein Kribbeln in der Luft. Etwas Elektrisches. Eine Atmosphäre atemloser Erwartung.
Eine Vorahnung treibt ihn den Broadway entlang in Richtung Central Park, eine winzige Figur im Dämmerlicht zwischen den Hochhäusern. Als er die Ecke an der 58th Street erreicht, sieht er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und bleibt ruckartig stehen. Ein kleiner schwarzer Junge, der zwischen zwei Autos hervorspäht. Der Knabe schaut Cannagan mit weit aufgerissenen Augen an.
„Hey, Kleiner!“, ruft Cannagan. In der geisterhaften Stille klingen seine Worte überlaut und seltsam hohl.
Der Junge glotzt ihn an, bleibt aber zwischen den Fahrzeugen.
„Weißt du, wo deine Mutter ist?“, fragt Cannagan. „Oder wo irgendjemand ist?“
Der Junge starrt ihn weiter an.
„Hey, Dumpfbacke, verstehst du, was ich sage?“
Cannagan überkommt das wilde Verlangen, den sprachlosen Lümmel durchzuschütteln, bis er die Lösung zu diesem Mysterium ausspuckt. Als spüre er die Gefahr, macht der Knabe auf dem Absatz kehrt und rennt davon.
„Verdammt!“
Fluchend geht Cannagan weiter. Die Wolkenkratzer versperren ihm die Sicht, aber der purpurrote Widerschein der Abendsonne lässt die Fenster hoch über ihm aufleuchten. Endlich erreicht er das südliche Ende des Central Park, wo vor der Schwarzen Welle hohe Bäume standen.
Er weiß nicht, dass er die letzten Schritte seines Lebens geht.
Auf der Wiese vor ihm steht eine unüberschaubare Menschenmenge – als hätten sich alle Bürger Manhattans auf dem Rasen versammelt, in einem Bund gespenstischer Stille. Alle – Männer, Frauen und Kinder – stehen ihm gegenüber und blicken nach Süden, ihre Augen auf einen Punkt irgendwo weit über Cannagan gerichtet – tausende von menschlichen Statuen, Augen und Münder aufgerissen, gelähmt im Angesicht von etwas, das zu enorm, zu gewaltig, zu unmöglich ist, um es zu begreifen.
Cannagan dreht sich um und blickt in den dämmernden Himmel über Manhattan. Schlagartig versteht er, dass er sich geirrt hat. Das Licht, das sich in den Fenstern der Wolkenkratzer widerspiegelt, ist nicht die Sonne. Er fühlt, wie tief in seiner Brust ein Schrei wächst, doch in der Gegenwart dieses überirdischen Spektakels bleibt er stumm, genau wie alle anderen.
Betäubt, die Augen von der Feuersbrunst erleuchtet, starrt er auf die Wolke flüssigen Feuers, die sich über den blutroten Himmel ausbreitet, die Stadt verschlingt, das Universum verbrennt.
Es ist das Ende des Tages.
Englischsprachige Originalversion (Day’s End) Copyright © 2016 Yves Patak
Deutschsprachige Version Copyright © 2018 Yves Patak
Alle Rechte beim Autor
Vervielfältigung, Verbreitung und sonstige Reproduktion sowie Übersetzung sind erwünscht und nach schriftlicher Genehmigung gestattet.