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Nichts als die Wahrheit

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Ein ehemaliger Mitschüler rief mich an; in der Volksschule waren wir befreundet, und ich sag es gleich: Für mich war es eine Ehre, von ihm als Freund bezeichnet zu werden. Ob ich mich mit ihm treffen wolle. Er müsse etwas „abladen“. – Ich nenne ihn Egon, auch den Nachnamen erfinde ich: Reuter. – Wir trafen uns in Wien, weit weg von dem Ort, wo wir geboren wurden. Und weil, was er bei mir „abladen“ wollte, mit diesem Ort zu tun hat, bat er mich, falls ich über die Angelegenheit etwas schriebe, auch den wahren Namen der Gemeinde nicht zu nennen. Sein Vater sei vor wenigen Wochen gestorben, erzählte er, fast neunzig sei er geworden, und vor seinem Tod habe er ihn zu sich gebeten, um ihm eine Wahrheit zu sagen, die unter allen Umständen noch ausgesprochen werden müsse. Egons Mutter war schon vor Jahren gestorben. Sie hatte bis zu ihrem Tod keine Ahnung gehabt von dieser Wahrheit.

Wenige Monate nach Egons Geburt, so erzählte ihm sein Vater, habe eine junge Frau an der Wohnungstür geklingelt. Sie wolle mit Egons Mutter sprechen, sagte sie, die Wahrheit müsse endlich ans Licht. Sie war sehr aufgeregt und nahe daran zu weinen und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Herr Reuter – er gestand seinem Sohn alles – hatte damals eine Geliebte, die schon seit drei Jahren seine Geliebte war, der er Hoffnung gemacht hatte, von Scheidung hatte er gesprochen, sie war sehr eifersüchtig, und er hatte ihr mehrfach geschworen, dass er mit seiner Frau nicht mehr geschlechtlich verkehre. Als sie erfuhr, dass er Vater wird, zerkratzte sie sich ihr Gesicht und ging vor ihm in die Knie. Er hatte im Stillen gehofft, sie werde die Beziehung abbrechen; er traute sich das nämlich nicht, er fürchtete, sie werde sich etwas antun. Sein erster Gedanke, als die junge Frau an der Wohnungstür von einer Wahrheit sprach, die ans Licht müsse, war: Sie ist eine Freundin seiner Geliebten, die vorgeschickt wurde, um ihn vor seiner Frau auffliegen zu lassen. Rache. Er sagte, seine Frau sei krank, sie liege im Bett, habe hohes Fieber, jede Aufregung müsse ihr erspart werden. Ob er Egons Vater sei, fragte die junge Frau. Dann wolle sie eben ihm die Wahrheit sagen. Er schlug vor, einen Spaziergang zu machen, dabei solle sie ihm alles erzählen.

Die junge Frau arbeitete im Krankenhaus als Schwester auf der Entbindungsstation. Als Egon geboren wurde, ja, gerade an diesem Tag, habe sie auf der Station angefangen. Und dieser Tag sei ein außergewöhnlicher Tag gewesen, vier Kinder seien an diesem Tag zur Welt gekommen. Das Krankenhaus war klein und die Entbindungsstation erst neu eingerichtet, manchmal tat sich dort einen Monat lang gar nichts. Drei von den vier Kindern waren Buben: Egon, Hermann – so nenne ich den anderen – und ich. Durch unsere Volksschulzeit hindurch wurden wir nur „die Drillinge“ genannt. Hermann und Egon, so erzählte die junge Krankenschwester Herrn Reuter unter Tränen, seien vertauscht worden. Und sie sei schuld. Eben weil auf einmal drei dagewesen seien, drei Buben. Sie habe das Versehen sofort aufdecken wollen. Bis heute könne sie sich nicht erklären, wie das habe passieren können. Sie habe, das sei gewesen am zweiten Tag nach den Geburten, die Säuglinge in die falschen Bettchen gelegt, sie habe die Fußsohlen mit Tintenblei markiert, wahrscheinlich zu wenig markant. Sie habe unglücklicherweise in den darauffolgenden Tagen Urlaub genommen, weil ihre Schwester geheiratet habe und die Familie nach Südtirol gefahren sei. Und dann Wochenende, alles zusammen sei sie eine Woche nicht im Krankenhaus gewesen. Aber als sie die Mütter in ihren Betten gesehen habe, wie sie voll Liebe und Glück jede den falschen Sohn an der Brust hatten, da habe sie es nicht übers Herz gebracht. Sie habe es einfach nicht fertiggebracht. Sie habe es, das sei eben der schwere Fehler gewesen, die schwere Sünde, hinausgeschoben und hinausgeschoben und noch einmal hinausgeschoben. Bis es nicht mehr ging. Aber jetzt müsse sie es sagen, endgültig. Sie habe nämlich gekündigt, sie werde wegziehen und ebenfalls heiraten und nie wieder hierher zurückkommen, und sie habe Angst, einen Fluch auf sich zu laden, wenn sie nicht endlich die Wahrheit sage.

Herr Reuter war sehr erschrocken, wie gelähmt war er; bei allem und jedem brauchte er Zeit, um sich zu entscheiden. Er sagte „Danke“, ging nach Hause und dachte nach. Dass er den winzigen Buben inzwischen sehr lieb gewonnen hatte, das verstand sich von selbst. Nach jeder Stunde, seit das Kind bei ihnen war, meinte er, beobachtet zu haben, wie es Schale um Schale die Welt kennenlernte, die Entfernung vom Mund zum Schnuller, den Unterschied zwischen dem langsam sich bewegenden Finger des Vaters und dem schnell sich bewegenden der Mutter, den Unterschied zwischen den hohen Brummtönen der Mutter, wenn es auf ihrem Bauch lag, und den tiefen des Vaters; der Vater bildete sich ein, der kleine Egon hatte die tiefen Töne lieber – der kleine Egon, der gar nicht der Egon war. Seine Geliebte hatte Herr Reuter nicht mehr getroffen und kaum mehr an sie gedacht. Sie hatten miteinander telefoniert, zwei Tage vor der Geburt, sie hatte ihn im Amt angerufen und nur in den Hörer geweint. Herr Reuter hoffte so sehr, die Sache werde sich von selbst erledigen. Damit meinte er, ohne dass er eine Entscheidung fällen müsste. Und so geschah es auch. Er besuchte seine Geliebte nicht mehr; wenn er im Amt zum Telefon gerufen wurde und ihre Stimme hörte, drückte er verstohlen auf die Gabel und tat vor den Kollegen so, als spreche er mit jemandem Unverfänglichen.

Er brauchte Zeit, sich zu entscheiden, er dachte nach. Die Krankenschwester hatte einen schweren Fehler begangen, die Folgen jedoch, die würde sie nicht tragen müssen, nein. Aber er. Er dachte dabei nicht an eventuelle juristische Folgen. Er dachte an die Verzweiflung seiner Frau, an die Verzweiflung der anderen Frau, die Verzweiflung des anderen Vaters, an seine eigene Verzweiflung. Vier Verzweiflungen. Ob ich Schuld habe oder nicht, dachte er, für die Verzweiflungen werde ich dennoch verantwortlich sein. Warum? Weil ich dafür sorgen könnte, dass sie erspart bleiben. Wie? – Indem er nichts tat. Indem er den Dingen ihren Lauf ließ.

Wenige Wochen vor seinem Tod erklärte Herr Reuter seinem Sohn, der eigentlich nicht sein Sohn war, dass er damals nicht etwa einen Plan gefasst habe; er habe die Entscheidung verschoben, von einem Tag auf den anderen. Wie die unglückselige Krankenschwester die Entscheidung verschoben habe, von einem Tag auf den anderen. Er habe das Glück seiner Frau gesehen, er habe sein, also Egons, Glück gesehen, seine Lust, an der Brust der Mutter zu saugen, die gar nicht seine Mutter war, sein Lachen, wenn er nur ihre Stimme hörte, sein Gurren, wenn er, der falsche Vater, die Nase an seinem Näschen rieb. Und dann – auf einmal sei ein Jahr dahingegangen, und die Kinder feierten ihren ersten Geburtstag. Da habe er sich entschieden. Er habe sich entschieden, dafür zu sorgen, dass die vier Verzweiflungen, eigentlich die sechs Verzweiflungen, denn auf ihre Art würden ja auch die Kinder über die Wahrheit verzweifelt sein, dass allen all der Kummer erspart bleibe. Er habe entschieden: nichts zu tun.

Egons Vater war Angestellter bei der Gemeinde, Marktkommissär sagte man damals, was genau darunter zu verstehen war, wusste ich nicht und weiß es bis heute nicht. Die Familie hatte nicht viel; Marktkommissär klang besser, als es auf dem Gehaltszettel aussah. Egon war ein beliebter Schüler; wer sein Freund sein durfte, war stolz; er studierte, wurde Chemiker, und bald wurde ihm in einer pharmazeutischen Firma eine gute Anstellung angeboten, die er bis zu seiner Pensionierung behielt. Er fand eine feine Frau, sie haben drei Kinder, aus allen ist etwas geworden; sie lieben ihren Vater; einzig zu bemängeln ist vielleicht seine Zögerlichkeit, die man aber auch Besonnenheit nennen kann, was dann auch kein Mangel mehr ist.

Hermann, der eigentlich hätte Egon heißen sollen, war der – falsche – Sohn eines Notars. Auch er war geliebt worden; er hatte viele Talente, womöglich sogar am meisten von uns Drillingen. Aber aus ihm war nichts geworden. Sein Vater – sein richtiger Vater – erkundigte sich immer wieder heimlich nach ihm. Er wisse nicht, sagte er zu Egon wenige Wochen vor seinem Tod, ob er sich freuen oder sich schämen solle.

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