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Eine Wolke vor dem Gesicht

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In ihrer Jugend, als am Land die Sitten noch streng waren, als das Tragen von Bikinis verboten war und der Twist und Das Schweigen von Ingmar Bergman, eines Nachmittags im September, da meinte Johanna, aus der Sonne heraus trete eine Gestalt, setze einen Fuß auf eine Wolke, den anderen auf den Berg und steige vom Himmel herab und werde immer kleiner, je näher sie komme.

Johanna war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen und war in den letzten Tagen von einem Mann, den sie nur aus dem Laden kannte und draußen noch nie gesehen hatte, „sehr direkt“ angeschaut worden. Er hatte den Blick auf ihr gelassen, als er ihr einen Zwanziger für die Semmeln gab, und hatte seine Hand nicht angesehen, als sie das Restgeld hineinlegte. Sie kannte ihn als Kunden, wusste aber seinen Namen nicht. Er war einer der Ersten jeden Morgen, die Bäckerei öffnete um halb sechs. Johanna war nicht schüchtern, und der Blick des Mannes war nicht böse. Warum er sie so ansehe, fragte sie.

„Du gefällst mir“, hatte er gesagt.

Das wiederholte sich von nun an jeden Morgen. Mehr als das sagten sie beide nicht. Sie freute sich auf den Mann, jeden Morgen.

Sie hätte Frau Mathis, die Besitzerin der Bäckerei, fragen können, wer der Mann sei. Das wollte sie nicht. Sie fürchtete, der Zauber würde verfliegen. Der Mann sah gut aus, Johanna schätzte ihn auf dreißig, höchstens fünfunddreißig. Er war groß und hatte breite Schultern und einen merkwürdig geschwungenen Mund, der sich nicht deuten ließ. Einmal meinte sie, er sei ironisch, dann, er sei brutal, einmal zart, einmal grob. Vielleicht liegt es am Lichteinfall, versuchte sie sich einzureden. Unberechenbarkeit mochte sie nicht und mochte sie doch.

Nach dem vierten oder fünften Morgen sagte er: „Ich will dir etwas sagen.“

„Was denn noch?“, fragte sie. „Sie sagen ja jeden Morgen etwas zu mir.“

„Was ich dir sagen möchte, kann ich hier nicht sagen.“

„Dann sollten Sie es irgendwo anders wahrscheinlich auch nicht sagen.“

„Das ist richtig“, sagte er.

„Und wie tun wir jetzt?“, fragte sie.

Wenn sie hören wolle, was er ihr zu sagen habe, solle sie am Abend nach ihrer Arbeit in der Schillerallee bei der zweiten Bank von oben auf ihn warten. Das tat sie.

Er sagte, er wolle ihr Geliebter werden. Das wurde er.

Er hieß Egon und arbeitete bei der Gemeinde, er war Marktkommissär und tatsächlich erst neunundzwanzig, nicht dreißig, nicht fünfunddreißig, das war ihr recht. Er besuchte das Abendgymnasium, er wollte die Matura machen und dann Chemie studieren. Viel mehr erzählte er von sich nicht.

In der ersten Zeit trafen sie sich nur im Freien. Egon besaß ein Moped mit einer Sitzbank. Sie fuhren ins Ried, dort war ein dichter Fichtenwald, vor dem Krieg eine Christbaumzucht, während des Krieges vergessen, ein rechteckiges Stück Land, gut hundert Meter lang und fünfzig Meter breit. Egon schob das Moped zwischen die Bäume, damit man es von draußen nicht sehen konnte, aber es war unwahrscheinlich, dass jemand vorbeikam, hier gab es nichts, die Wiesen und Äcker rundum lagen brach. Es war Sommer, in der Mitte des Waldes war es kühl und dunkel. Der Boden war mit Fichtennadeln bedeckt. Egon breitete eine Decke aus und legte eine zweite darüber, mit der sie sich zudecken konnten. Noch schämten sie sich voreinander, ganz nackt sehen wollten sie einander nicht. Das heißt, Egon wollte es nicht. Johanna hätte es schon gewollt.

Fast jeden Abend trafen sie sich. Selten länger als eine Stunde. Nicht an den Wochenenden. Johanna wohnte bei ihren Eltern, die besaßen ein kleines Haus, dort schlief sie in ihrem Mädchenzimmer, in dem gerade ein schmales Bett und ein Kleiderkasten Platz hatten. Einmal machte sie den Vorschlag, Egon solle doch in der Nacht zu ihr kommen, das sei völlig ungefährlich, er könne durchs Fenster steigen, die Eltern würden fest schlafen. Das wollte er nicht, und sie fragte nicht mehr. Wo er wohnte, wusste sie nicht so genau. In einer Straße, die erst neu angelegt worden war, wo kleine Häuser standen, die alle gleich aussahen und noch unverputzt waren. Dort, vermutete sie, wohne er. Aber sie vermutete es nur. Und warum er so wenig von sich erzählte, vermutete sie auch.

Als der Sommer vorbei war, fragte sie ihn: „Bist du verheiratet? Hast du eine Frau?“

Er holte tief Atem und sagte: „Dann ist es jetzt also so weit zwischen uns. Ja. Ja.“

Da brach sie zusammen.

Die Knie hielten ihr Gewicht nicht mehr, und sie sank nieder. Zugleich aber dachte sie: Warum breche ich zusammen? Tut es so weh? Er sagt mir doch nichts Neues. Ich habe es mir schon gedacht, als er zum ersten Mal sagte, dass ich ihm gefalle. Warum tue ich jetzt so, als breche ich zusammen. Vor ihm tu ich so, und vor mir selber tu ich so.

Mitten in der Bäckerei war sie zusammengebrochen. Am frühen Morgen, noch bevor es hell wurde. Und Egon war davongelaufen. Hatte sie liegen lassen. Frau Mathis fand sie und gab ihr für diesen Tag frei. Das komme vom niedrigen Blutdruck, sagte sie, sie solle mehr Salz essen.

An diesem Nachmittag schien die Septembersonne so schön, und Johanna legte sich im Garten in den Liegestuhl, und da sah sie die Gestalt, die aus der Sonne trat, einen Fuß auf eine Wolke setzte, den andern auf den Berg, und auf sie zuging und kleiner wurde, je näher sie kam.

Ein Stück Wolke hatte die Gestalt mitgebracht, vielleicht war sie angestreift, das hatte sich in den Haaren verheddert und hing über das Gesicht, sodass Johanna nicht erkennen konnte, wie der Mann aussah, der nun vor ihr stand. Es war nämlich ein Mann. Er hatte etwas Weißes um und ein Stück Wolke vor dem Gesicht.

„Was willst du fragen?“, sagte er.

„Was ich tun soll“, sagte Johanna. „Ob ich mich weiter mit Egon treffen soll. Obwohl er mich belogen hat.“

„Er hat dich nicht belogen“, sagte der mit dem Weißen über der Schulter und dem Stück Wolke vor dem Gesicht. „Aber er hat mich liegen lassen.“

„Du bist nicht zusammengebrochen, du hast nur so getan.“

Johanna wird bald siebzig. Sie sieht immer noch gut aus. Eine schlanke Frau. Sie war in ihrem Leben zweimal verheiratet und hat sich jedes Mal nach kurzer Zeit scheiden lassen. Ich traf sie auf dem Friedhof, sie stand vor dem Grab von Egon Reuter. Sie hilft heute noch manchmal in der Bäckerei aus. Ich traf sie wenige Tage, nachdem Herr Reuter gestorben war. Ich bin mit seinem Sohn gut befreundet, er heißt Egon wie sein Vater.

„Ich hätte gern, wenn du es aufschreibst“, sagte Johanna.

„Was denn?“, fragte ich. „Das vom toten Egon und mir. Der Gerechtigkeit wegen.“

Sie lud mich zu sich nach Hause ein. Sie hat schon vor langer Zeit ihr Elternhaus umbauen lassen, alle Wände heraus, sogar ihr Schlafzimmer liegt offen. Sie schwöre, sagte sie, bei Gott und ihrer Gesundheit schwöre sie, dass alles der Wahrheit entspreche, was sie mir erzählt habe. Auch die Gestalt, die aus der Sonne gestiegen sei, habe sie nicht erfunden. Sie könne gar nichts erfinden. Sie habe nie etwas gelernt in ihrem Leben. Immer sei sie nur Verkäuferin in einer Bäckerei gewesen und nichts anderes. Eine Verkäuferin in einer Bäckerei komme nicht auf die Idee, eine Gestalt zu erfinden, die aus der Sonne steige, erst mit einem Fuß auf eine Wolke trete, dann mit dem anderen auf den Berg, und im Näherkommen kleiner werde anstatt größer, wie es normal sei. Und dass jemand ein Stück Wolke vor dem Gesicht habe, so etwas würde ihr in ihrem ganzen Leben nicht einfallen.

Jedenfalls habe ihr die Gestalt geraten, die Sache mit dem Egon fortzusetzen und nicht deshalb damit aufzuhören, weil der Egon verheiratet sei. Das habe sie getan. Nie habe seine Frau von der Affäre erfahren. Egon habe beteuert, seit er mit ihr, Johanna, schlafe, schlafe er nicht mehr mit seiner Frau. Die Frage, ob Sünde oder nicht, diese Frage habe sie sich nie gestellt, die hätten sich damals sicher die anderen gestellt, aber sie nicht. Sie habe sich die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt. Wenn er nur mit ihr schläft, habe sie sich gedacht, und mit mir nicht, dann ist es gerecht. Wenn er nur mit mir schläft und mit ihr nicht, dann ist es auch gerecht. Wenn er weder mit mir noch mit ihr schläft, ist es der Natur gegenüber nicht gerecht. Und wenn er mit ihr und mit mir schläft, dann ist es weder mir gegenüber noch seiner Frau gegenüber gerecht.

„So habe ich gedacht“, erzählte mir Johanna. Als dann seine Frau schwanger wurde, mit dem kleinen Egon, da sei sie wirklich zusammengebrochen. Da habe sie nicht nur so getan. Die Erscheinung sei nicht mehr aus der Sonne gestiegen. Aber das sei auch nicht nötig gewesen

Nichts als die Wahrheit

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