Читать книгу Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski - Страница 18
Die Bohnen und die Geige
ОглавлениеEs war gleich zu Beginn der Zeit, in der meine Eltern im Többens-Shop arbeiteten. Ich war damals schon ein so bewusster Teilnehmer und Beobachter der Ereignisse, dass ich verstand, was mit dem Wort Shop assoziiert wurde, das in dieser Bedeutung wohl weder davor und noch danach verwendet wurde. Auch der Namen Többens war mir nicht fremd, schon deshalb, weil er mir ständig zu Ohren kam. In dieser Firma unterzukommen, in der die einzige Art von Arbeit Zwangsarbeit war, bot die Hoffnung, der Deportation zu entkommen, erlaubte es, an eine Überlebenschance zumindest zu denken. Der Shop von Többens, zu dem sich meine Eltern täglich begaben und von dem sie bei verschiedenen Gelegenheiten sprachen, blieb für mich ein ferner und unbekannter Raum. Ich war nie dort, ich wusste nicht, wie er aussah und wo er sich befand, ich hätte ihn nicht unterbringen können auf der Karte des schrumpfenden und sich immer weiter entvölkernden Ghettos. Mein einziges Terrain blieb die Wohnung – eigentlich nur ein Zimmer –, in der wir uns seit längerer Zeit aufhielten, in einem Haus, das sich gleich an der Mauer befand und nach der Aktion, die auch eine räumliche Verkleinerung des Ghettos verursacht hatte, in ihm verblieben war. In den Winkeln dieser Wohnung sollte ich mich so gut wie möglich verstecken, wenn Gefahr drohte. Oft hielt ich mich hier übrigens allein auf, obwohl die Eltern eigentlich versuchten, zu unterschiedlichen Schichten in den Shop zu gehen.
Einst war die Wohnung belebt gewesen, viele Personen hatten hier Unterschlupf gefunden. Das begann sich in der Zeit zu ändern, von der ich jetzt erzähle, die erste Phase der Deportationen näherte sich ihrem Ende oder war bereits beendet. Ich könnte von wirklich großen Bevölkerungsbewegungen in der Wohnung sprechen. Verschiedene Personen kehrten nicht zurück, weil sie vom Umschlagplatz ihren letzten Weg antraten, der direkt zum Gas führte, einigen gelang es, auf die arische Seite zu wechseln. Nur an wenige von ihnen erinnere ich mich. In meinem Bewusstsein ist Frau Franka geblieben, die kurz zuvor ihr einziges Kind verloren hatte, einen Jungen in meinem Alter oder jünger. Sie war eine Bekannte meiner Familie aus der Vorkriegszeit. Sie überlebte, behielt nach dem Krieg Vor- und Nachnamen aus der Besatzungszeit und war bis zum Ende ihres langen Lebens als Frau Natalia bekannt. Irgendwo am Rand meiner Erinnerung taucht eine anonyme Frau auf, die sich nicht lang in der Wohnung aufhielt. Festgesetzt hat sie sich nur durch eine Erzählung, ja vielleicht nur durch einen Satz. Sie berichtete von der Selektion, bei deren Durchführung den Deutschen ein gewisser Jude half, ihr Bekannter von vor dem Krieg. Mit tiefer Überzeugung seufzte sie: „Was für ein ordentlicher Mensch!”, da er bewirkt hatte, dass man sie diesmal in Ruhe ließ. Als der Deutsche auf sie zeigte, habe er ihm nahegelegt, eine andere zu nehmen.
Mich beschäftigen die Mechanismen der Erinnerung, die dazu führen, dass sich gerade diese Äußerung in ihr erhalten hat und gewissermaßen für immer konserviert wurde, während sich so viele andere Sätze und Ereignisse verflüchtigt haben und auf keine Weise mehr rekonstruiert werden können. Ich kann es nicht erklären, schließlich war mir nicht bewusst, wie schrecklich das war, was diese Frau erzählte. Die moralische Reflexion eines knapp achtjährigen Kindes kann die Aussage von derlei Erklärungen nicht begreifen und bewerten. Das Kind kann nicht darüber nachdenken, wie die Wirklichkeit, in der es lebt, die Entstehung von Kriterien bei der Beurteilung von Einstellungen und menschlichen Verhaltensweisen beeinflusst, wie sie dazu zwingt, in Kategorien zu denken, die sich, wenn die Dinge günstiger gelaufen wären, sicherlich nicht ausgeprägt hätten. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass ich mir gerade diesen Sachverhalt behalten habe, obwohl er mich gar nicht interessiert haben dürfte. Umso mehr, als ich diesen jüdischen Kollaborateur nie gesehen hatte und seinen Namen nicht kannte, auch nicht wusste, wer diese „eine andere” war.
Ich erzähle hier nicht die Geschichte dieser Frau, über deren Schicksal mir nichts bekannt ist, ich weiß nicht, ob es ihr gelang, sich vor Treblinka zu retten. Ich will vielmehr von drei Schwestern erzählen, die – freilich nur kurz – ein Zimmer in der Wohnung belegten, in der auch wir wohnten. Ich erinnere mich an ihren Nachnamen: Urstein. Ihr Bruder, der gleich zu Beginn der Besatzungszeit gestorben war, war ein bekannter Musiker. Er hat einen Eintrag in der Mała Encyklopedia Muzyki, im Kleinen Musiklexikon: „Urstein, Ludwik, geb. 1874 in Warschau, gest. am 5.10.1939 ebd., polnischer Pianist und Pädagoge. Er studierte am Warschauer Konservatorium. Bedeutender Begleiter und Kammermusiker.”
Dieser unter anderem aufgrund zahlreicher Auftritte im polnischen Rundfunk geschätzte Künstler hatte Glück: Er starb zum richtigen Zeitpunkt, er umging das Ghetto und die mit ihm verbundenen Qualen. Doch seine Schwestern erlitten sie. Ich erinnere mich daran, wie sie aussahen: Sie waren schwarz gekleidet. Einander sehr ähnlich, kamen sie mir alt vor, obwohl sie sicherlich kaum die mittleren Lebensjahre überschritten hatten. Ich wechselte kein Wort mit ihnen. Sie hielten sich abseits und knüpften keinen Kontakt zu den Mitbewohnern, ich verbinde mit ihnen Stille und Schweigen. Sie sprachen wohl nur untereinander, und das flüsternd. Vielleicht wollten sie auf diese Weise ihre Privatsphäre bewahren. Vielleicht wurden sie aber auch von Unglück und Leiden erdrückt, sodass sie es vorzogen, diese in familiärer Isolation zu erdulden und nicht in der Lage waren, Kontakte aufrechtzuerhalten, auch nicht mit denen, die so wie sie zu Erniedrigung und Qualen verurteilt waren, zum Verlust ihrer Liebsten und zu unaufhörlichem Warten auf den Tod.
Nichts Konkretes kann ich über diese Frauen sagen – ich weiß nicht, ob sie verheiratet oder Witwen waren, ich weiß nicht, ob sie jemals eigene Familien besaßen und sie im Zuge der Liquidierung des Ghettos verloren hatten, ich weiß nicht, ob sie einander schon immer so nahe standen oder ob erst der Aufenthalt hinter der Mauer diese Vertrautheit hatte entstehen lassen. Auf jeden Fall haben sie sich meinem Gedächtnis als Personen eingeprägt, die stets zusammen waren, als drei schwarze Gestalten, die gemeinsam die Wohnung verließen, um zur Arbeit in Többens Shop zu gehen, und gemeinsam zurückkehrten. Und eines Tages kehrten sie solidarisch – also wieder gemeinsam – nicht zurück. Es war schwer, nicht zu erahnen, was geschehen war: Sie waren zur Deportation ausgewählt worden, es fand sich kein „ordentlicher Mensch”, der sie davor beschützt hätte. Ich weiß natürlich nicht, wie das vorging. Vielleicht suchten diejenigen, die die Selektion durchführten, an diesem Tag alle drei heraus und verurteilten sie zum Tod im Gas. Vielleicht riefen sie auch nur eine heraus und die beiden anderen meldeten sich von selbst, weil sie beschlossen hatten, nicht nur gemeinsam zu leben, sondern auch im Familienkreis zu sterben. In solchen Fällen spricht man in der Regel davon, dass das Geheimnis mit ins Grab genommen wird, hier jedoch wäre diese Formel widersinnig, da die ermordeten Juden ihre Geheimnisse mit ins Gas nahmen.
Ihre Geheimnisse nahmen auch die Schwestern Urstein mit, an die sich heute kaum jemand mehr erinnert, vielleicht auch niemand – außer mir. Doch ich rufe sie mir auf besondere Weise ins Bewusstsein, so wie man Gestalten und Ereignisse aus der Kindheit evoziert, auch aus der makabersten. Das ist ein karges Erinnern, nur wenig lässt sich daraus hervorluchsen: sie lebten … und sie kamen um …
Sie ließen ein abgeschlossenes Zimmer zurück, und damit hängt zusammen, was ich jetzt erzählen will. Sie hatten keine Familie mehr, die all das, was sie hinterlassen hatten, übernehmen und ordnen konnten. Das Zimmer, das sie vor nicht allzu langer Zeit bezogen hatten, war zu Niemandsland geworden, und die Dinge, die ihnen noch gestern gehört hatten, konnte sich jeder, der wollte, aneignen. Im Ghetto hörten in der Zeit der Liquidierung die meisten Gesetze zu gelten auf, das Eigentumsrecht hatte seinen Sinn verloren, wo doch das Eigentum noch vor Kurzem vielen Menschen als heilig gegolten hatte. Wertvolles konnte ebenso wie Wertloses herrenlos werden, herrenlos wurden auch die persönlichen Erinnerungsstücke, die noch am Vortag für jemanden sehr kostbar gewesen waren.
Dessen war sich zweifellos ein junger Mann bewusst, den niemand unter denen, die immer noch in der Wohnung ausharrten, kannte. Er erschien einige Tage nach dem Verschwinden der Schwestern Urstein, erklärte, er wisse, dass sie eine wertvolle Geige hinterlassen hätten, und sagte, dass er sie mitnehmen wolle. Anfangs fragte man ihn aus, welches Recht er darauf habe. Mit Sicherheit waren das keine allzu weitreichenden Ermittlungen, denn dieser Unbekannte legte keine Beweise vor, die seine Ansprüche hätten begründen können. Doch man sprach mit ihm; das Instrument konnte nun ihm ebenso gehören wie jedem anderen. Das Zimmer der Schwestern Urstein war verschlossen, den Schlüssel hatten sie mit auf ihre letzte Reise genommen. Man musste es also auf andere Weise öffnen. Die Tür wurde nicht aufgebrochen, sie ließ sich leicht öffnen, fast ohne Mühe. Und tatsächlich, die Geige befand sich an einem exponierten Platz. Der Herr, der gekommen war, um sie zu holen, sagte, sie sei alt und wertvoll, er nannte sie die Violine von Ludwik Urstein. Aber hat Ludwik Urstein tatsächlich auf ihr gespielt? Er war schließlich Pianist, der zwar Geiger begleitete, aber kein Virtuose auf diesem Instrument. Vielleicht gehörte sie einer der Schwestern und sie hatte darauf gespielt? Ich weiß natürlich nicht, wie sich die Dinge verhielten, ich weiß nicht, wer der Mann war, der sie mitnahm, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Vielleicht konnte sie das Ghetto verlassen, denn in dieser Zeit konnte sie hier schließlich niemand mehr gebrauchen, in der Zeit der Deportationen, als der Umschlagplatz zum zentralen Ort innerhalb der Mauern wurde, spielte niemand mehr irgendetwas. Vielleicht gelangte sie so heraus wie die Menschen, die vor der Vernichtung auf die arische Seite flohen. Vielleicht ist sie erhalten geblieben und dient – wenn sie wirklich gut war – heute einem Künstler, der Bach und Beethoven darauf spielt, ohne sich bewusst zu sein, welch dramatische Geschichte sie hat. Aber vielleicht ist sie auch zerstört worden, ist im schrecklichsten Sinn des damals fundamentalen Wortes „untergehen” untergegangen, zusammen mit dem jungen Mann, der meinte, sie müsste nach dem Verlust der Schwestern ihm gehören. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er Geiger war und an seinen letzten Lebenstagen auf einem ordentlichen Instrument spielen wollte.
Ich könnte noch lange Mutmaßungen anstellen, doch ich möchte lieber über das berichten, woran ich mich erinnern kann. In diesen Erzählungen über das Ghetto beschäftigen mich nicht die möglichen Welten, sondern mich interessiert, was in seinem Wesen noch kurz zuvor unmöglich gewesen zu sein schien – und zwar aus vielen Gründen –, nun aber Wirklichkeit war, die schrecklichste Realität aller Wirklichkeiten war, die noch vor zwei oder drei Jahren überhaupt nicht denkbar gewesen waren. Wirklichkeit war zweifellos das Zimmer, das die Schwestern Urstein hinterlassen hatten. Es war nun ohne Besitzer, offen, für jeden zugänglich, der es betreten wollte. Vater ging hinein, und ich mit ihm. Ich kann nicht sagen, wann das geschah, gleich nach dem Abschied des Mannes mit der Geige oder etwas später. Für mich, der auf Dauer in der Wohnung eingesperrt war, der die Welt schon lange nicht mehr betrachtet hatte und keine anderen Freuden kannte, war das gewiss eine Abwechslung und Attraktion: etwas zu sehen, was ich bis dahin nicht gesehen hatte, zumindest nicht im jetzigen Zustand. Denn ehe die drei Schwestern es bezogen hatten, hatte ich mich oft in diesem Zimmer aufgehalten.
Sie hatten hier nur wenige Tage gewohnt, hatten sich noch nicht einleben und einrichten können, alles lag herum und war in Unordnung. Vielleicht wollten sie aber auch gar keine Ordnung herbeiführen, in dem Bewusstsein, dass dies ein Provisorium kurz vor dem Tod war, dass jedes Bemühen um Ordnung und jedes Wurzelschlagen, sofern es überhaupt möglich gewesen wäre, ein Betrug an ihnen selbst war – in der Zeit vor dem Tod. Der Unordnung kam entgegen, dass es in dem Zimmer fast keine Möbel gab. Mit Sicherheit fehlte in ihm ein Schrank, und so lagen verschiedene, die elementarsten, für die bescheidenste Existenz notwendigen Gegenstände offen herum: ein paar Teller, vielleicht auch Küchengeschirr, vor allem aber Teile der Garderobe. Das war alles, was von den Schwestern geblieben war. Diese Unordnung wurde zu einem Zeichen eines plötzlich und gewaltsam unterbrochenen Lebens, eines Lebens, dem sich keine Chance mehr bot.
Vielleicht waren auch einige Essensreste geblieben und ganz sicher etwas, was einen Schatz darstellte: eine Tasche mit einigen Kilo Bohnen. Diesen Vorrat hatten die Schwestern sicherlich für eine schwarze Stunde angelegt, für eine Zeit schlimmen Hungers. Ich erinnere mich, dass Bohnen im Ghetto ein besonders geschätztes Nahrungsmittel waren. Dieser Schatz war nun, so wie die Geige, herrenlos, ein Gut ohne Besitzer. Vater nahm ihn und wir aßen diese Bohnen eine Zeit lang und teilten sie sparsam in Portionen auf, damit sie länger reichten.
Aber bald wurden auch unsere Habseligkeiten herrenlos. Wie verließen das Zimmer und ließen alles zurück. Ich weiß nicht, ob es noch jemand geschafft hat, von diesen Dingen Gebrauch zu machen, zu essen gab es darunter eher nichts. Wir verließen das Zimmer, zum Glück nicht zum Umschlagplatz und in die Öfen der Krematorien getrieben – wir gelangten auf die arische Seite.