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I. KINDHEIT IN TAVULLIA

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„Manche Lehrer geben ja mit Vorliebe Bemerkungen von sich, die die Schwächeren und weniger Selbstsicheren in Angst und Schrecken versetzen. Mit Selbstsicherheit hatte ich, ehrlich gesagt, nie ein Problem. Damit war aber auch klar: Die Schule und ich, wir passten einfach nicht zueinander. Ich hatte wenig Interesse am Unterricht. Meine Lehrer haben das schnell mitgekriegt. Sie warfen mir die finstersten Prophezeiungen an den Kopf – die sich zum Glück nicht bewahrheitet haben. Der schlimmste Schwarzmaler war mein Kunstgeschichtslehrer. Dieses Fach war mir, neben Mathe, am meisten verhasst. Glaubst du wirklich, dass du von deinen dämlichen Motorradgeschichten leben können wirst? fragte er mich immer wieder. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich grinsen.“

Der Vater war in gewisser Weise der Vorläufer des Sohnes. Graziano Rossis Karriere war bei Weitem nicht so ruhmreich wie die seines Sprösslings, aber auch er hatte Ende der 1970er-Jahre eine kurze Berühmtheitsphase. Und er hätte sicher weitere Erfolge errungen, hätte ihn nicht eine Reihe von Unfällen und Verletzungen gezwungen, den Motorradrennsport an den Nagel zu hängen und auf den Autorennsport umzusatteln. Den Fahrinstinkt und die Liebe zur Geschwindigkeit verdankt Valentino auf jeden Fall seinem Vater. Auch eine gewisse Exzentrik und die starke Persönlichkeit hat er von ihm geerbt. Graziano war früher Lehrer, hat viel für Literatur und insbesondere für Alberto Moravia übrig und kultiviert seit jeher einen eigenwilligen Look: die Haare im Nacken zusammengebunden, Hemd und Hosenträger. In jungen Jahren sorgte er zusammen mit seinen Freunden für Aufsehen, als er eine Henne an der Leine durch die Straßen von Pesaro spazieren führte. Noch heute macht er nichts so, wie es alle anderen machen. Wenn er zum Beispiel seinen Sohn bei einem Grand-Prix-Rennen besucht, bucht er kein Hotelzimmer, sondern schläft lieber auf einer Matratze im Kofferraum seines BMW-Kombi – und nicht nur wegen seiner notorischen Knauserigkeit. „Ich bin froh, dass ich diese Alternative habe und nicht so wohnen muss wie die Leute, die bei den Grand-Prix-Events arbeiten“, erläutert er. „Ich habe keine Lust, ein Wohnmobil zu fahren, aber im Hotel will ich auch nicht schlafen. Valentino hat meistens am Abend Zeit. In seinem Wohnmobil möchte ich, obwohl dort Platz genug wäre, aber erst recht nicht übernachten, weil er nie vor ein Uhr ins Bett geht.“ Das alles spricht eindeutig für den Kofferraum des BMW.

Graziano Rossi wird am 14. März 1954 als Sohn eines Möbeltischlers in Pesaro geboren. Seine Mutter ist Hausfrau. Die Motorradleidenschaft packt ihn wie viele junge Leute seiner Generation, die in der Gegend aufwachsen, in den Jugendjahren. Pesaro, wo Benelli seine Motorräder herstellt, hat viele Motorradrennfahrer hervorgebracht. „Pesaro war die Hauptstadt des Motorradsports“, resümiert Graziano. „Überall sonst in Italien träumten die Jungs von einer Fußballerkarriere. Wir dagegen wollten alle Rennfahrer werden.“ Graziano stillt seinen Wettkampfhunger mit Rennduellen, die er sich auf dem Weg zur Schule mit seinen Freunden liefert – „Bergab war ich der Schnellste“, beteuert er – und trifft sich ansonsten mit Stefania Palma, die einmal Valentino zur Welt bringen wird. Stefania, Jahrgang 1957, ist die Tochter einer Krankenschwester und eines Lastwagenfahrers, der genauso motorradbesessen ist wie sein späterer Schwiegersohn. Graziano und Stefania kennen sich von Kindesbeinen an. „Wir waren praktisch Nachbarn“, erinnert sich Stefania. Eine Freundschaft aus Kindertagen verbindet Graziano auch mit einem gewissen Valentino, ebenfalls Motorradnarr. Dank seiner bastlerischen Fähigkeiten ist er in der Lage, aus den unmöglichsten Teilen absolut abenteuerliche fahrbare Untersätze zu bauen. Mit vereinten Kräften schrauben Graziano und Valentino ihre erste Motocross-Maschine zusammen. Mit diesem Gefährt bestreitet Graziano seine ersten Rennen. Seinen Eltern ist bei dem Gedanken, dass ihr Sohn im Rennfahrertempo unterwegs ist, gar nicht wohl. Sobald sie alt genug sind, jobben die beiden Freunde in Kneipen und Bars des Küstenstädtchens, um ihre Leidenschaft zu finanzieren. Dann schlägt eines Tages das Unheil zu: Valentino ertrinkt in der Adria. Graziano ist am Boden zerstört. Er beschließt, zu Ehren des verstorbenen Freundes das gemeinsam begonnene Abenteuer fortzusetzen. Einige Jahre später wird er seinen Sohn nach ihm benennen. „Alle denken, Valentino heißt Valentino, weil er zwei Tage nach dem Valentinstag geboren wurde“, sagt Graziano. „In Wahrheit hieße er auch dann Valentino, wenn er im Dezember zur Welt gekommen wäre.“ Kurioserweise legt Rossi ausgerechnet 1979, im Geburtsjahr seines Sohnes, seine beste Grand-Prix-Saison hin. Nachdem er bereits seit fünf Jahren Rennen fährt, erringt Graziano in der 250-cm3-Klasse auf dem Rundkurs im jugoslawischen Rijeka seinen ersten Weltmeisterschaftssieg. Vier Monate zuvor hat Valentino in Urbino, einer Kleinstadt im Landesinneren einen Steinwurf von Tavullia entfernt, das Licht der Welt erblickt. Im selben Jahr gewinnt Graziano mit einer 250er Morbidelli mit der Nummer 46 zwei weitere Rennen – eines in den Niederlanden und eines in Schweden. Nach zwei weiteren Podiumsplätzen in der Tschechoslowakei und in Spanien belegt der temperamentvolle Italiener schließlich Rang 3 in der Weltmeisterschaft hinter den beiden Kawasaki-Werksfahrern Kork Ballington aus Südafrika und dem Australier Gregg Hansford.

1980 zieht Familie Rossi von Pesaro nach Tavullia in ein Landhaus am Ortsrand an der Straße nach Montecchio. In dem markanten Gebäude mit dem riesigen Hochspannungsmast im Garten lebt Graziano noch heute mit seiner zweiten Frau Lorena, der Mutter von Tochter Clara. Stefania arbeitet als Vermesserin in der Gemeindeverwaltung. Graziano treibt seine Karriere voran. Zwei Jahre zuvor haben sich die beiden das Jawort gegeben. „Er war damals rekonvaleszent“, erzählt Stefania, „und erholte sich von einem Sturz, bei dem er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er heiraten wollte. Wir waren zu jung. Diese Ehe konnte nicht von Dauer sein.“ Zehn Jahre später lassen sich Graziano und Stefania scheiden. Auch sie heiratet ein zweites Mal und bringt ein weiteres Kind zur Welt: Luca Marini, Valentinos Halbbruder. Auch ihn packt das Motorradfieber. Luca ist Mitglied der VR46 Academy und Grand-Prix-Fahrer in der Moto2. Ende der 1970er-Jahre hat sich Graziano Rossi einen Namen gemacht und steigt nach drei Siegen in der 250-cm3-Klasse in die 500-cm3-Klasse auf. Fortan gehört er zum Team Suzuki von Roberto Gallina. Unglückseligerweise macht ein Autounfall im Januar 1980 den Schwung, den seine Karriere gerade aufnimmt, zunichte. Statt seiner brilliert Marco Lucchinelli auf der RGV 500, dem Motorrad des italienischen Teams. 1982 wechselt der Rennfahrer aus Tavullia ins Team von Giacomo Agostini. Er ist immer noch schnell, steht aber im Ruf, ein Hitzkopf zu sein. Die anderen Fahrer wissen das und kommen dem Italiener nicht zu nahe, weil der es fertigbringt, jeden Moment ohne Fremdeinwirkung zu Boden zu gehen. „Wir waren immer auf der Hut, wenn er vor uns fuhr“, berichtet Kenny Roberts, einer seiner Kontrahenten bei den 500er-Grand-Prix-Rennen. „Wenn man ihn überholen wollte, war man gut beraten, weit auszuholen und ihm genug Platz zu lassen.“ An diese Zeiten hat Valentino natürlich keine Erinnerung, aber die Loblieder auf den ungestümen Fahrstil seines Vaters hat er im Ohr: „Ihm war wohl zuzutrauen, bei einem Rennen mit mehreren Sekunden Vorsprung in Führung zu liegen und ein paar Kilometer vor dem Ziel ganz ohne fremdes Zutun eine Bauchlandung hinzulegen.“ Nach einem Sturz bei 230 km/h in Imola fällt Graziano ins Koma. Der Arzt Claudio Costa rettet ihm das Leben.

Nachdem er sich von diesem schlimmen Unfall erholt hat, beschließt Graziano, seine Haare wachsen zu lassen – erst als sein Sohn den Weltmeistertitel in der 500-cm3-Klasse holt, wird er seinen legendären Zopf abschneiden – und seine Rennfahrerkarriere zu beenden. Stefania, die seit Langem keine ruhige Minute mehr hat, ist sehr erleichtert. Ganz vom Motorradmilieu lassen will Rossi Senior allerdings nicht: Immer wieder besucht er seine Rennfahrerfreunde an der Strecke oder lädt sie zu ausgiebigen Familienabenden zu sich nach Hause ein. „Ich habe nie so einen Bekanntheitsgrad erreicht wie Valentino. Ich brauchte mich nicht zu verstecken und hatte keinen Fanclub“, erläutert Graziano, der bis heute seinen Hippie-Look pflegt und kaum Falten hat. „Ich hatte genau fünf Freunde.“ Grazianos Popularität gehört zwar recht bald der Vergangenheit an, aber der kleine Valentino genießt sie in vollen Zügen. Marco Lucchinelli, Franco Uncini, Virginio Ferrari, Loris Reggiani, Maurizio Vitali, Enzo Gianola und Luca Cadalora gehören für ihn zu den vertrauten Menschen seiner frühen Kindheit. Sein Vater fährt zwar keine Rennen mehr, macht sich aber weiterhin in seiner Werkstatt zu schaffen.

So kommt es, dass Valentino schon als Dreijähriger auf seinem ersten motorisierten Zweirad sitzt. Der Vater bemerkt dazu: „Man brauchte ihm nicht viel zu sagen. Er war sehr aufmerksam und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Den Rennfahrerinstinkt hatte er da bereits.“ Stefania ist zunächst alles andere als begeistert von der Idee, dass ihr kleiner Junge zum Motorradfahrer wird, merkt aber bald, dass Valentino eben nicht Graziano ist. „Ich hatte Angst“, erinnert sie sich, „aber dann sah ich, dass er das alles mit einer großen Selbstverständlichkeit anging. Wenn Graziano Rennen fuhr, machte ich mir mehr Sorgen. Deshalb war ich übrigens nie bei den Rennen dabei.“ Während die Mutter sich wünscht, dass ihr Sohn etwas Ordentliches lernt und kein Geschwindigkeitsfanatiker wird, zeigt der Vater seinem Sohn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie man auf zwei oder vier Rädern Spaß hat. Diese Welt zieht Valentino schnell in ihren Bann. Er reißt, ohne mit der Wimper zu zucken, das Vorderrad seines Fahrrads in die Höhe und ahmt akrobatische Kunststücke nach, die er sich bei Rennen im Fernsehen abgeschaut hat. „Dabei habe ich dann auch meinen ersten heftigen Sturz gebaut“, erzählt er. „Das war 1984. Ich hatte kurz zuvor gesehen, wie Randy Mamola auf seiner 500er Honda – eigentlich eher neben ihr – eine unglaubliche Rodeo-Einlage ablieferte. Zu Hause wollte ich dann genau das Gleiche mit meinem BMX-Rad machen, und das ging übel aus.“ Irgendwann wird selbst Graziano etwas mulmig angesichts der halsbrecherischen Aktionen seines Sohnes. Er baut ihm ein Gokart, das deutlich mehr Stabilität bietet. Sich mit einem Rasenmähermotor zu begnügen, mit dem die Modelle, die man auf den Gokartbahnen der Umgebung mieten kann, normalerweise ausgerüstet sind, kommt allerdings nicht infrage. Graziano baut einen 100-cm3-Motor in ein verstärktes Chassis ein, und Valentino erlernt die Kunst des Driftens und Gegenlenkens. „Mit Loris Reggiani und ein paar anderen bretterten wir regelmäßig mit alten Opel Asconas oder Ford Escorts über unbefestigte Pisten“, erzählt Graziano. „So verrückt es klingt: Wir haben es nicht geschafft, so schnell zu fahren wie Valentino mit seinem Gokart.“ Auch Reggiani kann sich gut an diese Zeiten erinnern: „Valentino war immer mit von der Partie“, bestätigt der ehemalige italienische Motorradrennfahrer. „Er war ganz klar ein großes Talent – sowohl auf zwei als auch auf vier Rädern. Er hatte einen unglaublichen Gleichgewichtssinn und dazu die Mentalität eines Anführers. Er musste sich pausenlos in alles und jedes einmischen. Er hatte den Willen und auch die Kraft, sich zum Mittelpunkt einer Welt zu machen, die sich dann um ihn zu drehen hatte.“ Wenn sein Vater einmal nicht mit ihm zur Gokartbahn fährt oder das Wetter so schlecht ist, dass der Motor nicht anspringen würde, sitzt Valentino stundenlang gebannt vor dem Fernseher und führt sich Motorrad- oder Formel-1-Rennen zu Gemüte. Seine Helden heißen Kevin Schwantz, Ayrton Senna, Alain Prost, Loris Capirossi, Nigel Mansell, Doriano Romboni. „Mein Favorit war Kevin Schwantz“, verrät Vale. „Deshalb trug ich auch einen Kevin-Schwantz-Helm. Ich bewunderte seinen spektakulären Fahrstil und das optische Styling seiner Motorräder – vor allem in dem Jahr, in dem er mit der Pepsi-farbenen Suzuki antrat.“

Bei dieser „Ausbildung“ hat das schulische Lernen das Nachsehen. Das Problem ist nicht, dass der kleine Valentino den Anforderungen nicht gewachsen wäre. „Er ging in Tavullia zur Grundschule, aber das Lernen machte ihm keinen großen Spaß“, berichtet Stefania, die es gern gesehen hätte, wenn ihr Sohn Ingenieur geworden wäre. „Er war aber begabt und hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Um ihn zum Arbeiten zu bewegen, las ich ihm aus seinen Büchern vor, während er es sich auf dem Sofa oder Bett gemütlich machte. Auch später auf der Oberschule war deutlich zu spüren, dass er sich für die Schule nicht besonders interessierte. Er machte seine Hausaufgaben, aber keinen Strich mehr.“ Für Valentino ist die Schule vor allem der Ort, an dem er mit seinen Kumpels zusammen ist, während sein Zuhause für den Traum steht, den die Freunde seines Vaters verkörpern. Getrieben von seiner angeborenen Neugier, folgt er ihnen auf Schritt und Tritt. Bei jeder Gelegenheit fragt er ihnen Löcher in den Bauch. „Er war erst vier oder fünf Jahre alt“, erinnert sich Graziano. „Aber er gab niemals Ruhe. Das ging so weit, dass sich Loris oder die anderen unauffällig verdrückten, sobald er aufkreuzte.“ In der Schule ist Valentino auf andere Weise in seinem Element – allerdings weniger im Klassenraum als vielmehr auf dem Pausenhof. Vale hat bereits damals einen Clan um sich geschart, der praktisch unverändert bis heute existiert. Der ehemalige Bürgermeister von Tavullia, Bruno Del Moro, kennt die Jungs gut, weil er lange Zeit Dorfschullehrer war. „Als sich seine Eltern 1990 trennten, meldete seine Mutter ihn in der Schule in Pian del Bruscolo in der Nähe von Montecchio an“, erinnert er sich. „Aber Valentino schaffte es, den Kontakt mit seinen Kameraden nicht abbrechen zu lassen. Mehrmals musste ich Briefe konfiszieren, die Vale über seinen Mittelsmann Uccio den Mädchen schickte, die in Tavullia zur Schule gingen. Der Inhalt war mitunter ganz schön freizügig.“ Del Moro tituliert die Clique liebevoll als „Horrorschüler“. „Man sah ihnen an der Nasenspitze an“, sagt Del Moro, „dass keiner von ihnen Lust hatte zu lernen.“ Maria Antonietta Donati unterrichtete Valentino von seinem neunten bis zu seinem elften Lebensjahr. Sie kann sich gut an diese beiden Jahre erinnern, die sie gern als die beste Zeit ihres Berufslebens bezeichnet. Eine respektvolle, aber lebhafte Klasse. „Valentino war sehr aufgeweckt“, berichtet sie. „Er kam auch dann gut zurecht, wenn er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Seine Aufsätze waren ausgesprochen kurz und immer witzig. Darauf war stets Verlass. Im Unterricht war sein Betragen immer vorbildlich. Vale war schon damals bei allen beliebt. Er verstand sich mit jedem gut und war vielseitig interessiert, spielte sehr gerne Fußball und Gitarre.“ Sein Banknachbar Uccio Salucci und er sind schon damals unzertrennlich. „Ich weiß heute nicht mehr so genau, was sie an den Nachmittagen getrieben haben“, erzählt die Lehrerin weiter. „Ich habe ihnen jedenfalls immer wieder eingeschärft, dass Landstraßen keine Rennstrecken sind.“ In den beiden Jahren, in denen Signora Donati in Tavullia unterrichtete, wurde die Klasse gleich dreimal vom Unglück heimgesucht: Ein Mädchen erstickte an dem Kohlenmonoxid, das aus dem heimischen Kamin austrat, und zwei Jungen kamen bei Verkehrsunfällen ums Leben.

Nach der Scheidung der Eltern macht Valentino einen Sprung in seiner charakterlichen Entwicklung. Er wird selbstsicherer und unabhängiger. Seine Begeisterung für Wettkämpfe nimmt weiter zu. Nachdem er sein Talent beim Gokart-Fahren bereits gezeigt hat, entdeckt der Rossi-Clan 1989 das Pocket Bike, das damals schlagartig populär wird. An der Küste werden mit Strohballen improvisierte Rundkurse angelegt. Überall schießen Pocket-Bike-Vermietungen aus dem Boden. Im Sommer kann man mit den Mini-Motorrädern zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit Rennen veranstalten. Häufig liefern sich junge Leute nach dem Besuch eines der vielen Nachtlokale an der Adriaküste Rennduelle am Strand. Bei den Rossis steht eine Entscheidung an. Der Vater träumt nach wie vor von Autorennen. Auch für den Sohn hat dieser Traum bereits konkrete Züge angenommen. „Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, in dem wir beschlossen haben, dass ich den Motorradrennsport anpeilen werde“, erzählt Valentino, der in früheren Jahren Formel-1-Weltmeister hatte werden wollen. „Ich war 13 Jahre alt. Zwei Jahre war ich abwechselnd Gokartrennen und Pocket-Bike-Rennen gefahren. Gokart-Fahren ist vor allem in der Anfangsphase die seriösere Angelegenheit, weil es auch auf niedrigem Leistungsniveau schon recht professionell zugeht. Als Knirps findet man das Fahren auf vier Rädern prestigeträchtiger – vielleicht weil man noch klein ist und sich auf einem vierrädrigen Gefährt wichtiger vorkommt. Für mich jedenfalls war das Gokart-Fahren eine ernsthafte Sache, während ich das Motorradfahren eher als Spiel betrachtete. Nach und nach hatte ich trotzdem genug vom Gokart-Fahren. Im Winter 1992 war ich mit meinem Vater im Auto zwischen Tavullia und Cattolica unterwegs. Wir schwiegen. Irgendwo auf der Höhe von San Giovanni in Marignano sagte ich: Warum fahren wir eigentlich nicht Motorradrennen? Nie werde ich den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen. Zum einen freute er sich, denn das Motorrad war immer seine große Leidenschaft, auf der anderen Seite spürte ich seine Sorge, weil Motorradfahren viel gefährlicher ist als Gokart-Fahren. Und was meine Mutter dazu sagen würde, konnte ich mir lebhaft vorstellen …“ Den Ausschlag für das Motorrad gibt schließlich der wirtschaftliche Aspekt. „Diese kleinen Maschinen kosteten nicht viel. Eine Karriere als Autorennfahrer ist eine ganz andere Hausnummer“, erläutert Graziano. „Die kostete damals und kostet auch heute noch ein Vermögen. Schließlich müssen die Fahrer für ihren Platz hinter dem Steuer meistens bezahlen. Dazu hatten wir nicht das Geld. Deswegen entschieden wir uns für den Motorradsport. In diesem Bereich versprach Valentino sehr erfolgreich zu werden.“ Rossi übernimmt die Nummer 46, mit der sein Vater zu seinem ersten Grand-Prix-Sieg fuhr, setzt sich seinen Helm im Kevin-Schwantz-Design auf, den er mit seinem Lieblings-Ninja-Turtle verziert hat, und bestreitet 1991 sein erstes echtes Rennen. Noch im gleichen Sommer legt er insgesamt 15 Siege hin – ganz so, als hätte der Bursche die Umlaufbahn gefunden, in der er als strahlend heller Stern aufgehen sollte.

Diese mitunter unkontrollierbare Energie, die allen, die ihm nahestehen, immer wieder zu schaffen macht, hat sich Valentino bis heute bewahrt. „Er hatte immer seinen eigenen Kopf“, bestätigt Carlo Pernat. Der Italiener hat den Tag nicht vergessen, an dem er bei Aprilia fast seinen Hut nehmen musste wegen des jungen Rossi, der damals gerade seinen ersten Weltmeistertitel geholt hatte. Das war im Herbst 1997, ein paar Wochen nach dem letzten Grand Prix. In dem Jahr war Jacques Villeneuve mit seinem Williams-Renault Weltmeister in der Formel 1 geworden. Valentino ist ein eingefleischter Fan des kanadischen Rennfahrers. Sein großer Traum: Er möchte Villeneuve unbedingt persönlich kennenlernen. Jeden Tag drangsaliert er Carlo Pernat mit der Bitte, ein Treffen zu arrangieren. Aprilia und Renault verhandeln damals gerade über ein Co-Branding-Projekt und planen die gemeinsame Produktion eines Motorrollers. Dem Chef des italienischen Renndienstes gelingt es, anlässlich der Preisverleihung der „Caschi d’Oro“ – der „Goldenen Helme“ – im Rahmen der Motor Show in Bologna eine Abendveranstaltung auf die Beine zu stellen. „Wir hatten alle hohen Tiere von Renault und endlos viele Journalisten eingeladen“, erzählt Carlo. Das Fernsehen war da. Und wer war nicht da? Valentino. Um 20 Uhr waren alle auf der Suche nach Valentino. Er war verschwunden, mit seinen Kumpels oder einem Mädchen verduftet … Genaueres habe ich nie erfahren. Er hat mir nie auch nur die geringste Erklärung geliefert. An dem Tag hätte man mich um ein Haar an die Luft gesetzt.“

Valentino war immer schon ein Langschläfer. Selbst vor einem Grand-Prix-Rennen bringt er es fertig, bis in die frühen Morgenstunden wach zu bleiben und im Paddock herumzugeistern. Nicht selten muss man an die Tür seines Wohnmobils klopfen, damit er die Testläufe nicht verschläft. Rossano Brazzi, sein Chefmechaniker zu Aprilia-250-Zeiten, erinnert sich an ein Rennen, bei dem Valentino fast das Warm-up versäumte: Brazzi will sein Motorrad einstellen und wartet auf ihn, schließlich muss er ihn am helllichten Tag lautstark aus dem Bett trommeln, damit er sich in seine Lederkombi wirft. In seiner ersten Saison im 500er-Grand-Prix passiert ihm das gleiche Missgeschick in Barcelona. In dem Jahr ist Graziano für den Weckdienst zuständig. Unglücklicherweise kommt auch der Vater nur schwer aus den Federn. Valentino braucht ein bisschen länger zum Anziehen und kann nur noch ein paar Runden fahren, bevor das Warm-up zu Ende ist. Damit sich das nicht wiederholt, bittet er inzwischen seinen Chefmechaniker, ihn jeden Morgen aus dem Bett zu holen. „Ich habe einen ungewöhnlichen Stoffwechsel“, erklärt er. „Das ist übrigens auch der Grund, warum ich nie Probleme mit der Zeitverschiebung habe, wenn ich in der Welt unterwegs bin. Ich habe eine innere Uhr, die dafür sorgt, dass meine Lebensgeister immer am Nachmittag erwachen. Es stimmt, dass ich morgens nur langsam anlaufe und mich erst schlafen lege, wenn andere Leute zur Arbeit aufbrechen. Es stimmt auch, dass das absolut nicht der Rhythmus ist, den man bei einem Spitzensportler vermuten würde, aber es bedeutet nicht, dass ich ungesund lebe, trinke und esse, was ich will, oder nicht trainiere. Ich gehe einfach am Nachmittag in den Fitnessraum und nicht am Vormittag. Ich war schon immer gerne nachts wach. Da ist es – zumal auf den Rennstrecken – ruhig, und ich kann mich obendrein frei bewegen, ohne erkannt zu werden.“ In jungen Jahren handelt sich Rossi mit seiner Morgenmüdigkeit immer wieder Probleme ein, insbesondere nach dem Schulwechsel, als er auf einmal ins zehn Kilometer entfernte Pesaro fahren muss. Den Bus zu erwischen, ist immer wieder ein Drama. Unzählige Male muss Stefania ihn zur Schule fahren, weil er den Bus verpasst hat oder weil sein Motorroller gerade wieder in der Werkstatt ist. In der dunklen Jahreszeit kommt noch die Kälte dazu.

Deshalb kommt Valentino auf die Idee, sich eine Ape zuzulegen – jenes dreirädrige Kultmobil aus dem Hause Piaggio. Der Schlafgewinn ist beachtlich. Außerdem macht es Spaß, auf dem Weg in die Stadt die Straße als Rennstrecke zu nutzen. Hinzu kommt, dass das Gefährt eine Fahrgastzelle hat, die ihn im Winter praktischerweise vor dem für die Gegend typischen Nieselregen schützt. Die Idee findet bei seinen Klassenkameraden rasch Nachahmer, sodass sich die Landstraßen um Tavullia innerhalb kurzer Zeit in einen noch aufregenderen Tummelplatz verwandeln als zu Zweiradzeiten. Immer mehr wilde Wettrennen werden ausgetragen. Valentino erlangt allmählich eine gewisse Bekanntheit – vor allem bei den Carabinieri, die seine Teufelsritte kritisch beäugen und es auch nicht gerne sehen, dass die Fahrzeuge mit 140-cm3-Motoren bis zum Anschlag aufgemotzt werden. „Unser Verhältnis zur Dorfpolizei war immer ein bisschen speziell“, gibt Rossi zu. „Wir haben nie geklaut und uns nie als Hooligans aufgeführt. Wir fuhren einfach gerne schnell und hatten unseren Spaß daran, Räuber und Gendarm zu spielen.“

Alles fing an, als Valentino und die anderen Cliquenmitglieder einer nach dem anderen ihren 14. Geburtstag feierten. „Endlich durfte ich ganz offiziell mit einem Motorroller auf der Straße fahren und musste mir die Benelli von meinem Vater nicht mehr heimlich ausleihen“, erzählt er. Uccio, der ein paar Monate jünger ist, erbt eine Aprilia SR 50 Reggiani Replica. Valentino bekommt eine Viper in Gelb und Violett. „Die waren großartig“, erinnert sich Valentino, „und sahen aus wie MotoGP-Maschinen.“ Die Roller werden im Nu entdrosselt und bringen danach genug Leistung, damit die Jungs auf den Straßen der Umgebung an ihren Bestzeiten arbeiten können. „Zylinder, Vergaser, Getriebe, Auspuff – alles wurde umgebaut. Wir werkelten an der Aufhängung und zogen japanische IRC-Reifen auf“, erinnert sich Vale. „So kamen wir auf 100 Stundenkilometer. Entsprechend häufig blieben wir allerdings auch liegen.“ Jeder Straßenabschnitt wird zur Rennstrecke umfunktioniert, vor allem die berühmte, asphaltierte und 22 km lange Panoramica, die Gabicce Monte und Pesaro miteinander verbindet und seit je die Motorradfreaks aus der Gegend anzieht. „Damals“, so Valentino weiter, „haben sich die Mädchen nicht für uns interessiert. Sie standen mehr auf ältere und reifere Kerle. Wir hatten also nach der Schule nichts anderes zu tun, als uns Wettrennen zu liefern.“ Wenn er sich abends von seinen Kumpels in Tavullia verabschiedet, kann er die sechs Kilometer bis Montecchio, wo er mit seiner Mutter lebt, ganz allein im Kampf gegen die Uhr zurücklegen. „Es heißt, da hätte ich meine Fahrkünste erworben“, schmunzelt er. Der Chef der Carabinieri schließt Frieden mit ihm, als er 1997 seinen ersten Weltmeistertitel holt. Im selben Jahr entdeckt der Heranwachsende die Freuden des Party-, Bar- und Nachtlebens. Dabei schlägt er bisweilen über die Stränge: Mit Freunden – und im Beisein seines Vaters – feiert er seinen ersten Titel, kurz bevor er nach Indonesien aufbricht. Nachdem er das eine oder andere Glas geleert hat, baut er auf dem Heimweg einen Unfall mit einem Porsche 928, den Graziano testen sollte. Er verletzt sich am Kopf und wickelt sich, als er nach dem Sieg im indonesischen Sentul aufs Podium klettert, zum Spaß einen Verband um den Kopf. Noch einmal mit dem Schrecken davongekommen.

Während die Ordnungshüter Valentino auf dem Kieker haben, genießt er bei der Kirche und beim Dorfpfarrer Don Cesare hohes Ansehen. Der Pfarrer ist des Lobes voll für Valentino: „Er ist von Grund auf ein guter Mensch“, sagt er. „Man hört ihm gerne zu, und er hat es vor allem verstanden, bescheiden zu bleiben. Ihm ist der Ruhm nicht zu Kopf gestiegen. Der Sport ist für ihn nach wie vor so etwas wie ein Spiel. Er hat sich die Offenherzigkeit eines kleinen Jungen bewahrt und verhält sich, wie ein Vorbild es sollte. Er ist bis heute mit der Gruppe von Menschen zusammen, mit der er groß geworden ist und mit der ihn echte Freundschaft verbindet.“ Vor einigen Jahren herrschte im Dorf eine allgemeine Flaute. „Valentino hat dem Dorf wieder Leben eingehaucht“, bekräftigt der Kirchenmann. „Wirtschaftlich war das für uns ein Segen, denn der Tourismus beschränkte sich auf die Küste. Hierher verirrte sich kein Tourist.“ 2003 reiste der Pfarrer mit dem Fantross nach Deutschland. Valentino führte ihn durch die Boxen und stellte ihn allen vor. Der Fanclub hatte aus gegebenem Anlass einen Campanile aus Pappmaschee gebaut und das Glockengeläut von Tavullia aufgenommen, um es über die Lautsprecheranlage auf dem gesamten Gelände des Sachsenrings erklingen zu lassen. Valentino kam aber nur als Zweiter ins Ziel, und die ganze Inszenierung fiel aus. Für Don Cesare war dieser Ausflug unvergessliches Erlebnis. In seinem Arbeitszimmer ist seine Motorradpassion übrigens seit jeher ebenso präsent wie sein Priesteramt: Unter einem Papierstapel lugt das Magazin des Fanclubs hervor; an der Wand hängen eine Ikone des Märtyrers San Pio, dessen Reliquien in seiner Kirche aufbewahrt werden, und direkt darunter eine Zeichnung, die Rossi auf seinem Motorrad zeigt. Draußen hat ein Unbekannter in die Kirchenmauer die Abkürzung WLF geritzt, die der Held am Kragen seines Leder-Rennanzugs trägt und die für „Viva la figa“ steht – eine Huldigung an das weibliche Geschlechtsorgan. Der Pfarrer nimmt daran keinen Anstoß. Es scheint, als vertraue er Valentino blind. Für Don Cesare sind die Jahre viel zu schnell vorbeigegangen. Er erinnert sich genau, wie er in den umliegenden Dörfern die Kinder zum Bibelunterricht versammelte. Seine Stimme ist inzwischen etwas zittrig geworden, aber sein Gedächtnis ist ganz klar. Vale war für ihn schon immer ein Junge mit Hummeln im Hintern. „Ich weiß, dass er auch ein sehr guter Radfahrer war“, erzählt er. Geschickt, flink und nicht aufzuhalten – für viele trifft diese Beschreibung bis heute auf Valentino zu. Auch seine Mutter sieht das so: „Genau wie mir ist ihm Freiheit sehr wichtig“, betont sie. „Ich rufe ihn oft an, aber viele Worte machen wir nicht. Er begreift schnell. Oft hat er die Antwort schon parat, bevor ich meine Frage überhaupt gestellt habe.“ Stefania erklärt auch, warum er sich in Tavullia so wohlfühlt: „Seine Freunde stellen keine Ansprüche an ihn“, stellt sie fest. „Neue Freundschaften zu schließen findet er schwierig, denn da muss man etwas investieren und behutsam vorgehen. Dazu hat er weder Zeit noch Lust. Außerdem fühlt er sich hier geborgen. Hier ist der einzige Ort auf der Welt, wo er leben kann wie jeder andere auch.“

Rossi

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