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II. ÜBUNG MACHT DEN MEISTER
Оглавление„Ich war immer schon Motorradfahrer – selbst wenn ich auf dem Gokart saß. Schon als ich zweieinhalb Jahre alt war und noch nicht einmal Fahrrad fahren konnte, träumte ich vom Motorradfahren. 1982 kaufte mir mein Vater ein Mini-Cross-Motorrad. Er fuhr damals Autorennen, hatte seine Grand-Prix-Karriere nach einem schweren Unfall in Imola aufgeben müssen. Zu jener Zeit waren diese Kleinmotorräder das Einzige, was es im Handel gab. Meine Rennstrecke waren das Haus und der Garten. Mit diesem Mini-Cross-Motorrad fing alles an. Damals begannen meine Renn- und Wettkampfleidenschaft und mein Spaß daran, mich mit anderen zu messen.“
Anfang der 1990er-Jahre kommt in Italien das Pocket Bike groß in Mode. „Ich sah diese Maschinen und wollte sofort eine haben“, erinnert sich Valentino. „Ich bin meinem Vater so lange auf die Nerven gegangen, bis er mir ein Pocket Bike gekauft hat. Ich sehe es noch vor mir: Es war schwarz und sah aus wie die Honda Elf von Ron Haslam.“ Kaum hatte er sich zum ersten Mal auf sein neues Spielzeug gesetzt, bekam ihn niemand mehr herunter. Mit angeklebten Knieschützern raste Valentino über den Asphalt. Er war einer von vielen kleinen Jungs, die von früh bis spät Parcours unsicher machten, die bis dahin für ferngesteuerte Modellautos reserviert gewesen waren, und Supermarktparkplätze mit Strohballen in Rennplätze verwandelten. Auf das bloße Fahrvergnügen folgte bald das erste Rennen. „Das war im Sommer 1991 in Miramare“, erzählt Rossi. „Vielleicht war das sogar eines der ersten Rennen in der Geschichte des Pocket Bikes überhaupt. Ich erinnere mich noch gut an die etwas verrückte Atmosphäre und an die Beleuchtung, denn es war schon Abend. Wir fuhren wie jeden Mittwochabend in Cattolica und anschließend nach Miramare. Es waren wahnsinnig viele Zuschauer da, als ginge es um die Weltmeisterschaft. Wir waren 20 Fahrer am Start, und ich war selbst am meisten überrascht, dass ich als Erster ins Ziel fuhr. Bis dahin war ich noch nie der Schnellste gewesen.“ Im gleichen Sommer gewinnt Vale an die 15 Rennen. Er trägt bereits die Nummer 46, mit der sein Vater 1979 zu seinem ersten Grand-Prix-Sieg gefahren war, und auf dem Kopf stolz seinen Arai-Helm (einen Kevin Schwantz Replica), den er mit seinem Lieblings-Ninja-Turtle beklebt hat. Dieses Maskottchen ist bis heute sein ständiger Begleiter – als Bauchtattoo und als Motorradlackierung. Die Pocket-Bike-Begeisterung in Italien war für Valentino Rossis Karriere ein wichtiger Faktor. Das Gleiche gilt im Übrigen für Marco Melandri und Manuel Poggiali, zwei weitere italienische Weltmeister. „Als ich im Dezember 1989 zum ersten Mal auf der Strecke in Cattolica fuhr, war Melandri schon da“, erinnert sich Valentino. „Er war erst sieben und schon ein Phänomen. Das Pocket Bike hat mir enorm viel gebracht. Wir traten zu viert oder fünft gegeneinander an, stießen mit der Verkleidung aneinander und touchierten uns in jeder Kurve. Dadurch habe ich gelernt, aggressiv und kämpferisch zu fahren und an den anderen vorbeizuziehen. Das Pocket Bike war auch deswegen ein gutes Fahrtraining, weil wir häufig auf holprigem und rutschigem Untergrund fuhren. Diese Maschinen waren zwar klein, aber schwer zu bändigen.“
Schon zu dieser Zeit verblüffte Valentino alle Welt mit seiner Intelligenz, Begeisterung und Neugier. Er probierte alles aus, was es auszuprobieren gab, bekam jede Schwierigkeit in den Griff und erprobte seine Fahrkünste auf Rennstrecken, die noch niemandem in den Sinn gekommen waren. Diese Art, sich mit einer Sache in allen ihren Facetten auseinanderzusetzen und sich nicht einfach nur von dem Impuls leiten zu lassen, den Nebenmann auf der Rennstrecke zu überholen, sollte ihm während seiner gesamten Karriere erhalten bleiben und seine besondere Stärke ausmachen. „Mich hat immer erstaunt, wie viel Spaß er bei den Rennen hatte“, erzählt seine Mutter Stefania. „Er war immer begeistert – egal, ob er gewann oder nicht. Bei den Gokartrennen hat er wohl auch gelernt, Niederlagen wegzustecken. Er kann sehr enttäuscht sein und in Tränen ausbrechen, wenn er nicht das erreicht, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Aber er verdaut es auch sehr schnell, und dann belastet es ihn nicht länger.“
Ende 1991 steht Familie Rossi vor einer schweren Entscheidung. Valentino fährt nach wie vor Gokartrennen und zusätzlich zu seinem Vergnügen mit Freunden auf dem Pocket Bike. Nachdem er bei der Italien-Meisterschaft in Parma den fünften Platz belegt, steht er mit einem Bein in der EM und in den Startlöchern für eine Karriere als Autorennfahrer. Er ist gerade mal zwölf, und eine viel versprechende Zukunft scheint vor ihm zu liegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sein Vater diese Entwicklungsrichtung immer forciert. Besser als jeder andere weiß er, wie gefährlich man als Rennfahrer auf einem zweirädrigen Untersatz lebt. Das Problem: Gokart-Fahren wird mit der Zeit eine kostspielige Angelegenheit, und Erfolg im Rennsport auf vier Rädern ist aussichtslos, wenn das Geld fehlt. „Auf dem Niveau, das ich erreicht hatte“, erinnert sich Vale, „hätte ich ein Budget von zehn Millionen Lire (rund 50.000 Euro) gebraucht, um mit dem Gokart-Sport weiterzumachen. So viel Geld hätten meine Eltern auch unter größten Opfern nicht aufbringen können.“ Unterdessen entwickelt Valentino eine immer stärkere Leidenschaft für das Pocket Bike, ohne den Erfolg dabei allzu wichtig zu nehmen. „Ich fuhr aus Spaß – genau wie zuvor mit meinem Gokart“, versichert er. „An die Zukunft habe ich dabei überhaupt nicht gedacht, auch wenn ich irgendwo davon träumte, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und Grand-Prix-Fahrer zu werden.“ Auf Drängen des Sohnes votiert Familie Rossi schließlich für das Motorrad. „Wenn ich wirklich auf vier Rädern hätte weitermachen wollen, hätten wir bestimmt eine Lösung gefunden, aber meine Motorradpassion war letztlich stärker. Schlussendlich war die Entscheidung für den Motorradrennsport mein persönlicher Entschluss.“
Das Pocket Bike wird für den Heranwachsenden, der über 1,80 m groß werden wird, schnell zu klein. Valentino überredet seinen Vater, ihn zu einer Testfahrt auf dem Rundkurs von Misano zu begleiten, für die er sich die Aprilia 125 seines Freundes Maurizio Pagano aus Gatteo a Mare ausleiht. „So kam es“, erzählt er, „dass ich an einem normalen Wochentag im November 1992 meine ersten Runden auf einer echten Rennstrecke drehte – mit einer Sportausführung der Aprilia Futura 125, die damals weit verbreitet war.“ Selbst in der Gegend von Rimini sind die Tage im November eher kühl. Davon lässt sich der junge Rossi nicht abschrecken. In einer gelb-roten Lederkombi, die Dainese für seinen Vater angefertigt hatte, und mit dem Arai Schwantz Replica auf dem Kopf legt Valentino mit sichtlicher Begeisterung die ersten Kilometer zurück. „Alles kam mir unendlich vor, weit weg und ganz nah zugleich – die Tribünen, die Kiesbetten, die Hügelketten am Horizont“, erzählt er. „Das war auch das erste Mal, dass ich auf einem Zweirad geschaltet habe … Hinzu kam, dass dieses Motorrad für mich mit meinen 13 Jahren ganz schön groß und schwer war. Es war immerhin ein Straßenmotorrad und wog mit 150 Kilogramm so viel wie eine MotoGP-Maschine.“ Wie benommen von diesem ersten Kontakt mit einem großen Motorrad, lässt Valentino es ruhig angehen. Er versucht nicht, sofort auf Zeit zu fahren, sondern kostet ganz in Ruhe seine ersten Emotionen auf einer 125er-Sportmaschine aus. Mit hellwachen Sinnen nimmt er alle Informationen auf, die ihm zuströmen, und speichert sie ab. Er macht sich ein genaues Bild von den Herausforderungen, die anstehen, und hat keine Zweifel, dass er sie meistern kann und wird. Damit ist die Entscheidung für den Motorradrennsport endgültig besiegelt.
Im Frühjahr 1993 wird es ernst. Valentino hat soeben seinen 14. Geburtstag gefeiert. Damit hat er das gesetzliche Mindestalter erreicht, um in Italien auf einer 125er bei Rennen starten zu können. Auch wenn der Motorradrennsport nicht so kostspielig ist wie Gokart-Fahren, ist doch Einiges an Investitionen für Material und Reisen nötig. Da Graziano Rossi in der Welt des Rennsports nach wie vor gut vernetzt ist, ist es für ihn keine große Mühe, die erste Saison für seinen Sohnemann zu organisieren. Bei Virginio Ferrari stößt er gleich beim ersten Anruf auf offene Ohren. Dem einstigen Vizeweltmeister der 500-cm³-Klasse – inzwischen Teammanager – fällt es nicht schwer, Claudio Castiglioni dazu zu bewegen, Grazianos Sohn unter die Arme zu greifen. Der Chef von Cagiva bietet Valentino einen Platz im Team von Claudio Lusardi an, das bei den italienischen Sport-Production-Meisterschaften das Maß aller Dinge ist. Familie Rossi trägt die Reisekosten und beteiligt sich an den Betriebskosten des Teams, das im Gegenzug das Motorrad und die Ersatzteile zur Verfügung stellt. Das erste Testrennen findet auf dem Rundkurs in Magione auf einer Cagiva Mito statt.
Weil Valentino in Urbino geboren ist, wird er bei der damals in Italien sehr beliebten Sport-Production-Meisterschaft der Gruppe C zugeordnet. Es gibt so viele angehende Rennfahrer, dass man sie nach ihrer Herkunft aus vier geografischen Gebieten einteilt. Valentino hat das Glück, in einer nicht sehr leistungsstarken Gruppe zu landen und nicht in der Gruppe B der Fahrer aus der Emilia Romagna oder in der Gruppe A der Norditaliener. „Das erste Training in einer neuen Wettkampfklasse ist ein Erlebnis, das du nicht vergisst“, erzählt Vale. „Wenn ich an mein erstes Training in Magione zurückdenke, erinnere ich mich jedenfalls noch an jede kleinste Kleinigkeit. Ich war alles andere als schnell. Es kam mir so vor, als würde ich in erster Linie gegen mein Motorrad antreten und nicht gegen meine Gegner. Genau wie auf der Aprilia, auf der ich mich in Misano versucht hatte, hatte ich das Gefühl, ein Riesenmonstrum zu steuern.“ Auch Graziano hat diesen denkwürdigen Tag nicht vergessen. „Er fuhr aus der Boxengasse heraus und lag gleich in der ersten Kurve am Boden“, erinnert sich Rossi Senior. „Er schob das Motorrad zurück, wir reparierten es, und er fuhr gleich wieder los … Sechs Runden später stürzte er ein zweites Mal. Wir fragten uns, ob das, was wir taten, die Mühe wert war, oder ob es ein Fehler gewesen war, einen Motorradfahrer aus ihm machen zu wollen … Er war den Tränen nah.“ Entmutigt, mit hängenden Schultern und gesenktem Blick trottete Valentino zu den Boxen zurück. Erst viel später würde er lernen, Anfangsfehler zu analysieren, und erkennen, dass es sinnvoller ist, seine Grenzen in Ruhe auszuloten, ehe man versucht, sie zu überschreiten. Vorerst blieb er dabei, in der Anfangsphase immer die gleichen Fehler zu wiederholen. Das zeigte sich in der 125-cm3-, der 250-cm3- und der 500-cm3-Klasse, aber auch auf vier Rädern beim Ferrari-Test – 180-Grad-Drehung in der ersten Kurve – oder bei der Rallye-Weltmeisterschaft in Großbritannien, wo er in der ersten Wertungsprüfung von der Strecke abkam. „Ich brauchte Zeit, um zu begreifen, dass es keinen Sinn hat, das Pferd von hinten aufzuzäumen“, räumt er ein, „und dass man erst einmal seine Maschine beherrschen sollte, bevor man versucht, mit ihr die Grenzen auszutesten. Aber ich gebe zu, dass ich in dem Moment damals ein bisschen entmutigt war.“ Sein Vater ist zwar auch beunruhigt und wird von Zweifeln geplagt, versucht aber trotzdem, Valentino wieder aufzurichten. „Das hier kann dein Beruf werden, wenn du es wirklich willst“, redet er ihm gut zu. „Solche Momente, in denen du die Kraft aufbringen musst, zu reagieren und zu zeigen, ob du stark oder schwach bist, sind die wichtigsten Momente im Leben eines Rennfahrers.“ Valentino bringt diese Kraft auf, als er bei seinem ersten Rennen Neunter wird, und er wird sie im Verlauf seiner Karriere immer wieder aufbringen und damit alle Stürze, die seinen Weg an die Spitze begleiten, vergessen machen. „Neben der Angst vor der Niederlage ist es die Entschlossenheit, die einen großen Champion ausmacht“, sagt Jeremy Burgess. Der australische Techniker betreute Rossi seit seinem Debüt in der Königsklasse bis 2013.
Von nun an sind die Weichen gestellt. Trotz vieler weiterer Stürze lernt Valentino in seiner ersten Saison in der 125er-Sport-Production-Meisterschaft ständig hinzu. Dennoch kommt er für seinen Geschmack nicht schnell genug voran. „Ich trat im Kreis der Top Ten auf der Stelle. Erst zum Jahresende wurde ich ein bisschen schneller“, berichtet er. Auf dem Rundkurs in Binetto fährt Rossi um seinen Einzug ins Finale der italienischen Meisterschaft. Trotz eines Sturzes in der Qualifikation passiert er die schwarz-weiß karierte Zielflagge als Sechster. Das reicht für einen Startplatz beim Finale in Misano. Valentino rechnet sich gute Chancen aus, schließlich ist er mit dem Terrain in Misano, wenige Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt, bestens vertraut.
Alle gehen davon aus, dass Roberto Locatelli mit einer Aprilia, die vom Werk in Noale vorbereitet wurde, und Andrea Ballerini, sein Teamkollege aus dem Rennstahl Lusuardi, den Titel unter sich ausmachen werden. Ballerini hat zwei Maschinen – eine wurde vom Cagiva-Rennservice, die andere von Claudio Lusuardi vorbereitet. Das Material, das Rossi für seine erste Saison in der Sport-Production-Klasse mitbringt, kann da nicht mithalten. Als sein Teammanager ihm anbietet, mit dem Zweitmotorrad von Ballerini zu fahren, reibt sich Valentino die Hände. Nachdem er bislang noch bei keinem Qualifikationsrennen glänzen konnte und im Rennen oft schneller ist als bei den Tests, erobert er sich jetzt die Poleposition. Es ist das erste Mal. „Leider war ich am Startgitter dermaßen aufgeregt, dass ich den Start komplett vergeigt habe. In die erste Kurve ging ich schon nur noch als Zwanzigster”, erzählt er. Ballerini und Locatelli kann er zwar nicht mehr einholen, aber einen Platz auf dem Podest erkämpft er sich trotzdem. „Seit diesem Tag“, fügt Rossi hinzu, „hat Misano für mich einen ganz besonderen Zauber.“
Loris Reggiani hatte den Sohn seines Freundes Graziano bei einigen Rennen beobachtet und erinnert sich, dass Valentino alles daransetzte, sich einen Namen zu machen: „Sein Motorrad war nicht trendy, aber davon ließ er sich nicht beirren. Er fuhr sehr aggressiv und versuchte die unmöglichsten Manöver. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er den anderen etwas voraus hatte. Auch wenn damals nicht absehbar war, was für eine Karriere er hinlegen würde, merkte man, dass er das Zeug dazu hatte, es ziemlich weit zu bringen.“
1994 wird Valentino zum offiziellen Cagiva-Piloten befördert. Nachdem Ballerini und Locatelli in die nächsthöhere Klasse aufgestiegen sind, hat der Junge freie Bahn. Graziano denkt trotzdem nicht daran, ihm das Leben leicht zu machen. Obwohl der Rennbetrieb in dieser Phase noch eine Freizeitbeschäftigung ist, stellt der Vater ihm ein ziemlich volles Programm zusammen. Zur Sport-Production-Saison kommt noch eine Teilnahme an der italienischen 125er-Meisterschaft auf einer Sandroni. Die Sandroni ist eine Sonderanfertigung mit einem von Guido Mancini entworfenen Rahmen und einem Rotax-Aprilia-Einzylinder. Peppino Sandroni, der aus Pesaro stammt, gewinnt einige Sponsoren, die die Saison des jungen Rossi finanzieren. „Mein Vater war der Meinung, dass ich meine Zeit verschwenden würde, wenn ich mich noch eine weitere Saison mit der Sport Production begnügte“, berichtet Vale. „Er legte Wert darauf, dass ich möglichst schnell auf ein echtes Rennmotorrad umstieg und mir nicht auf einer Straßenmaschine schlechte Angewohnheiten zulegte. Später wurde mir klar, wie recht er hatte.“ Dennoch ist das Verhältnis zwischen Graziano und seinem Sohn in dieser Zeit nicht immer einfach. Seit der Scheidung seiner Eltern lebt Valentino bei seiner Mutter. Dort hat er mehr Ruhe als in der Zeit, die er bei seinem Vater verbringt, der weniger nachgiebig ist oder es zumindest mit der Einhaltung von Zeitplänen deutlich genauer nimmt. „Ich habe oft das Gegenteil von dem gemacht, was er mir gesagt hat“, räumt Valentino heute ein. „Ein Sohn muss sich von seinem Vater emanzipieren. Das ist normal. Aber wenn seine Ratschläge gut waren, habe ich sie auch befolgt. Ich glaube, dass ich immer zwischen guten und schlechten Ratschlägen unterscheiden konnte.“ Graziano blieb das nicht verborgen: „Ich glaube, er hat mir nie wirklich zugehört. Er neigte eher dazu, das Gegenteil von dem zu tun, was ich ihm sagte. Mit Worten können Eltern ihren Kindern ohnehin nicht viel beibringen. Durch die eigene Haltung können sie ihnen mehr vermitteln. Zum Beispiel glaube ich, dass sich Valentino seine Art, das Leben so zu nehmen wie es ist und sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen, bei mir abgeschaut hat.“ Auch seine Trainingsmethoden hat Valentino seinem Vater zu verdanken. Bevor er die Motor Ranch gründete, verbrachte der Rennfahrer aus Tavullia viele Stunden damit, in einem stillgelegten Steinbruch mit verschiedensten Motorrädern und Autos seine Runden durch den Staub zu drehen. „Driften war immer Grazianos Leidenschaft“, erinnert sich Valentino. „Mit der ganzen Bande haben wir uns stundenlang Duelle geliefert, das Driften trainiert und geübt, wie man den Drift mit dem Gaspedal lenkt. Es war seine feste Überzeugung, dass man auf diese Weise am besten lernte, wie man seine Maschine kontrolliert. Damit war er seiner Zeit weit voraus.“
Im Rahmen der Italienmeisterschaft wurden damals nur fünf Rennen im ersten Halbjahr veranstaltet. In der Sport-Production-Klasse muss Valentino vier Regionalrennen bestreiten, bevor er an vier landesweiten Runden teilnimmt. Mit dem Wechsel zwischen den beiden ganz unterschiedlichen Motorrädern, mit denen er in dem Jahr unterwegs ist, kommt er gut zurecht. Dabei ist die Sandroni nicht gerade einfach zu fahren. Das Entscheidende für Valentino ist allerdings, dass er sich mit einem echten Rennmotorrad vertraut machen und mit erfahrenen Fahrern wie Ballerini und Locatelli, Cremonini oder Omarini messen kann. Rossi wird 14. in Monza, muss in Vallelunga einen Sturz und in Misano einen Mechanikschaden hinnehmen und bekommt Hilfestellung von Aprilia: Carlo Pernat beschließt, Sandroni einen guten Motor zu überlassen. In Mugello wird Valentino daraufhin knapp hinter dem damaligen Grand-Prix-Fahrer Gabriele Debbia Fünfter. In der Sport-Production-Meisterschaft fährt er in Misano seinen allerersten Sieg ein. Er trägt damals die Nummer 26. Beim letzten Rennen genügt ihm der dritte Platz, um sich den Titel zu sichern. Das ist zu schaffen – er ist auf dem Weg dahin, als Stefano Cruciani ihn in der letzten Runde streift und ihm den Podestplatz vor der Nase wegschnappt. Nach Beschimpfungen und Rempeleien wird Cruciani jedoch wegen unsportlichen Fahrens disqualifiziert und muss den dritten Platz Valentino überlassen, der somit Sport-Production-Meister wird. „Diese Saison gehört bis heute zu meinen schönsten Erinnerungen“, versichert er. „Das Ende war zwar turbulent, aber letztlich waren wir ja alle Freunde. Die Stimmung im Fahrerlager war fantastisch. Am Abend waren alle in Partylaune. Wir haben auf den benachbarten Parkplätzen Motorroller-Rennen veranstaltet – ohne Licht, damit uns keiner erwischt … Wir waren alle ein bisschen durchgedreht und haben uns weggeschmissen vor Lachen.“ Die Rennergebnisse und das Talent des jungen Rossi verfehlen nicht ihre Wirkung auf Aprilia-Sportdirektor Carlo Pernat. Er sieht in Valentino bereits den Nachfolger von Max Biaggi, der dem italienischen Hersteller im gleichen Jahr (1994) seinen ersten 250er-Weltmeistertitel beschert. „Ich mochte ihn sehr, weil er mich an Kevin Schwantz erinnerte“, bekennt der Genuese. Für die neue Saison stellt er Vale für die Teilnahme an der Italienmeisterschaft, aber auch an der Europameisterschaft – sozusagen das Sprungbrett zur Grand-Prix-WM – eine Aprilia RS 125 zur Verfügung.
1995 werden die meisten EM-Rennen am gleichen Ort und Tag wie die Grand-Prix-Rennen ausgetragen. Für den jungen Rossi ist das ein Glücksfall, denn so kann er Rennwochenende für Rennwochenende seine Leistung mit der seiner älteren Kollegen vergleichen. „Für mich war das wie ein Weckruf“, erinnert er sich. „Auf manchen Strecken war ich vier Sekunden langsamer als die Poleposition-Zeit des Grand Prix.“ Stundenlang läuft sich Valentino rund um die Piste die Sohlen ab und beobachtet ganz genau die Rennfahrten der Piloten, die für ihn damals noch Vorbilder oder sogar Helden sind. So entsteht auch die Freundschaft mit Haruchika Aoki, der damals auf dem Weg zu seinem ersten Weltmeistertitel ist. „Die japanischen Fahrer habe ich immer bewundert“, so Rossi. „Norick Abes Rennen in Suzuka 1994 zum Beispiel werde ich nie vergessen. Was für eine unglaubliche Attacke … Jeden Morgen vor der Schule habe ich mir immer wieder die Videokassette mit dem Grand Prix angeguckt.“ Nach Abes Unfalltod legte sich der junge Rossi zu Ehren des Japaners für eine gewisse Zeit den Spitznamen „Rossifumi“ zu. Renntechnisch gibt es in der Saison 1995 für Valentino allerdings nicht viel zu feiern. Zwar gewinnt er mit Leichtigkeit die Italienmeisterschaft, aber auf europäischer Ebene muss er allerhand einstecken. Mit seinem HRC-Kit, das seine Honda in ein echtes Geschoss verwandelt, eilt Lucio Cecchinello von Sieg zu Sieg. Mit dieser Situation will Valentino sich nicht ohne Weiteres abfinden. Entsprechend häufig muss er die „Clinica Mobile“ des Doktor Costa aufsuchen: Bei einem Duell demoliert sich Valentino ein Fingerglied, das ihn seither jeden Tag an seinen früheren Rivalen erinnert. „Lucio hatte ein gutes Motorrad, mit dem er umzugehen wusste“, räumt er ein. „Anders als ich. Ich fuhr damals oft über meine Verhältnisse. Als ich ihm in Assen auf den Fersen bleiben wollte, um ihn dann zu überholen, berührten sich unsere Maschinen, und ich wurde davongeschleudert. Es war eine der übelsten Bruchlandungen der Saison. An meinem linken kleinen Finger sind die Spuren dieses Unfalls für immer zu sehen.“
Auch Cecchinello hat das Scharmützel mit Rossi nicht vergessen. „In dem Jahr gewann ich acht von elf Rennen“, erinnert sich der heutige LCR-Honda-Teammanager. „Ich hatte mehr Erfahrung und obendrein mit der RS 125, die das Team Pileri für mich vorbereitet hatte, auch die schnellere Maschine. Davon ließ sich Valentino allerdings nicht beirren. Er war damals ein verrückter Hund und ließ nie locker. Von den Rennen, die wir gemeinsam bestritten haben, sind mir krasse Situationen im Gedächtnis geblieben. Er konnte dich an den unmöglichsten Stellen überholen – vor allem dort, wo du damit nicht rechnest. Du legst dich eng in die Innenkurve, und er überholt dich auf der Außenbahn. Wenn du weiter ausholst, zieht er innen an dir vorbei … Er war absolut unberechenbar.“ Trotzdem kann Valentino gegen Lucios Überlegenheit und gegen die Überlegenheit von dessen Honda nichts ausrichten. Obendrein muss er zum Saisonende noch eine Handgelenkfraktur hinnehmen, die er sich bei einem Sturz beim Motocross zuzieht. Diese Disziplin wird er übrigens aufgeben, als ihm bewusst wird, mit welchen Risiken sie für einen Rennfahrer verbunden ist. So folgt er mit einiger Verspätung doch noch den Ratschlägen seines Vaters. Seine Verletzungen und die dadurch bedingten Fehlzeiten tun dem Verhältnis zu den Lehrern nicht gerade gut: „Ich weiß nicht, wie oft ich mir in der Schule anhören musste: Merkst du nicht, dass diese blöden Motorräder dir nichts bringen außer Schrammen? Du solltest lieber etwas lernen!“ Trotz der Stürze und Blessuren holt sich Valentino den dritten Platz bei der Europameisterschaft – das reicht, damit sich die Pforten des Grand Prix für ihn öffnen.