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EINLEITUNG Die schweizerische Neutralität – eine Inspiration für Europa?

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Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Schweiz die wichtigste Militärmacht Europas. 1512 fällt sie in das Burgund ein, belagert Dijon und zwingt dem französischen König ein Friedensabkommen auf. Im selben Jahr besetzt sie die Lombardei und geht 1513 siegreich aus der Schlacht bei Navarra hervor. Doch dann werden die als unbesiegbar geltenden Schweizer zwei Jahre später bei Marignano geschlagen: Die Unstimmigkeiten zwischen den Verbündeten und die Schwäche der übergeordneten Instanz der Tagsatzung hatten eine Einigung über die Anzahl Söldner, die von jedem Bündnispartner zu stellen wären, verhindert. Stattdessen hatten sie auf freiwilliger Basis, ohne feste Kontingente, Truppen abgeordnet. Zu wenige, wie sich im Verlauf der Schlacht zeigen sollte.

1516, ein Jahr nach der Niederlage, unterzeichnet die Schweiz einen Friedensvertrag mit Frankreich. Faktisch verzichten die Eidgenossen damit auf eine militärische Eroberungspolitik. Stattdessen handeln sie bilaterale Abkommen aus, zunächst mit Frankreich, später auch mit den Habsburgern, mit Spanien und Venedig. Sie reagieren auf äusseren Druck, zeigen sich flexibel und verständigen sich mit ihren Partnern, während sie sich gleichzeitig aus der «grossen Politik» heraushalten. Mehr als 200 Jahre lang werden sie eine zurückhaltende Aussenpolitik verfolgen, die man trotzdem nicht selbstbezogen oder isolationistisch nennen kann. Vielmehr geht die Schweiz auf Distanz zu ihren allzu mächtigen Nachbarn, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Man kann dies als pragmatische Haltung bezeichnen, die sich den Umständen anpasst. Daraus wird im 17. Jahrhundert das Prinzip der Neutralität hervorgehen, indem die Eidgenossen die Konsequenzen aus ihrer Lage ziehen: Die Schweiz ist ein Bündnis kleinräumiger Stände mit unterschiedlichen geostrategischen Interessen und einer schwachen Zentralmacht, die eher eine Einigungsinstanz ist als eine Institution, die über echte Entscheidungsgewalt verfügt.

Die Eidgenossen verständigen sich 1647 auf den Status der Neutralität des Landes, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens. Ihre Botschaft lautet: Wir werden niemanden mehr angreifen; wir werden uns höchstens verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Dies kommt einem endgültigen Verzicht auf militärische Aggression als Instrument der Sicherheitspolitik gleich. Die Eidgenossen verpflichten sich mit diesem Entscheid dazu, die Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nie mehr mit Gewalt zu suchen, und sie tun dies, lange bevor das Völkerrecht den Krieg ächtet. Rückblickend ist dieser Entscheid in einer Epoche, in der der Krieg als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen galt, regelrecht revolutionär zu nennen.

Dieser historische Rückblick ruft mir eine Konferenz in Erinnerung, an der ich vor einigen Jahren als Aussenministerin teilnahm. Es ging dabei um den Nahen Osten. Ein europäischer Kollege betonte die Wichtigkeit der europäischen Finanzhilfe für das Besetzte Palästinensische Gebiet und beklagte gleichzeitig, dass die Europäische Union bei den Bemühungen zur Beilegung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern keine strategische Rolle spiele. Wie in den Anfängen der Eidgenossenschaft waren auch hier gegensätzliche Interessen der Mitgliedsstaaten und eine schwache Führung am bescheidenen Erfolg der europäischen Aussenpolitik schuld, trotz der beträchtlichen Geldsummen, die mit im Spiel waren.

Die Aussenpolitik trägt das Selbstverständnis eines Landes nach aussen. Sie ist idealerweise langfristig und berechenbar, vereint die Positionen der Bürgerinnen und Bürger und berücksichtigt das innenpolitische Geschehen, in dem die verschiedenen Komponenten und Kulturen zum Ausdruck kommen. Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist ein Spiegelbild der europäischen Institutionen. Es überrascht daher nicht, dass die Aussenpolitik der EU als Ganzes mit der eines neutralen Landes vergleichbar ist und sich auf Handelsbeziehungen, Entwicklungshilfe, die Achtung des internationalen Rechts und Vermittlung konzentriert.

Die Aussenpolitik der Europäischen Union ist weniger aktiv und einheitlich, als man es sich 2010 bei der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon erhoffte. Die Union hat im gegenwärtigen geopolitischen Wettbewerb einen schweren Stand. Angesichts des Kampfs der Grossmächte China, Russland und USA um die Weltherrschaft ist sie ohnmächtig. Und ihre Struktur begünstigt sie nicht: Während die EU Geopolitik und Wirtschaft trennt, zögern die Vereinigten Staaten und China nicht, ihre Finanz- und Kapitalkraft und ihre Investitionen für ihre Machtpolitik einzusetzen. In der Union ist die Macht hingegen geteilt, Wirtschafts- und Handelspolitik sind die Domäne der Kommission, während die Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim Ministerrat liegt. Diesem gehören die Regierenden der Mitgliedsstaaten an, die sich von unterschiedlichen nationalen Interessen leiten lassen, die durch einige blutleere Regeln nicht angeglichen werden können. Die Europäische Union ist geteilt in Ost und West, sie hat keine Antworten auf die Herausforderung der Migration, und sie ist militärisch schwach. Der Konflikt nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran hat die Mühen der EU offengelegt, auf dem internationalen Parkett zu handeln.

Die Governance der Europäischen Union, wie sie sich aus den Römer Verträgen nach und nach entwickelt hat, sieht sich tagtäglich starkem inneren und äusseren Druck ausgesetzt. Mit ihren über 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist die EU grösser als Russland und die Vereinigten Staaten zusammen und hat doch Mühe, als eigenständige Macht aufzutreten und auf Dauer eine politische Statur zu erlangen, die den internationalen Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, gewachsen ist. Ihre Situation im Clinch zwischen internen Führungsaufgaben und geopolitischer Positionierung in einer bedrohlichen Welt erinnert durchaus an die Schweiz, sowohl in den Lösungsansätzen wie im Rückgriff auf das Prinzip der Neutralität, von ihren Anfängen bis heute.

Die Schweiz ist von einer aus der Not geborenen Neutralität, die auf ihrem Sicherheitsbedürfnis beruhte, zu einer aktiven Neutralität übergegangen, die sich auf das Völkerrecht stützt. Die schweizerische Neutralität hat sich entwickelt, um den globalisierten Herausforderungen zu begegnen. Sie ist in der Bundesverfassung verankert, ist zugleich dauerhaft und flexibel, gleichzeitig zeugen der UNO-Beitritt der Schweiz von 2002 und ihre Kandidatur für einen nicht ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat von ihrer Weiterentwicklung. Das Prinzip selbst geht auf die Zeiten vor der Französischen Revolution und der Reformation zurück und steht dabei ausser Frage. In der Schweiz sind, wie in der EU, viele Sprachen und Kulturen zu Hause, und die Neutralität hat es ihr erlaubt, ihren inneren Zusammenhang zu festigen und von der übrigen Welt für eine verlässliche und nützliche Aussenpolitik geachtet zu werden.

Könnten dieselben Ursachen nicht auch dieselben Wirkungen haben? Bedenkt man die Mechanismen, die die junge Eidgenossenschaft zu einer Politik der Neutralität bewogen, wäre dann letztlich nicht auch ein neutrales Europa vorstellbar?

Tatsächlich entsprang die Neutralität in der Geschichte der Schweiz weniger politischem Kalkül als innerer Notwendigkeit.1 Die Eidgenossenschaft ertrug selbstständige Kantone mit eigener Aussenpolitik nur insofern, als diese sich im Konfliktfall in Zurückhaltung übten.

Diese Notwendigkeit ist auch heute noch gegeben.

Am 14. Dezember 1914 hält der Schweizer Dichter Carl Spitteler, der damals zu den angesehensten deutschsprachigen Schriftstellern zählte, eine Rede vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Er wendet sich an seine Landsleute und ruft sie zur Einigkeit auf. Tatsächlich richteten sich damals die Blicke der Deutschschweizer auf Deutschland und die der Romands auf Frankreich, und die Zeitungen übernahmen diesseits und jenseits der Saane die Propaganda der Kriegsparteien. Doch gerade weil sie vom Krieg verschont geblieben seien, sagt Spitteler, dürfen die Schweizer nicht nach fremden Massstäben urteilen, sondern sollen ihren eigenen ethischen und moralischen Wertvorstellungen treu bleiben. Dazu gehören die Neutralität und der Widerstand gegen Kriegshetze.2

Ist es nicht eine solche Einigkeit, die der Europäischen Union in unserer gewalttätigen und vielschichtigen heutigen Welt abgeht?

Neutral sein sei feige, sagen die einen, und man wolle nicht Partei ergreifen, um von einer nützlichen Gleichgültigkeit zu profitieren. «Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet», stellte schon Carl Spitteler fest. «Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig.»3 Andere sehen in der Neutralität ein Zeichen von Schwäche, denn die Schweiz sei existenziell darauf angewiesen, dass die umliegenden Grossmächte ihren Neutralitätsstatus fördern und anerkennen. Wieder andere betrachten die Neutralität vor allem als Instrument der nationalen Sicherheit: Denn gäbe es unser Land heute noch, wenn es sich in den beiden Weltkriegen nicht für neutral erklärt hätte?

Trotzdem identifiziert sich eine überwiegende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer mit der Neutralität ihres Landes; sie ist identitätsstiftend. Das zeigte sich mir kürzlich an einem Seminar über internationale Politik an der Universität Genf. Behandelt wird der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg Karabach. Ein Rollenspiel wird geplant. Doch als die Teams gebildet werden sollen, ruft eine Studentin verunsichert aus: «Ich kann nicht Aserbaidschan vertreten, ich bin doch Schweizerin und folglich neutral!»

Tatsächlich zeigt die Jahresstudie der Militärakademie und des Center for Security Studies der ETH Zürich auf, dass 96 Prozent der Befragten dem Neutralitätsprinzip zustimmen. Für 85 Prozent von ihnen ist die Neutralität «untrennbar mit dem Schweizer Staatsgedanken» verbunden, und eine klare Mehrheit ist der Auffassung, dass die Schweiz dank der Neutralität ihre Guten Dienste anbieten kann und sogar für die Rolle der Vermittlerin und Moderatorin in internationalen Konflikten prädestiniert ist.4

Die Studie zeigt, dass die Neutralität in einer vielfältigen Schweiz, die mehrere Kulturen, Sprachen und Religionen vereint, stets dazu dient, den inneren Zusammenhalt zu garantieren, und dass der Schweiz in der Staatengemeinschaft eine besondere Rolle zugedacht wird : durch ihr humanitäres Engagement, ihre Guten Dienste und eine Politik des Dialogs und der Friedensförderung.

Manche Stimmen – von Autoren, Diplomaten oder Professoren – beklagen sich allerdings auch über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir führten die Neutralität zu oft im Mund, und es sei an der Zeit, sie etwas in den Hintergrund treten zu lassen. Das Konzept sei überholt und die Neutralität nicht mehr nützlich. Eigentlich regle sie bloss die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und kriegführenden Staaten in einem bewaffneten Konflikt.5 Was könne das Neutralitätsrecht schon ausrichten, wenn es nicht um eine militärische Frage, sondern um den Klimawandel gehe? Was es denn leiste, wenn die kollektive Sicherheit betroffen sei?6 Die Neutralität sei erfunden worden, um nicht in bewaffnete zwischenstaatliche Konflikte hineingezogen zu werden und könne uns heute nicht mehr als Schutzwall gegen die Gefahren der Welt dienen. Denn was könne sie schon gegen terroristische Vereinigungen, Cyberattacken oder binnenstaatliche Gewalt ausrichten?

Die Neutralität gibt zu reden.

2006, nachdem Kämpfer der Hamas und der Hisbollah in Gaza und an der libanesischen Grenze israelische Soldaten in Geiselhaft genommen hatten, erhitzt die Frage der Neutralität im Bundesrat die Gemüter. In einer Medienmitteilung prangert das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten klar benannte Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht durch Israel an und verurteilt «die unverhältnismässige Reaktion der israelischen Streitkräfte im Libanon, insbesondere die Blockade der Küsten und die Luftangriffe gegen Ziele in der Hauptstadt Beirut und gegen die Flughäfen des Landes. (…) Das EDA verurteilt auch die Angriffe der Hisbollah auf Wohnsiedlungen im Norden Israels, die ebenso gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen (…).»7

Was ist über diese Pressemitteilung nicht alles gesagt und geschrieben worden! Man befand, dass es gegen das Neutralitätsprinzip verstosse, die israelische Haltung zu verurteilen, und als das EDA einwandte, dass im Communiqué auch die Angriffe der Hisbollah auf Siedlungen im Norden Israels verurteilt würden, versuchte man akribisch nachzuweisen, dass die eine Seite stärker verurteilt wurde als die andere. Die Sache war ernst: Mitten in der Sommerpause wurde eine Sondersitzung des Bundesrats einberufen, gefolgt von einer neuen Pressemitteilung, in der die Regierung sich lediglich noch besorgt zeigte. In dieser Sondersitzung stimmte der Bundesrat einem passiven Verständnis der Neutralität zu, das jeden Positionsbezug auf der Grundlage von Verstössen gegen das Völkerrecht vermied.

Was bedeutet es heute, nach dem Ende des Kalten Kriegs, neutral zu sein? Die Annektierung der Krim 2014, die darauffolgende Ukraine-Krise und die kürzlichen Manöver der NATO haben zum Beispiel in Schweden die Diskussionen über die Neutralität befeuert, ist dieses Land doch sowohl neutral als auch Mitglied der Europäischen Union und damit zwischen dem Westen und Russland hin- und hergerissen.

«Neuter» heisst auf Lateinisch «keiner von beiden». Die Neutralität ist demnach ein negatives Konzept und impliziert eine Haltung des Verzichts. Sie gilt nach der zu Zeiten der Kreuzzüge entwickelten Doktrin vom gerechten Krieg als Zeichen des Egoismus. Wie sollte man es rechtfertigen, nicht an der gemeinsamen Anstrengung eines gerechten Kriegs gegen die «Ungläubigen» teilzunehmen? Doch mit zunehmendem Abstand von dieser mittelalterlichen Doktrin wird ein positiveres Verständnis der Neutralität möglich. Sie hüllt sich in Unparteilichkeit, in die Robe eines neutralen Richters, der Recht spricht. Diese Auslegung beruht nicht auf einer angeblichen Gleichgültigkeit, sondern auf einem bewussten Entscheid. Sie bereitet einer aktiven Neutralität den Weg, die mit beherzter Politik Konflikten vorbeugen und sie lösen will. Doch auch diese Interpretation setzt voraus, dass man sich an fremden Auseinandersetzungen oder Kriegen nicht beteiligt.

Die Neutralität

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