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ОглавлениеIm Angesicht des Todes
Raum-Zeit-Gruft Toorasha
Wie erstarrt saß Osku-Sool unter der Kuppel, in der sich das Schwarze Loch drehte. In den Gesichtern Aynaa-Tirs, Rhino-Jaads und Rodry-Haneks spiegelte sich sein Entsetzen. Verloren, echote eine bösartige Stimme in seinem Kopf. Verloren, verloren, verloren.
Die Station VIASVAAT hatte keinen Überlichtantrieb. Der Brocken, den sie vor einem Sturz in das Schwarze Loch gerettet hatten und als Planetensplitter bezeichneten, konnte nicht aus eigener Kraft entkommen. Leistungsstarke Zugstrahlen hatten den Splitter seinerzeit auf Kurs gebracht. Doch nun waren die Schiffe, die ihn hätten bewegen können, entweder im Kampfeinsatz oder zerstört.
Die Station war den Tiuphoren ausgeliefert.
Osku-Sool bewegte die Hände in einer kreisenden Abwehrbewegung, wie jemand, der eine dargebotene Ware ablehnte. Es stand ihm nicht zu, aufzugeben. Er war der Missionsmeister, verantwortlich für das Projekt und für zwanzigtausend Laren, die ihm vertrauten. Darunter waren Familien, Angehörige von Wissenschaftlern und Besatzungsmitgliedern, die an diesem Ort lebten.
Er sah Gesichter vor sich: Laren, die er kannte und schätzte, die ihm zunickten, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. Auf VIASVAAT waren sie eine Gemeinschaft.
»Nein!«, sagte er so laut, dass Aynaa-Tir, Rodry-Hanek und Rhino-Jaad zusammenzuckten. »Ich weiß, was ihr denkt. Wir bieten den Tiuphoren ein Ziel, das sie anmessen können. Trotz des hyperenergetischen Schattens, den die Raum-Zeit-Gruft Toorasha wirft, sind wir ein Fanal in ihrer Ortung, sobald sie die Schutzdistanz unterschreiten. Die Stabilisatoren, Projektoreinheiten und Gravogeneratoren schreien unsere Anwesenheit hinaus. Dennoch leben wir noch. Und wir werden weiterleben. Wahrscheinlich sind wir für die Tiuphoren unwichtig. Es kann Tage dauern, bis sie sich uns widmen – falls sie es überhaupt tun. Mit der BARAR-VAAT können wir die Besatzung rechtzeitig fortbringen.«
Das Schiff ähnelte den Generationenraumern, wenn es auch deutlich kleiner war und nur aus einem Rumpf bestand. Es war für den Notfall ausgelegt und konnte die komplette Besatzung aufnehmen.
Aynaa-Tir straffte sich. »Wir müssen sofort evakuieren!«
»Wir müssen vor allem die Nerven behalten«, sagte Osku-Sool. »Zuerst werden wir die Evakuierung vorbereiten. Retten, was zu retten ist.«
»Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Nervös umklammerte Aynaa-Tir den hölzernen Duftwürfel vor sich, drehte ihn in der Hand. »Paatherhagen bietet uns Rettung. Auf dem Planeten gibt es keine Emissionen, die die Tiuphoren auf sich aufmerksam machen könnten. Lasst uns sofort dorthin aufbrechen!«
Rodry-Hanek tippte die fleischigen Fingerspitzen wiederholt zusammen – ein Zeichen seiner Zustimmung. Rhino-Jaad dagegen schaute zweifelnd in die Runde. Er griff nach einer Nestbeere auf einer blauen Schale, steckte sich die Frucht in den Mund und kaute mahlend.
Paatherhagen war eine Urlaubs- und Freizeitwelt. Ausgesprochen naturverbunden und auf eigenen Wunsch mit lediglich einem Hyperfunksender ausgestattet. Sicher hatten die Paatherhagener ihn heruntergefahren, so wie auch VIASVAAT seit dem Beginn der Invasion auf Hyperfunksendungen verzichtete.
»Wir müssen das Ziel überprüfen. Sobald wir bereit sind und Sicherheit haben, brechen wir auf.«
»Aber ...«, setzte Aynaa-Tir an. Sie ließ den Würfel los, zupfte an einem der blassgelben Zöpfe.
Osku-Sool hob die Hand. »Kein Aber. Ich werde weder unsere Forschungsergebnisse noch unsere Heimat wegwerfen. VIASVAAT ist unser Zuhause. Wenn wir es aufgeben, nehmen wir mit, was wir mitnehmen können. Noch sind die Tiuphoren nicht in der Nähe.«
Wieder griff Aynaa-Tir nach dem Würfel, rieb ihn, dass der Geruch nach Zerdinholz stärker wurde. »Du riskierst unser aller Leben!«
»Ich denke auch an Paatherhagen. Die Tiuphoren werden den Planeten vermutlich nicht anmessen, aber was ist mit unserem Schiff, wenn es den Hyperraum verlässt und dort ankommt? Wollen wir den Tod auf den Planeten bringen? Wir müssen abwarten, weiter Daten sammeln und Sicherheit über die Stellungen der Tiuphoren erhalten. Dann können wir uns von Ortungsschutz zu Ortungsschutz fortbewegen. Vielleicht sind wir im Schatten einer Sonne sogar sicherer. Die Tiuphoren verheeren Planeten, aber sie töten nicht jeden Einzelnen von uns. Wenn wir uns verbergen und warten, haben wir womöglich die besten Chancen.«
Aynaa-Tir legte den Würfel ab. Er zeigte mit einem Honhooten nach oben. Die bullige, gefiederte Kreatur sollte Glück bringen und Schutz bieten. »Wie du willst, General. Ich kümmere mich unverzüglich um meine Sektoren.« Sie stand auf und ging. Rodry-Hanek folgte ihr mit stampfenden Schritten.
Osku-Sool senkte den Kopf. General. So hatte man ihn bisher auf der Station scherzhaft, aber mit Respekt genannt, weil er Ruhe ausstrahlte. Sie waren Wissenschaftler, keine Militärs. In Aynaa-Tirs Anrede hatte Verachtung gelegen.
»Ein Jammer um deine Schwester«, sagte Rhino-Jaad. Er langte zur blauen Schale auf dem Tisch und stopfte sich eine weitere Nestbeere in den Mund. Einige Tropfen liefen über seine wulstigen Lippen auf das Kinn. »Ich mochte sie.«
»Ja. Ein Jammer.« Osku-Sool kannte die wenig feinfühlige Art seines Kollegen und hatte gelernt, damit umzugehen. Im Moment durfte er ohnehin nicht länger an Mera-Luur denken und damit die Trauer an sich heranlassen. Er musste weitergehen, einen Schritt nach dem anderen, um am Leben zu bleiben. »Kümmere dich um die Messbojen und die Experimentalkammern! Ich will die gesamte Ausrüstung retten. Danach prüfst du unsere Daten und besorgst dir, was du uns an Wissen besorgen kannst. Vielleicht können wir zurückkehren, wenn das hier vorbei ist.«
Obwohl Osku-Sool daran zweifelte, wollte er die Hoffnung nicht aufgeben. Die Tiuphoren würden nicht jeden einzelnen Laren töten. Irgendwer würde überleben, und wenn sie das taten, brauchten sie so viele Informationen wie möglich.
Der zweite Missionsleiter wischte sich den Mund ab. Über der schmalen Nase bildeten sich zwei Falten. »Wissen? Welche Art Wissen?«
»Alles«, sagte Osku-Sool. »Nimm, was du kriegen kannst. Besonders sämtliche Dateien der Chronalen Universität und der Garusischen Wissensstätten. Sichere sie doppelt, im Schiffsspeicher und auf Datenträgern, die du in deiner Nähe behältst.«
Rhino-Jaad starrte auf die blaue Schale. »Es ist wirklich vorbei, was? Wir haben Phariske-Erigon geholfen, uns in den Krieg einer fremden Galaxis eingemischt, und nun zahlen wir den Preis dafür. Wir hätten uns nie in diese Angelegenheit hineinziehen lassen dürfen.«
»Doch, das hätten wir. Es war das einzig Richtige. Unsere Sternenmissionen mussten es tun. Man kann nicht untätig bleiben, wenn man um das Leid anderer weiß. Nur Feiglinge ducken sich weg, hoffen inständig, es möge andere treffen. Laren stellen sich der Gefahr. Sie stehen einander und Gleichgesinnten bei. Das ist der Kern unserer Kultur. Anders zu handeln hätte bedeutet, uns zu verleugnen.«
»Sie sind Fremde.«
»Nicht mehr. Unsere Sterneninseln sind für immer verbunden. Durch gemeinsamen Kampf und gemeinsames Leid. Wir hielten uns für ihre Eltern, kamen ihnen zu Hilfe wie Kindern – nun sind wir Brüder.«
»Ja.« Rhino-Jaad lehnte sich zurück, schaute hinauf zur Raum-Zeit-Gruft. »Was ich sagte, war dumm. Immerhin haben wir gehofft, Informationen zu bekommen, wie wir uns gegen die Tiuphoren wappnen können, falls sie auf uns aufmerksam werden. Leider sind wir gescheitert. Auf ganzer Linie.«
»Wir taten, was richtig war. Und jetzt los! Wir haben eine Station zu evakuieren.«
Rhino-Jaad stand auf. Sie verließen die Mitte des Raums, gingen über zwei der vier hölzernen Brücken auseinander zu ihren Stationen.
Osku-Sool stürzte sich in die Arbeit, organisierte, bedachte, was zu tun, woran zu denken war. Er verteilte die anstehenden Aufgaben an andere Wissenschaftler, bat seinen Assistenten Bel-Raboor, sich um seine persönlichen Räumlichkeiten zu kümmern, schickte Techniker und Wartungspersonal zu neuralgischen Punkten, aktivierte Roboter und Maschinen, die seit Jahren desaktiviert in dunklen Kammern verrotteten.
Die Zeit flog an ihm vorbei, krümmte sich, wie sie es in der Ergosphäre des Schwarzen Lochs tat. Es war so viel zu tun, so wenig Raum.
Erst Stunden später, die sich wie Tage anfühlten, schreckte Osku-Sool hoch. Er war allein im Missionsquartier. Sein Mund war trocken, der Körper ausgedörrt, weil er zu trinken vergessen hatte. Einen Moment war Osku-Sool schwindelig. Er brauchte mehrere Sekunden, um zu verstehen, was der schrille Ton vom Kommunikationsgerät zu bedeuten hatte. Jemand rief mit einer Vorrangnummer an.
»Ja?« Der winzige Kasten reagierte auf seine Stimme, projizierte als Holo das Gesicht seines Assistenten Bel-Raboor.
Der junge Lare hatte dunkle Verfärbungen auf den Wangen, die zeigten, wie aufgeregt er war. Die roten Haare standen in alle Richtungen ab. »Osku-Sool!«
»Was ist passiert?«
»Der Transmitter ... Ich wollte eben die Daten und deine Sachen an Bord bringen, da hat der Transmitter gestreikt. Ich dachte erst an ein technisches Versagen und habe bei der Wartung ... ach, unwichtig. Sie haben sich eingeschlossen!«
»Wer?«
»Ich weiß nicht, ich ...«
Das Bild erlosch. Stattdessen zeigte der Projektor das Konterfei Rhino-Jaads, der das Gespräch mit einer Notfallverbindung unterbrochen hatte. Gleichzeitig sprang die Anzahl der eingehenden Anrufe am unteren Rand der Holodarstellung dramatisch in die Höhe. Erst zehn, dann dreißig, schließlich über hundert Laren versuchten, mit ihm in Verbindung zu treten.
Im Gegensatz zu Bel-Raboor kam Rhino-Jaad sofort zur Sache. »Die BARAR-VAAT startet. Jemand hat die Öffnung einer Strukturlücke in der Schutzhülle angeordnet. Ich kann nichts dagegen unternehmen. Eine Sperrung auf höchster Ebene. In drei Minuten ist das Schiff weg!«
»Wer tut das?« Osku-Sool wusste es, noch während er fragte. Bloß wenige Laren auf der Station hatten die Möglichkeit, das Schiff seinem Einfluss zu entziehen. Er sprang auf und stürzte zum ovalen Tisch, den er mehr und mehr hasste.
»Optik 21! Notfallverbindung zu Aynaa-Tir herstellen!« Der Positronprovisor der Station reagierte sofort, doch Aynaa-Tir nahm die Verbindung nicht an.
Gab es ein besseres Eingeständnis ihrer Schuld? Aynaa-Tir hatte ihn verraten. Osku-Sool kämpfte die aufkeimende Wut nieder.
Über den Intarsien der Tischplatte erschien das Bild der zitternden BARAR-VAAT. Das Schiff schwebte mit eingezogenen Stützen über der steinigen Landesenke. Ein ockergelbes Schutzfeld flammte auf, wurde blasser, teils transparent.
Rhin-Jaad stürmte in den Raum. »Erreichst du sie?«
Osku-Sool ignorierte die Frage. »Aynaa-Tir, bei der Helaar und allen Sternenwächtern, melde dich! Oder hast du jede Ehre verloren?«
Die Holoverbindung blieb aus, doch Aynaa-Tir antwortete. In ihrer Stimme lag Angst. »Ich tue, was getan werden muss.«
»Und seit wann entscheidest du das im Alleingang?«
»In Sektion Vier, Neun und Zehn ist Panik ausgebrochen. Es kam zu Übergriffen und Morddrohungen. Ich musste den Leuten versprechen, sie nach Paatherhagen zu bringen. Danach komme ich mit der BARAR-VAAT zurück.«
»Du willst zurückkehren?«
War das eine Lüge? Verdammte Aynaa-Tir sie zum Untergang?
»Nach Paatherhagen sind es bloß 87 Lichtjahre. Hättest du weitergearbeitet, hättest du unser Verschwinden gar nicht bemerkt.« Sie klang trotzig. Als wäre sie in ihrer Verzweiflung wieder ein Kind geworden.
»Wie soll ich ein Schiff beladen, dass nicht da ist?«
Aynaa-Tir schwieg.
»Lande!«, forderte Osku-Sool. »Du bist in Panik geraten, wie viele. Es ist die Angst vor dem Tod und vor den Bannern. Ich verstehe das, und ich werde dich nicht zur Rechenschaft ziehen. Aber du musst jetzt landen!«
Stille.
Rhin-Jaad fluchte in der alten Sprache. Inzwischen hatte er den Tisch erreicht, stützte sich schwer mit den Armen ab. »Bist du wahnsinnig geworden? Du bringst uns alle um!«
Das Schiff stieg weiter auf, glitt durch die Strukturlücke in die Schleuse.
Der Anblick war grausam wie der von verheerten Systemwelten. Aynaa-Tir opferte sie.
Osku-Sools Ruhe schwand. »Aynaa-Tir!«
Das Gerät in der Tischmitte blieb stumm.
Die BARAR-VAAT verließ die Schleuse durch das zweite Tor, schoss in den Raum – und wirbelte in die falsche Richtung davon!
»Nein!« Rhin-Jaad schlug beide Fäuste auf die Tischplatte.
»Aynaa-Tir! Euer Kurs ...« Osku-Sool verstummte. Es war offensichtlich, was passiert war. Irgendwer an Bord hatte einen groben Fehler gemacht, den Positronprovisor mit falschen Daten gefüttert, einen der Stabilisatoren falsch justiert ...
In Osku-Sools Kopf rasten Gedanken, als wollten sie das Licht einholen.
Die Gravitation. Das hyperenergetische Chaos. Die Raum-Zeit-Gruft. Die BARAR-VAAT war verloren.
Aynaa-Tirs dünne Stimme, bestätigte Osku-Sools Befürchtungen. »Der Pilot ... Der Positronprovisor hat fehlerhafte Ausgleichswerte erhalten. Esgir-Taam war übermüdet. Wir sind auf den falschen Kurs gegangen. Die BARAR-VAAT wird der Gravitation nicht entkommen.«
Esgir-Taam. Der Mann hatte erst vor wenigen Stunden erfahren, dass seine Lebensmeisterin und seine Kinder tot waren. Er hätte nicht fliegen dürfen.
Im Hintergrund ertönte ein Sirren. Osku-Sool schloss die Augen. »Ihr müsst die Leistungen der Gravostabilisatoren reduzieren. Sie werden überhitzen.«
»Wozu? Um unseren Tod hinauszuzögern?« Obwohl Aynaa-Tirs Stimme nach wie vor dünn klang, war sie nun vollkommen ruhig. Unendlich traurig, aber gefasst. »Ich habe es zu verantworten. Es tut mir leid.«
Das Sirren im Hintergrund wurde lauter.
Rhin-Jaad und Osku-Sool sahen einander an. Die Sekunden zogen sich.
Ein Knall im Hintergrund, Schreie, ein noch lauterer Schlag, dann Stille.
Im Holo flog das Schiff auseinander. Es zerbröselte unter den Kräften, die es zerrissen. Was blieb, war eine Wolke aus Trümmern, fein wie Nebel. Ein langes, dünnes Band, das scheinbar behäbig in Richtung der Raum-Zeit-Gruft trieb.
Rhin-Jaad stieß einen erstickten Klageruf aus.
Osku-Sool senkte den Kopf, starrte auf die hölzernen Honhooten. Er fühlte sich, als wären die Tiuphoren längst da und würden ihn in eins ihrer Banner zwingen.
Sein Stellvertreter trat zurück, stürzte beinahe in den geschwungenen Wasserlauf. »Nein! Das darf nicht wahr sein!«
»Es ist wahr.« Osku-Sool glaubte, unendlich alt zu sein, älter als das Universum selbst. »Wir können es nicht mehr ändern. Die BARAR-VAAT ist vernichtet.«
Das hatten die Tiuphoren geschafft. Allein mit ihrer Anwesenheit, mit ihren Schauermärchen und der Psychologie ihrer verdammten Banner-Kampagne. Noch ehe Osku-Sool einen einzigen Feind leibhaftig gesehen hatte, waren Hunderte seiner Anvertrauten gestorben.
Die Wahrheit schien Rhin-Jaad verblüffenderweise Stabilität zu geben. Als hätte er jemanden gebraucht, der ihm sagte, dass er nicht träumte. »Wir haben noch die CHOPOR-VAAT.«
»Ja.« Das Beiboot konnte nur wenige Dutzend Laren aufnehmen. »Wir müssen sie ausbauen.«