Читать книгу Wenn es Liebe ist - Mihajlo Pantić - Страница 10
GORJANA POTOKARS OHRFEIGE
ОглавлениеSie ist perfekt. Etwas Besonderes, beinahe eine Geschichte für sich. Sie wohnt vorübergehend im alten Stadtviertel Paviljoni, in der Wohnung, die sie von ihrem Vater geerbt hat, der seinerzeit, zur Zeit der Blockfreiheit, Konsul in Afrika war. Vor zwanzig Jahren verpasste sie mir auf der Straße eine Ohrfeige, womit unsere kurze platonische Liebe endete. Ich weiß noch, wie ich in der Abenddämmerung an der Endhaltestelle der Buslinie 16 stand, in meinem linken Ohr summte es, und innerlich heulte ich, ohne es nach außen zu zeigen. So zu weinen, tränenlos und still, hatte ich gelernt, als ich zwölf war. Aber das ist eine andere Geschichte. Viel später habe ich irgendwo mal von einem afrikanischen Häuptling gelesen – vielleicht hat mir auch ihr Vater davon erzählt – der sich aus lauter Angst, die Freier seiner Tochter würden ihm an den Kragen wollen, daran gewöhnt habe, mit offenen Augen zu schlafen. In schwierigen Situationen entwickelt man eben besondere Fähigkeiten.
Der Abend brach herein, dort gegenüber der Hauptpost, in der Pohorska-Straße, ich ließ den Bus abfahren, dann noch einen, und schließlich beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen, ich wohnte ein paar Blöcke weiter, Richtung Donau, in einem Wohnhaus voller niederer Offiziere, niederer Beamte, niederer Arbeiter und niederer Künstler. Ich glaube, das mit Gorjana Potokars Ohrfeige war im beginnenden Frühling, ich bin mir nicht sicher, in der offiziellen Geschichtsschreibung findet dieses Ereignis keine Erwähnung, worüber ich, unter uns gesagt, konsterniert bin, da ich inzwischen deren irrationale Neigung entdeckt habe, ähnliche dumme Missverständnisse als Heldentaten zu charakterisieren. Während ich die Straße hinunter ging, Richtung Fluss, summten in meinem Kopf, wie in einem kaputten Resonator, sämtliche Telefongespräche Neu-Belgrads, was verständlich war, die Post befand sich in unmittelbarer Nähe.
Gorjana Potokar ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Ich habe ihn erfunden, wer weiß warum, vielleicht auch nur, weil er nicht schlecht klingt, jedenfalls war sie zu jener Zeit die absolut tollste Schnitte in diesem Teil der Stadt, wenn Neu-Belgrad überhaupt Teil der Stadt ist, und keine schwarze Chimäre, schwarz wie das Ebenholz der afrikanischen Masken, die Gorjanas Vater sammelte, als Konsul und graue Eminenz in Ländern, deren Umrisse ich bis heute nicht auf der Landkarte erkenne. Ich war schon immer schlecht in Geografie, in räumlicher Orientierung, von rechts gesehen ist links immer links, aber wenn man auf die linke Seite wechselt, dann ist links, was gerade noch rechts war, ich glaube, die Ohrfeige hat zumindest ein kleines Stück zu dieser Verwirrung beigetragen. Ich kann nur sagen, wie schade ich es finde, dass ich nun nie nach Afrika reisen werde. Der Allerhöchste allein, der so über die Maßen zum Schweigen neigt, weiß, ob ich in jenem Frühling für immer die Gelegenheit verpasst habe, nach Ghana, Tansania, Tschad, Ouagadougou, Katako-Kombe, Mbandaka, Kwekwe oder Muyumba zu reisen. Wahrscheinlich habe ich das, denn die folgenden Jahre verbrachte ich allesamt in einem Sanatorium, einem ganz besonderen Sanatorium, in dem ich mich, danke der Nachfrage, bis heute befinde.
Schlecht gelaunt – womit die Verzweiflung, die ich verspürte, gelinde umschrieben ist – erreichte ich die Tankstelle in der Kennedy-Straße. Das Neonlicht der Straßenlaternen, die gerade angegangen waren, machte alle krank, die Straße verwandelte sich in den Hof eines großen Sanatoriums, jenes ganz besonderen Sanatoriums: Neu-Belgrad. Wir alle wandelten in jenem Frühling, wie auch in allen darauffolgenden, wie verrückt umher, wie todkrank. Objektiv gesehen sind wir alle todkrank, nur sind es manche länger und manche kürzer. So ist es, seit ich denken kann, bei Abenddämmerung hetzen wir von Ort zu Ort, wie irrsinnig, ehe wir uns in unsere Neu-Belgrader Leichenkisten zurückziehen, ehe wir uns in der dickflüssigen Melasse der Nacht auflösen, die schwarz ist wie – wieder finde ich keinen besseren Vergleich – wie das schwarze Ebenholz des Konsuls.
Der Benzingeruch ließ mich allmählich zu mir kommen, das Summen in meinem Kopf verebbte, und nach und nach fügte ich die Bilder des Nachmittags, den ich in der Wohnung von Gorjanas Vater verbracht hatte, zusammen. Die Geschichte kommt nicht ohne profane Details aus, davon gibt es in Neu-Belgrad mehr als genug, es ist unnötig, irgendetwas zu erfinden, abgesehen von den Namen der Protagonisten. Gorjana und ich (für mich habe ich noch keinen Namen, ich weiß auch nicht, ob ich mir noch einen ausdenke, und wer ich bin, woher ich komme und was ich zu Mittag esse) sind zusammen in die Grundschule gegangen. Leichtes Zittern. Damals trugen die Tage für mich eine gewisse Zeitlang ihren Namen, ihren echten Namen. Wenn ihr glaubt, ich verrate ihn euch noch im Laufe der Geschichte, täuscht ihr euch. Dann zog sie mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter irgendwohin nach Afrika und schloss in genau den vier Jahren, in denen ihr männlicher Elternteil, hm, männlicher Elternteil, Konsul war, ein amerikanisches Gymnasium ab. Als sie zurückkam, war sie die absolut tollste Schnitte … Ich wiederhole mich. Wir schrieben uns für Jura ein, ich dachte nicht einmal daran, es ernsthaft anzugehen, obwohl ich es wollte, natürlich wollte ich es, gemeinsam lauschten wir den zähen Vorlesungen zur Einführung ins Recht, versunken im Rudel hunderter angehender niederer Anwälte, niederer Richter, niederer Journalisten, niederer Diplomaten, niederer Referenten und niederer Politiker. Mindestens zweihundert glühende Wolfsaugen aus diesem Rudel waren in jenem Semester auf Gorjana gerichtet, und dann, eines Tages, an diesen Wintertag erinnere ich mich genau, er war klar und scharf wie das Messer des afrikanischen Häuptlings, der mit offenen Augenlidern schlief, sagte sie zu mir, einfach so, ohne zu blinzeln, ganz direkt, als wir am Neu-Belgrader Rathaus umstiegen (von der Linie 16 in die 76): »Hör mal, alle baggern mich an, nur du nicht.« »Sollte ich?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Was weiß ich, probier’s aus«, antwortete sie, so magisch unbestimmt, herzbrecherisch, auffordernd, zustimmend und ablehnend, dass ich ganz platt war. Und so fing alles an.
Wie ihr gemerkt habt, sagte ich schon zu Beginn der Geschichte: »platonische Liebe«. Das war es auch, leider. Obwohl … Wenn wir uns heute begegnen, verstehen wir uns meist gut, reden über alles, ganz vertraut, aber immer, als hätten wir irgendetwas versäumt. Bei denen, die – mir wird übel – Freunde bleiben, bleibt immer dieses gewisse Gefühl. Auch wenn diese Freundschaft, oder diese wunderbare Freundschaft, wie es im Film heißen würde, mit einer Ohrfeige begann, dank derer ich eine Zeitlang sämtliche Telefongespräche Neu-Belgrads hören konnte, inklusive aller Lügen, Wahrheiten, Leidenschaften und Ehebrüche, aller Worte, allem laut Gedachten, in diesem Ameisenbau, diesem Sanatorium für scheinbar Normale. Ich glaube, damals, als es in meinem Kopf dröhnte, begriff ich, was Fjodor, mein Ururgroßvater, meinte, als er schrieb, dass das Leben auf dieser Welt vor Gestank nicht zu ertragen wäre, wenn jeder von uns sagen würde, was er wirklich denkt.
An jenem Nachmittag erzählte mir ihr Vater, wie er einmal mit Bokassa um die Wette geschwommen sei:
»Die Sonne brannte, ein paar von uns aus dem diplomatischen Korps lagen am Pool, wir tranken kalten Champagner, der schwarze Diener in Livree, und stell dir vor, Junge, Schwarze schwitzen im schwarzen Frack überhaupt nicht, wir hüpften immer wieder ins Wasser und beredeten, wo wir zu Abend essen sollten. Dann kam Bokassa. Er setzte sich, schwieg, alle um ihn herum zitterten, und er sah uns beim Schwimmen zu. Bokassa war ein niederer Offizier in der französischen Armee, er hat in Indochina gekämpft und ist Mitglied der Ehrenlegion geworden, später dann General und am Ende hat er sich selbst zum Kaiser ernannt. Eine halbe Stunde später stand einer seiner Bodyguards vor mir und sagte: ›Seine Hoheit hält Sie für den besten Schwimmer am Pool und will Sie zu einem Schwimmduell herausfordern. Bitte, nehmen Sie an. Gnädiger Herr, bitte, nehmen Sie an‹, wiederholte er etwas leiser und in einem so flehenden Ton, als würde sein Leben davon abhängen. Natürlich, sagte ich, mit Vergnügen. ›Danke, gnädiger Herr‹, antwortete mir der kaiserliche Abgesandte, ›Nur, Sie müssen wissen, seine Hoheit ist kein besonders guter Schwimmer. Verstehen Sie?‹ Ich verstehe, sagte ich, natürlich verstand ich. Es ist klar, wer gewinnen muss, wenn man gegen den Kaiser schwimmt. Wir sprangen also ins Wasser, Bokassa und ich, und schwammen, und alle sahen uns zu. Nach etwa fünfzehn Metern hob ich den Kopf, um zu sehen, wo mein Gegner war, er kam ganz gut voran, noch hielt er sich über Wasser. Nach der Hälfte des Beckens lag er zwei Längen hinter mir, obwohl ich so langsam geschwommen war, wie ich konnte, ohne es mir anmerken zu lassen. Ich schwamm noch etwas langsamer, und mit einem Armschlag Vorsprung besiegte mich Bokassa in einem dramatischen Finish. Was für ein Applaus! Sogar zum Abendessen wurden wir eingeladen. Nach dem Essen, wir waren schon etwas angeheitert, sagte einer meiner Freunde: ›Ehrlich, ich glaube, wenn du zufällig gewonnen hättest, dann wären wir auch bei diesem Abendessen dabei, aber als Hauptspeise. Verstehst du, lieber zu Abend essen als zu Abend gegessen werden.‹« Tja, sicher ist das besser.
Er konnte interessant erzählen, Gorjanas Vater, er starb am gleichen Tag, an dem Slowenien sich vom Zweiten Jugoslawien loslöste. Ich ging zu seiner Beerdigung und sah dort zum ersten Mal nach zehn Jahren meine Jugendliebe wieder. Sie sah toll aus, einfach perfekt, in Schwarz, erotisch, wie alle geschiedenen oder gerade erst verwitweten jungen Frauen, die Schwarz tragen. Sagt nicht, ich sei morbid, ich bin so unschuldig wie ein kleines Kind, meine Gedanken sind arglos, als wäre Fürst Myschkin mein Onkel, was in meinem Kopf ist, hat sich im Freiluftsanatorium angesammelt. Irgendwann einmal beschreibe ich euch diese Beerdigung, diese Grabreden. Jetzt bin ich mit den Gedanken an jenem Nachmittag. Ich mochte Gorjanas Vater, er war mir zugetan, aber ich interessierte mich damals natürlich mehr für Gorjana, ich wollte mich mit ihr in ihr Zimmer zurückziehen oder irgendwohin mit ihr verschwinden. Damals gingen wir meistens am Kai spazieren, beim Hotel »Jugoslavija«. Ja, alles was heute von dem Staat noch geblieben ist, ist der Name eines ruinierten Neu-Belgrader Hotels. Am Wasser küssten wir uns, bis uns schwindlig wurde und redeten über alles, worüber verliebte Paare reden, an jenem Nachmittag aber, an dem ich für immer die Chance verpasste, nach Afrika zu reisen, war Gorjanas Papa in Hochform, er kippte einen doppelten Whiskey, was seine Zunge restlos löste. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her, aber zu meiner Enttäuschung, bemerkte er es nicht. Ich hatte Gorjana schon viel zu lange in ihrem Zimmer warten lassen, sie hatte diese Geschichten wohl schon unzählige Male gehört … Das hier, sagte er irgendwann, ist die wertvollste Maskensammlung in ganz Belgrad, das Afrikanische Kunstmuseum hat nicht mal ein Drittel von dem, was ich habe. Sie wollen sie mir abkaufen, aber ich habe abgelehnt, irgendwann vermache ich ihnen sowieso alles, nur müssen sie das nicht gleich wissen, ich lasse sie ein bisschen zappeln. Sammelleidenschaft besteht nicht nur darin, etwas zu haben, sondern auch, etwas zu haben, was andere nicht haben, Letzteres vielleicht sogar mehr. Wer den Besitz hat, hat den Triumph, merke dir das, mein Junge, du wirst es brauchen.
Ich habe es mir gemerkt, gebraucht habe ich es nicht. Diese Maske hier, fuhr er fort, ist mir die liebste von allen, er zeigte mir eine Maske rechts, oder war es links, an der Wand des Gästezimmers seiner Wohnung im Neu-Belgrader Viertel Paviljoni, ich weiß es nicht genau, mein Orientierungssinn ist nicht der beste. Die Maske war, wie konnte es anders sein, schwarz wie verkohltes Holz, eine irgendwie boshafte Grimasse. Es ist, musst du wissen, junger Mann, eine rituelle Maske, sie wird in manchen afrikanischen Stämmen von Vätern getragen, wenn sie zu ihren Töchtern gehen. Sie ist teurer als Gold. Die Väter haben in diesen Stämmen das Entjungferungsrecht. Sie suchen ihre Tochter in der Nacht vor der Hochzeit auf. Eine Rarität für rare Gelegenheiten.
Jetzt wisst ihr bestimmt, warum ich euch diese Geschichte erzählt habe. Als ich mit Gorjana zur Endhaltestelle der Buslinie 16 ging, verärgert darüber, den Nachmittag mit ihrem Vater statt mit ihr im Zimmer verbracht zu haben, mit dem Gefühl, für immer etwas verpasst zu haben, zum Beispiel eine Reise nach Afrika, nach Mambari oder Jaunde, und überzeugt davon, dass sie mich absichtlich, aus einer Laune heraus mit ihrem Vater allein gelassen hatte, aus mangelnder Bereitschaft, Unsicherheit oder einfach so, aus dem gleichen völlig unbegründeten Grund, aus dem ich jedes Mal, wenn ich sie küsste, besinnungslos wurde – spielte ich auf die Maske an. Eigentlich nicht direkt, ich sagte nur zwei, drei Worte, aber sie begriff alles unfehlbar und verpasste mir eine derartige Ohrfeige, dass sich alles zu drehen begann, als wäre ich ein Globus. Ein böses Wort ist wie ein schwarzer Vogel, ob in Bujumbura oder Neu-Belgrad, völlig egal, es ist überall gleich. Einmal freigelassen, lässt es sich nicht wieder einfangen. Gorjana murmelte nach der Backpfeife nur noch etwas wie, es sei nicht nötig, dass wir uns noch weiter sähen, dann kehrte sie mir den Rücken und ging.
Kurze Zeit später reisten sie und ihr Vater ab, wohin sonst als nach Afrika. Ihr Jurastudium schloss sie in Nairobi ab, heute arbeitet sie dort als höhere Verwaltungsberaterin der Regierung. Ich berate nur mich selbst, meistens erfolglos. Immer wenn sie nach Neu-Belgrad kommt, steigt sie in der Wohnung ihres Vaters ab. Jedes Mal meldet sie sich bei mir, dann gehen wir aus und reden wie alte Freunde, was wir auch sind. Um es nicht zu vergessen: Der Tod ihres Vaters kam plötzlich, er hatte es nicht mehr geschafft, ein Testament zu schreiben. Und die boshaften und sardonischen Masken schmachten nun in der abgestandenen Stille der gespenstisch verlassenen, dunklen Zimmer irgendwo im alten Wohnviertel Paviljoni.
Damals, am Sanatorium-Abend, schaffte ich es mit meinem klingenden Kopf, den ich leider immer mit mir herumtrage, gerade noch bis an den Fluss. Ich stand da und schwieg, hinter mir hörte ich die vielköpfige Stadt tosen, wenn es eine Stadt ist, und keine Sammelunterkunft für alle früher oder später todkranken Menschen. Unterhalb meiner Füße floss, schwarz vor Dunkelheit, zähflüssig wie, wie, wie … Masut: die Donau.