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BRIEF AUS DEM JAHRE 1999
(Nach Ivo Andrić)

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November 1999. Der Flughafen bei Budapest. Schnee. Aufgeschobene Flüge. Während ich auf den Abflug nach Vancouver warte, kurz nach Mitternacht, rede ich müde und schon etwas nervös auf meinen Freund Miša Pantelić ein, der mich aus Belgrad hergefahren hat, es sei nicht nötig, dass er noch länger bei mir bleibe. Meine Versuche, ihn zu überzeugen, dass er sich möglichst schnell ins Auto setzen und dorthin zurückkehren solle, wo wir dreizehn Jahre unseres Lebens zusammen verbracht haben, weist er entschlossen zurück. Vier Stunden Fahrt, das ist nicht wenig. Durch die große Glasscheibe des überheizten Flughafenrestaurants blicken wir auf die Piste, über die der Schnee wirbelt. Auf dem Tisch, nach dem Abendessen, halb ausgetrunkene Weingläser. Wir reden, doch das Gespräch stockt. Wir haben uns mehrere Jahre lang nicht gesehen, seit ich nach Kanada gegangen bin. Ich weiß nicht, was ich denken soll, ich dränge ihn, dabei möchte ich eigentlich, dass er so lange wie möglich noch bleibt, Warten ist erträglicher, wenn man nicht allein wartet, egal worauf. Wir sind wortkarg, nicht weil wir einander nichts zu sagen hätten, nein, im Gegenteil, weil Worte die lange Unterbrechung unserer Freundschaft nicht mildern können. Miša hat das Land während der gesamten zehn Kriegsjahre nicht verlassen, er hat Bücher geschrieben. Ab und zu haben wir uns Briefe geschickt. Ich dagegen bin in all den Jahren nach meinem Wegzug nur zwei oder drei Mal nach Belgrad gekommen, auf einen Kurzbesuch, für ein paar Tage, mehr konnte ich nicht ertragen. So war es auch diesmal, wo die Zeit gerade für einen Besuch bei meinem Bruder gereicht hatte. Ich wollte mich bei niemandem melden, um nicht erklären zu müssen, warum. Aber dann meldete sich Miša bei mir, irgendwie war ihm zu Ohren gekommen, dass ich in der Stadt war, also unterhielten wir uns kurz, und er bot mir an, mich zum Flughafen zu fahren. Ich akzeptierte.

So kam es, dass wir im ungarischen Schnee stecken blieben. Hohe Schneeverwehungen bedeckten die Straße, wir befürchteten schon, zu spät zu kommen, aber als wir uns irgendwie nach Ferihegy durchgeschlagen hatten, erkannten wir, dass unsere Angst unbegründet gewesen war, die Flüge waren bis auf Weiteres aufgeschoben worden. Wir saßen uns gegenüber, Miša und ich, zwischen den anderen Reisenden, größtenteils unsere Landsleute, und sahen uns an. Er hatte sich kaum verändert, nur grau geworden war er plötzlich, und seine Stimme war dumpfer als früher, oder es kam mir nur so vor. Er wirkte schlecht gelaunt. Ja, Miša schrieb Bücher, doch er selbst hatte sich nie als Schriftsteller gesehen. Warum auch immer. Er pflegte zu sagen: »Wenn alle Schriftsteller sind, muss ich nicht auch noch einer sein.«

Aber er schrieb weiter. Dann, während des Gesprächs, kam mir, als ich ihn so ansah, eine Erzählung von Ivo Andrić in den Sinn, in der es heißt, dass man damals, nach dem ersten Krieg, unter den Intelligenten auf viele solche, verbitterte Menschen traf, verbittert auf besondere Weise, über etwas Unbestimmbares im Leben. Im Wesentlichen traf diese Beschreibung zu, nur dass Miša nicht verbittert war, er war einfach schlecht gelaunt, und er verbarg es nicht. Im Morgengrauen gingen wir auseinander, als sich das Unwetter legte und die Flüge freigegeben wurden. Zwei Wochen später, in Vancouver, erhielt ich einen Brief von ihm:

Lieber D.,

heute habe ich ein paar Bücher umgeräumt und dabei bin ich auf unsere Auswahl mit den besten Erzählungen aus 1989 gestoßen. Zehn Jahre, stell dir vor, zehn Jahre sind seitdem vergangen. Alles hat sich verändert, der Staat, die Geschichte, die Verhältnisse, die Literatur, die Menschen, die ich kenne, viele sind weggezogen, nicht wenige sind gestorben, jeder Tote ist einer zu viel – und doch kommt es mir vor, als stehe ich auf der Stelle. Beim Durchblättern musste ich an dich denken, an unser Gespräch in Budapest und die Briefe, die wir uns ab und zu schreiben, und da habe ich gedacht, es wäre gut, mich bei dir zu melden. Zuerst möchte ich mich aufs freundschaftlichste für deine Teilnahme an dieser, gelinde ausgedrückt, morbiden Geschichte bedanken. In den letzten Jahren, vor allem während der Kriegsmonate, gab es davon, nebenbei bemerkt, nicht allzu viel. Und das ist gut so, glaube mir, auch wenn es nicht so scheint. Es ist schwer, die Worte derer zu ertragen, die nicht mehr hier sind, und die dir erklären – mal aus Aufrichtigkeit, mal aus Anstand (völlig egal) – sie wüssten, wie schwer wir es hätten, aber sie, die alles verstünden, angeblich, hätten es noch schwerer, weil wir es schwer hätten: Sie seien nicht hier und litten aus der Ferne. Schließlich wird aus dem langen, Kopfschmerzen bereitenden Gespräch für beide Seiten eine Last, eine Erklärung von etwas, was letztlich nicht zu erklären ist, jeder sieht die Welt mit eigenen Augen, und unter dem Strich wird aus dem Bedürfnis, andere zu verstehen, die Beförderung des eigenen Egoismus. Gut, es macht uns unglücklich, wenn einem Menschen, irgendwo, etwas Schlimmes widerfährt, aber letztlich sind fremdes Unglück und Leid irgendwie zu ertragen, Hauptsache, uns passiert nichts, uns sage ich, dem Höchsten sei Dank, wenn es ihn gibt, was nach allem schwer zu glauben ist. Die meisten, die sich aus dem Ausland bei mir meldeten, beteuerten mir – hm, beteuerten, dabei habe ich es nie von ihnen verlangt –, sie wüssten, wie schwer ich es hätte, doch sie, die alles im Fernsehen mit ansähen, hätten es noch schwerer. Und seit einigen Monaten, seit der Krieg vorbei ist: Stille. Stille von außen, Stille von innen, Müdigkeit und eine gewisse Schläfrigkeit, Erschöpfung oder was es auch ist. Die Bombardierung haben wir irgendwie überstanden, und von irgendwoher kommt etwas Licht, sodass wir für einen Moment vergessen können, dass – wenn man so will – die balkanische Haupttrasse, die Belgrad mit dem Meer verbindet, durch hundert Tunnel führt, eine kitschige Metonymie für das Leben, ich weiß, feucht und finster, gleich einem Verlies, so wie es auch ohne diese Metonymie ist (das Leben, nicht das Verlies). Im Leben tappt man ständig ins Dunkle. Das heutige Dunkel dauert wahrlich zu lang.

Irgendwann musste der Krieg aufhören, wie jeder Krieg, aber zu Ende ist er noch nicht. Hier herrscht eine sinnlose Zeit des Wartens, niemand weiß worauf, so etwas habe ich noch nie gespürt. Am Ende des Tunnels tut sich eine Schlucht vor uns auf. In diesen Abgrund, schwarz wie das Dunkel der Nacht, sind wir eigentlich längst hineingesprungen, und befinden uns jetzt im freien Fall, lautlos und lang, ohne die Hoffnung, je den Boden zu berühren. Denn einen Boden gibt es nicht, der Fall ist endlos. Die Menschen sind verzagt und verzweifelt. Es gibt keine Liebe, wer weiß, wohin sie verschwunden ist. Und wo keine Liebe ist, ist auch kein Sinn. Die Welt hier, der kümmerliche Überrest der Welt, funktioniert nach dem Prinzip einer dämonischen Trägheit, alle reden, aber die Worte sind fern von jeglichem Verstand, alle plappern, jeder zwingt den anderen seine Wahrheit auf, keiner hört dem anderen zu. Wenn das menschliche Reden irgendwo auch seinen letzten Sinn verloren hat, dann in Serbien, da sei du mal serbischer Schriftsteller. Zum Glück bin ich, wie du weißt, kein Schriftsteller, ich schreibe nur, Bücher die keiner braucht, ich schreibe, weil mir nichts anderes, nichts Sinnloseres, eingefallen ist. Hier zu schreiben ist wie Tauchen mit angehaltener Luft, wie Atmen durch Kiemen, nicht metaphorisch, nein, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Land befindet sich in Depression, in einem endlosen hypnotischen, komatösen, lethargischen Winterschlaf, verglichen damit kommen die vergangenen Jahre des Schreckens einer paradiesischen Erinnerung gleich. (Und das ist noch sehr nüchtern und teilnahmslos ausgedrückt.)

Die Opposition, wie immer unersättlich und korrupt, besitzt weder Kraft noch Verstand, nur Eitelkeit, die Regierung wiederum tut, als wäre nichts und feiert sogar den Sieg. Jahrmarkt der Eitelkeit, der Titel von Thackerays Roman, trifft es genau. Der Kosovo ist, nach dem, was ich von Flüchtlingen gehört habe, die reinste Hölle. Ich habe ein Interview mit einem amerikanischen Militär-Zombie gelesen und dabei teilweise verstanden, was uns widerfahren ist (ganz kann man es nicht verstehen, denn es übersteigt uns): eine Art technische Strafexpedition, die als Grund für ihre Vergeltung immer wieder nur einen Namen nennt. Vom Alltag der Menschen wissen sie nichts, und wollen auch nichts wissen. Wir alle, wie man es auch dreht und wendet, sind, egal ob wir für den Irrsinn mitverantwortlich waren, Versuchsobjekte für ein Experiment an lebendigem Menschenmaterial. Ein Experiment, ausgelöst vom hiesigen politischen Wahnsinn. Doch die Folge übersteigt ihre Ursache ums Hundertfache: Die Vergeltung ist übertrieben und irrational, aus dem Kampf gegen das Regime ist ein Kampf gegen das Volk geworden. Stell dir vor, irgendein minderjähriger, minderbemittelter Schulrowdy vergewaltigt ein Mädchen. Und dann kommt die Polizei und verprügelt die gesamte Schülerschaft. So ähnlich, nur noch viel irrsinniger, ist es auch uns ergangen. Interessen bestimmen die Wahrheit, und mit Gewalt wird sie uns aufgezwungen. Das ist die ganze Weisheit des heutigen Handelns. Verzeih mir, wenn ich dich mit meinen quälenden Sätzen belästige, sie sind alle im selben Tonfall geschrieben, ich hänge mir schon selbst zum Hals heraus mit dieser zwanghaften Analyse der Ausweglosigkeit, die tiefer ist als ich mir je vorstellen konnte. Darin liegt auch die Schizophrenie, man liebt ein Leben, vor dem man davonlaufen möchte. Bei all dem Irrsinn finde ich nur in der kleinen inneren Katharsis des Schreibens Frieden, eines Schreibens um des Schreibens willen, das niemand wirklich braucht, wirklich niemand, außer mir, wenn ich nicht auch selbst dieser Niemand bin.

Manchmal gehe ich an die Donau. Die Donau, hat mal jemand gesagt, ist Geschichte, ein weiser Fluss, ein Fluss der Zeit, mehr noch: das Leben selbst. Der Kai, der meinen und deinen Geschichten innewohnt, ist ein Monstrum geworden, die Verkörperung eines faulenden, metastasierenden Staates. Der Sommer hier war absurd, im Krieg donnerte es wie noch nie, ein apokalyptischer Himmelsdonner, dann kam Regen, gefolgt von tropischer Hitze bis zum Umfallen, danach ein depressiver, unfruchtbarer Herbst, und jetzt ist es schon Winter, und der Schnee bedeckt die Entstelltheit der Welt. In diesem Weiß herrscht eine müde, kraftlose Ruhe, niemand weiß, was kommen wird.

Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast: In unseren Briefen haben wir immer nur vom Alltag hier gesprochen, was ganz verständlich ist, denn dein Geist ist immer noch bei uns, während meiner in das Leben dort, wo du bist, nicht einmal flüchtigen Einblick genommen hat. Trotzdem wünschte ich, du würdest manchmal etwas mehr vom Alltag bei dir schreiben, obwohl das ruhige und geregelte Leben sicher nicht sonderlich inspirierend ist. Über meine Wirklichkeit gibt es nichts Wesentliches zu sagen: ein klinischer Tod, die Lebensfunktionen nur Schein. Vor ein paar Jahren ist die Stadt erwacht, um dann in einen noch tieferen Albtraum zu fallen. Neue Regungen sind nur ein schwacher Abglanz des Trubels von damals, ein letztes Zucken, bevor der Ertrinkende unter der Wasseroberfläche verschwindet. Die letzten Kräfte sind versiegt, es herrscht allgemeine Apathie, und ich, apathisch mittendrin. Eine Veränderung ist nicht in Sicht, solange der Westen sie nicht wirklich möchte, der aber scheint sie nicht zu wollen, er braucht etwas, was diesen Teil Europas destabilisiert, einen Raum, in dem er zu experimentellen und despotischen Zwecken Macht demonstrieren kann, worin der einzig wahre Sinn seiner Existenz liegt. Wie nach dem Krieg sehr schön zu sehen ist. Von wegen humanitäre Aktion, von wegen Demokratie, alles nur Beruhigungspillen für die öffentliche Meinung: Im Kosovo haben Henker und Opfer während der letzten Monate lediglich die Rollen getauscht. Die Zivilisation ist im Kosovo nie wirklich angekommen, die Uhren aller Nationalitäten dort ticken schon jahrhundertelang nach einer eigenen, besonderen Zeit. Nach und nach hat das Bedürfnis, dass ihre Zeit eine historische sein möge, sie verstellt, und am Ende sind sie alle stehengeblieben, wie gestorben.

Die Depression ist die zwangsläufige Folge von allem. Um überleben zu können, muss man die Reaktions- und Empfindlichkeitsschwellen entweder auf Null setzen oder fast völlig ausschalten. Ich bin antriebslos, und um die Antriebslosigkeit zu besiegen, arbeite ich, die Arbeit zwingt mich, mich auf das, was ich tue, zu konzentrieren, nicht an mich zu denken. Ich habe tausend Verpflichtungen und noch mal ebenso viele, die ich erfinde. Das Leben, mein lieber Freund, ist ohnehin nur purer Schein, hier sogar nur noch ein Schein des puren Scheins, als hetzte ich ständig von Ort zu Ort, als wartete immer irgendwo anders etwas Wichtiges auf mich, in Wirklichkeit aber stehe ich auf der Stelle, bewege mich nicht vom Fleck und versinke in mir wie ein Stein. Und wenn sich irgendetwas um mich herum bewegt, dann irgendwie widerwillig, schleppend, das Elend steigt wie die Flut, so viele Mischungen aus Dummheit und Grauen auf so engem Raum. Was also soll ich dir sagen, ohne in einen pessimistischen Ton zu verfallen? Nichts. Besser sitze ich unter einer Weide und starre ins Wasser. Gibt es in Kanada Weiden? Über welchen Baum wirft man den Strick dort am häufigsten? Doch wohl nicht über den Ahorn. Ich bin verdrossen und finde alles sinnlos, oder genauer gesagt, was immer ich auch tue, hat keinen Sinn. Doch jetzt genug davon. Ich frage mich nur, wovon sich in deinem stabilen Umfeld dort die Unruhe nährt, welche guten Gründe du für die innere Nervosität findest, ohne die, wie du selbst weißt, Schreiben unmöglich ist. Hier ist es ganz leicht, ein Blick aus dem Fenster genügt, um an das Unglück zu denken, es rennt durch die Straßen. Ivana ist heute zum Beispiel noch vor Sonnenaufgang aufgestanden, um für Milch anzustehen, seit Tagen gibt es keine Milch mehr, nicht so schlimm, dann trinken wir eben Wasser, auch eine Flüssigkeit, die haben sie uns bis jetzt nicht abgedreht. Ich bin ebenfalls wach geworden und habe sofort begonnen, dir zu schreiben, geknickt, aus dem Zentrum des Chaos. Manchmal fühlt sich der Mensch wie ein Brunnen. Am Morgen gibt er her, was sich in der Nacht angesammelt hat.

Vor ein paar Tagen ging hier ein literarisches Treffen zu Ende, stell dir mal vor, nach allem, was geschehen ist: Der Balkan in der Literatur – Ex-Jugos, ein paar Rumänen, Bulgaren und Griechen, die Albaner sind verständlicherweise nicht gekommen … Widerwillig bin ich zur Eröffnung gegangen, eine zwielichtige Schriftstellerschar, die kopflos umherirrt und versucht, ebenbürtigen Gestalten aus den Nachbarländern etwas zur Übersetzung unterzuschieben, als würde es irgendjemanden interessieren, als würde heute überhaupt jemanden irgendetwas interessieren, so viel Selbstproklamation, so viel Schaumschlägerei, so viel trauriges Streben danach, sich wichtiger zu machen, als man es in seiner völligen Bedeutungslosigkeit ist, alle tun höflich und brennen vor Interesse für das, was ihre Kollegen schreiben. Ein Nichts, ein großes Nichts, ein Jahrmarkt der Eitelkeit und des Unsinns. Und wieder einmal hat sich dort für mich bestätigt, was ich längst weiß: Schriftsteller brauchen die Illusion, dass irgendjemand ihr Schreiben braucht, sie brauchen also nicht das Schreiben, sondern die Illusion des Schreibens, sie sterben fast vor Höflichkeit und Wichtigkeit, dahinter aber ist nichts, ein großes Nichts, ein Schatten und Nichts, wie Sterija sagen würde.

Ich bin müde und abwesend, ich lasse mich selbst längst in Ruhe, betrachte mich von der Seite, als betrachte ich einen fernen Unbekannten. Das alles ist ein pures Narrenspiel, Verrückt und Verwirrt im Bunde gegen blutdürstige und gierige Idioten, und die Übrigen, die noch eine Prise Verstand haben, sind ohnmächtig, betrachten alles von der Seite, schweigen und lächeln. Ein öffentlicher Irrsinn hat um sich gegriffen, regelmäßig verkündet uns das Fernsehen, dass wir in einem idealen Land leben. Ich reagiere nicht darauf, ich rühre mich nicht von der Stelle. Eine neue Rezession bricht an, ähnlich wie die, die du vor ein paar Jahren selbst durchlebt hast. Das Volk ist völlig verzweifelt und am Ende, es wird so früh dunkel hier, nichts Heiteres weit und breit. Vor ein, zwei Monaten haben meine Vorlesungen begonnen, und ich beschäftige mich gerade intensiv damit, mir hunderte falsche Gründe für die Existenz und die Existenzberechtigung von Literatur auszudenken.

Ab und zu, meistens dienstags, spiele ich Basketball mit der alten Truppe. Manche davon kennst du. In diesem mehr als ordinären Alltag bestärkt sich meine These, dass sich nichts bewegt hat, die Geschichte bricht über uns herein, das Ego aber ist ein schwarzer Fleck in einem starren Bewusstsein. Inzwischen sind wir zwanzig Jahre älter, aber innerlich, im Charakter, sind wir noch dieselben Neu-Belgrader Gestalten von damals, nur dass wir heute grotesk aussehen, mich eingeschlossen. Die Kinder wachsen unverschämt schnell, gestern habe ich zu meinem Sohn gesagt, dass es unfair ist, wie schnell er wächst, ich kann ihn jetzt schon, ohne mich hinunterzubeugen, auf die Stirn küssen. Söhne sind Uhren. Manchmal möchte ich sie zurückdrehen, aber nur manchmal, denn dann fällt mir ein, dass es völlig irrsinnig wäre, die bereits durchlebte Zeit noch einmal zu erleben, zumindest die, die wir hier hinter uns gebracht haben.

Ja, ich weiß schon, meine Briefe an die über die Welt verstreuten Menschen, auch die an dich, sind kleine Wort-Behälter, in die ich meine Verzweiflung einschließe. Mir graut, wenn ich daran denke, Gott, kann ich diesen Menschen nicht irgendetwas Normales schreiben? Nein, das kann ich nicht, hier ist nichts normal, aber alles scheint normal. Eine schaurige Obrigkeit, die niemals zugeben wird, was sie getan hat. Jeden Tag wird irgendetwas verboten, irgendjemand verurteilt, irgendjemand verleumdet, irgendjemand getötet. Um irgendwie zu überleben, lese ich Tschechow, ein purer Anachronismus dieser Tschechow, Kunst mit Tiefe, Kunst mit Glauben, Kunst mit authentischer Verzweiflung, nicht so einer, wie wir sie haben, Kunst mit Perspektive, Kunst mit Identität. Ich habe nichts davon, ich schreibe ins Leere, wie ein Roboter. Eigentlich spielt sich mein Leben nur noch dort ab … in den Büchern … wo auch sonst, kaum blicke ich mich um, weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen. Die Welt versteht den Balkan nicht, und der Balkan nicht die Welt.

Ivana wollte ihre Schwester in Deutschland besuchen. Vier Tage lang war sie in Budapest – ein herrlicher ungarischer Herbst, gute Restaurants, Menschen, die sinnvollen Tätigkeiten nachgehen, Spuren des einstigen Imperiums. Sie wollte ein Visum beantragen, hatte alle Papiere, Einladungsschreiben und Versicherungen, vergebens. Am ersten Tag stieß sie auf verschlossene Türen, es war Allerheiligen und das Konsulat hatte geschlossen. Am zweiten Tag, gegen neun, wurde sie Zeugin einer Szene wie aus einem Film über die letzten Tage des Abzugs der Amerikaner aus Vietnam. Hunderte Verzweifelte, die in einem unbeschreiblichen Gedränge, mit Pässen in der Hand, mal rufend, mal in völliger kollektiver Depression, versuchten, irgendwie das goldene Tor zu passieren, den Eingang in die gelobte Welt, deren Teil wir einst waren. Sie erstarrte, sie konnte nichts tun, ihre Katalepsie war mehr Verteidigungsgeste als Vernunftreaktion. Zu Hause angekommen, erzählte sie: In ihr habe sich die Würde geregt, jene minimale menschliche Würde, sie habe um keinen Preis Teil dieser Meute werden wollen, beobachtet von den Zerberussen der Sicherheitskräfte, mit einer Mischung aus Verachtung und vordergründiger Übermacht. Jammergestalten, auf der einen wie auf der anderen Seite.

Jetzt sind wir also wieder beieinander, Ivana und ich, hier, im Belgrader Alltag, ich bin weder fröhlich noch traurig, eher irgendwie dazwischen, irgendwie im Nirgendwo, mit der schweren Erkenntnis, dass ich nichts tun kann, es fällt mir schwer, auch nur die Hand zu heben, denn wenn ich die Hand hebe, wohin geht sie dann, also sitze ich da und fasele, in diesem Loch von Land, und schreibe. Ich tue, was ich kann, ich tue nichts, ich bin sauber.

Für mich bist du nie weggegangen. Unser Briefwechsel gehört zum Intensivsten, was ich in Gedanken trage, ich rede mit dir darin wie mit meinem Spiegelbild, erst die Ferne macht uns zu dem, was wir wirklich sind, sie hilft uns, unser tiefstes Inneres zu begreifen. Vielleicht auch, weil ich Gespräche von Angesicht zu Angesicht schon immer unnatürlich, pathetisch, falsch, einengend, qualvoll, beschwerlich und nichtig fand. Und gerade weil ich dir so schreibe, als würde ich mir selbst schreiben, würde ich dir gerne einen heiteren Gedanken schicken, ich möchte es, aber leider fällt mir kein einziger heiterer Gedanke ein. Ich glaube auch nicht, dass ein solcher Gedanke noch existiert, zumindest nicht auf längere Sicht. Daher ist es nach allem das Beste zu schweigen. Ich grüße dich und bitte dich nur um eins: Versuche nicht, mich zu trösten, ich bin chronisch untröstlich.

Miša

Sobald ich Mišas Brief gelesen hatte, verspürte ich den Wunsch, ihm zu antworten. Ich schaltete den Computer ein und saß lange vor dem leeren Bildschirm, die Worte wollten einfach nicht kommen. Ich stand auf und ging ans Fenster. Der Dezember-Pazifik schlug wütend und schwarz gegen das Festland.

Wenn es Liebe ist

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