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II

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Du hast dich immer noch nicht davon erholt, sagst du mir beim Videoanruf, und meinst meine Geburt vor fünfundvierzig Jahren. Wir telefonieren oft über eines dieser Tools, die das Leben im Ausland inzwischen völlig verändert haben.

„Du hast dich immer noch nicht davon erholt?“, frage ich und berühre den Bildschirm.

Du siehst mich an und kommst mir dabei unangenehm nah. Dein Gesicht füllt mein gesamtes Handy-Display aus.

„Nein“, bestätigst du und fragst mich, wie es mit dem Kistenpacken in unserer Berliner Wohnung vorangehe.

„Ganz gut“, antworte ich, und jetzt hältst du das Handy auf einmal so nah an dein Gesicht, dass ich nur noch deine Augen sehe.

„Ich spüre dich hier in mir“, sagst du und hältst das Handy so, dass ich sehen kann, wie du zu Hause auf dem Boden sitzt und dir über den Bauch streichst. Dann erzählst du mir, du würdest in letzter Zeit fast den ganzen Tag in Embryostellung daliegen.

„Wenn’s mir schlecht geht, rolle ich mich zusammen, guck mal, so“, fährst du fort und legst dich auf den Boden, damit ich sehen kann, was du meinst.

„Ich hab das auch meinem Psychologen erklärt. Ich schlafe dabei nicht unbedingt ein, ich liege nur da, so – siehst du? –, und versuche, mit dem ganzen Schmerz zu leben. Ich kann nicht denken, ich kann nicht sprechen. Das Einzige, was ich tue, ist überleben.“

Du machst das schon seit Jahren, erzählst du mir. Liegst stundenlang in Embryostellung. Dein Psychologe meint, du sollst dir das abgewöhnen, und rät dir, dich tagsüber nicht mehr hinzulegen.

„Aber weißt du, Míkael, das ist so kräftezehrend, als wäre ich ein Baby, das abgestillt wird“, sagst du, denn du kannst dir ein Leben, ohne dich tagsüber hinzulegen, nicht vorstellen.

Ich verstehe dich gut, Mama.

Ich befand mich selbst schon in der Situation, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich weiterleben sollte, ohne mich in Embryostellung zusammenkauern zu dürfen. Bei mir lag das an den heftigen Bauchkrämpfen, die ich manchmal als Folgeerscheinung meiner Krankheit in der Kindheit bekam. Ich darf mich nicht überanstrengen und muss ein geregeltes Leben führen, sonst ende ich in Embryostellung auf dem Fußboden im Wohnzimmer.

„Ich spüre dich, Míkael“, sagst du mir am Telefon. Du nennst mich immer Míkael mit langem í, nie mit kurzem i oder einfach nur Mikki. Für dich bin ich Míkael, mit Betonung auf dem i. Der kleine Junge, den du nach dem Erzengel Jehovas taufen ließest, denn damals wollten wir bis in alle Ewigkeit miteinander im Paradies leben.

Es ist so lange her, seit wir dachten, wir kämen gemeinsam mit den anderen Zeugen Jehovas ins Paradies, dass es mir manchmal so scheint, als hätten wir beide den allmächtigen Gott vergessen, nach dem wir früher jeden Atemzug ausrichteten.

„Ich spüre dich hier drin“, sagst du und fasst dir an den Bauch.

Morgen schreibst du auf meine Facebook-Seite, dass du mich liebst, und ich kommentiere es mit einem Herzchen, weil ich mich nicht mehr für dich schäme. Früher schämte ich mich und meldete mich von Facebook ab, weil ich dieses übergriffige Verhalten, dazu noch in aller Öffentlichkeit, nicht ausstehen konnte. Schon peinlich, sich einzugestehen, dass man sich als erwachsener Mann für seine eigene Mutter geschämt hat. Warum verhält man sich manchmal wie ein Kind? Welcher Mann über vierzig fürchtet sich vor seiner eigenen Mutter auf Facebook?

Kann es sein, dass man gegenüber der eigenen Mutter nie erwachsen wird? Besonders wenn man ein so kompliziertes Verhältnis hat wie wir. Es ist mir immer sehr schwergefallen, in deiner Gegenwart erwachsen zu sein, weil unsere Beziehung zum Stillstand kam und sich nicht mehr weiterentwickelte, seit ich mit knapp fünf Jahren von dir getrennt wurde. Und bevor ich mich versehe, fühle ich mich in deiner Gegenwart wieder wie ein Fünfjähriger. Ich werde immer dein kleiner Junge sein, und du wirst nie müde, mir das zu sagen.

„Mein kleiner Junge“, sagst du, und ich lächle dich an.

Wenn ich zurückblicke, erkenne ich, wie viel Einfluss du auf mein Schreiben hattest, wobei mir das erst bewusst wurde, als ich begann, über meine Kindheit und über Papa und dich zu schreiben.

Unser Verhältnis, Mama, war schon von meiner Geburt an kompliziert, als ich mit dem Ellbogen voraus und mit geballten Fäusten zur Welt kam, bereit, mich mit meiner Krankheit und den Zeugen Jehovas und Papa und dir herumzuschlagen. Manchmal glaube ich, du hättest mich am liebsten noch im Mutterleib, dabei weiß ich, dass das nicht stimmt.

„Ich fühle mich selbst wie im Mutterleib“, unterbrichst du meine Gedanken. „Und trotzdem bist du in mir. Ich liege schon seit vielen Jahren in Embryostellung. Ich spüre dich wirklich, Míkael.“

„Ich weiß“, sage ich, aber du hörst mir nicht zu und redest weiter: „Die letzten Monate der Schwangerschaft waren die schlimmsten. Ich wollte eine großartige Mutter sein. Ich wollte dich über alles lieben. Es hätte niemals so laufen dürfen. Ich hatte einen Riesenbauch, und du hast getreten und gestoßen, als wolltest du unbedingt raus. Ich konnte nicht mehr laufen. Ich bekam keine Luft. Es war, als würde etwas zwischen meinen Beinen feststecken. Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen.“

Nach all den Jahren reden wir immer noch über meine Geburt. Sie wird wohl niemals fertig besprochen oder abgehandelt sein. Einmal fuhren wir sogar zusammen zum Archiv der Uni-Klinik in Kópavogur und ließen uns eine Kopie meines Geburtsberichts geben. Offiziell gehörte der Bericht dir, weil man seine eigene Geburt nicht besitzt. Du warst mit mir schwanger und brachtest mich zur Welt, und ich durfte den Bericht nur mit deiner Einwilligung lesen. Ich war ja in deinem Körper nur zu Gast gewesen.

In dem Bericht stand nichts Neues. Nichts, was wir nicht schon gewusst oder jahrzehntelang ausgiebig besprochen hätten. Ich wusste das alles. Du hattest einen so schlimmen Dammriss, dass du bis zum After genäht werden musstest. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich schon immer alles gewusst, was in diesem Bericht steht. Seit ich denken kann, kenne ich die gesamte Geschichte meiner Geburt – beziehungsweise deiner. Früher war es mir peinlich, dass ich die Geschichte meiner Geburt bis ins kleinste medizinische Detail auswendig kannte, aber jetzt ist es mir egal.

„Es war ein Dammriss vierten Grades“, falle ich dir ins Wort, denn wir kommen auf einmal beide ins Reden und ereifern uns darüber, mit wie vielen Stichen der Arzt dich genäht hat. „Ich hab das im Internet recherchiert“, füge ich hinzu. „Man nennt es ‚grade four laceration‘.“

„Du weißt doch, dass ich kein Englisch spreche, Míkael.“

„Eine Wunde vierten Schweregrades“, erkläre ich.

„Ja, das waren wirklich viele Stiche. Der Arzt wollte gar nicht mehr aufhören zu nähen.“

Als ich klein war, habe ich dich so sehr vermisst, Mama, aber jetzt, da ich erwachsen bin, versuche ich, dich besser zu verstehen. Als Kind hat mich das alles noch viel stärker belastet. Als ich einmal allein auf dem Land war, heulte ich mich in den Schlaf, weil ich plötzlich daran denken musste, wie schlimm du aufgerissen wurdest, als ich mich auf die Welt boxte. Die Hebamme musste dich mit einer Schere aufschneiden, und der Arzt behauptete, das sei alles ihre Schuld.

Du hattest einen roten Silver Cross-Kinderwagen für mich gekauft und dir ausgemalt, wie du mit deinem Baby durch die Stadt spazieren würdest. Doch ich war zu krank, als dass dieser Traum wahr werden konnte.


Manchmal habe ich das Gefühl, ich würde mich an meine Geburt erinnern, was natürlich Quatsch ist. Ich erinnere mich nicht an sie. Aber ich habe so oft Geschichten über sie gehört, dass sie mir quicklebendig vor Augen steht. Erinnerungen sind ein geheimnisvolles Phänomen und manchmal auch reine Erfindung. Samuel Beckett hat behauptet, er erinnere sich an seine Geburt, und zwar mit Grauen. Ich weiß es nicht. Wenn einem etwas oft genug erzählt wird, wird es irgendwann zu einer Realität, die man beschreibt, als wäre man selbst dabei gewesen. So wird aus Lebensgeschichten Literatur und aus Literatur werden Lebensgeschichten. Wobei ich selbstverständlich bei meiner Geburt dabei war.

Und ich behaupte auch, dass ich mich richtig erinnere, dass ich in meinem Wohnzimmer in Berlin am Telefon mit dir über all das gesprochen habe. Ich wollte dir so viel sagen, Mama, als du anriefst und dich auf den Boden legtest, um dir meine Geburt ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich erinnere mich auch, wie ich in deinem Wohnzimmer stehe und über meine Geburt rede. Sowohl in Breiðholt als auch in dem Viertel, in dem du jetzt wohnst. Wir reden nämlich immer darüber, und ich kann nie all das in Worte fassen, was ich eigentlich sagen möchte.

Es fällt mir wesentlich leichter, dir zu schreiben. Ich kann dir alles sagen, was ich dir schon immer sagen wollte, indem ich es in mein Tagebuch schreibe. In meinem Tagebuch erzähle ich dir, wie ich letzten Sommer auf der Suche nach Heilung nach England reiste. In Kent wohnt ein Freund von mir, der als Therapeut arbeitet und mir in den letzten zehn Jahren sehr geholfen hat. Ich erzähle dir die ganze Geschichte einfach so, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres und als hätten wir kein schwieriges Verhältnis mehr.

Ich weiß noch, wie du mir, als ich mit zwanzig von Wut zerfressen, total pleite und frischgebackener Vater war, meinen ersten Therapeuten suchtest. Damals waren wir beide psychisch angeschlagen. Du depressiv und ich aggressiv. Wir hatten immer die Gemeinsamkeit, dass wir unentwegt an uns arbeiten, wie man so sagt. Und das ist ja eigentlich eine gute Sache: Das Ziel zu haben, sich in seiner eigenen Haut wohler zu fühlen und ein besserer Mensch zu werden. Manche Leute belächeln das zynisch. Ich halte es hingegen für ein wirklich gutes Ziel.

Doch was ich dir eigentlich erzählen wollte, aber nur mit dem Stift in Worte fassen kann, ist, dass ich dir letzten Sommer in Kent begegnet bin. Ich machte eine Zeitreise und wurde wieder zum Säugling. Es wäre mir schwergefallen, dir das bei einem Videoanruf aus meinem Wohnzimmer in Berlin zu erklären, Mama, aber ich glaube, du findest es gar nicht so abwegig, dass wir uns in einer kleinen Praxis in England begegnet sind. Du erholtest dich gerade von meiner Geburt, und ich erholte mich auch. Es ging mir nicht gut, aber ich war froh, endlich nach Luft schnappen zu können und auf der Welt zu sein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein Neugeborenes zu sein und das Leben wie einen Albtraum wahrzunehmen. Wie bei Beckett. Babys haben noch kein vollständig entwickeltes Ich, sodass ihr Leben bei genauerer Betrachtung eher einem Traum oder Albtraum ähnelt. Sie haben noch kein richtiges Bewusstsein und können Schlaf und Wachsein kaum unterscheiden. Alles fließt, wie im Traum.

Ich weiß, es klingt unglaublich, zu behaupten, man könnte wissen, wie es sich anfühlt, ein frisch geborener Säugling zu sein, aber so habe ich es bei der Therapie letzten Sommer erlebt. Ich machte eine Zeitreise in meine frühe Kindheit und befand mich urplötzlich wieder im Körper des kleinen Míkael, den du aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen durftest, nachdem du dich ein wenig erholt hattest und wieder laufen konntest. Um dich selbst machtest du dir die geringsten Sorgen, denn ich starb vor Hunger, weil ich die Brust verweigerte.

Ich war furchtbar durstig. Ich verdurstete. Dieses Gefühl überrollte mich während der Hypnose bei meinem Freund in Kent. Ich starb. Ich lag in deinen Armen und weinte, bis alle Kraft aus meinem Körper gewichen war und ich keine einzige Träne mehr herausquetschen konnte.

Ich war allein.

Oder es kam mir so vor, als sei ich allein, und auf einmal erwachte ich in einem dunklen Raum in der Uni-Klinik. In meinem Kopf vermischt sich das alles. All die Erinnerungen. Die Nächte im Krankenhaus, als ich allein in meinem Bett lag und an die Decke starrte. Erst als Baby und später mit ein, zwei, drei, vier Jahren und so weiter, andauernd krank.

All das holte mich in Kent wieder ein. Als Kind hing ich häufig am Tropf, und davon kriegt man schrecklichen Durst. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich durstig war, aber dort in Kent auf dem Stuhl vor meinem Freund Palli – er heißt Páll Jónsson – grub ich tiefer und tauchte in mein Unterbewusstsein ein und spürte das Hungergefühl des Neugeborenen, das die Brust seiner Mutter verweigert und stirbt.

Glaubst du, dass das möglich ist, Mama? Dass man diese Erinnerungen in sich trägt und wieder hervorrufen kann, wenn man nur tief genug gräbt? Das ist ja alles wirklich passiert. Das weiß ich. Du hast versucht, mich zum Trinken zu zwingen.

„Du musst trinken“, sagtest du schluchzend, „du musst trinken.“

Ich hatte riesigen Durst. Ich wollte nichts lieber als trinken, trinken, trinken. Und wie absurd es auch klingen mag, bei der Therapie in Kent sah ich, wie du versuchtest, mir deine Brustwarze in den Mund zu stopfen. Ich wand mich mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl vor Palli, und er trommelte mit den Fingern auf meine Knie, um all die schmerzlichen Erinnerungen hervorzulocken und mich von der Unsicherheit und Angst zu befreien, die ich vor langer Zeit verdrängt hatte, indem ich vorgab, viel stärker zu sein, als ich bin.

„Was siehst du?“, fragte Palli.

„Ich hab solchen Durst“, jammerte ich. „Ich verdurste.“

Ich sehe die Szene genau vor mir, aber ich weiß nicht, welche Erinnerungen echt sind und welche nicht. Doch das ändert nichts. Das Gefühl ist da, und es ist echt.

Du verstehst mich doch, Mama, oder? Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass nur du mich verstehst, weil wir gemeinsam das Schlimmste durchgemacht haben, noch bevor ich zu Sinn und Verstand kam. Als ich schwerkrank war und kaum einen Unterschied zwischen Bewusstsein und Albtraum ausmachen konnte. Damals waren wir beide allein, während Papa zu Jehova betete und sich mit den Ärzten herumstritt, sie sollten mich sterben lassen, weil für unsere Familie keine Bluttransfusion in Frage käme. Damals weintest du immer mit mir. Du weintest für uns beide, als ich keine Tränen mehr hatte.


Doch, ich glaube, wir verstehen uns, Mama. Jedenfalls weiß ich, dass du sagen würdest, dass du mich verstehst. Und das hättest du mir auch gesagt, wenn ich dir von meiner Erfahrung in Kent erzählt hätte, als du mich anriefst und dich in deinem Wohnzimmer auf den Boden legtest.

„Ich verstehe dich, Míkael“, hättest du gesagt und mich durchs Telefon umarmt.

Ich hätte mich auch auf den Boden legen und mich vor meinem Handy in Embryostellung zusammenkauern sollen. Wir hätten gemeinsam auf dem Boden gelegen. Ich in Berlin und du in Reykjavík.

„Ich werde mir das nie verzeihen“, sagtest du, dich darauf beziehend, dass du nicht zu mir gehalten hast, als ich krank war und für die Zeugen Jehovas sterben sollte.

Ich nickte. Ich habe das schon so oft gehört. Wir sitzen in diesem Karussell fest, fahren Runde um Runde, haben schon letztes und vorletztes Jahr und vor zehn und zwanzig und dreißig Jahren darüber gesprochen. Ich glaube, du hast mir das alles schon vor vierzig Jahren erzählt. Ich habe in der Küche in Breiðholt mit dir darüber geredet, habe in Grafarvogur bei dir am Bett gestanden und in der Psychiatrie weinend bei dir gesessen. Wir führen immer dieselben Gespräche, und wir möchten einander verstehen. Als unsere Wege sich vor vierzig Jahren trennten, als ich den Stomabeutel loswurde und wir vorübergehend beide von den Zeugen Jehovas verstoßen wurden, begann diese Reise, auf der wir einander verstehen möchten, aber nicht zueinander finden.

Es ist eine unendliche Geschichte. Unsere Geschichte, Mama. Wir werden nie müde, sie zu erzählen. Sie gemeinsam zu rekapitulieren. Du wirst dir niemals verzeihen, und ich werde nie aufhören, dich zu vermissen. Es ist wie eine Pattsituation, aus der es keinen Ausweg gibt.

Ich vermisse dich so sehr. Allerdings nicht unbedingt als der Mensch, der ich heute bin. Ich vermisse dich als Kind, als Jugendlicher. Deshalb fallen mir Abschiede auch so schwer. Ich verabschiede mich ungern und habe oft Trennungsängste, wenn ich gezwungen bin, längere Reisen zu machen.

Daran arbeiten Palli und ich. Ich telefoniere regelmäßig mit ihm, und wir reden darüber, wie es mir geht. Manchmal geschieht es nämlich, dass ich mich aus heiterem Himmel wie zerrissen fühle und Panik bekomme. Früher überspielte ich das und prahlte damit, dass ich vor nichts Angst hätte. Aber heute kenne ich mich besser, und wenn ich ein seltsames Gefühl kriege, dann weiß ich, dass diese Angst oder Panik nichts mit dem fünfundvierzigjährigen Mann zu tun hat, der mich morgens im Spiegel anschaut. Die Angst holt mich aus der Vergangenheit ein, aus der Kindheit, und dann rufe ich Palli an, und er rät mir, tief in den Bauch zu atmen. Palli und ich haben sehr viel zusammen durchlebt. Oder vielmehr: Palli hat mich durch Vieles geleitet.

Bevor ich vor gut zehn Jahren anfing, an mir zu arbeiten, habe ich natürlich nie geweint. Das hast du mir sogar erzählt, dass ich als Kind eigentlich nie geweint habe, mich immer zusammengerissen habe, sei es bei körperlichen oder bei seelischen Schmerzen. Letzten Sommer in Kent konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Obwohl ich mich in England befand, lag ich allein im Krankenbett in der Uni-Klinik, und das Einzige, woran ich denken konnte, war, wann du wohl zurückkämst. Dabei weinte ich gar nicht, während ich auf dich wartete. Nicht wirklich. Sehnsucht nach der Mutter ist ein Urgefühl, das sich durch keine menschliche Macht unterdrücken lässt.

Du kamst einfach nicht. Nie. Jedenfalls nicht dort in Kent, und ich war, wie so oft, allein, die ganze Nacht, im Krankenhaus, und ich heulte fünfundvierzig Jahre später in Pallis Armen.

Es war hart, das noch einmal zu durchleben. Den Schmerz und die Einsamkeit. Und dann, bei der Therapie in England, ging plötzlich die Tür zu meinem Zimmer in der Uni-Klinik auf und eine Krankenschwester kam herein, gebadet in das Licht aus dem Flur. In diesem Moment brach ich in Pallis kleiner Praxis zusammen. Alles löste sich, und ich weinte so heftig, dass ich dachte, ich könnte nie wieder aufhören. Diese Menschlichkeit berührte mich so tief, dass eine fremde Frau zu mir ins Zimmer kam und wissen wollte, wie es mir geht. Sie rückte mein Kissen zurecht und strich mir über die Stirn. Das war alles. Dann ging sie wieder, ließ mich zurück, und der Albtraum im Krankenhaus ging weiter. Wieder war ich allein. Verlassen.

Die letzten Jahre habe ich damit zugebracht, diesen kleinen Jungen aus dem Krankenhaus zu holen und mit nach Hause zu nehmen.

Du sagst mir am Telefon, dass du dich darauf freust, nach unserem Umzug von Berlin nach Wien im Herbst zu uns zu kommen und unsere Tochter zu hüten. Meine Frau Elma und ich haben viele Pläne, deshalb hast du angeboten, für zwei Wochen als Kindermädchen zu uns zu kommen und auf die kleine Ída aufzupassen, die dich natürlich an mich erinnert. An den kleinen Jungen, von dem du sagst, du hättest ihn im Krankenhaus betrogen und verlassen, nachdem Papa dich und Jehova betrogen hatte.

„Ich werde es mir nie verzeihen, dass ich dich weggegeben und deinem Vater überlassen habe“, wiederholst du immer wieder, und ich betrachte dein Gesicht auf dem Handy-Display.

„Ich verzeihe dir.“

Wir veranstalten diesen Tanz jedes Mal, wenn du anrufst.

„Ich hätte dich nicht verlassen dürfen, Míkael.“

„Ich weiß. Du warst selbst krank, Mama.“

„Ich konnte nicht atmen“, sagst du. „Ich konnte nicht atmen. Nur daliegen, in Embryostellung.“

„Ich weiß.“

„Mein Psychologe sagt immer: Hulda, du musst dir selbst verzeihen, weil du dachtest, du würdest das Richtige tun. Aber das ist mir egal. Ich werde mir nie verzeihen.“

Brief an Mama

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