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III

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Wir haben so viele Gemeinsamkeiten, Mama. Mein Vater soff sich zu Tode, genau wie deiner. Dieses Trauma müssen wir beide verarbeiten. Jeder auf seine Weise. Mir hat das Schreiben immer geholfen, und ich weiß, dass einige meiner Werke, ob Bücher oder Theaterstücke, dir sehr nahe gingen, denn sie drehten sich meist direkt oder indirekt um dich.

Weißt du noch, als ich mein erstes Buch, meine Gedichtsammlung ‚Gott, existieren Mütter?‘ schrieb und selbst herausgab? Ich habe dir das nie erzählt, aber es tut mir in der Seele weh, dass es dir so schlecht ging, nachdem du mein kleines Antipoesie-Album, wie ich es nannte, gelesen hattest. Wenn ich mich recht erinnere, brach für dich eine Welt zusammen, und in den darauffolgenden Wochen versankst du in Depressionen und wolltest nicht mehr weiterleben. Wir hatten uns so weit voneinander entfernt, dass ich dachte, es wäre mir scheißegal, was du von meinen Gedichten hältst.

Ich war Dichter und Künstler und würde es nicht zulassen, dass irgendeine Frau aus Breiðholt Einfluss darauf nahm, wie und worüber ich schrieb. Ich war noch ein Teenager, gerade mal sechzehn, und du eine knapp vierzigjährige brave Hausfrau und Zeugin Jehovas. Damals hatten wir absolut nichts gemeinsam, darüber waren wir uns einig.

Meine Gedichte waren größtenteils Schimpftiraden gegen dich, deshalb ist es interessant, sich dieses Buch noch einmal anzuschauen. Heute muss ich über die Instabilität des jungen Dichters schmunzeln. Die Gedichte tragen Titel wie ‚Fremde Frau‘ oder ‚Teufelsmutter‘, als Anspielung auf jenen Satan, den du zur Entstehungszeit der Texte an jeder Ecke sahst. Jahrelang fand ich das überhaupt nicht komisch und konnte die Gedichte nicht lesen, weil ich mich dermaßen schämte. Heute mag ich den Teenager, der sich nicht vor der Sentimentalität und der Wut scheute, die sein Gefühlsleben dominierten.

Papa fand den Gedichtband großartig und besaß das einzige Exemplar, das es meines Wissens noch gibt. Ich habe es in seinem Nachlass entdeckt, als ich seine Sachen sortierte. Jetzt liegt es hier auf meinem Schreibtisch, die Seiten sind vergilbt und abgegriffen, anscheinend hat Papa es oft durchgeblättert. Das meiste davon schrieb ich im Suff, während wir zu zweit im Skólavörðustígur wohnten, teilweise zusammen mit Ingvi, wenn mein Bruder nicht auf See war.

Einige Wochen nachdem ich dir das Buch geschenkt hatte, rissest du dich aus deiner Depression, riefst mich an und ludst mich zum Essen ein. Wahrscheinlich war das eine Versöhnungsgeste, wir sollten uns bei dir zum Essen treffen und wieder Freunde werden. Ich sagte zu, obwohl ich etwas anderes vorhatte, und ging dann nicht hin. Lange habe ich mir eingeredet, dass ich wirklich zu dir zum Essen wollte, es dann aber irgendwie vermasselte. Aber so war es wohl nicht. Ich glaube, ich sagte absichtlich zu und kam dann nicht, weil ich dich verletzen wollte. Vielleicht weil du am eigenen Leib erfahren solltest, wie ich mich gefühlt hatte, als ich deinem Lada hinterhergelaufen war. Damit ihr auf mich warten würdet, du und dein Mann Villi und meine Schwester Lilja, während die Lammkeule samt Beilagen auf dem Küchentisch kalt würde. Wahrscheinlich hätte Lilja sich niemals getraut, zu fragen, ob sie anfangen dürfe zu essen. Sie war damals streng gläubig und von euch und den Zeugen Jehovas einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Ich weiß noch, dass sie immer Zöpfe und einen langen Rock trug, um Jehova nicht zu beleidigen, denn er würde ausrasten, wenn er sie in Hosen sähe.

Irgendwann würde Villi als Familienoberhaupt das Gebet sprechen: „Himmlischer Vater Jehova, wir danken dir für diese Mahlzeit …“, und dann dürftet ihr ohne mich essen.

Währenddessen stand ich mit meinen Kumpels auf dem Balkon im Skólavörðustígur und verbot ihnen, den Telefonhörer abzunehmen, weil ich wusste, dass du es warst und mich fragen würdest, ob ich noch kommen wollte. Wir sangen wie üblich Songs von Bubbi Morthens oder grölten sie vielmehr durch die ganze Innenstadt: „Stahl und Messer, das ist mein Symbol. Das Symbol der Tagelöhner.“

Wir arbeiteten damals fast alle, nur ein paar meiner Jugendfreunde gingen noch zur Schule, und ‚Stahl und Messer‘ war unser Mottolied. Papa spendierte uns Alkohol, und wenn er zufällig auch zu Hause war, echauffierte er sich darüber, dass nie Mädchen dabei waren.

„Mit Bubbi-Songs kriegt ihr nie eine rum“, tönte er und riet uns, lieber Rotwein anstatt Wodka Cola zu trinken, darauf seien die Weiber ganz wild.

In dem unwahrscheinlichen Fall, dass damals irgendwelche Mädchen mit uns hätten abhängen wollen, hätte Papa garantiert versucht, sie uns auszuspannen. Einmal gelang ihm das bei meinem Bruder Ingvi, als der ein Mädchen nach Hause einlud, in das er verknallt war. Papa stand auch auf sie, rezitierte schmalzige Gedichte und schenkte ihr Rotwein ein. Er galt in jenen Jahren als äußerst gutaussehend und war todschick, damals in unserem Wohnzimmer im Skólavörðustígur, ein Glas Wein in der Hand. Er schaffte es immer, ein paar schlüpfrige Witze einfließen zu lassen, damit auch jeder mitbekam, wie wahnsinnig gut er im Bett war. Irgendwann schritt er zur Tat und legte Rod Stewart auf, weil das seiner Ansicht nach beim weiblichen Geschlecht am besten ankam.

„If you want my body and you think I’m sexy, come on sugar let me know“, sang Papa zusammen mit Rod, von dem er behauptete, er habe ihn 1985 getroffen, als er zur Krönung von Hólmfríður Karlsdóttir, der damaligen Miss Island und späteren Miss World, nach Island gekommen sei.

Für meine Freunde und mich war das eine beeindruckende Show, aber wir verzogen uns bald wieder auf den Balkon, um zu rauchen und zu grölen. Und bevor wir es richtig mitbekamen, hatte sich Papa mit der jungen Frau, von der alle wussten, dass Ingvi in sie verknallt war, ins Schlafzimmer verdrückt.


Ich habe schon als Jugendlicher Tagebuch geschrieben, und im Lauf der Jahre wurde es immer intensiver. Nach Papas Tod vor zwei Jahren drehten sich meine Tagebucheinträge fast ausschließlich um diesen Brief an dich. Ich wuchs bei Papa auf, und im Frühling 2017 starb er in der Uni-Klinik in Ingvis und meinen Armen, aber manchmal scheine ich mich gar nicht richtig an ihn erinnern zu können, während ich die endlosen Erinnerungen an dich nicht loswerde. Dabei bist du quicklebendig und kannst jederzeit in meinem Handy erscheinen.

Nach Papas Beerdigung kamst du zu mir und batst mich, genauso schön über dich zu sprechen, wie ich über Papa gesprochen hatte. Erst dachte ich, das sei ein Witz, aber du meintest es ernst. Du vertrautest mir sogar an, dass du am liebsten wissen würdest, was ich bei deiner Beerdigung über dich sagen würde. Obwohl du nicht näher darauf eingingst, spürte ich, dass das keine Neugier war, sondern etwas viel Größeres. Vielleicht die Sehnsucht nach unserer endgültigen Versöhnung.

Ich habe viel darüber nachgedacht und sogar versucht, einen Entwurf für eine Trauerrede über dich zu verfassen, aber das erschien mir so unpassend. Unerträglich. Dieses Buch muss vorerst reichen. Es wird ungerecht sein, aber das muss es. Vielleicht war dir nicht bewusst, dass, wenn ich über dich schreibe, dieser Mensch, diese Mutter in dem Buch, dann den Kriterien unterliegt, die das Werk für sich erhebt, denn der Erzählmodus besitzt eine maßlose Unverfrorenheit.

Wie lange man die Zwiebel auch schält, stets kommt eine neue Schicht zutage, bis nichts mehr übrig ist. So sehr der Autor sich auch bemüht, aufrichtig und anständig zu sein, sobald der Stift das Blatt berührt, beginnt die Interpretation. Meine Interpretation von dir, von Erinnerungen, von der Fiktion meiner Erinnerungen. Und die Geschichte übernimmt die Kontrolle. Diese Interpretation mag für den Schreibenden von Wert sein, spielt jedoch für die beschriebene Person eigentlich keine große Rolle. Sie wird immer nur eine Figur in einem Buch sein. Das ist die Natur des Schreibens. Laut dem französischen Philosophen Roland Barthes beziehen sich Schriftstücke auf Schriftstücke, Bücher auf Bücher; sie sind Glieder in einer kontinuierlichen Kette von Texten, und dabei regieren unkontrollierbare Mächte – Prinzipien. Was jedoch nichts daran ändert, dass alle meine Bücher von dir handeln oder von der jeweiligen Vorstellung von einer Mutter, die ich gerade im Kopf hatte. Jetzt schreibe ich sogar ein Buch, das ‚Brief an Mama‘ heißt und dir gewidmet ist. Schon in den ersten Kapiteln erscheint beispielsweise der Körper der Mutter. Der Körper, den ich verließ, als ich geboren wurde. Und diese Mutter verließ mich, als Papa dich verließ. Wer ist diese Frau? Wer bist du?

Ich schreibe dieses Buch, weil ich verstehen möchte, welchen Sinn das alles hat und wohin es führt. Ich glaube, wenn du alle meine Bücher durchblätterst, wärst du überrascht, Mama, dass diese Frau, die Mutter, nicht nur viel Raum einnimmt, sondern stets stark ist, trotz ihrer diversen Erkrankungen. Das ist ein überraschendes Ergebnis, das vielleicht trotz allem mehr über dich aussagt als über mich.


Viele meiner schönsten Erinnerungen stammen aus der Zeit, als ich manchmal die Wochenenden bei dir verbringen durfte. Das habe ich dir schon gesagt, oder? In Mamas Armen schmeckte alles besser und anders. Trotzdem ging es mir mies. Besonders als Jugendlicher, als ich allein mit Papa in der Reykjavíker Innenstadt wohnte.

„Da war so viel Schmerz in dir, Míkael“, erklärst du mir heute, wenn du mir von diesen Jahren erzählst. „Zum Beispiel damals als Teenager, als du deine Gedichte schriebst, weißt du noch? Deinen Gedichtband. Da bekam ich einen Nervenzusammenbruch. Einen echten Nervenzusammenbruch.“

Manchmal bilde ich mir ein, du wärst die Einzige, die meine Texte wirklich versteht, obwohl du in erster Linie eine Person in diesen Texten bist, auch in den alten Gedichten.

„Der Schmerz in diesen Gedichten“, sagst du weiter am Telefon, oder war das bei dir im Wohnzimmer, als wir Kaffee tranken und über den Gedichtband sprachen? „Der Schmerz!“, wiederholst du.

Natürlich identifizierst du dich damit. Du nahmst mein Buch mit zum Psychologen und last ihm die Gedichte vor. Laut schluchzend. Er starrte vor sich hin, unsicher, wie er auf dieses unerwartete und hochdramatische Happening reagieren sollte. Es war eine intensive, lange Lesung, und als du dich wieder hingesetzt und dir die Tränen abgewischt hattest, bemühte sich der Psychologe, sanft zu lächeln. Und dann sagte er das Offensichtliche: „Diesem Kind ging es schlecht. Diesem Jungen. Es ging ihm sehr schlecht.“

Papa reagierte völlig anders darauf, als ich mit sechzehn unter die Lyriker ging.

„Was für eine rohe Ausdruckskraft! Klare Poesie! Du bist ein Dichter!“, stieß er hervor und schenkte sich Cognac nach, während er meine wütenden Gedichte darüber, dass Gott und Mütter nicht existieren, in sich aufsaugte.

Uns ging es gut im Skólavörðustígur 19B, fanden wir, der Friseurmeister und sein sechzehnjähriger Sohn, der Dichter und Arbeiter. Es war ein absoluter Traum. Keiner von uns konnte Wäsche waschen, die Wohnung versank im Chaos, aber wir brachten einmal in der Woche einen Zuber mit schmutzigen Klamotten in die Wäscherei im Barónstígur und ließen waschen, trocknen und bügeln. Ein echtes Bohème-Leben, doch schon bald stellte sich heraus, dass es mir nicht besonders guttat. Das Dasein war so zerbrechlich und die emotionalen Schwankungen viel zu heftig. Eine Zeitlang war ich besessen von der Idee, nach Frankreich zu ziehen und zur Fremdenlegion zu gehen, weil ich dachte, mein Leben sei so nichtig, dass ich nichts hätte, worüber ich schreiben könnte. Jedenfalls nichts im Vergleich zu den Schriftstellern, die ich bewunderte. Ich kaufte mir sogar Armeestiefel und stand jeden Morgen früh auf, um sie zu putzen. Dieses Ritual war gewissermaßen mein Halt im Leben, obwohl ich eigentlich wusste, dass meine Allüren und Hirngespinste aus den Büchern von Hemingway und anderen stammten, die ich mir in der Bücherei im Þingholt-Viertel auslieh.

Ich hatte keine Ahnung, dass du selbst am Scheideweg standst, Mama, als ich dir vor knapp dreißig Jahren ein Exemplar von meinem Gedichtband gab. Du warst nämlich ungehorsam gegenüber den Ältesten, indem du einen Termin bei einem Psychologen machtest. Das galt als ungeheuer dreist, denn die Ältesten waren der Ansicht, ein dahergelaufener Psychologe könne einem nicht helfen, stattdessen solle man sich, wenn es einem schlecht ging, stärker an Jehova Gott binden und ihn um Hilfe bitten. Doch Jehova hatte deine Gebete nicht erhört, und du versankst immer tiefer in dem Sumpf aus Depressionen, Angst und Verzweiflung, bis dir nichts anderes mehr übrig blieb, als dich den Anweisungen der Ältesten zu widersetzen, zum Psychologen zu gehen und ihm Gedichte vorzulesen.

Brief an Mama

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