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Als ich aufwachte, blickte ich in die sabbernde Schnauze eines Hundes. Das Tier stand direkt an meinem Bett und der Hundekopf ragte weit über die Bettkante, sozusagen Hundekopf an Menschenkopf. „Kannst du mir sagen, wo ich hier bin?“, fragte ich den schwarz-braun-weiß gescheckten Zottel. Der Hund - einen, wie man ihn aus der Bergwelt her kennt, hechelte und schlabberte einige Male kräftig durch sein Maul. „Du bist hier in Sicherheit, wir pflegen dich gesund. Schon ein paar Tage liegst du hier im Bett.“ Was mich verwunderte, war nicht, dass der Hund sprach, sondern dass er es in bayerischer Mundart tat. Folglich klang es mehr nach: „Du bisd do in Sicherheit, mia pflegn di gsund. Scho a boh doge liagst du do im Bett.“

„Sind noch andere hier?“, fragte ich den Hund, „ … ich meine nicht unbedingt sprechende Hunde, ich denke eher an ... sprechende Menschen.“

„Jo, natürlich, a baar Menschn san no do, und sie sprichn olle wia i. Soa i sie holn?“

Seine Stimme klang tief und sehr authentisch. Es gab für mich keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.

„Ja, bitte, tue das.“ Dann schlief ich erneut ein.

Als ich irgendwann später ein zweites Mal aufwachte, war wieder nur der Hund da. „Wo sind die Menschen, von denen du gesprochen hattest?“ Der Hund antwortete nicht. Er blickte mich mit treuem Hundeblick an, dann sprang er mit den Vorderläufen aufs Bett, traf mich dabei unglücklich unterhalb der Blase und begann zu bellen. Wie ein richtiger Hund.

Das dunkle, schwere Gebell fand ein schnelles Echo. Die Holztür knarrte auf und eine ältere Frau betrat den Raum. Schwarzes, längeres Haar klebte an ihrem verschwitzen, blassem Gesicht. Von breiter Gestalt war diese Frau, die sich mit langsamen Schritten auf mich zubewegte. Hinter ihr erkannte ich einen kleineren Mann, braun gebranntes, gegerbtes und hageres Gesicht und er trug ein Holzfällerhemd oder so etwas in der Art, über dem wenig fest zwei Hosenträger schlabberten. Und ein junges Mädchen sah ich, ja, jetzt sah ich sie deutlich, wie sie etwas schüchtern in der Türschwelle stand und vorsichtig ihren ersten Schritt ins Zimmer wagte. Die sehr junge Frau, fast noch ein Teenager, trug einen grünen, knielangen Rock, sicher ein Trachtenrock, und obenrum ein schwarzes T-Shirt mit einem Eichhörnchen drauf, welches bei genauerem Blick durch ihre unübersehbare Oberweite sehr gedehnt wirkte. Und ich erkannte, dass dieses Mädchen dieselben Augen hatte, wie die ältere Frau, die bereits direkt bei mir am Bett stand. Keine offenen und wachen Augen, eher fast verschlossen lagen sie bei beiden Frauen tief im Kopf, wie versteckt. Ich blickte durch die Runde und jetzt, erst jetzt, dämmerte es mir. Meine Erinnerung kam langsam und bruchstückhaft zurück. Ich erkannte den Mann. Er war es. Er hatte mich gerettet. Erst hatte er mich angefahren, um mich, den Angefahrenen, zu retten. Er nahm mich einfach mit, zu sich und seiner Familie.

Alles spielte sich vor ein paar Tagen ab. Harmlos ging es los, wie auch an den Tagen zuvor, als ich hinter dem Spar-Laden die kleine Bergstraße hinauf wanderte, viele Kurven nahm, später eine Alm-Wiese überquerte, um die Wegstrecke etwas abzukürzen. Steiler und steiler ging es durch knietiefes Wiesenkraut hinauf. Der eigentliche Grund der Almüberquerung war jedoch: Ich wollte auf Tuchfühlung mit den braun gefleckten Milchkühen gehen, die mich bereits aus einiger Entfernung angafften, als wäre ich ein unbekannter Eindringling, der ich zweifelsfrei auch war. Das dutzendfache Milchvieh, anfangs noch träge und teilnahmslos im Blick, gab mehr und mehr ihr typisches Blöken von sich, und musikalisch untermalt durch ihre umherschwenkenden Kuhglocken, trottete es auf mich zu. Erst behäbig, fast schon gemütlich, doch als ihre Anführerin ihre Hufe mächtig in den weichen Boden drückte und sie nur einen Augenblick später ihr Tempo merklich erhöhte, und zwar so erhöhte, dass ihr fetter Euter derart wuchtete, dass ich leider vergeblich hoffte, sie könnte aus dem Gleichgewicht geraten, blieb mir nur noch eins: die Flucht! Nicht nach vorn, sondern den Abhang hinunter zurück ins Tal. Die Anführerin geriet keineswegs aus ihrem Gleichgewicht, alle anderen auch nicht, und so liefen sie stampfend und blökend, während ich mich erst in slalomhaften Trippelschritten, dann springend, später nur noch purzelnd und kullernd die Wiese bergab bewegte. Der Aufschlag auf der asphaltierten Bergstraße war hart. Noch härter war nur einige Momente später der Schlag vom Traktor, der mich am Bein traf, kaum dass ich mich wieder aufgerappelt hatte und erneut zu Boden ging. Was ab diesem Moment mit mir war, ließ sich, meiner lädierten Erinnerung geschuldet, kaum bis gar nicht rekonstruieren. Fehlendes Bewusstsein, obwohl es doch nur ein Bein- und kein Kopftreffer war.

Der Mann, der bei mir am Bett stand, nahm sich viel Zeit und erzählte mir die ganze Geschichte von unserem Zusammenstoß. Der Mann auf dem Traktor war Alois und Alois ließ sich auf einem Schemel nieder, nah an meinem Bett mit freundlichem, zufriedenem Gesichtsausdruck.

„Es klaffen Lücken in meinem Kopf, erzählen Sie mir, wo ich bin und was passierte. Sind Sie der Mann, der den Traktor fuhr? Sind Sie in mich rein?”

„`S tut ma leid, auf oamoi warst du do, voa meim Bulldog. Warum hosd mi ned gehört, oan Bulldog hört doch jeda, du depperta Bursch! Ned zua ändern, i sog dia, wos passiad is …“

Wie ich Alois richtig verstand, hatte es sich so zugetragen, dass er mich, den angefahrenen Wandersmann, auf den Anhänger seines Traktors legte, tief ins weiche Heu hinein. Er brachte mich auf seinen Hof, hatte dort länger mit seiner Frau über den Vorfall und über mich gesprochen, und beide kamen zu dem Entschluss, nicht die Polizei einzuschalten, doch waren sich beide, sicher mangels ausreichender medizinischer Kenntnisse, auch einig, den Dorfarzt in dieser Angelegenheit zu kontaktieren. Ich wurde ein zweites Mal ins weiche Heu des Hängers verfrachtet, doch nun stand ich bereits unter Betäubung der reichlichen Gabe vom Obstschnaps.

Jeder, ob unten im Tal oder oben in den Bergen, kenne ihn bestens, da er im Umkreis von vielen Kilometern der einzige seiner Zunft war, der etwas von ärztlicher Hilfe und kleineren Noteingriffen verstand. Alois und der Fleischer waren dank Stammtisch im Wirtshaus bestens miteinander, schemenhaft konnte ich erkennen, wie sich beide herzten, bevor ich merklich grobschlächtiger auf einer Behandlungsliege geradegerückt wurde. Sodann folgte der wirklich harte Teil für mich und mir wurde klar, mehr Schnaps hätte mir für eine noch intensivere Betäubung gutgetan.

Mit jeder kleinen Einzelheit, die Alois von sich gab, kam mehr und mehr auch meine Erinnerung an diese Ereignisse zurück, ganz besonders an den Moment, als der mich behandelnde Fleischer versuchte, mein kaputtes Bein zu beugen und ich vor unsäglichem Schmerz auf ihn einzutrommeln begann, ohne ihn wirklich zu treffen. Der Befund war wenig überraschend und für jeden sichtbar: Geschwollenes Knie, und zwar so sehr geschwollen, wie ein kugelrunder Ballon nur sein kann. Ein Ballon, dem man so schnell wie möglich seine Luft, oder in meinem Fall, die darin angestaute Gewebsflüssigkeit unverzüglich heraussaugen musste. Der Arzt, eine hünenhafte, mächtige Erscheinung, schob mir mit seinem dicken Daumen den Unterkiefer nach unten, griff mit der anderen Hand nach einem Stück Hartgummi, und drückte mir dieses in den Mund. Rabiat, aber in gewisser Weise auch wie selbstverständlich. Hier, beißen Sie darauf, aber habe ich Ihnen schon erzählt, wie sich mein Golfspiel in den letzten Wochen gemacht hat? Famos, kann ich Ihnen sagen.

Alois wurde von ihm aufgefordert, mich an den Schultern zu fixieren, so fest der dürre, kleine Mann nur konnte. Danach begann die Prozedur, die letztlich einem Akt einer Folter gleichkam. Ich sah noch die dicke Spritze, die er in mein Knie rammte, als wollte er nach Öl bohren. Und er drehte sie und zog daran und malträtierte mich, während ich hin und her zuckte und wie wild mit dem noch guten Bein nach ihm trat, wo und wie ich nur konnte, bis der Ballon fast leer und die dicke Kanüle voll war. Hätte ich nicht das Stück Hartgummi zwischen den Zähnen gehabt, ich hätte mir diese zerbissen und die Zunge auch. Bevor ich in einen Dämmerzustand fiel, sah ich, wie der Berserker eines Arztes Alois zwei Packungen Tabletten oder Ähnliches in die Hand drückte, etwas dazu sagte, das typische Eine-am-Tag-Gerede, dann humpelte ich zusammen mit Alois und dem Fleischer zum Traktor und beide legten mich zurück ins Heu. In Alois` Pension wurde ich kurze Zeit später gebettet, bekam von Alois eine Tablette von jeder Sorte verabreicht, wie er mir berichtete, doch ich nahm drei von jeder. Drei Schlaftabletten und drei Schmerztabletten, gegen den Schmerz. Danach schlief ich ein und träumte später von sprechenden Hunden.

„Kennst du den Marathon-Mann mit Dustin Hoffmann, Alois?“

„Na, kenn i ned, i mach koa Marathon“, erwiderte Alois mit reichlich Unverständnis der Frage wegen im Gesicht.

„Ist egal Alois, euer Doktor hätte mir wenigstens eine saftige Betäubung geben können, das waren die schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte.“

„Mogst oan Schnaps hom, da tut dia guad!“

Alois entschwand kurz aus meinem Zimmer und ich blieb mit Mutter und Tochter allein zurück. Die Mutter saß schweigend am Tisch und beäugte mich kritisch. Ihre schmalen, kaum geöffneten Augen taxierten mich misstrauisch. Möglich, dass ich ihr ein Dorn im Auge war, wegen der Sache mit dem Unfall und ich konnte ihr Unbehagen ansehen, da sie vielleicht sogar dachte, ich würde noch die Polizei einschalten. Aber warum? Ich war mir sicher, die beiden Dorfpolizisten unten im Tal würden sowieso abends nach Dienstschluss regelmäßig mit Alois in einer Wirtschaft hocken und gemeinsam bei ausreichend Obstbrand für alles und nichts immer eine gewisse Einigung finden. Heimlich, still und leise in die nächste Kleinstadt humpeln? Ach, vergessen Sie es, werte Pensionsfrau, Sie pflegen mich doch gesund, ich werde mich sicherlich auch dafür erkenntlich zeigen, ich habe zwar keine Ahnung wie, aber wir werden sehen. Alois kam mit einer Flasche Obstbrand zurück, guten Obstbrand, wie er sagte, und wir tranken zwei, drei Gläschen ziemlich hastig einfach weg.

„Da Doktoa sogt, 's dauat no a boh Wochn, bis du wieda richtig laffa kannst. So lang kannst du bei uns bleim und di ausruhn“, sprach Alois beruhigend zu mir. Doch seine Frau war wohl mit dem was er sagte, nicht ganz einverstanden und so hörten wir von ihr ein kurz angebundenes und sehr bestimmendes: „Komm mid ausse, mia miassn redn!“ Eindeutig war ihr Alois gemeint. Nun blieb ich mit der Tochter allein im Zimmer zurück.

„Ich bin der Ronny.“

„Lisl, na, eigentle hos i Elisabeth.“

Mir fiel in dem Moment auf, dass weder Alois, noch seine Frau, meinen Namen kannten. Ich war für beide nur der unbekannte Verletzte, der in einem ihrer Gästebetten lag.

„Mia hom aa oan Ronny do, da arbadet im Nochbardoaf in da Doafdisko, da is a Ossi, aba ganz lustig. Bisd du aa lustig?“

„Elisabeth, ja … vielleicht … ab und zu … mein Bein tut weh, ich trinke noch ein Gläschen, der Schnaps ist wirklich gut.“ So torkelte ich mit Worten etwas umher. Ich betrachtete Elisabeth, die auf dem Bettende saß und lächelnd leicht auf und ab wippte, so, als ob sie denken würde: Na, irgendwie werden wir diesen Ronny schon nützlich für uns einsetzen. Wenn´s ihm besser gehen wird oder vielleicht auch schon vorher.

Schon wieder fiel mir etwas auf: Elisabeth war sogar noch blasser im Gesicht und in den Armen, als ihre Mutter. Nur Alois war von der Sonne braun gebrannt. Alois war derjenige, der täglich draußen in freier Natur unterwegs sein musste, Mutter und Tochter sahen dagegen aus, als ob sie so gut wie nie direkte Sonneneinstrahlung abbekommen würden, wie Menschen, die ausschließlich in geschlossenen Räumen leben würden. Ich kannte Stadtmenschen, die ähnlich aussahen, aber diese Stadtmenschen verbrachten ganze Wochenenden nur in lauten, überfüllten Großraumdiskotheken, betrachteten das Tageslicht fast als ihren Feind und waren gezeichnet von einer ewigen Underground-Blässe. Bei Elisabeth und ihrer Mutter mussten es allerdings andere Umstände gewesen sein, wahrscheinlich war die tägliche Pensionsarbeit schuld an ihrem blassen Teint. Vielleicht würde ich es ja sogar herausfinden können.

Alois und seine Frau betraten wieder mein Zimmer und was sie sagten - sicher als Ergebnis ihrer kleinen Besprechung -, war überraschend. Wir machten zu dritt eine kleine Abmachung, die mir durchaus gefiel und die auch Elisabeth gefiel, wie ich an ihrem zustimmenden Lächeln erkennen konnte. Ich durfte mein Krankenbett so lang benutzen, bis ich wieder auf den Beinen sein würde. Im Gegenzug gab es von mir mein Ehrenwort zum Stillschweigen, was den Zusammenstoß betraf. Ich konnte Alois ansehen, dass er froh war, darüber, dass ich mich mit unserem kleinen, gemeinsamen Pakt einverstanden erklärte. Ihn plagten sicher doch Gewissensbisse, da er dachte, er wäre schuld am Unfall gewesen. Froh war der Alois, dass, bis auf seinen grobschlächtigen Arzt, niemand davon erfahren hatte und auch niemand davon erfahren sollte.

Unsere Abmachung hatte allerdings noch einen zweiten Teil, wie seine Frau nachschob. Wenn ich wieder halbwegs in Ordnung sein werde, möge ich mich in der Pension nützlich machen, was auch immer sie damit meinte. Im Gegenzug darf ich im Bett kostenlos schlafen und würde täglich Speis und Trank bekommen, ergänzte die Hausherrin, denn, nichts anderes war sie.

„Jemand muss der Gretel Bescheid sagen, die Gretel, bei der ich doch untergekommen bin. Die Kronbichler Pension“, sprach ich mit gebrochener Stimme bittend um Hilfe.

„De Gretel is meine Schwesta und i bin de Marianne und du sogst ob 'etz Marianne zua ma!“, und als sie das sagte, sah ich Marianne das erste Mal lächeln und wusste, diese Leute werden es gut mit dir meinen. Doch nur für einen kurzen Moment hatte ich dieses Gefühl, denn Marianne wurde wieder schnell harsch im Ton und hielt für mich meine erste Aufgabe bereit. „Moang bringe i dia Erdäpfe und Zwiefen ins Zimma, de kannst du ma dann schäln!“

Drei Tage schälte ich alles im Bett, was Marianne mir brachte und es waren nicht nur Kartoffeln und Zwiebeln. Anfangs war ich langsam und von den meisten Kartoffeln blieb oft nichts mehr übrig, da ich sie förmlich weg schälte. Marianne lief ein wenig der Speichel aus dem Mund, als sie sah, wie ich ihre großen Erdäpfel zu Miniaturausgaben verarbeitete. „Mach 's richtig du depperta Bursche, do schau zua wia ma 's macht“, herrschte sie mich ein ums andere Mal richtiggehend an. Doch mit jedem Tag lief es besser, was auch der guten Marianne nicht entging und sie dazu veranlasste, mir immer mehr, und immer auch mehr neue Gemüsesorten ans Bett zu stellen. Und nicht nur das, am vierten Tag brachte sie mir zehn Schnitzel ans Bett, die ich auf einem Holztisch mit einem großen Holzhammer plattschlagen sollte, was mir viel Spaß bereitete. Ich schlug drauflos, bis die Fleischstücke so groß waren, dass kaum noch was vom Tischchen zu sehen war. Marianne war zufrieden. Ich dagegen verlangte nach mehr Schnitzel.

An jedem frühen Morgen kam Elisabeth zu mir und machte mein Zimmer. So, wie für jeden Gast des Hauses. Sie stellte das Fenster auf kipp, schlug zweimal aufs Kopfkissen und die Decke auf, um sich sodann, mal im Bademantel, mal bereits in ihrer düsteren Aufmachung für die kommende Nacht, auf das sozusagen frisch gemachte Bett fallenzulassen. Nicht weiter schlimm, fast gleichzeitig lag ich selbst wieder darin, und es fühlte sich stets so an, als ob wir uns fürs allmorgendliche Toben oder wenigstens für leichtes, gegenseitiges Necken mit einem Hauch einer Kissenschlacht bei mir treffen würden. Eine erste Vertrautheit machte sich breit zwischen einer vielleicht Siebzehnjährigen und einem humpelnden fast vierzigjährigen Mann. Was die Zimmerreinigung als solche anging, Elisabeth benötigte für alles kaum eine Minute, allerhöchstens. Das Machen der Gästezimmer war eindeutig nicht ihr Steckenpferd und so wie ich Elisabeth einschätzte, sagte sie sich bestimmt, lieber kurz und bündig, als es lang und langweilig zu erledigen.

Gestern saß mir Elisabeth am Bettende nur im Nachthemd gegenüber. Vielleicht eine Spur zu provozierend saß sie da im Schneidersitz und so schob sich ihr leichtes Nachtgewand hoch über ihre Knie. Elisabeth war kein Kind und sie wusste, was sie tat. Sie legte es bewusst drauf an und nur einmal ertappte ich mich dabei, wie mein Blick für einen kurzen Augenblick in der Dunkelheit in ihrem Schoß verschwand. Ich dachte in diesem Moment keineswegs an Elisabeth, sondern nur an ihre Mutter. Was sie wohl dazu sagen würde. Auch Elisabeth dachte an ihre Mutter und sagte: „Wenn de Muada mi so seng würde, dann gibt 's bestimmt richtign Ärga.“ Sie schmunzelte dabei und grinste mich an. „Ach, schoass drauf.“ Ihr „schoass drauf“ klang schon etwas rebellisch. Ein junges Mädchen, was damit begann, sich gegen die Mutter aufzulehnen, zumindest mit dem, was sie dachte und von sich gab.

„Ich möchte, dass du morgen und an allen anderen Tagen wieder richtig angezogen zu mir ins Zimmer kommst, Elisabeth. Du bist sechzehn? Allerhöchstens siebzehn. Ich könnte dein Vater sein! Und ich bin ein Gast wie jeder andere auch, vielleicht etwas lädiert, aber nicht mehr und nicht weniger. Suche dir einen Freund in deinem Alter, geht wandern, unternehmt was, probiert euch natürlich auch aus … macht, was auch immer!“

„De Jungs in meim Oida san wia Kinda, mid dane konn i nix ofangn.“ Elisabeth klang etwas enttäuscht.

„Kommt alles noch. Kam bei mir auch etwas später, warte ab, und nun geh, deine Mutter bringt mir gleich Kartoffeln!“

Nach einer Woche stand ich auf und humpelte durch mein Zimmer. Alois brachte mir in der Früh zwei Krücken, die vor Jahren ein Skifahrer, der sich die Haxen gebrochen hatte, dort in der Pension liegengelassen hatte. Die Krücken gaben mir fast ein neues Leben, ich war nicht mehr ans Bett gefesselt und so lief ich an diesem Tag kreuz und quer durch die Pension, die viel kleiner war, als ich dachte. Es gab nur drei Gästezimmer, dafür jedoch einen großen Speiseraum mit einem Bartresen und bestem Blick auf die Berge. Gegen Mittag machten die ersten Wanderer bei uns Rast, am Nachmittag waren es diejenigen, die erschöpft von einer langen Tour sich bei uns niederließen und am Abend hockten viele der Einheimischen bei uns. Bei uns! Es kam der Moment, als ich mir sagte: Dies ist nicht mehr die Pension und Wirtschaft von Marianne, Alois und ihrer frühreifen Elisabeth, nein, es war ab diesem Moment auch mein Platz, den ich fand. Kein Tourist, kein Durchgangsgast, einer, der dazu gehörte und dazu gehören wollte.

Ich begann, bei Marianne in der Küche mitzuarbeiten. An manchen Tagen stand ich morgens gegen zehn an unserer kleinen Auffahrt, blickte übers Tal, in den Himmel und auf die Bergstraße, humpelte schnell auf den Krücken zu Marianne in die Küche und rief ihr zu: „Marianne, heute ist ein guter Tag, es werden viele Gäste zu uns kommen, wir brauchen mehr Kartoffeln und Schnitzel, hörst du?“

Marianne war für die Zubereitung sämtlicher Speisen zuständig, die Herrscherin der Küche. Alois war tagsüber wo auch immer unterwegs, und Elisabeth ging ab und zu zur Schule oder machte sich auf der Veranda sehr lange und ausgiebig alle Nägel. Wir wurden mehr und mehr eine glückliche Viererbande. Ich tat immer das, was Marianne mir sagte, wollte ich ihr doch so viel zurückgeben.

Die Pension hatte einen kleinen Hühnerstall nach hinten raus, zum Berghang gelegen. Mittlerweile war ich auch dort unterwegs und sammelte morgens die Hühnereier ein. Es waren viele Hühner, Dutzende, und auf unserer Karte, weiß Gott nicht üppig, war jedes zweite Gericht irgendwas mit Eiern. In allen Variationen, genauer gesagt, als Spiegel- oder Rührei, aber das reichte uns und den Gästen. Ich mochte es sehr, mich im Hühnerstall aufzuhalten, blieb oft länger als notwendig, da es sich ein wenig anfühlte wie Urlaub auf dem Bauernhof, den ich nie machte, nicht mal als Kind.

„Marianne, schau, wie viele Eier ich mitgebracht habe aus dem Hühnerstall. Schau, es sind gute Eier! Wir werden sie heute mit den Bratkartoffeln machen! Marianne, schwing die Pfannen und lass uns loslegen, wir werden kochen und braten wie noch nie!“ Nur allzu oft redete ich wild daher, vor lauter Freude des einfachen Lebens in dieser Bergpension.

„Rede koan Schmarrn, mia machn 's doch wia oiwei, mach de Zwiefen und dann zarupfe de Salatköpfe du depperta Bursche!“

„Ja, Marianne, ich depperta Bursche werde mich auf die Zwiebeln und Salatköpfe stürzen!“, schmetterte ich ihr vollkommen euphorisch zurück. Ich war wie von Glück beseelt, vom Kochen, von der Küche und von Marianne meiner Küchenchefin.

Zwei Wochen später. Ich ging mittlerweile ohne Krücken durch die Küche, durch die Pension und auch ohne die Gehhilfen zum Hühnerstall. Zwar noch leicht humpelnd, aber halbwegs aufrecht und im normalen Tempo. Marianne und ich waren mittlerweile ein eingeschweißtes Küchenteam, wobei ich mich vom Küchengehilfen zum echten Küchenkoch emporgearbeitet hatte. Zumindest ich war dieser Meinung. Für Marianne war ich allerdings noch ein ausgesprochenes Greenhorn, selten erntete ich Lob, aber daran hatte ich mich gewöhnt und es störte auch nicht weiter. Wichtig war nur, sie störte mich nicht beim Kochen. Vielmehr noch, sie überließ mir von Tag zu Tag mehr und mehr alleinig das Hantieren mit Pfannen und Töpfen, während sie nur am Küchentisch saß, mich beobachtete und mir hin und wieder ein paar Kochkommandos hinüber pfefferte.

Marianne hatte ein kleines gesundheitliches Problem, oder richtigerweise gesagt, ein größeres gesundheitliches Problem. Sie hatte ein offenes Bein. Ein triefendes, offenes Bein mit zwei Löchern, die vorn und etwas seitlich, am Schienbein lagen. Schlimm, ja. Aber auch merkwürdig, dass sie so über Jahre sicherlich die Essen für die Gäste machte, mit einem offenen Bein, aus dem es nur so heraus siffte. Wenn die Gäste wüssten, dass Marianne täglich in der Küche ihren Verband wechselte, drei Schritte entfernt von der offenen Pfanne, in der es brutzelte … gar nicht dran zu denken.

„Geh doch mal zum Arzt Marianne! Oder anders gefragt: Wann warst du das letzte Mal beim Arzt? Vielleicht sollte Alois dich mal ins Spital fahren, oder an die Nordsee, wegen des Salzwassers, Marianne.“

„Da Alois fahrd dreimoi in da Woch zua Apothek, des reicht! Und jetz arbade weida, de Gäste keman boid und las mi in Ruah!“

Ich ließ Marianne in Ruah und kochte meinen ersten großen Topf Frittatensuppe. Ich machte meine erste Frittatensuppe, dann die zweite, die dritte, die vierte, die fünfzigste und die hundertste. Ich wurde der Frittatensuppenmann. Schon nach der Zehnten musste ich mit Marianne reden und ihr erklären, die Rezeptur müsse von Grund auf geändert werden. Sicher, Marianne gehörte zu der Kategorie von Pensionsbetreibern, die sich wenig um Veränderungen, ob in der Küche oder im Leben, scherten. Die Suppe funktioniere so schon ihr ganzes Leben lang problemlos wie ein alter Traktormotor, da ist nix verkehrt dran, die Leute kennen und schlürfen sie so, erklärte sie mir. Ihre Suppe war versalzenes heißes Wasser mit Resten eines Brühwürfels aus dem letzten Jahrhundert, in der wabbeliger Teig vom Spar-Laden schwamm. Und so schrieb ich eines Tages eine kleine Einkaufsliste für Alois, der sich seinen Gamsbart Hut zurechtschob und ins Nachbardorf fuhr. Später, nach seiner Rückkehr am Nachmittag, ging er in die Berge und zupfte ein Schälchen voll mit Kräutern. Ich hatte zwar keine Ahnung von Kräutern, war jedoch der Meinung, zur geschmacklichen Abrundung und für die wahre Finesse können sie Wunder bewirken, vollkommen egal welche. Marianne probierte am Abend zuerst ihre Version, dann meine, und nach zwei Löffeln von Mariannes Schlürfen, war es um sie geschehen. Sie schrie förmlich und blickte vorwurfsvoll zu Alois hinüber, der unschuldig an den Knöpfen seine Joppe drehte.

„Desn schoass hom mia oi de Joare gekocht und unsan Gäsdn gegem?“

„Ja, Marianne, diesen Scheiß habt ihr jahrelang gemacht“, konnte ich der Herrin der Küche nur bestätigen. „Ab jetzt machen wir den Teig selbst, wir machen Kräuter rein und nehmen die besten Brühwürfel, die man im Tal kriegen kann“, fuhr ich fort, wobei ich ihr vor Erregung fast an die Küchenschürze ging.

Marianne schickte unverzüglich Alois in den Schuppen, der auf der Stelle ein Schild bauen musste. Ich sah, wie er Minuten später mit einem Holzpflock und Holzschild unterm Arm zur Bergstraße hinunterlief, und damit begann, an der kleinen Auffahrt zur Pension, herumzuwerkeln. Er schlug mit einem schweren Hammer fest den Pflock in die Wiese, nagelte das Schild dran, zog ein Stück Kreide aus seiner Joppe und schrieb. Er schrieb lange aufs Schild und wischte immer wieder mit dem Ärmel drüber. Eine halbe Stunde später standen Marianne, Elisabeth, Alois und ich am Schild und wir lasen voller Stolz: „Neue Frittatensuppe vom neuen Koch!“ Es konnte beginnen.

Zwei Wochen später hatte es sich im ganzen Tal herumgesprochen. Egal, wo ich auftauchte, ob im Spar-Laden, im Tabakgeschäft, in der Wirtschaft, überall wurde, sobald ich irgendwo eintrat, getuschelt. „Des is ea, da Frittatenmo, da macht de beste Suppe im Doaf, i glaub ea is a richtiga Koch …“, hörte ich die Leut` untereinander reden. Ich war natürlich alles andere als ein richtiger Koch, ich war nur jemand, der etwas an den Zutaten drehte. Schon nach nur ein paar Tagen waren unsere Tische im Gasthaus stets gut besetzt. In großer Bescheidenheit, fast schon schüchtern, nahm ich Lob an den Tischen an, für etwas eigentlich ganz Simples. Nur merkte ich auch, nicht jedes Wiesenkraut war geschmacklich geeignet. Es gab aber auch Gäste, die es nicht so gut mit mir meinten und sich mit mir schlechte Späße erlaubten. Meist waren es junge Männer, die in Anwesenheit ihrer jungen Frauen, allesamt Touristen durch und durch, in ihre billigste Trickkiste griffen und den uralten Gag mit dem Salzstreuer herauskramten. Dem neuen Koch die Suppe versalzen, und während der neue Koch dabei zuschauen durfte, wurde nach Marianne zwecks Beschwerde gerufen. Bis Marianne zur Aufnahme der Beschwerde am Tisch war, demonstrierte ich den Männern und ihren feixenden Damen, wie es richtig geht. Ich ließ den kompletten Salzstreuer so in die Suppenschale, der am lautesten lachenden Göre, hinein plumpsen, dass ihr Bluse suppennass wurde. Ja, ihr Freund hatte mächtige Oberarme, ja, ihr Freund forderte eine Entschuldigung und neue Suppe ein, und ja, ihr Freund drohte mir schließlich heftige Prügel an.

Doch auf Marianne war Verlass. Marianne funktionierte in solchen Momenten wie auf Kommando und bebte mit einer großen Pfanne aus der Küche heran, die sie wie eine Waffe zum Angriff hielt. Man verstummte oder floh. Einem anderen habe ich tatsächlich meine Rezeptur verraten, dies, als der Kerl der Meinung war, ihm war aufgrund Ungenießbarkeit kotzübel geworden. „Werter Herr, ich habe die Suppe speziell für Sie so gemacht. In unserem Geräteschuppen habe ich einen alten Bauhandschuh gefunden, den ich kurzerhand aufgekocht habe, danach spuckte ich noch dreimal in ihre Suppe und voilà, da ist das Meisterwerk.“ Marianne stand bereits pfannenschwingend hinter mir, und wie ich später von ihr erfuhr, war der Kerl ein miserabler Koch aus dem Nachbardorf. Meistens bekam ich jedoch immer ein paar Euros mehr und senkte mein Haupt bis fast zur Tischkante. Marianne, die sich in all den Jahren immer nur in ihrer Küche versteckte – auch wegen ihres schlimmen Beins, wie mir Elisabeth erzählte –, quetschte sich neuerdings in ein enges und langes Dirndl hinein, schlenderte von Tisch zu Tisch, wobei sie gut gelaunt kleinere und größere Geschichten aus der Bergwelt und aus ihrer Küche über die Köpfe der Gäste hinweg schleuderte. Marianne war wie ausgewechselt und ich bildete mir sogar ein, ihr offenes Bein würde langsam aber sicher zuwachsen.

Gestern war ich im Nachbardorf in einer Bank. Da Bergablaufen noch immer nicht ganz problemlos verlief – bekomme ich nur etwas zu viel Fahrt drauf, haut es mich nieder –, fuhr mich Alois mit seinem alten Opel Astra Kombi zur erstbesten Bushaltestelle und mit dem Bus ging es ab dort für mich weiter. Die Busse durchfuhren über viele Stunden viele Täler und im Winter sind sie vollgestopft mit Skitouristen, die zu den Liftanlagen gekarrt werden müssen, doch im Sommer sind sie fast menschenleer. Auch in der Bank war es menschenleer, und folglich hielt nur ein einziger Bankangestellter in der Mittagshitze dort die Stellung. Ich war die letzten Tage schon drauf und dran es zu vergessen, jedoch war da noch die Sache mit meiner kleinen, möblierten Wohnung in Hannover. Ich überwies meinem Vermieter die noch offene Miete und schrieb ihm aus der Bank heraus meinen ersten und auch hoffentlich letzten Brief:

„Hallo Herr Vermieter, ich kündige! Ich kündige meine Wohnung, jetzt, hier und sogleich. Ich habe Ihnen gerade die letzte Miete geschickt, ich bin längst nicht mehr in Hannover, bin ganz woanders, nur sage ich Ihnen nicht wo. Sie denken jetzt, ah, okay, die Überweisung ist von der Bank soundso im Ort soundso gemacht worden, aber dies ist nur eine Finte von mir! Ich bin jetzt schon wieder ganz woanders. Sie werden mich nicht finden, nie! P.S.: Der Wasserhahn tropft, der Mülleimer ist voll und das Geschirr in der Spüle, nun ja, sie können es haben. Legen sie bitte alles auf den Sperrmüll und meine Klamotten, es sind weiß Gott nicht viele, können sie verbrennen oder besser noch, den Obdachlosen geben! Ronny Luschke.“

Das saß und ich musste schnell zurück zur Pension, da die Nachmittagsgäste schon bald auf Suppe warten würden.

Es gab die unterschiedlichsten Gäste, die uns im Tagesrhythmus ihre Aufwartung machten. Mittagsgäste, Nachmittagsgäste, Abendgäste, und alle wurden zunehmend suppensüchtig. Sogar einige der Übernachtungsgäste bestellten nach dem Frühstück einen Teller Suppe. Ich hatte bereits damit begonnen, sie im Zehn-Liter Topf zuzubereiten, unendlich viele Kellen in Aberdutzende Teller wurden von mir geschwenkt, während Marianne hinter mir am Küchentisch saß und den Inhalt im Portemonnaie zählte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich vorgehabt, das Tal, die Berge, Marianne, Elisabeth und Alois nicht mehr zu verlassen. Nie mehr. Ich war einer von ihnen geworden.

Heute redete ich länger mit Elisabeth. Das Pensionsgeschäft, oder besser gesagt, mein Gasthausgeschäft, hatte den Vorteil, dass es tagsüber eben auch viel Leerlauf gab. Es gab Zeit und ohne jegliche Hektik konnte ich über Stunden mich auf der Veranda treiben lassen, oder, wie an diesem Spätvormittag, mit Elisabeth reden. Und das war genau der springende Punkt: Es war später Vormittag und ich saß mit Elisabeth auf der Veranda, was nichts anderes bedeutete, dass sie nicht in der Schule war. Sie erklärte mir, heute gäbe es keine Schule, was ich ihr nicht abnahm. Für sie gab es an diesem Tag keine Schule. Elisabeth erzählte, dass sie hin und wieder den Unterricht schwänzen würde. Hin und wieder hieß, sie knabberte fast jeden Tag am Unterrichtsplan. Meine Frage war: Warum? Warum im großen Stil die Schule schwänzen? Ich konnte mir beispielsweise nicht vorstellen, dass Elisabeth zu der Kategorie von jugendlichen Schülern gehörte, die sich bewusst dafür entschieden hatten, nur und ausschließlich von der Natur zu lernen. Die Natur als Lehrmeister für alles und nichts. Nein, dafür war sie einfach nicht der Typ und was sie mir als Grund nannte, ließ mich enttäuscht zurück. Sie tat mit ihrer gewonnenen, daher geschwänzten Zeit einfach überhaupt nichts. Mit einigen anderen, ähnlich gelagerten Fällen, hing sie irgendwo hinter Supermärkten lediglich nur ab und rum. Ein wahres Trauerspiel einer Spätteenagerin. Hätten sie sich wenigstens, dort, hinterm Supermarkt, im Straßentheater probiert, oder zumindest doch etwas Petting untereinander betrieben, aber nein, nicht einmal dafür reichte es. Es reichte für wahrlich nichts.

Elisabeth war siebzehn, ging in die neunte Klasse einer Hauptschule und ich versuchte, in meinem Kopf zu errechnen, wie oft sie folglich kleben geblieben sein musste. Sie fand Schule vollkommen unnütz und gehörte zu den Mädchen, die sogar damit prallten, wie schlecht sie in ihren Zensuren waren. Vieles war für sie wichtiger, doch was genau, wusste sie auch nicht. Wie ihre Mutter rauchte sie von früh bis spät die Billigmarken aus dem Spar-Laden, und war, von totaler Lethargie bis zu ausufernder Euphorie, ziemlich gemütsschwankend, was sie aus meiner Sicht auch von ihrer Mutter hatte. Von Alois blieb nicht viel, bis gar nichts. Tagsüber lief sie in schwarzen Klamotten wie ein Grufti durch die Pension und ich hoffte nur, dass nicht irgendwelche Hausgäste über sie stolpern, und in wildem Geschreie auf ihre Zimmer oder in die hintersten Winkel der Berge flüchten würden. Sie war alles in allem in keinem guten Zustand. Oft zittrig klammerte sie sich an die Zigaretten und sie ritzte sich auch an den Unterarmen. Was Marianne und Alois über all das dachten, wusste ich nicht, aber ich wusste eine halbe Stunde später, dass Elisabeth ihre Eltern fast hasste. Für Elisabeth waren sie alte Bergmenschen, die nichts von der Welt kannten, und sie erzählte mir, sie möchte irgendwann raus aus diesem Tal und rein in die große Stadt. Als ich sie fragte, was sie dort in der Stadt denn am liebsten machen möchte, antwortete sie: „Vielleicht an einer Stange tanzen.“

Ich begann, schon am folgenden Tag Elisabeth Nachhilfeunterricht zugeben. Die Auswahl an möglichen Unterrichtsstoffen war unendlich groß. Da jedoch bei ihr in Mathematik ein Sechser der Regelfall war, rechneten wir sonnenbeschienen auf der Veranda mit bestem Blick auf die Bergkulisse die Zahlen rauf und runter, dies, obwohl ich rein mathematisch betrachtet, als Schulbub nicht wesentlich besser als Elisabeth mit den Zahlen war. Doch ein wenig Lebenserfahrung und ein abgebrochenes Studium können auch für etwas sinnvoll sein.

Marianne verstand nicht, was wir taten. Sie war der Meinung, dass, egal was das Kind – das Kind! – in der Schule leistet, oder auch nicht leistet, sie würde später sowieso die Pension übernehmen müssen. Basta!

Später, liebe Marianne, wird deine Elisabeth mit wenig an, kopfüber an irgendeiner Stange hängen, in einer Stadt, von der du nicht mal weißt, dass es sie gibt. Doch ich behielt es für mich. Ich brachte Elisabeth immerhin von ihrem Sechser auf einen Vierer, was Marianne jedoch nicht sonderlich interessierte. Elisabeth und ich feierten dagegen ausgelassen ihre außerordentliche schulische Entwicklung mit Obstbrand und Almdudler. Natürlich wusste ich, warum sie so gerne Unterricht bei mir nahm. Nicht weil sie besser werden wollte, sondern weil sie mir näherkommen wollte, bis sie irgendwann fast auf meinem Schoß saß. Seitdem saßen wir uns nur noch gegenüber. Doch nur kurze Zeit später änderte sich alles. Für Elisabeth und auch für mich.

Hereinspaziert!

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