Читать книгу Man trifft sich stets zweimal (Teil 2) - Mila Roth - Страница 6
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Außenbezirk von Rheinbach
Gut Tomberg
Donnerstag, 2. August, 07:56 Uhr
»Nichts da. Finger weg, Till. Die GPS-Mäuse bleiben hier.« Ehe der blonde Neunjährige nach den beiden Plüschanhängern auf der Kommode im Flur greifen konnte, an denen jeweils ein GPS-Empfänger mit Peilsender befestigt war, schnappte sie Janna sich und brachte sie aus seiner Reichweite. »Die braucht ihr doch im Disneyland Paris überhaupt nicht.«
»Brauchen wir wohl«, widersprach Tills Zwillingsschwester Susanna, die gerade ihren langen Zopf durch den Riemen ihrer gelben Baseballkappe zog. »Wenn wir uns da nämlich verlieren, können wir uns gegenseitig orten.«
Janna lachte. »Netter Versuch. Aber um euch orten zu können, müsstet ihr ja euren Laptop mitnehmen, und soweit ich mich erinnern kann, habt ihr den nicht eingepackt. Auch ihn werdet ihr in den kommenden acht Tagen nicht benötigen.«
»Na gut, dann eben nicht.« Till zog kurz einen Flunsch, grinste aber sofort wieder. »Wir fliegen gleich. Ich bin schon total aufgeregt.«
»Ich auch.« Susanna hüpfte um ihren Koffer herum, den sie mitten im Eingangsbereich des alten Gutshauses abgestellt hatte. »Es ist sooo cool, dass wir diese Reise gewonnen haben, und jetzt dürfen wir sogar zum ersten Mal fliegen!«
»Da hast du recht, das ist wirklich cool.« Janna lächelte ihrer Pflegetochter zu. »Das war aber auch ein verzwicktes Rätsel in dieser Zeitschrift. Ich bin stolz auf euch, dass ihr es lösen konntet, und auch noch so schnell, dass ihr die Antwort als Erste eingeschickt und den ersten Preis gewonnen habt. So was habe ich noch nie geschafft.«
»Bloß schade, dass du nicht mitkommen kannst.« Till schob seinen Koffer neben den seiner Schwester. »Das ist echt kacke.«
Janna stieß ihn mahnend an. »Till, achte auf deine Ausdrucksweise!«
»Er hat aber recht, es ist ätzend, dass du zu Hause bleibst.«
Janna seufzte unterdrückt. »Ihr wisst doch, dass ich arbeiten muss.«
»Ja, aber nur, weil das mit deiner Stelle in Bonn nicht geklappt hat.« Enttäuscht verzog Susanna das Gesicht. »Das ist so doof. Bestimmt hättest du Urlaub gekriegt, wenn du jetzt da arbeiten würdest.«
»Nein, Susanna, das ist überhaupt nicht sicher, denn wenn ich im Juli dort angefangen hätte, wie es geplant war, dann wäre ich jetzt noch in der Probezeit, und da kriegt man nicht so einfach mal eben eine Woche Urlaub. Das habe ich euch doch schon mehrmals erklärt.« Janna bemühte sich, ihren sachlichen Tonfall beizubehalten, um sich nicht anmerken zu lassen, wie nahe ihr das Thema ging. Auch drei Monate nach den schrecklichen Ereignissen, bei denen Markus ums Leben gekommen war, schmerzte die Erinnerung so sehr, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Außerdem durfte ihre Familie nichts über ihre Verbindung zum Geheimdienst wissen, der getarnt als Meinungsforschungsinstitut agierte und für den sie fast ein Jahr lang als zivile Hilfskraft tätig gewesen war, bis ... Ja, bis zum 10. Mai, an dem Markus und ein weiterer Mann bei der Explosion einer Yacht auf dem Rhein bei Bingen getötet worden waren.
Seitdem hatte das Institut zu ihrer Sicherheit jeglichen Kontakt unterbrochen. Zwar hatte Markus' Abteilungsleiter, Walter Bernstein, ihr versprochen, sich zu melden, sobald die Frau, die vermutlich für den Anschlag verantwortlich war, gefasst wurde, doch bisher war dies noch nicht geschehen.
»Ich finde das total blöd von den Leuten, dass sie dich nicht einstellen, bloß weil jemand gestorben ist.« Till schnappte sich seine Windjacke vom Haken an der Garderobe und legte sie auf seinen Koffer. »Immerhin hätten sie dir ja seinen Job geben können.«
Beinahe hätte Janna gelacht. »Das hätten sie nicht tun können, denn dazu habe ich gar nicht die richtige Ausbildung, Till. Er ... Der Mann, der bei diesem Unfall ums Leben gekommen ist, war für die Leitung der neuen Abteilung vorgesehen, und ich sollte seine Assistentin werden. Jetzt, wo er«, sie schluckte, »nicht mehr da ist, haben sie wohl keinen Ersatz für ihn, und deshalb kann ich auch die Stelle nicht antreten, weil es sie gar nicht mehr gibt.«
So hatte sie erklärt, warum sie die angebotene Stelle doch nicht bekommen hatte, denn gleich nach den schrecklichen Ereignissen war sie am Boden zerstört gewesen und hatte viel geweint. Sie hatte ihrer Familie eine plausible Begründung für ihre Trauer liefern müssen, also hatte sie versucht, so nahe bei der Wahrheit zu bleiben, wie nur irgend möglich.
»Trotzdem blöd«, beharrte Susanna und setzte sich auf ihren Koffer. »Es wäre doch toll gewesen, wenn du mitfliegen könntest.«
»Der Gewinn war doch sowieso nur für vier Personen«, versuchte Janna sie zu beschwichtigen. »Ihr werdet mit Tante Linda und Onkel Bernhard jede Menge Spaß haben, da bin ich ganz sicher. Und ich kann hier endlich mal ganz in Ruhe klar Schiff machen, mich nach Feierabend im Garten in die Sonne legen und brauche euch Rabauken nicht dauernd alles hinterherzuräumen.« Sie lächelte den beiden zu.
»Na, was ist, ihr Lieben?« Jannas Mutter Linda kam durch die offenstehende Haustür hereingewirbelt. »Seid ihr fertig? Unser Taxi wird gleich da sein. Habt ihr eure Zahnbürsten? Und die Windjacken? Ah, gut, Till, du hast deine schon griffbereit. Susanna, nimm deine bitte auch in die Hand. Nicht, dass du sie am Ende noch vergisst. Man kann nie wissen, ob das Wetter nicht umschlägt. Für heute haben sie stellenweise etwas Regen gemeldet. Janna, hast du aufgepasst, dass die beiden auch wirklich alles eingepackt haben? Ich habe keine Lust, in Paris noch irgendwelche Sachen einzukaufen, nur weil die beiden die Hälfte hiergelassen haben.«
Janna schüttelte amüsiert den Kopf über den ungebremsten Redestrom ihrer Mutter. »Keine Sorge, Mama, ich habe die Koffer zweimal kontrolliert. Es ist alles enthalten, was die beiden auch nur ansatzweise brauchen könnten. Nur die GPS-Mäuse«, sie hielt die beiden Peilsender demonstrativ in die Höhe, »bleiben hier, und der Laptop ebenfalls. Ihr werdet wirklich mal eine Woche ohne die Dinger auskommen können. Wenn ihr zurück seid, könnt ihr sie auf dem nächsten Geocaching-Ausflug der Pfadfinder wieder einsetzen, aber nicht im Disneyland Paris.«
»Du hast vollkommen recht, Janna.« Linda nickte zustimmend. »Am Ende verliert ihr die Peilsender noch, und dazu waren sie wirklich zu teuer.«
»Ich muss sowieso mal neue Batterien für die Dinger besorgen, falls die alten sich irgendwann verabschieden«, ergänzte Janna und schob die beiden plüschigen Schlüsselanhänger demonstrativ in ihre Handtasche.
Linda klatschte in die Hände. »Dann mal los, ihr beiden, tragt eure Koffer nach draußen. Und vergesst euer Handgepäck nicht!« Seufzend beobachtete sie, wie die Zwillinge ihre Anweisung befolgten, und legte dann ihrer Tochter einen Arm um die Schultern. »Mit den Kindern zu verreisen ist, wie mit einem Sack Flöhe auf Tour zu gehen. Habt ihr wirklich nichts vergessen einzupacken? Dann ist es ja gut. Hier.« Sie reichte Janna einen Schlüsselbund. »Das sind alle unsere Hausschlüssel und die für den Briefkasten und für den Schuppen und so. Häng sie am besten in deinen Schlüsselkasten. Ich fühle mich nicht wohl dabei, sie bei uns im Haus zu lassen.«
»Mama, ihr wohnt direkt nebenan. Ich passe schon auf alles auf.«
»Aber wenn jemand einbricht ...«
»Wer sollte denn einbrechen?« Janna schüttelte lächelnd den Kopf.
»Na, Einbrecher eben.« Linda hob die Schultern. »Immerhin hast du nicht mal einen Wachhund hier, weil Tante Annegret Bella auf diese Wandertour mitgenommen hat.«
»Das war eure Idee.« Janna trat an die Tür und beobachtete die Kinder, die aufgeregt um ihre Koffer herumhopsten. »Ich hätte mich wirklich für die paar Tage um Bella kümmern können. Das mache ich doch sonst auch immer gerne, wenn ihr mal wegfahrt.«
»Ja, aber Tante Annegrets Hündin ist erst vor sechs Wochen eingeschläfert worden, und sie war so traurig darüber. Außerdem hatte sie diese Wanderung mit der Hundegruppe schon so lange geplant, da fand ich es einfach passend, ihr Bella für die zehn Tage auszuleihen. Sie hat sich so darüber gefreut. Wer weiß, vielleicht hilft es ihr ja, über Rickys Tod hinwegzukommen und darüber nachzudenken, sich bald einen neuen Hund anzuschaffen. Das ist, wie ich meine, die beste Medizin gegen den Verlust eines Haustiers. Sie sind wie Familienmitglieder und man trauert sehr, wenn man sie verliert, aber wenn man sich dann um ein neues Tierchen kümmern muss, kann das sehr heilsam sein.«
»Ich weiß, Mama, ich bin dir ja auch nicht böse deswegen. Ich meine ja nur, dass es meinetwegen nicht nötig gewesen wäre.«
»Auf diese Weise hast du aber mal für acht Tage absolute Ruhe und sturmfreie Bude.« Linda küsste sie auf die Wange. »Ich glaube, das kannst du auch mal sehr gut brauchen, gerade jetzt, wo das mit deinem Job nicht geklappt hat und du dich schon wieder umorientieren und Ersatzkunden für deinen Büroservice finden musst, weil du die alten schon fast alle weitervermittelt hast.« Liebevoll strich Linda ihrer Tochter eine kupferrote Locke aus der Stirn. »Das Leben spielt schon manchmal verrückt, was?«
»Ja, leider.« Wie schon zuvor bemühte Janna sich um eine ausdruckslose Miene und Stimme, damit ihre Mutter sich keine Sorgen um sie machte. Niemand außer Janna selbst wusste, dass sie an jenem Tag im Mai ihren besten Freund verloren hatte – und so musste es auch bleiben.
»Janna, Tante Linda, das Taxi kommt.« – »Schnell, beeilt euch.« – »Onkel Bernhard, komm endlich, sonst fahren wir ohne dich!«
Die Kinder schrien wild durcheinander, sodass Janna und Linda beide lachen mussten. Linda fuhr sich rasch ordnend durch ihr kurzes, ebenfalls kupferrotes Haar. »Dann mal auf in den Kampf. Hoffentlich haben wir wirklich nichts vergessen.«
***
Drei Stunden später saß Janna an ihrem PC, ihr Headset auf den Ohren, und tippte einen Brief nach Diktat ihres Kunden. Der alte Herr, ein ehemaliger Oberstudienrat, tauschte sich per Briefpost mit einem früheren Schulfreund über die wissenschaftliche Signifikanz von archäologischen Funden in Südamerika aus. Da er mit der modernen Computertechnik auf Kriegsfuß stand und darüber hinaus seinen eigenen Angaben zufolge eine üble Sauklaue besaß, hatte er Janna beauftragt, seine mit Diktiergerät aufgezeichneten Ausführungen zu Papier zu bringen. Nicht die interessanteste Arbeit, denn der Mann liebte verschachtelte und komplizierte Sätze, die mit Fremdwörtern gespickt waren. Aber er zahlte gut, und das war im Augenblick das Wichtigste.
Der Signalton ihres Handys riss sie aus den Gedanken – ihr Vater hatte ihr eine SMS geschickt, dass der Flug in wenigen Minuten starten und die Reisenden sich gleich nach der Ankunft in Paris wieder melden würden. Lächelnd simste sie Viel Spaß! und spulte ein Stück zurück, weil sie eines der Fremdwörter nicht verstanden hatte. Stirnrunzelnd hörte sie es sich erneut an, öffnete Google in ihrem Browser und gab das Wort, so wie sie es verstanden hatte, in die Suchmaske ein. Da ihr linkes Ohr ein wenig juckte, schob sie das Headset kurz vom Kopf, sodass der Bügel in ihren Nacken rutschte. Als sie die Ergebnisse der Websuche durchsah, schüttelte sie schmunzelnd den Kopf. »Nee, klar, Herr Dr. Otto, da hätten Sie sich aber ein Eigentor geschossen, wenn ich das so geschrieben hätte.« Rasch notierte sie sich die korrekte Schreibweise des Wortes. Gerade wollte sie das Headset wieder zurechtrücken, als das entfernte Klappen einer Autotür durch das gekippte Fenster an ihr Ohr drang. Aufhorchend schaltete sie das Diktiergerät ganz aus und legte das Headset beiseite. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es für die Postbotin noch zu früh war. Außerdem würde diese mit dem Auto bis in den Hof fahren. Sie lauschte angestrengt, doch weiter war nichts mehr zu hören. Vielleicht hatten nur Wanderer irgendwo in der Nähe angehalten oder ein Autofahrer, der sich am Waldrand erleichtern wollte.
Achselzuckend setzte sie das Headset wieder auf, kam aber nicht dazu, das Diktiergerät erneut einzuschalten, denn in diesem Moment ging die Türklingel. Überrascht legte sie Headset und Diktiergerät zur Seite und eilte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Beim Anblick der hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt mit den dunklen Haaren, die durch das Milchglas in der Haustür nur schemenhaft zu erkennen war, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Herzschlag verdreifachte sich, ihre Hände begannen zu zittern.
Sie musste mehrmals tief durchatmen, bevor sie es fertigbrachte, die letzten Schritte zur Tür zu gehen und sie zu öffnen. Als sie sich einem ihr vollkommen fremden Mann gegenübersah, beruhigte sich ihr Herz so plötzlich, dass es sich anfühlte, als habe es einen Schlag ausgesetzt. »Guten Tag.« Fragend musterte sie ihn.
Der Mann war annähernd einen Meter neunzig groß, athletisch gebaut, mit braunen Haaren und markanten Gesichtszügen, die durch den Dreitagebart noch eine Spur rauer wirkten.
»Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie sich verfahren? Das kommt häufiger vor. Ich meine, dass Leute hier klingeln, weil sie sich in der Richtung geirrt haben oder weil ihr Navi sie in die falsche Straße geschickt hat.« Verlegen hielt sie inne und verfluchte ihre Nervosität, durch die sie wieder einmal, ihrer Mutter nicht unähnlich, in einen ungebremsten Redestrom verfallen war und irgendwelchen Unsinn von sich gab.
»Guten Tag, Frau Berg.« Der Mann lächelte, so als wäre ihm ihre seltsame Reaktion gar nicht aufgefallen. »Mein Name ist Schneider, Peter Schneider. Walter Bernstein schickt mich, weil ich Ihnen eine wichtige Nachricht überbringen soll.«
»Walter Bernstein?« Alarmiert hob Janna den Kopf und musterte den Fremden misstrauisch. »Können Sie sich ausweisen?«
Schneider griff in die Innentasche seiner Lederjacke und reichte ihr einen Ausweis. Janna studierte ihn eingehend und mit mulmigem Gefühl. »Sie sind vom BKA?«
»Wie Sie sicherlich wissen, arbeiten das BKA und das Institut hin und wieder zusammen.« Er lächelte ein ausgesprochen gewinnendes Lächeln.
»Gibt es irgendein Problem? Oder wurde Susanne Krause endlich gefasst?« Erschrocken biss sich Janna auf die Unterlippe. Sie durfte auf keinen Fall zu vertrauensselig sein. Wer wusste schon, was dieser Schneider wirklich hier wollte und ob Walter Bernstein ihn tatsächlich geschickt hatte.
»Nein, leider ist uns das noch nicht gelungen. Mein Hiersein hat aber sehr wohl mit dieser Angelegenheit zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass Sie besorgt sind und vielleicht sogar Angst haben, weil ich als vollkommen Fremder plötzlich hier vor Ihrer Tür stehe. Seien Sie versichert, dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen einen Schaden zuzufügen. Herr Bernstein benötigt Ihre Hilfe, nur deshalb bin ich hier.« Er griff noch einmal in seine Jackentasche und zog ein Foto heraus. »Ich habe etwas mitgebracht, was Sie kennen dürften. Dass ich es besitze, wird Ihnen hoffentlich verdeutlichen, dass ich die Wahrheit sage, denn dieses Foto hier«, er hielt ihr das Bild hin, »stammt vom Backup-Server eines Kollegen aus dem Institut. Sein Handy wurde vor drei Monaten bei einer Explosion auf dem Rhein bei Bingen zerstört. Nur das Institut hat noch Zugriff auf seinen Online-Speicher.«
»O Gott.« Janna hatte das Gefühl, als wäre sämtliches Blut aus ihrem Körper gewichen. Sie hatte das Foto bereits erkannt. Ihr Herz pochte unangenehm hart und unstet gegen die Rippen. Als sie das Bild in die Hand nahm, zitterte ihre Hand leicht.
Das Foto zeigte eine kleine grüne Plüschmaus, die ein T in den Pfoten hielt und in einem Blumenkübel neben einer Geranie saß. Es war Tills Plüschmaus-Anhänger, an dem sein GPS-Peilsender befestigt war. Das Foto war vor gut einem Jahr entstanden, nachdem sie und Markus ihr zweites gemeinsames Abenteuer erlebt hatten. Der kleine Peilsender hatte ihr damals das Leben gerettet.
Für einen Moment starrte Janna auf das Foto, dann hob sie den Kopf. »Wollen Sie vielleicht hereinkommen und mir erklären, worum es geht?«
»Nein.« Unauffällig blickte Schneider über die Schulter, als fürchte er, beobachtet zu werden. »Ich darf mich nicht zu lange aufhalten, sondern bin nur hier, um Ihnen Ihre Anweisungen zu geben. Alles Weitere wird das Institut mit Ihnen klären. Es ist jedoch für Ihre Sicherheit von ausgesprochener Wichtigkeit, dass keiner der Agenten mit Ihnen hier gesehen wird.«
»Aha.« Besorgt blickte sich nun auch Janna um. »Werde ich beobachtet?«
»Von Institutsagenten, ja, aber aus sicherer Entfernung. Ob sich sonst noch jemand hier herumtreibt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Deshalb bitte ich Sie, mir jetzt ganz genau zuzuhören.« Eindringlich blickte der Mann sie an. »Nehmen Sie Ihr Handy von jetzt an überallhin mit und lassen Sie es unbedingt eingeschaltet. Folgen Sie den Anweisungen, die Ihnen in verschlüsselten E-Mails übermittelt werden, sobald ich wieder weg bin. Benehmen Sie sich zu jeder Zeit vollkommen natürlich und unauffällig. Und kein Wort darüber – zu niemandem!«
»Ja ... Aber was für Anweisungen sind das denn? Was genau muss ich machen?«
»Das werden Sie in Kürze erfahren. Tut mir leid, dass ich nicht konkreter werden kann. Es ist schon ein großes Risiko, dass ich mich hier blicken lasse, aber Herr Bernstein und seine Kollegen waren der Ansicht, dass der persönliche Kontakt zu Ihnen unabdingbar ist, damit Sie sich einverstanden erklären, uns zu helfen. Sie können als ehemalige zivile Hilfskraft Ihre Mitarbeit selbstverständlich jederzeit verweigern.« Sein Blick wurde noch eindringlicher. »Aber ich möchte Sie aufrichtig bitten, das nicht zu tun.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt gehen.« Er entfernte sich ein paar Schritte, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Frau Berg?«
»Ja?« Verunsichert sah sie ihn an.
»Bitte verzeihen Sie mir und meinen Kollegen die ... Unannehmlichkeiten und ... nun ja, alles, was Ihnen möglicherweise noch bevorsteht. Es ist Ihr gutes Recht, wütend zu sein.« Er nickte noch einmal und war im nächsten Moment durch das weit offenstehende schmiedeeiserne Tor verschwunden. Nur Augenblicke später sprang ein Automotor an und ein schwarzer SUV fuhr in Richtung Rheinbach davon.
Für mehrere Atemzüge wusste Janna nicht, wie sie reagieren sollte.
»Nehmen Sie diesen Umschlag. Bringen Sie ihn nach Bonn zu Axel Wolhagen. Die Adresse finden Sie im Telefonbuch. Händigen Sie nur ihm – niemand anderem – den Umschlag aus. Geben Sie ihn unter keinen Umständen jemand anderem als Axel Wolhagen. Lassen Sie sich seinen Ausweis zeigen. Und kein Wort darüber – zu niemandem!«
Für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt zu jenem Julimorgen vor einem Jahr, als sie Markus zum ersten Mal begegnet war – auf dem Flughafen Köln-Bonn. Was war nur mit diesem Institut los, dass man ihr in schöner Regelmäßigkeit gut aussehende, aber geheimnisvolle Männer auf den Hals schickte, die ihr mit mysteriösen Aufträgen den Boden unter den Füßen wegzogen?
Ehe sie den Gedanken weiterdenken konnte, gab ihr Smartphone, das in der Küche am Ladekabel hing, einen Signalton von sich. Janna konnte nicht verhindern, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte. Rasch schob sie das Foto in die Gesäßtasche ihrer Jeans und schloss die Haustür.
Ihr Handy zeigte in dem versteckten Account, den die Techniker des Instituts ihr vor drei Monaten eingerichtet hatten, eine neu eingegangene E-Mail an. Nach dem Öffnen war nur ein Foto zu sehen. Es zeigte den Eingang zum Rheinbacher Freizeitpark, der weitläufigen Parkanlage, mit Liegewiesen, Teichen, Spielplätzen und einem künstlichen Bachlauf, in dem sie selbst als kleines Kind schon geplanscht und zu dem sie auch Susanna und Till gerne mitgenommen hatte, als sie noch kleiner gewesen waren. Inzwischen mochten die beiden lieber den Rodelberg, die langen Rutschen und den Minigolfplatz.
Am unteren rechten Rand des Bildes entdeckte Janna eine Uhrzeit: 11:45 Uhr. Ihr Handy zeigte 11:25 Uhr an. In ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Sollte sie wirklich in zwanzig Minuten vor dem Freizeitpark sein? Was, wenn das eine Falle war? Kurz überlegte sie, ob sie im Institut anrufen sollte, aber sie hatte seit Monaten kein neues Passwort für die Telefonzentrale erhalten, sodass man sie vermutlich gar nicht durchstellen würde.
Siedend heiß fiel ihr das Kärtchen ein, das Walter Bernstein ihr im Mai gegeben hatte und auf dem eine Handynummer vermerkt war, über die er für sie erreichbar zu sein versprochen hatte. Hastig kehrte sie in ihr Büro zurück und riss die unterste Schreibtischschublade auf. Sie enthielt eine Schachtel mit unzähligen Visitenkarten, die sie in den vergangenen Jahren gesammelt hatte. Walter Bernsteins Kärtchen hatte sie irgendwo dazwischen versteckt. Fahrig schüttete sie den Inhalt der Box auf dem Schreibtisch aus und wühlte darin, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Mit fliegenden Fingern wählte sie die Nummer auf der kleinen, rechteckigen Karte.
Als nur eine anonyme Mailbox ansprang, verzog sie verärgert die Lippen und wartete auf den Signalton. »Hallo, Herr Bernstein? Ich hoffe, diese Nummer ist immer noch gültig. Ich hatte eben Besuch von einem gewissen Peter Schneider, der behauptet hat, beim BKA zu arbeiten und von Ihnen geschickt worden zu sein. Und jetzt habe ich eine E-Mail erhalten mit einem Foto vom Freizeitpark. Ich ... ähm, also ich möchte gerne wissen, was es damit auf sich hat. Bitte rufen Sie mich zurück!« Sie schluckte. »Ach ja, hier ist Janna Berg. Entschuldigen Sie, das hätte ich vielleicht zuerst sagen müssen. Also ... Bitte rufen Sie mich an.« Etwas zittrig unterbrach sie die Verbindung und starrte dann minutenlang erwartungsvoll auf ihr Handy, doch nichts geschah.
Schließlich gab sie es auf, warf einen erneuten Blick auf die Uhr und hastete die Treppe hinab. Rasch überprüfte sie, ob alle Fenster und Türen im Erdgeschoss verschlossen waren, dann schnappte sie sich Handtasche und Schlüsselbund und rannte zu ihrem Auto.