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Außenbezirk von Rheinbach

Gut Tomberg

Samstag, 24. Dezember, 18:45 Uhr

»Jannaaaa!« Die neunjährige Susanna zappelte auf ihrem Stuhl herum. »Machen wir jetzt bitte endlich die Bescherung? Wir haben doch längst alles aufgegessen. Ich krieg jedenfalls keinen Happen Kartoffelsalat mehr rein. Und auch kein Würstchen. Kann ich das halbe hier Bella geben?«

Als sie ihren Namen hörte, spitzte die braunschwarze Mischlingshündin die Ohren und tappte an den festlich gedeckten Küchentisch heran.

»Nein, auf gar keinen Fall.« Energisch schüttelte Janna den Kopf, lächelte ihrer Pflegetochter jedoch zu. »Die arme Bella platzt ja fast. Ihr habt ihr viel zu viele Leckerchen gegeben, ganz zu schweigen von den Plätzchen, die Feli ihr zugesteckt hat.« Sie bedachte ihre jüngere Schwester mit einem bezeichnenden Seitenblick.

»Ach, komm schon.« Feli grinste und schüttelte ihre blonde Lockenmähne. »Es ist schließlich Weihnachten. Der Hund soll doch auch etwas davon haben.«

»Ja, Bauchweh.« Janna lachte.

»Ich krieg von Plätzchen doch auch kein Bauchweh«, warf Till, Susannas Zwillingsbruder, ein. »Und Bella mag sie genauso gern wie wir. Aber Bescherung will ich jetzt auch machen.«

»Wisst ihr was, warum helft ihr nicht erst mal Janna, den Tisch abzuräumen«, schlug Jannas und Felis Mutter vor. »Euer Onkel Bernhard geht in der Zwischenzeit mit Frank rüber ins Wohnzimmer und hält Ausschau nach dem Christkind. Vielleicht war es ja schon da.« Sie warf erst ihrem Mann, dann ihrem Sohn auffordernde Blicke zu. Beide erhoben sich sogleich. Frank öffnete die große Schiebetür, die die Küche vom Wohnzimmer trennte, einen Spaltbreit, um sich hindurchzuzwängen, ohne dass die Kinder allzu viel von dem geschmückten Zimmer erkennen konnten.

Normalerweise war der Übergang vom Wohnbereich zur Küche offen, vor allem, seit die einfache Tür beim Umbau des großen Gutshauses in den vergangenen Monaten durch eine elegante, zwei Meter fünfzig breite zweiteilige Schiebetür ersetzt worden war.

Janna hielt es am Heiligen Abend wie bereits ihre Eltern früher: Den Weihnachtsbaum hatten sie alle gemeinsam am Nachmittag geschmückt, doch das fertig hergerichtete Zimmer, samt der hübsch drapierten Geschenke, sollten die Kinder erst wieder zur Bescherung betreten.

Die maulten zwar ein bisschen und verdrehten bei Erwähnung des Christkindes die Augen, hüpften aber beinahe gleichzeitig von ihren Stühlen und begannen eilig, das Geschirr zusammenzustellen und zur Anrichte zu tragen. Janna sortierte es in die Spülmaschine.

»Hast du die Geschenke von uns auch alle unter den Weihnachtsbaum gelegt?« Susanna klang besorgt. »Nicht, dass nachher eins fehlt.«

»Aber sicher doch.« Janna verstaute die Reste des Salats und der Würstchen im Kühlschrank. »Dieses Jahr sind sie übrigens besonders hübsch eingepackt. Hast du das gemacht, Susanna?«

»Klar, wer denn sonst?« Das Mädchen warf ihrem Zwillingsbruder einen spöttischen Blick zu. »Till kann so was doch überhaupt nicht. Das Geschenk für mich hat er bestimmt bloß in eine Tüte gesteckt oder so, weil er zwei linke Hände hat.«

»Hab ich gar nicht!« Till tat beleidigt. »Ich kapiere halt nicht, warum man sich stundenlang mit Papier und Bändern und Tesafilm rumplagen soll. Wird doch eh alles wieder aufgerissen.«

»Und warum wolltest du wohl, dass ich deine Geschenke einpacke?«

»Wolltest du doch unbedingt.«

»Ja, damit sie wenigstens schön aussehen.«

»Dann bist du doch jetzt zufrieden und ich hab meine Ruhe.«

Janna musste über seinen altklugen Tonfall schmunzeln; es fiel ihr schwer, ernst zu bleiben. »Kinder, vertragt euch. Es ist Weihnachten.« Um sie abzulenken, scheuchte sie die beiden ins Bad, damit sie sich noch einmal die Hände wuschen. Augenblicke später klingelte das kleine Glöckchen, mit dem Jannas Vater früher bereits sie und ihre Geschwister zur Bescherung gerufen hatte.

***

Landstraße zwischen Rheinbach und Gut Tomberg

Samstag, 24. Dezember, 19:10 Uhr

Um der gefühlt eintausendsten Wiederholung von Last Christmas im Radio zu entgehen, hatte Markus Neumann einen USB-Stick mit seinen Lieblingsjazzstücken herausgesucht und genoss nun die weichen Klavier- und Klarinettentöne, die aus den Lautsprechern über ihn hinwegrieselten. Das half, die lästige Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, die ihn beständig fragte, was er um diese Zeit am Heiligen Abend hier auf der Landstraße zu suchen hatte. Im Grunde war es ja auch vollkommen logisch. Janna Berg hatte ihm postalisch ein Päckchen mit selbst gebackenen Plätzchen und Lebkuchen sowie eine ausgesprochen nette Weihnachtskarte zukommen lassen. Dabei war ihm ganz kurz unwohl gewesen, dass sie seine Postadresse kannte. Doch immerhin hatte er sie vor einiger Zeit im Rahmen eines Einsatzes einmal kurz mit zu seiner Wohnung genommen.

Das Päckchen war heute bei ihm eingetroffen und hatte ihn, obwohl er sich für verrückt erklärte, doch ein wenig in Bedrängnis gebracht. Ein paar langjährige Kolleginnen und Kollegen sowie Leute, mit denen er gut bekannt war, hatten von ihm bereits in der vergangenen Woche kleine Geschenke bekommen. Die Frauen Pralinen, die Männer je nach entsprechendem Geschmack eine Flasche Wein, Whiskey oder Scotch.

Janna hatte er in dieser Hinsicht standhaft aus seinen Gedanken ausgeklammert und auch nicht damit gerechnet, dass sie ihn zu Weihnachten mit einem Geschenk bedenken würde. Noch dazu einem von ihr selbst hergestellten. Die Plätzchen waren ganz hervorragend, und die Lebkuchen hatten garantiert die Kinder so hübsch bunt verziert.

Das hatte ihn dazu bewogen, sich mehr oder weniger den gesamten Tag den Kopf zu zerbrechen, was er ihr auf die Schnelle noch kaufen könnte. Erschwert wurde die Sache dadurch, dass die meisten Geschäfte spätestens kurz nach Mittag ihre Pforten geschlossen hatten.

Am Ende hatte er sich, verärgert über sich selbst, für die letzte verbliebene Schachtel Pralinen entschieden, die nur übrig war, weil er sich beim Einkaufen verzählt hatte. Immerhin waren es feine belgische Trüffel. Teuer. Edel. Mit einer hübschen blauen Schleife versehen. Eine Karte hatte er auch noch gefunden und einen kurzen Weihnachtsgruß hineingeschrieben.

Es war natürlich vollkommen irrational, das Geschenk noch heute zu ihr zu bringen. Dazu wäre ein andermal auch noch Zeit gewesen. Doch den morgigen Tag würde er wohl oder übel mit seinem Vater und seiner Stiefmutter verbringen müssen, und er konnte nicht garantieren, dass seine Stimmung danach noch salonfähig sein würde. Also doch lieber heute. An Heiligabend hatte er nie viel vor. Wenn er nicht arbeiten musste, ging er entweder bei gutem Wetter wandern oder machte es sich bei schlechtem Wetter – wie heute – mit ein paar guten Filmen auf der Couch bequem.

Als er den Abzweig zu dem Gut nahm, auf dem Janna mit ihrer Familie lebte, setzte zum wiederholten Male an diesem Abend leichter Nieselregen ein. Weiße Weihnachten waren weit und breit nicht in Sicht. Das Thermometer zeigte vier Grad an, für den morgigen ersten Feiertag hatten die Wetterfrösche bis zu neun Grad und weiteren Regen vorhergesagt.

Um sich nicht im Schlamm festzufahren, parkte Markus seinen schwarzen Z3 diesmal nicht auf dem Feldweg neben dem kleinen Gesindehaus, so wie er es zuvor immer getan hatte. Stattdessen stellte er den Wagen auf einem kleinen Wandererparkplatz ab und ging die letzten knapp zweihundert Meter zu Fuß.

Das riesige Grundstück war an drei Seiten von mannshohen Hecken umgeben, lediglich zur Straße hin stand noch die vermutlich bereits jahrhundertealte Bruchsteinmauer mit dem schmiedeeisernen Tor, das wie immer weit und einladend offen stand. Links und rechts der Zufahrt gab es zwei antik wirkende Lampen, in denen moderne Energiesparbirnen leuchteten. Doch heute fielen sie fast gar nicht auf.

Markus blieb vor dem Tor stehen und kam sich fast vor wie in eine andere Welt versetzt. Die Mauer war mit einer warm glitzernden Lichterkette und Tannengirlanden geschmückt, in der goldene und silberne Kugeln und Ornamente das Licht der Lämpchen reflektierten. Links vor dem Tor stand ein ebenso geschmückter und beleuchteter mannshoher Tannenbaum.

Obgleich er wie immer vorsichtig darauf bedacht war, von niemandem gesehen zu werden, trat Markus nun doch durch das Tor und sah sich eingehend um.

Links stand das kleine Gesindehaus, in dem Janna mit den Kindern bisher gewohnt hatte. Die Fenster waren mit Lichterketten, Pyramiden und Fensterbildern dekoriert. Die Dachrinne zierten beleuchtete Eiszapfen. Auch einige Büsche und Bäumchen ringsum wurden durch LED-Lichterketten erleuchtet und verwandelten den Hof trotz fehlenden Schnees in ein Winterwunderland. Neben der Eingangstür des Gesindehauses gab es einen Korb mit weihnachtlichem Gesteck, daneben ein grinsendes Rentier aus bemaltem Steingut. Ein großes ovales, ganz sicher von den Kindern gebasteltes und bemaltes Schild aus Salzteig an der Tür verkündete Frohe Weihnachten.

Da im Gesindehaus weiter kein Licht brannte, ging Markus linksherum, auf die Rückseite des Grundstücks, und von dort aus zum großen Gutshaus. Janna hatte ihm erzählt, dass sie vor dem Jahresende dort einziehen und mit ihren Eltern die Wohnungen tauschen würde. Er selbst hatte im Oktober bei der Renovierung eines der Kinderzimmer geholfen. Allerdings nicht ganz freiwillig und nur, weil ihm eine anderweitige Beschäftigung gefehlt hatte, während er eine Zeit lang den Personenschutz für Janna übernommen hatte. Er nahm an, dass der Umzug mittlerweile über die Bühne gegangen war. Aber selbst wenn nicht, würde doch bestimmt die ganze Familie gemeinsam Weihnachten feiern. Janna war, im Gegensatz zu ihm, ein absoluter Familienmensch und genoss es, Zeit im Kreis ihrer Lieben zu verbringen. Allerdings hatte sie, anders als er, eine Familie, die man tatsächlich so nennen konnte.

Auch das Gutshaus war rundum mit Lichtern, Tannengirlanden, Weihnachtsschmuck und allerlei Krimskrams geschmückt. Wenn er diesen überschwänglichen Tribut an das Christfest mit der einfachen Weihnachtspyramide verglich, die er alljährlich in seinem Wohnzimmerfenster aufstellte, kam er sich wirklich wie auf einem anderen Planeten vor. Was das Gefühl des Unwohlseins prompt wieder verstärkte.

Als Kind hatte er zu Weihnachten höchstens einen aufklappbaren künstlichen Weihnachtsbaum gekannt, falls seine Mutter überhaupt daran gedacht hatte. Später dann, als sein Vater ihn bei sich aufgenommen hatte, lernte er den gehobenen Chic kennen, mit dem seine Stiefmutter Agnetta das Haus zu dekorieren pflegte. Alles war stets farblich aufeinander abgestimmt und von exquisiter Qualität gewesen, der Tannenbaum immer eine Nordmanntanne ohne den geringsten Makel. Auch morgen, bei seinem Feiertagspflichtbesuch, würde er ein perfekt gestyltes Haus in Weihnachtsstimmung vorfinden. Nicht, dass er dagegen etwas einzuwenden hatte. Agnetta war eine nette Person, er mochte sie und war ihr dankbar, dass sie sich um den verwilderten und rebellischen Jungen gekümmert hatte, der er gewesen war.

Doch als Markus seitlich im Schatten eines Strauchs an eines der großen Wohnzimmerfenster trat, versetzte ihm das Bild, das sich ihm bot, einen heftigen Stich in die Magengrube. Zuerst fiel ihm der zimmerhohe Tannenbaum ins Auge. Perfekt geformt schien er nicht zu sein, doch das konnte man unter den Unmengen von bunten Kugeln, Girlanden, Ornamenten und Lichterketten kaum mehr erkennen. Echtes Lametta, nicht dieses flatterige, hässliche Zeug, das oftmals in der Bonner Altstadt die Weihnachtsdeko vervollständigte, reflektierte das Licht der elektrischen Kerzen. Markus, geschult darin, Details wahrzunehmen, entdeckte sogar Baumschmuck aus echten Lebkuchen sowie selbst gebastelte Sterne und Laubsägearbeiten. Nichts, aber auch gar nichts schien hier zusammenzupassen. Es sah aus, als sei der gesammelte Weihnachtsbaumschmuck von mehreren Generationen bunt gemischt über die Zweige des Baumes verteilt worden. Die Gestecke und Girlanden, die den übrigen Raum zierten, waren offenbar ebenso kunterbunt zusammengewürfelt. Dennoch machte alles einen stimmigen, heimeligen Eindruck auf ihn. Wohl nicht zuletzt, weil die Familie sich auf Couch und Sesseln ausgebreitet hatte und mitten in der Bescherung steckte. Fünf Erwachsene und die beiden neunjährigen Blondschöpfe waren dabei, Geschenke aufzureißen, Gegenstände zu bewundern, sich gegenseitig zu umarmen und zu herzen. Gelächter mischte sich mit der weihnachtlichen Chormusik aus den Lautsprechern, die Markus nur deshalb wahrnehmen konnte, weil eines der Fenster gekippt war.

Länger als er ursprünglich vorgehabt hatte, blieb er beim Fenster stehen und beobachtete Janna und ihre Familie. Zum ersten Mal sah er sie alle zusammen. Jannas Eltern, die Kinder und Felicitas, die jüngere Schwester, hatte er bereits gesehen. Der rotblonde sportliche Mann, der die Runde vervollständigte, konnte nur Jannas älterer Bruder Frank sein. Die Ähnlichkeit zu seinem Vater fiel deutlich ins Auge. Auch die beiden Schwestern ähnelten einander, obgleich Felis Lockenmähne sich lang und blond um ihr hübsches Gesicht schmiegte, während Jannas etwa schulterlange Locken denselben intensiven kupferroten Farbton hatten wie die Haare ihrer Mutter. Linda Berg war auch mit Ende fünfzig noch eine attraktive Frau und strahlte eine heitere Herzlichkeit aus, die sie ebenso wie die Haarfarbe ihrer Tochter vererbt hatte. Die Locken hingegen stammten wohl eher von der Vaterseite. Allerdings war Bernhard Berg mittlerweile ergraut.

Die Zwillinge hatte Janna vor fünf oder sechs Jahren zu sich genommen, nachdem ihre Cousine bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Markus hatte das Dossier über Janna Berg seinerzeit, als er erstmals mit ihr hatte zusammenarbeiten müssen, mit wenig Interesse gelesen. Inzwischen wusste er natürlich mehr über sie. Einiges hatte Janna ihm erzählt, anderes hatte er später in ihrer Akte nachgelesen, um sie besser einschätzen zu lernen.

Ganz schlau wurde er dennoch nicht aus ihr. Eine Frau wie sie hatte in seinem Berufsfeld, dem Geheimdienst, nichts zu suchen. Die Einsätze, in die sie immer wieder verwickelt wurde, waren nicht selten lebensgefährlich. Dennoch zog sie sich nicht zurück, und mittlerweile hatte Markus sich sogar ein wenig an sie gewöhnt. Und um der Gefahr zu entgehen, von seinem Vorgesetzten Walter Bernstein früher oder später zwangsweise einen festen Partner aufs Auge gedrückt zu bekommen, wollte er Janna weiterhin ab und zu für kleinere Handreichungen und einfache Missionen in seine Arbeit einbeziehen. Gerade erst vor einer Woche hatten sie ein gemeinsames Abenteuer durchlebt.

Auch wenn er nicht recht wusste, wie sie es immer wieder schaffte, aber sie war schon mehrfach ausgesprochen nützlich gewesen, wenn es darum ging, Zielpersonen dingfest zu machen oder sich aus brenzligen Situationen zu befreien. Doch wenn er sie so im Kreis ihrer Familie betrachtete, zweifelte er sehr an seinem Entschluss. Gleichzeitig stieg ein Gefühl der Bitterkeit in ihm auf. Hatte er überhaupt das Recht, sich in ihr Leben zu drängen? Er hatte es damals, im Sommer, unbeabsichtigt getan, weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Sie jedoch der ständigen Gefahr auszusetzen, die sein Job mit sich brachte, erschien ihm mehr als bedenklich.

Den kleinen Funken in ihm, der bedauerte, selbst niemals Teil einer solchen Gemeinschaft und Familie gewesen zu sein, unterdrückte er reflexartig. So etwas hatte er nie für sich gewollt. Zumindest nicht mehr, seit er zehn Jahre alt gewesen war. Sein Leben gefiel ihm so, wie es war. Fest stand aber, dass er hier nichts verloren hatte.

Kurz blickte er auf die Pralinenschachtel in seiner Hand, danach wieder in das weihnachtliche Wohnzimmer. Besser, er verdrückte sich jetzt, und bei nächster Gelegenheit würde er Janna nahelegen, sich aus der Arbeit für das Institut zurückzuziehen. Es war einfach nicht fair von ihm, sie zu benutzen, um der dauerhaften Zusammenarbeit mit einem festen Partner zu entgehen. Lieber biss er in diesen sauren Apfel – oder ließ sich etwas anderes einfallen.

Da Janna sich in diesem Moment zufällig in Richtung des Fensters drehte, trat er hastig einen Schritt zurück und verbarg sich im Schatten eines Busches. Auf leisen Sohlen ging er zur Haustür und legte die Schachtel samt der Karte auf der obersten Stufe ab. Dann verschwand er auf demselben Weg, auf dem er gekommen war.

***

Hocherfreut und zugleich verlegen strich Janna mit den Fingerspitzen über den Karton des neuen Computers, den ihre Eltern ihr als Ersatz für den doch sehr betagten und hin und wieder unberechenbaren PC geschenkt hatten. Um sie herum rumorten noch immer die Zwillinge, raschelten mit dem zerrissenen Geschenkpapier und bewunderten ihre neuen Besitztümer.

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Schon gar nicht nach all den Umbauten, die ihr hier im Haus veranlasst habt.« Sie hatte die Worte nur gemurmelt, doch ihr Vater hatte sie dennoch gehört und lächelte sie liebevoll an.

»Doch, das war es sehr wohl, mein Schatz.« Er wies mit dem Kinn auf Jannas jüngere Schwester. »Feli hat uns auf die Idee gebracht, weil sie meinte, du würdest dich in letzter Zeit immer öfter über deinen Computer beschweren.«

»Ach, er wäre bestimmt noch eine Weile gelaufen.«

»Dieser hier ist aber wenigstens nicht mehr so vorsintflutlich.« Feli stieß Frank mit dem Ellenbogen in die Seite. »Du musst ihn morgen gleich mal anschließen, Bruderherz.«

Frank hob erstaunt den Kopf. »Warum denn ich?«

»Weil das Männersache ist.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Auf den Knien rumrutschen, sich den Kopf an der Tischkante stoßen ...« Feli grinste und fing sich dafür ihrerseits einen Knuff ihres Bruders ein.

»Nein, lasst mal, das mache ich lieber selbst.« Janna griff nach dem Schal und den Handschuhen, die sie von den Kindern bekommen hatte. Beides in einem leuchtenden Himmelblau, ihrer Lieblingsfarbe. »Die sind so schön! Jetzt brauchen wir nur noch das passende Winterwetter, damit ich die Sachen auch mal anziehen kann.«

»Der nächste Wintereinbruch kommt bestimmt«, orakelte ihre Mutter. »Apropos Winter – wollen wir uns nachher nicht wieder alle zusammen einen schönen Weihnachtsfilm anschauen? Einen, in dem auch wirklich Schnee liegt?«

»Au ja, bitte!« Till klatschte in die Hände. »Ich will Kevin allein zu Haus schauen!«

»Ja, ich auch!«, fiel Susanna mit ein. »Der ist so toll.«

»Den Film kennt ihr doch bereits auswendig.« Janna lachte.

»Egal!«

»Na gut, dann sucht ihn nachher mal in den Kartons, die noch im Flur stehen.«

»Au ja!« Schon wollten die Kinder losstürmen, doch Janna hielt sie zurück.

»He, he, nachher habe ich gesagt! Erst mal wird hier gleich aufgeräumt. Und außerdem sollten wir auch noch den Plätzchenteller auffüllen, und jemand muss mit Bella eine Runde rausgehen.«

»Ich möchte aber noch ein bisschen meine neuen Sachen anschauen«, protestierte Susanna.

»Ich auch«, fügte Till prompt hinzu.

Die Erwachsenen lachten und waren bald wieder in eine Unterhaltung über dies und das verwickelt.

Janna blickte sinnierend auf ihre Handschuhe, den Schal, den Computer und die weiteren Geschenke, die sie erhalten hatte. In ihrem Nacken prickelte es schon seit einer geraumen Weile. Sie wusste nicht recht, warum, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Das war natürlich völliger Unsinn, dennoch wurde in ihr das Bedürfnis übermächtig, sich zu den Fenstern umzudrehen. Sie tat es schließlich wie zufällig und erschrak, als sie meinte, einen Schatten hinter einer der Fensterscheiben verschwinden zu sehen. Innerlich schüttelte sie den Kopf über sich. Wahrscheinlich war es bloß eine Spiegelung des Lichts gewesen, nichts weiter. Wer sollte wohl da draußen im Garten herumstehen und sie beobachten?

Das Institut fiel ihr ein und die Schurken, die sie im vergangenen halben Jahr gemeinsam mit Markus Neumann hinter Gitter gebracht hatte. Aber die waren alle noch genau dort – im Gefängnis. Anscheinend wurde sie allmählich paranoid.

»Ich geh mal kurz mit Bella nach draußen«, beschloss sie, auch wenn sie sich innerlich eine dumme Gans schalt. Da draußen war überhaupt niemand.

Als die Hündin ihren Namen hörte, sprang sie freudig auf und hüpfte um Janna herum, die sich rasch eine Jacke überwarf und nach der Taschenlampe griff, die im Flur auf einem Regalbrett der Garderobe lag. »Bin gleich wieder da, dann können wir anfangen, das Chaos zu beseitigen«, rief sie betont fröhlich und verließ das Haus durch die Seitentür in der Küche. Bella folgte ihr und machte sich draußen sofort auf ihren üblichen Rundgang über das Grundstück.

Es nieselte leicht, die Luft roch nach nasser Erde und Laub. Die Lichterketten auf dem gesamten Grundstück ließen den Gutshof heimelig und zugleich verwunschen wirken. Janna liebte ihr Zuhause und konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben. Der Anblick ihrer Familie, als sie um das Haus herumging und vom Garten aus durch eines der Wohnzimmerfenster hineinblickte, wärmte ihr das Herz. Ein sanftes Glücksgefühl durchfloss sie. Besser konnte sie es ganz sicher nicht haben.

Als in einiger Entfernung der Motor eines Autos ansprang, zuckte sie zusammen. Der Wagen fuhr nicht am Gutshof vorbei, sondern entfernte sich in die andere Richtung. Janna lächelte über ihre Schreckhaftigkeit, runzelte aber gleich darauf die Stirn, als der Fahrer des Wagens deutlich Gas gab. Die Stille des Winterabends trug die Geräusche besonders weit, und sie hätte schwören können, den Klang des Motors zu erkennen.

Aber das war erst recht völliger Unsinn, oder? Und ihr leicht erhöhter Herzschlag sowieso. Sie war wirklich ein dummes Huhn, ärgerte sie sich und rief nach Bella, die Augenblicke später schwanzwedelnd auf sie zu gerannt kam. »Komm, Süße, wir gehen wieder rein und gucken Kevin allein zu Haus. Das bringt mich wenigstens auf andere Gedanken.«

Warum sie nicht gleich die Hintertür nahm, sondern erst noch einmal zum Tor ging und rechts und links die Straße entlangblickte, darüber wollte sie gar nicht weiter nachdenken. Nur zur Sicherheit, redete sie sich ein. Nicht, dass am Ende doch jemand Fremdes hier herumlungerte. Obwohl Bella in diesem Fall längst Alarm geschlagen hätte. Die Hündin war jedoch zum Haupteingang des Gutshauses gestromert und schnüffelte dort an einer Schachtel herum, deren blaue Zierschleife im Schein der Lichterketten glänzte.

Überrascht ging Janna zu der dreistufigen Steintreppe, die zur Eingangstür hinaufführte, und nahm das Päckchen in die Hand. Ein Umschlag war daran befestigt, auf der in kantiger Männerhandschrift ihr Name stand. Die Schrift erkannte sie auf den ersten Blick nicht, sondern erst, als sie die Karte aus dem Umschlag zog und den Namen des Absenders las. Ihr Herz hüpfte erneut – vor Überraschung, was sonst? Also war Markus tatsächlich hier gewesen. Sie hatte sich, was das Motorengeräusch anging, nicht getäuscht. Es hatte zu seinem Z3 gepasst. War er es auch gewesen, dessen Blicke sie auf sich gespürt hatte? Nein, so ein Quatsch. Weshalb sollte er sie heimlich beobachten? Andererseits ...

Mit einer Mischung aus Freude und Nachdenklichkeit betrachtete sie die Schachtel teurer Pralinen und die Karte mit dem einfachen Weihnachtsgruß. Dann schmunzelte sie. Eines war mal sicher, Markus würde sich, was sein Verhältnis zu minimalistischen Geschenkverpackungen anging, hervorragend mit Till verstehen.

Sie rief erneut nach Bella und ging zusammen mit der Hündin zurück ins Haus. Die Pralinen deponierte sie sicherheitshalber in einem der Küchenschränke, denn sie wollte sich keine Erklärung einfallen lassen müssen, woher sie kamen.

Im Wohnzimmer waren die Kinder inzwischen eifrig dabei, das Papier, die bunten Schleifen und anderes Verpackungsmaterial in einem großen Karton zu verstauen. Linda nahm gerade die DVD des gewünschten Films aus der Hülle und legte sie in den Player.

Still setzte Janna sich in einen Sessel. Vom Anfang des Films bekam sie nicht allzu viel mit, denn ihre Gedanken kreisten ohne ihr Zutun immer wieder um die Pralinen und den Mann, der sie auf der obersten Stufe zu ihrem Haus hinterlassen hatte. Warum hatte er sich nicht gemeldet? Er hätte ihr eine SMS schreiben oder sogar anrufen können. Stattdessen hatte er sein Geschenk einfach abgelegt und war wieder verschwunden. Wie ein Geist ... oder ein Geheimagent eben. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht stören wollen, aber weshalb hatte er den Weg überhaupt auf sich genommen? Er hätte ihr die Pralinen auch mit der Post schicken oder ein andermal überreichen können.

Janna knabberte an der Unterlippe. Kaum jemand, den sie kannte, käme um diese Zeit am Heiligen Abend auf die Idee, durch die Weltgeschichte zu fahren. Ihre Freunde und Bekannten waren jetzt ganz sicher alle damit beschäftigt, mit ihren Lieben zu feiern.

Da lag vielleicht der Hund begraben, überlegte sie. Markus hatte keine »Lieben«, mit denen er feiern konnte. Sicher, da waren sein Vater und dessen Frau, aber soweit sie es verstanden hatte, herrschte zwischen Vater und Sohn nicht die innige Verbundenheit, die sie aus ihrer eigenen Familie kannte. Markus hatte ihr erzählt, dass er am Weihnachtsabend meistens zum Essen ins HellHole ging, den kleinen Irish Pub in der Bonner Innenstadt. Vermutlich war es nicht nur das Essen, sondern auch die Gesellschaft anderer Menschen, die er dort suchte. Wer wollte an Weihnachten schon ganz allein sein?

Während sich Macaulay Culkin mit den beiden Einbrechern herumschlug und um Janna herum immer wieder schallend gelacht wurde, nagte dieser Gedanke an ihr. Markus war ihr in den vergangenen Monaten so etwas wie ein Freund geworden. Und selbst er, der sich normalerweise weigerte, jedwede Bindung einzugehen, hatte sie bei ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer wissen lassen, dass er sich ihr durchaus freundschaftlich verbunden fühlte. Eine Tatsache, über die sie noch nicht weiter nachgedacht hatte, denn sie vermied es meistens, sich über den verschlossenen und manchmal auch arroganten Agenten zu viele Gedanken zu machen. Nun hatte er sich jedoch hartnäckig in ihrem Kopf festgesetzt und ließ sich nicht mehr vertreiben. Das machte sie unruhig, und in ihr wuchs das Bedürfnis, sich persönlich für das Geschenk zu bedanken. Ob sie ihn anrufen sollte? Vielleicht hatte er ja gerade nur schnell die Pralinen hier abgelegt und war dann zu seiner Freundin gefahren. Wie hieß sie noch gleich? Celine!

Sie versuchte sich die junge Frau vorzustellen, deren Stimme sie einmal kurz übers Handy gehört hatte. Fröhlich und ein bisschen keck, vollkommen unkompliziert. Mit solchen Frauen umgab sich Markus sicherlich schon immer, boten oberflächliche Beziehungen mit ihnen doch kaum Fallstricke. Wenn er genug von einer hatte, zog er zur nächsten weiter.

Halt, nein, er konnte gar nicht mit Celine zusammen sein. Hatte er nicht auf der Rückfahrt vom Schwarzwald, wo sie ihr letztes gemeinsames Abenteuer bestanden hatten, erzählt, dass sie über die Feiertage zum Skifahren in den Alpen sein würde?

Um Janna herum brandete erneut Gelächter auf, und sie bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Film zu richten. Es gelang ihr nicht. Nach weiteren fünf Minuten des Haderns mit sich richtete sie sich im Sessel auf. »Ich muss noch mal weg.«

»Was?« Überrascht setzte sich auch Linda auf. »Wohin denn?«

Da sich die Augen aller Anwesenden auf Janna richteten, drückte Bernhard rasch die Pausetaste auf der Fernbedienung.

Janna hätte sich ohrfeigen mögen, doch nun musste sie sehen, wie sie aus der Sache heil herauskam. »Ja, wisst ihr, ich bin noch von ein paar Leuten eingeladen worden ... vom Institut.«

»Dem Meinungsforschungsinstitut, für das du neuerdings so oft arbeitest?« Feli grinste. »Sind da ein paar gute Typen dabei? Dann komme ich mit.«

»Äh, nein, nicht wirklich.« Janna räusperte sich. Markus wäre ganz sicher Felis Typ, doch auf solche Komplikationen sollten sie wohl verzichten. Ganz abgesehen davon, dass besser niemand in ihrer Familie von Markus oder den anderen Agenten erfuhr, auch wenn sie offiziell alle in der Meinungsforschung arbeiteten. »Es ist nur so, dass ich mich vielleicht doch mal dort sehen lassen sollte.«

»Ja, warum eigentlich nicht«, sprang ihr Vater ihr bei. »Ob du hier mit uns alte Filme schaust oder eine schöne Zeit mit deinen neuen Kollegen verbringst. Unser Familienprogramm hier ist ja schließlich durch. Und es ist immer gut, sich nicht von solchen Feiern auszuschließen, vor allem, wenn man längerfristig mit Leuten zusammenarbeiten möchte.«

»Da hast du vollkommen recht«, stimmte Linda ihm zu. »Wer weiß, vielleicht stellen sie dich ja doch mal fest ein. Dann ist es wichtig, dass du dich mit deinen Kollegen gut verstehst.«

Janna atmete erleichtert auf. »Es macht euch also nichts aus, wenn ich jetzt noch mal wegfahre?«

»Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Hab einen schönen Abend!« Linda lächelte ihr herzlich zu. »Aber nimm ein Taxi zurück, falls du etwas trinken möchtest.«

»Äh, nein, das ist sicher nicht nötig. Ich trinke doch sonst auch nie viel Alkohol. Ich fahre nur kurz dort vorbei und ... na ja, schaue, was so los ist. Bestimmt bin ich in zwei Stunden wieder hier.«

»Pfff, das rentiert sich doch überhaupt nicht.« Frank grinste. »Wenn du schon auf eine Betriebsfeier gehst, amüsier dich wenigstens gut. Warum ist die eigentlich ausgerechnet heute?«

Janna hob die Schultern. Das hatte sie gar nicht bedacht. »Ähm, na ja, sie fängt erst spät an, damit alle vorher noch mit ihren Familien feiern können. Ist wohl eine Tradition dort.«

»Was willst du denn anziehen?« Feli musterte sie eingehend. Janna trug blaue Jeans, braune Stiefeletten und einen cremefarbenen, figurbetonten Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt. Dazu passten das einfache Silberkettchen mit einem Anhänger in Form einer Rosenblüte und die gleichartigen Ohrstecker ganz ausgezeichnet.

Janna blickte an sich hinab. »Ich wollte mich eigentlich nicht extra umziehen. Was soll an meinen Klamotten nicht stimmen?«

Feli lachte auf. »Gar nichts, Schwesterlein. Du siehst toll aus. Ich wollte dich nur testen. Wenn du dich nicht extra noch in Schale wirfst, gibt es anscheinend wirklich keine heißen Kerle in diesem Institut. Papa, schalt bitte den Film wieder an. Die Party scheint sich für mich nicht zu lohnen.«

Schmunzelnd schüttelte Janna den Kopf über ihre Schwester und erhob sich, um sich ihren braunen Kurzmantel aus Wolle überzuziehen und ihr Handy einzustecken. Rasch packte sie es in ihre Handtasche, warf noch einen kurzen Blick in den Flurspiegel und fuhr sich ordnend durch die Locken. Dann eilte sie noch einmal ins Wohnzimmer zurück und drückte den Zwillingen jeweils einen Kuss auf den Scheitel. »Gute Nacht, ihr zwei. Hört auf Tante Linda und Onkel Bernhard und benehmt euch.«

»Hm.« – »Ja, ja«, kam es im Chor von den beiden, die bereits wieder in den Film vertieft waren.

»Viel Spaß!«, rief Linda ihr nach.

Janna verließ das Haus und ging zu ihrem dunkelblauen Golf V, den sie in der Garage rechts neben dem Gutshaus untergestellt hatte. Der Nieselregen hatte aufgehört, doch das Pflaster und die Straße glänzten nass. Rasch klemmte sie sich hinters Steuer.

Was tat sie hier eigentlich? Stirnrunzelnd fuhr Janna mit den Fingern übers Lenkrad. Manchmal hatte sie den Eindruck, sie sei von allen guten Geistern verlassen, seit sie Markus kannte. Wäre es nicht viel klüger, einfach wieder ins Haus zu gehen und mit ihrer Familie den Film anzuschauen?

Ach was! Bevor sie es sich doch noch anders überlegen konnte, startete Janna den Motor und lenkte den Wagen in Richtung Rheinbach.

O du fröhliche, o du tödliche

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