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Bonn, Kaiserstraße

Institut für Europäische Meinungsforschung

Tiefgarage

Donnerstag, 16. August, 15:00 Uhr

»Das ist nicht Ihr Ernst, Walter.« Markus Neumann starrte einigermaßen fassungslos auf den nagelneuen BMW X3, dessen dunkelgrauer Lack im Licht der Neonröhren glänzte. »Ich will ja nicht undankbar klingen, aber ... das ist ein Familienschiff.«

Walter Bernstein, Leiter der Abteilung sieben des Instituts, die sich mit der nationalen und internationalen Terrorabwehr und dem organisierten Verbrechen befasste, lachte erheitert auf. »Das ist der sportlichste und wendigste SUV, den unser Fuhrpark zu bieten hat. Drei Liter Hubraum, 190 KW, das sind fast 260 PS ...«

»Das weiß ich.« Missmutig umrundete Markus den Wagen. »Trotzdem ...«

»Dieselmotor, Allradantrieb«, fuhr Walter unbeirrt fort. »Außerdem Teillederausstattung, unser institutseigenes Navigationssystem mit GPS-Ortungseinrichtung, Internetzugang via Satellit, WLAN ... Eine ausführliche Bedienungsanleitung liegt im Handschuhfach.« Er hielt kurz inne, als Markus ihn mit gerunzelter Stirn ansah. »Es tut mir um Ihren Z3 sehr leid, Markus, aber Sie haben sicher nicht erwartet, dass die Chefetage ihn eins zu eins ersetzen wird. Der Wagen hier ist auf Sie zugelassen, Sie erhalten die institutseigene Vollkasko- und Haftpflichtversicherung sowie eine internationale Serviceversicherung für den Fall, dass Sie eine Panne oder einen Unfall haben oder«, er räusperte sich, »den Wagen zu Schrott fahren. Und alles zu Sonderkonditionen, von denen Sie als Privatmann nur träumen könnten.«

»Das ist ja alles gut und schön.« Markus atmete einmal tief durch. »Aber ein SUV?«

»Glauben Sie, der passt nicht zu Ihnen?«

»Melanie und Tommy fahren Limousinen.«

Wieder lachte Walter. »Seit wann vergleichen Sie sich mit Ihren Kollegen? Die Chefetage hat Ihnen diesen Wagen zugeteilt und sich bestimmt etwas dabei gedacht. Immerhin leiten Sie jetzt die neue Abteilung sieben A und werden, je nach Operation, ganz sicher mit einem solchen Wagen am besten agieren können. Er ist, wie gesagt, sehr wendig, sportlich schnell, geländefähig und dabei in ausreichendem Maße unauffällig.« Er hielt Markus einen Ring mit zwei Wagenschlüsseln und einen Schnellhefter hin, in dem Fahrzeugbrief und -schein zu erkennen waren. »Sie können den Wagen uneingeschränkt auch privat nutzen, ohne ein Fahrtenbuch führen zu müssen.«

»Ach?« Überrascht hob Markus die Augenbrauen und nahm Hefter und Schlüssel an sich. »Wie komme ich zu der Ehre?«

»Das ist eine Order, die von Herrn Dr. Schwartz kommt. Möglicherweise eine Art Wiedergutmachung für die Unannehmlichkeiten, die Sie während Ihres letzten Undercover-Einsatzes erdulden mussten.«

»Unannehmlichkeiten?« Verärgert biss Markus die Zähne zusammen, bis ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Kriegt Janna dafür etwa auch ein neues Auto?« Der Sarkasmus troff geradezu aus seinen Worten.

Prompt wurde Walter wieder ernst. »Wohl eher nicht. Hören Sie, Markus, ich weiß, wie schwierig die Situation gewesen ist. Auch ich bin nicht damit einverstanden, wie Dr. Schwartz diese Angelegenheit angegangen ist ...«

»Das weiß ich, Walter. Ihnen mache ich keinen Vorwurf.« Unwirsch fuhr Markus sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkelbraunes Haar. »Dann werde ich wohl mal eine kleine Probefahrt mit der Kiste machen.«

Walter hüstelte. »Daraus wird leider vorerst nichts. Melanie musste vorhin wegen einer familiären Angelegenheit frühzeitig Feierabend machen.«

»Was habe ich damit zu tun?«

»Sie müssen sie vertreten.«

Markus runzelte die Stirn. »Sie sagen das so komisch. Bei was vertreten?«

Walter schmunzelte. »Keine Sorge, es handelt sich nicht um langweilige Schreibtischarbeit.«

***

Bonn, Kaiserstraße

Institut für Europäische Meinungsforschung

Sporthalle

Donnerstag, 16. August, 15:00 Uhr

Mit Schwung legte Janna ihre handliche blaue Sporttasche neben dem Eingang zur institutseigenen Sporthalle ab und sah sich um. Sie staunte noch immer, dass es diesen zwölf Meter langen und neun Meter breiten Raum tatsächlich gab. Er lag unterirdisch, wie der größte Bereich des Geheimdienstes, der nach außen hin als Meinungsforschungseinrichtung getarnt war.

Links von der doppelflügligen Tür befanden sich mehrere Fitnessgeräte wie Ergometer-Fahrrad, Crosstrainer, Laufband, Rudergerät und zwei Hantelbänke sowie eine gut ausgestattete Multifunktions-Fitness- und Kraftstation. Dadurch wirkte der Raum, der von mehreren Tageslichtlampen erhellt wurde, fast wie ein modernes Fitnessstudio. Es gab aber auch eine Fläche für freie Bewegung. Basketballkörbe sowie ein aufspannbares, derzeit aber ordentlich aufgerolltes und an der Wand befestigtes Volleyballnetz verrieten, dass hier auch Teamsportarten trainiert wurden. Die Agenten hielten sich sportlich fit, auch während der Arbeitszeit. Rechter Hand gab es einen Geräteraum, dessen Tür halb offen stand. Dort befanden sich alle möglichen Matten, Bälle und sonstige Sportutensilien, die Janna an den Sportunterricht in der Schule erinnerten.

Sie trug bereits ihre Sportsachen, sodass sie nicht den Gemeinschaftsumkleideraum benutzen musste. In der oberirdischen Etage, in der sich seit Kurzem ihr neuer Arbeitsplatz befand, gab es einen eigenen Duschraum samt Umkleidezimmer, was sie als extrem komfortabel empfand.

Weniger als zwei Wochen war es her, dass sie ihre Stelle als Markus’ Partnerin offiziell angetreten hatte. Nachdem es durch seinen Undercover-Einsatz, bei dem das Institut seinen Tod vorgetäuscht hatte, zunächst für sie den Anschein gehabt hatte, als ob sie diesen Job niemals würde antreten können, war jetzt doch alles ausgesprochen schnell gegangen. Die letzten Tage hatte sie hauptsächlich dazu genutzt, sich in dem neuen Büroraum einzurichten und sich mit dem Computer sowie den Abläufen im Institut vertraut zu machen. Nachmittags und manchmal auch abends besuchte sie verschiedene Kurse, die ihr die Theorie und Praxis der Geheimdienstarbeit näherbrachten. Die übrigen Kursteilnehmer waren deutlich jünger als sie, hatten entweder gerade ihr Studium beendet oder machten eine Ausbildung in den institutseigenen Abteilungen.

Zur Praxisschulung gehörte auch ein Selbstverteidigungskurs, der später, je nach Bedarf, durch Trainings im Nahkampf und in verschiedenen Kampfsportarten ergänzt werden konnte. Janna glaubt jedoch nicht, dass Walter Bernstein vorhatte, sie derart intensiv ausbilden zu lassen. Über die Auffrischung ihres schon viele Jahre zurückliegenden Kurses in Selbstverteidigung war sie jedoch sehr froh. Immerhin ging es darum, sich nicht nur allgemein gegen Übergriffe behaupten zu können, sondern auch in lebensbedrohlichen Situationen, wie sie die Zusammenarbeit mit einem Geheimagenten leider hin und wieder mit sich brachten. Da der offizielle Kurs erst in zwei Wochen beginnen würde und außerdem ein Aufbaukurs war, hatte Herr Bernstein die Agentin Melanie Teubner gebeten, mit Janna bereits vorab ein paar Trainingseinheiten abzuhalten. Heute war die vierte Übungsstunde und Janna erwartete neugierig, was Melanie sich dieses Mal für sie ausgedacht hatte.

Obwohl die attraktive schwarzhaarige Agentin sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft sehr von oben herab behandelt hatte und auch heute noch manchmal ihre Überlegenheit zur Schau trug, hatten sie sich inzwischen ein wenig angefreundet. Dass Janna sich trotz einiger schmerzhafter Blessuren, die Melanie ihr bereits zugefügt hatte, recht geschickt anstellte, trug vielleicht dazu bei, Jannas Ansehen bei ihr zu heben. Janna argwöhnte, dass Melanie sie anfangs für ein unbedarftes Heimchen am Herd gehalten hatte. Inzwischen hatte sie jedoch bewiesen, dass deutlich mehr in ihr steckte. Wenn nicht nur Walter Bernstein, sondern auch die Leute aus der obersten Chefetage der Ansicht waren, dass sie sich als Partnerin für einen der besten Agenten des Instituts eignete, konnte Melanie Teubner kaum bei ihrer Geringschätzung bleiben.

Während Janna darauf wartete, dass ihre Kollegin und Trainerin eintraf, wärmte sie sich schon ein wenig auf. Sie hatte sich auf Melanies Anweisung hin einen weißen Judo-Gi zugelegt, einen Judoanzug mit weißem Gürtel. Zu Hause trug sie immer einfache Sportshorts und Tops, wenn sie in ihrem Fitnesskeller trainierte, sodass sie sich erst an den recht warmen Anzug hatte gewöhnen müssen. Doch inzwischen fühlte sie sich sehr wohl darin. Sie lief und hüpfte ein wenig auf der Stelle, machte ein paar Kniebeugen und Lockerungsübungen, so wie Melanie es ihr gezeigt hatte. Dabei schielte sie immer wieder nach der Uhr über der Tür und fragte sich nach einer Viertelstunde allmählich, ob Melanie das Training vielleicht vergessen hatte.

Gerade als sie auf ihre Tasche zuging, um das Smartphone herauszuholen und die Agentin anzurufen, öffnete sich die Tür. Es war jedoch nicht Melanie, die eintrat. Beim Anblick des hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes, der ebenfalls in einen Judo-Gi – allerdings mit schwarzem Gürtel – gekleidet war, hielt sie verblüfft inne. »Markus. Was machst du denn hier?« Sie hatten sich heute noch nicht gesehen, da er fast den ganzen Tag in irgendwelchen Meetings und Lagebesprechungen verbracht hatte.

Markus grinste schief und schloss die Tür hinter sich. »Ich vertrete Melanie. Sie musste wegen irgendeiner Familiensache früher weg und Walter meinte, es wäre eine gute Idee, wenn ich heute mit dir trainiere.«

»Du?« Jannas Herzschlag holperte ein wenig. Eine Reaktion, die sie in seiner Gegenwart einfach nicht in den Griff bekam, auch wenn sie sich noch so anstrengte. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür, beim Gedanken daran, mit ihm eine dreiviertel Stunde lang Selbstverteidigung zu üben, nervös zu werden. Sie waren immerhin inzwischen gute Freunde. Beste Freunde, die Seite an Seite arbeiteten – oder es tun würden, sobald sie sich in der neuen Abteilung sieben A eingewöhnt hatten.

»Ja, ich.«

Als Markus mit einem noch breiteren Grinsen auf sie zutrat, wurde ihr wieder einmal überdeutlich bewusst, wie groß er mit seinen eins zweiundneunzig war und wie kräftig. Die Jacke des Judoanzugs betonte die breiten Schultern und obwohl der Anzug weit geschnitten war, konnte er doch nicht über die harten Muskeln hinwegtäuschen, die sich darunter befanden. Unwillkürlich schluckte sie. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?« Sie schielte links und rechts an ihm vorbei, obwohl sie wusste, dass es albern war, nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten. »Ich habe bisher immer nur mit Melanie geübt und noch nie mit einem Mann.«

Markus schien nichts von ihrer Nervosität zu bemerken, denn er winkte nur lässig und immer noch grinsend ab. »Dann wird es doch allmählich Zeit, oder? In den meisten Fällen werden Frauen von Männern überfallen und überwältigt. Also kann es wohl nicht schaden, wenn du so früh wie möglich lernst, es mit jemandem aufzunehmen, der dir an Körperkraft und -gewicht überlegen ist.«

Das hatte Melanie auch schon einmal gesagt. Janna beruhigte sich wieder ein wenig. Markus hatte vollkommen recht. Abgesehen davon – was würde es schon für einen Unterschied machen, ob sie mit ihm trainierte oder mit irgendjemand anderem?

»Also gut.« Sie rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. »Womit fangen wir an?«

»Hast du dich schon aufgewärmt?« Er begann, langsam im Kreis zu joggen.

»Ja, ein bisschen.«

»Ein bisschen reicht nicht, wenn du dir keine Muskelzerrung zuziehen willst.«

»Ich weiß.« Sie setzte sich in Bewegung. Während sie lief, zog sie das Haargummi von ihrem Zopf und fasste ihr kupferrotes Haar rasch erneut zusammen. »Ist es eigentlich okay, wenn ich Susanna und Till auch ein paar von den Sachen beibringe, die ich hier lerne?«

Markus drehte sich um und lief rückwärts. »Du meinst, wie sie sich gegen einen bewaffneten Überfall wehren können?«

Sie lachte auf. »Na ja, vielleicht nicht gerade gegen so etwas, aber es kann doch nicht schaden, wenn ich ihnen ein paar grundlegende Handgriffe zeige, oder?«

Markus drehte sich wieder um und lief noch ein paar Meter, dann begann er mit den Übungen, die Janna zuvor auch schon absolviert hatte. »Schaden kann das bestimmt nicht. Wenn ich überlege, wie oft ich mich in dem Alter geprügelt habe ...«

»Geprügelt?« Janna hielt mitten in der Bewegung inne.

»Auf der Straße mitten in einer Großstadt lebt es sich nicht so behütet wie bei euch auf dem Land.«

»Ich weiß. Ich meine ...« Sie schwieg. Natürlich wusste sie rein gar nichts darüber, wie es war, bereits als Kind quasi auf sich allein gestellt zu sein. Bis zu seinem dreizehnten Geburtstag war Markus bei seiner drogensüchtigen und alkoholkranken Mutter aufgewachsen. Er hatte es nicht leicht gehabt und sich mit Diebstählen und bestimmt auch anderen kriminellen Handlungen über Wasser gehalten. Umso bewundernswerter war es, dass er nicht vollends in der Gosse gelandet war. Sein Vater war der Kriminaldirektor Klaus Scherhag, der das BKA in Meckenheim leitete. Ihm war es zu verdanken, dass Markus‘ Leben damals eine positive Wende genommen hatte, auch wenn Markus das nicht gerne zugab, weil er sich mit seinem Vater nicht gut verstand.

»Schon gut.« Markus hatte ihr Zögern bemerkt und winkte lässig ab. »Ich meine ja nur. Gibt es einen besonderen Grund, dass du den Zwillingen Selbstverteidigung beibringen willst?«

»Nein.« Janna machte ein paar Dehnübungen. »Ich dachte nur ... einfach so. Man kann nie wissen, wann man mal in eine Situation gerät, in der man solche Kenntnisse benötigt. Ich meine, wer weiß schon, was einen an der nächsten Straßenecke erwartet? Die beiden sind jetzt neun, aber bald werden sie zehn und dann elf und ... Die Zeit vergeht so schnell und plötzlich sind sie Teenager, und man hört doch immer wieder, was alles passieren kann in Discos und auf Partys und überhaupt. Wenn sie so früh wie möglich lernen, sich zu behaupten und, falls nötig, auch zu verteidigen, kann das doch nur sinnvoll sein, oder? Ich habe meinen ersten Selbstverteidigungskurs mit achtzehn gemacht, das war schon zu spät, denn immerhin wurden meine Freundin und ich damals, als wir mit sechzehn auf dem Konzert von R.E.M. waren, von diesen Typen angegriffen, und wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht rein zufällig ...«

»Janna!«

Sie erschrak und verschluckte sich fast. »Was?«

Markus schmunzelte. »Du tust es schon wieder.«

»Oh.« Wenn sie nervös war, redete sie oft wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma. »Entschuldige.«

»Hol tief Luft und beruhige dich. Niemand hat etwas dagegen, wenn du den beiden ein bisschen Selbstverteidigung beibringst.«

»Gut.« Sie atmete geräuschvoll ein und wieder aus.

»Solange du keine institutsinternen Geheimnisse weitergibst.«

»An Till und Susanna? Sie sind noch Kinder!«

»Eben.« Markus bedeutete ihr, ihm zu dem Geräteraum zu folgen.

»So etwas würde ich nie tun. Auch nicht jemand anderem gegenüber.«

»Dann ist es ja gut.« Lächelnd deutete er auf den Stapel Sportmatten. »Davon brauchen wir vier Stück.« Er hielt inne. »Nein, besser sechs ... nein, acht.«

»Acht Matten? Was in aller Welt hast du vor? Mit Melanie habe ich immer auf vier Matten trainiert.« Verblüfft half sie ihm, die Matten in die Halle zu tragen und so nebeneinander anzuordnen, dass sich eine große zusammenhängende Fläche ergab.

»Melanie hat weniger Kraft als ich. Ich will nur verhindern, dass du versehentlich den Abflug machst und auf dem Hallenboden landest.«

»Was?« Sie starrte ihn so entgeistert an, dass er laut lachte.

»Kleiner Scherz.« Er deutete auf die Matten. »Zeig mir erst mal, was du bis jetzt schon gelernt hast.«

Janna trat zögernd näher. »Die erste Stunde lang hat Melanie mir nur beigebracht, wie man richtig fällt und sich abfängt. Danach haben wir einfache frontale Angriffe geübt.«

»Okay, dann mal los.« Ehe Janna sich versah, machte Markus einen großen Schritt vorwärts und griff nach ihren Oberarmen. Instinktiv wollte sie zurückweichen, erinnerte sich aber glücklicherweise noch rechtzeitig daran, dass sie Markus’ Schwung ausnutzen musste, wenn sie ihn zu Fall bringen wollte. Sie versuchte, die Bewegungen auszuführen, die Melanie ihr in den vergangenen drei Trainingsstunden beigebracht hatte, doch ihre Kraft reichte nicht, Markus auch nur ins Straucheln zu bringen. Stattdessen wirbelte er sie herum und sie landete im nächsten Moment unsanft auf ihrem Allerwertesten.

Markus half ihr sogleich, wieder aufzustehen. »Das war schon gar nicht übel für den Anfang.«

»Nicht übel?« Janna schüttelte sich leicht. »Du hast mich umgeworfen, als wäre ich aus Pappe.«

»Nur weil du zu viel nachgedacht und noch keinen Kampfinstinkt entwickelt hast.« Er bedeutete ihr, sich erneut aufzustellen. »Außerdem musst du bei einem wesentlich größeren und schwereren Gegner noch ein bisschen mehr eigene Kraft aufwenden.« Er erklärte ihr, was sie beim nächsten Versuch anders machen sollte, und sie probierten es erneut. Diesmal brachte sie ihn zumindest ins Straucheln, landete aber erneut auf der Matte.

»Ich zeige es dir noch mal.« Er zog sie an der Hand hoch, sodass sie schwungvoll auf die Füße kam. »Greif mich an, aber in Zeitlupe.«

»Ich bin viel leichter als du.«

»Tut nichts zur Sache. Ich will dir nur die Handgriffe zeigen.«

»Okay.« Sie übernahm den Part des Angreifers, bemühte sich aber, die Bewegungen ganz langsam und kontrolliert auszuführen. Markus tat es ihr gleich, sodass sie im nächsten Moment wie im Zeitraffer gepackt, gedreht und durch die Luft gehoben wurde. Diesmal landete sie einigermaßen sanft auf der Matte, weil Markus ihren Sturz abfederte. Für einen Moment verharrten sie so – sie auf dem Boden, er über sie gebeugt. Er hatte ihren Arm nicht losgelassen. In ihrer Magengrube kribbelte es heftig, als sich ihre Blicke trafen.

»Kapiert?« Er grinste wieder und zog sie auf die Füße.

»Schon lange.« Sie seufzte. »Aber gegen jemanden wie dich werde ich trotzdem immer den Kürzeren ziehen.« Sie hielt inne. »Was mache ich denn, wenn ich es nicht sofort schaffe, meinen Gegner zu Fall zu bringen?«

»Dann musst du kreativ werden.« Markus trat einen halben Schritt zurück. »Versuchen wir es noch mal. Diesmal bin ich wieder der Angreifer.«

»Ok... Shit!« Sie hatte nicht mit seinen flinken Bewegungen gerechnet. Zwar schaffte sie es, ihn erneut ins Straucheln zu bringen und ihm ihren Arm zu entziehen, dennoch machte sie erneut Bekanntschaft mit der Matte. »Das war unfair!«

Markus lachte. »Gewalttätige Übergriffe sind kaum jemals fair. Hey!«

Janna hatte sich mit Schwung auf der Matte gedreht und trat mit beiden Füßen zu, sodass ihre Waden gegen die von Markus prallten. Der Schwung reichte aus, um ihn zu Fall zu bringen.

Verblüfft starrte er sie an. »Wann hast du das denn gelernt? Das gehört in den Kurs für Fortgeschrittene.«

Überrascht, dass ihr Gegenangriff tatsächlich geglückt war, richtete sie sich halb auf. »Das habe ich mal in einer Fernsehserie gesehen.«

»Ach.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es funktioniert.«

»Tja, das hat es ganz offensichtlich.« Von seiner liegenden Position ihr schräg gegenüber blickte er sie einen Moment lang amüsiert an. In seinen Augen blitzte es schalkhaft auf. »Allerdings hast du etwas Wichtiges vergessen.«

Verwundert hob sie den Kopf. »Was denn?«

Mit einer flinken Drehung wirbelte Markus zu ihr herum und landete im nächsten Moment mit seinem vollen Gewicht auf ihr. Ehe sie sich’s versah, hatte er ihre Arme gepackt und drückte sie oberhalb ihres Kopfes auf den Mattenboden. Sein Gesicht war nun genau über ihrem. Er grinste triumphierend. »Du hast vergessen wegzulaufen.«

Verblüfft starrte sie zu ihm auf. Erst mit einigen Sekunden Verzögerung wurde ihr bewusst, wie nah sie sich waren und dass ihr Herz wie wild zu pochen begonnen hatte. Sie schluckte. »Stimmt auffallend.«

»Regel Nummer eins für Anfänger, nachdem sie den Gegner außer Gefecht gesetzt haben.« Seine Stimme klang ein wenig belegt und wurde mit jedem Wort rauer. »Lauf, so schnell du kannst, sonst ...« Sein Blick schien sich zu verdunkeln, gleichzeitig traten die grünen und grauen Einsprengsel in seinen braunen Augen immer deutlicher hervor.

»Sonst?« Janna hatte für einen Moment das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Herz überschlug sich fast und sie war sich des Gewichts von Markus’ Körper überdeutlich bewusst, ebenso der gefährlichen Hitze, die zwischen ihnen aufstieg.

Markus brauchte ungewöhnlich lange, um auf ihre Frage zu antworten. Sein Blick war unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet. Schließlich räusperte er sich. »Sonst könnte die Sache ziemlich gefährlich werden.« Während er sprach, lockerte er seinen Griff um ihre Arme ein wenig, bewegte sich jedoch ansonsten nicht, sodass sich sein muskulöser Körper weiterhin schwer gegen den ihren presste.

Janna schluckte erneut, unfähig, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. »Gefährlich?«

Diesmal schluckte auch er und es schien, als nähere sich sein Gesicht ganz langsam ihrem. »Brandgefährlich«, raunte er.

In diesem Moment klappte die Hallentür vernehmlich zu. »Oh, Entschuldigung, störe ich?« Alexa Baumgartz, eine von Markus’ Kolleginnen, trat neben die Matten. Die spöttische Spitze in ihrer Stimme war deutlich zu vernehmen.

»Nein, gar nicht.« Mit einer ebenso flinken wie geschmeidigen Bewegung rollte Markus zur Seite und stand im nächsten Moment wieder auf den Füßen. »Wir haben nur ein bisschen geübt.« Seine Stimme klang nun wieder vollkommen normal, dennoch räusperte er sich.

»Geübt?« Nun troff der Sarkasmus förmlich aus Alexas Stimme. »Was denn? Nahkampf?« Sie warf ihr langes, welliges blondes Haar schwungvoll über die Schulter und strich ihr eng anliegendes silbernes Top mit dem tiefen V-Ausschnitt glatt. »Der von der spaßigen Art?«

Markus schüttelte den Kopf. »Hör auf mit dem Quatsch.«

Janna beeilte sich ebenfalls aufzustehen. »Nur ein bisschen Selbstverteidigung. Eigentlich sollte ich heute mit Melanie üben.«

»Melanie ist schon längst nach Hause gefahren. Irgendwas mit ihrer Familie.« Alexa warf ihr einen abschätzigen Blick zu.

»Deshalb bin ich eingesprungen«, erklärte Markus rasch.

»Aha.« Alexa war deutlich anzusehen, was sie davon hielt. Janna wusste, dass die Agentin mehr als nur ein Auge auf Markus geworfen hatte und dass die beiden vor Jahren einmal ein Paar gewesen waren. Zwar nicht allzu lange, aber es hatte offenbar ausgereicht, dass Alexa glaubte, Besitzansprüche auf Markus geltend machen zu dürfen. »Leider muss ich eure kuschelige Übungsstunde«, Alexa betonte das Wort besonders deutlich, »beenden. Walter will euch in seinem Büro sehen. Anscheinend habt ihr euren ersten Auftrag.«

Stille Wasser sind auch nass

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