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Kapitel II
ОглавлениеAm Morgen hatte im »Moniteur«17 der Rücktritt Rougons gestanden, der »aus Gesundheitsgründen« demissioniert habe. Er war nach dem Frühstück in den Staatsrat gekommen mit der Absicht, seinem Nachfolger schon diesen Abend den Platz aufgeräumt zu hinterlassen. Und in dem großen rot und goldenen Arbeitszimmer, das dem Präsidenten vorbehalten war, leerte er, vor dem riesigen Schreibtisch aus Palisanderholz sitzend, die Schubfächer und ordnete Papiere, die er mit rosafarbenen Bindfäden bündelte.
Er klingelte. Ein Türhüter trat ein, ein prachtvoll gewachsener Mann, der bei der Kavallerie gedient hatte.
»Bringen Sie mir eine brennende Kerze«, bat Rougon.
Und als der Türhüter, nachdem er einen kleinen Leuchter vom Kamin auf den Schreibtisch gestellt hatte, gehen wollte, rief Rougon ihn zurück.
»Merle, hören Sie! – Lassen Sie niemanden herein. Verstehen Sie, niemanden.«
»Jawohl, Herr Präsident«, antwortete der Türhüter und schloß geräuschlos die Tür.
Rougon lächelte leicht.
Er wandte sich zu Delestang um, der am anderen Ende des Raumes vor einem Schrank mit Pappschubfächern stand, die er sorgfältig durchsah.
»Der brave Merle hat heute morgen den ›Moniteur‹ nicht gelesen«, murmelte er.
Delestang schüttelte, da er nichts zu sagen wußte, nur den Kopf. Er hatte einen wundervollen Kopf, sehr kahl, aber mit einer dieser frühzeitigen Glatzen, die den Frauen gefallen. Sein nackter Schädel, der die Stirn übermäßig hoch erscheinen ließ, gab ihm den Anschein umfassender Intelligenz. Sein rosiges, ein wenig viereckiges Gesicht ohne ein einziges Barthaar erinnerte an jene korrekten und gedankenvollen Gesichter, wie phantasiebegabte Maler sie gern den großen Politikern verleihen.
»Merle ist Ihnen sehr ergeben«, sagte er schließlich.
Und er versenkte wieder den Kopf in das Pappfach, das er gerade durchstöberte. Rougon, der eine Handvoll Papiere zusammengedreht hatte, zündete sie an der Kerze an und warf sie dann in eine große Bronzeschale, die auf einer Ecke des Schreibtisches stand. Er sah zu, wie sie verbrannten.
»Delestang, die unteren Fächer rühren Sie mir bitte nicht an«, sagte er. »Darin sind Akten, in denen nur ich mich auskenne.«
Dann setzten beide eine reichliche Viertelstunde lang schweigend ihre Tätigkeit fort. Es war sehr schönes Wetter, die Sonne schien durch die drei großen Fenster, die auf die Uferstraße hinausgingen. Eines der Fenster, das einen Spalt breit offenstand, ließ den leichten kühlen Luftzug von der Seine herein, der mitunter ein wenig die seidenen Fransen der Vorhänge hob. Zerknitterte, auf den Teppich geworfene Papiere flatterten mit leisem Rascheln weiter.
»Hier, sehen Sie doch mal dies«, sagte Delestang und reichte Rougon einen Brief, den er soeben gefunden hatte.
Rougon las den Brief und zündete ihn gelassen an der Kerze an. Es war ein delikater Brief. Und sie plauderten in abgerissenen Sätzen, sich jeden Augenblick unterbrechend, die Nase in allerlei Papierkram. Rougon dankte Delestang dafür, daß er gekommen sei, ihm zu helfen. Dieser »liebe Freund« war der einzige, mit dem er unbekümmert die schmutzige Wäsche seiner fünf Präsidentschaftsjahre waschen konnte. Er hatte ihn in der Gesetzgebenden Versammlung kennengelernt, wo sie nebeneinander auf derselben Bank gesessen hatten. Dort hatte er eine echte Zuneigung zu diesem schönen Mann empfunden, wobei er ihn gleichzeitig köstlich dumm, hohl und stolz fand. Für gewöhnlich pflegte er mit überzeugter Miene zu sagen, daß »dieser verteufelte Delestang es weit bringen« werde. Und er förderte ihn, band ihn durch Dankbarkeit an sich, benutzte ihn wie ein Möbel, in das er alles verschloß, was er nicht mit sich herumtragen konnte.
»Wie dumm ist man doch, daß man Papiere aufhebt!« meinte Rougon, während er ein anderes überquellendes Schubfach öffnete.
»Da ist ein Brief von einer Frau«, sagte Delestang mit einem Augenzwinkern.
Rougon lachte herzlich. Seine ganze breite Brust schütterte. Protestierend nahm er den Brief. Sobald er die ersten Zeilen überflogen hatte, rief er: »Den hat der kleine d'Escorailles versehentlich hiergelassen! – Hübsche Zettelchen übrigens, solche Briefchen! Man bringt es weit mit drei Zeilen von einer Frau.«
Und während er den Brief verbrannte, fügte er hinzu: »Sie wissen, Delestang, man soll sich vor den Frauen hüten!«
Delestang senkte den Kopf. Immer steckte er in irgendeiner heiklen Liebesaffäre. 1851 hätte er sogar fast seine politische Zukunft gefährdet; damals war er leidenschaftlich in die Frau eines sozialistischen Abgeordneten verliebt, und um sich ihrem Gatten angenehm zu machen, stimmte er meist für die Opposition, gegen das Elysée18. Daher traf ihn der 2. Dezember19 wie ein wahrer Keulenschlag. Zwei Tage lang schloß er sich ein, hilflos, am Ende, zerschmettert, zitternd vor Angst, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihn verhaften würde. Rougon hatte ihn aus dieser bösen Klemme retten müssen; er hatte ihn veranlaßt, nicht mehr bei den Wahlen in Erscheinung zu treten, und ihn ins Elysée gebracht, wo er eine Stellung als Staatsrat für ihn ergatterte. Delestang, Sohn eines Weinhändlers aus Bercy, ehemals Anwalt, Eigentümer eines Musterguts in der Nähe von Sainte Menehould, war mehrere Millionen schwer und bewohnte in der Rue du Colisée ein äußerst elegantes Stadthaus.
»Ja, hüten Sie sich vor den Frauen«, wiederholte Rougon, der nach jedem Wort eine Pause machte, um einen Blick in die Aktenstücke zu werfen. »Wenn die Frauen einem keine Krone aufs Haupt setzen, legen sie einem einen Strick um den Hals ... In unserem Alter muß man nämlich mit seinem Herzen ebenso pfleglich umgehen wie mit seinem Magen.«
In diesem Augenblick erhob sich im Vorzimmer großer Lärm. Man hörte die Stimme Merles, der jemandem den Eintritt verwehrte. Und plötzlich kam mit den Worten: »Zum Teufel, ich muß ihm die Hand drücken, diesem teuren Freund«, ein kleiner Mann herein.
»Sieh da, Du Poizat!« rief Rougon, ohne aufzustehen.
Und als Merle heftige Gebärden machte, um sich zu entschuldigen, befahl er ihm, die Tür zu schließen.
Dann sagte er ruhig:
»Ich glaubte Sie in Bressuire ... Man läßt also seine Unterpräfektur im Stich wie eine alte Geliebte.«
Du Poizat, ein schmächtiger Mann mit einem kleinen, verschlagenen Gesicht und sehr weißen, unregelmäßig stehenden Zähnen, zuckte leicht mit den Achseln.
»Ich bin seit heute morgen geschäftlich in Paris und wollte Ihnen erst abends in der Rue Marbeuf die Hand drücken. Ich hätte Sie zum Essen eingeladen ... Aber nachdem ich den ›Moniteur‹ gelesen hatte ...«
Er zog einen Sessel an den Schreibtisch heran, ließ sich ungeniert Rougon gegenüber nieder.
»Hören Sie mal, was geht denn eigentlich vor? Da komme ich von weit hinten aus dem Departement DeuxSèvres ... Ich hatte zwar da unten schon von irgendwas Wind bekommen. Aber ich war weit davon entfernt, zu ahnen ... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?«
Jetzt zuckte Rougon seinerseits mit den Achseln. Es war klar, Du Poizat hatte dort unten erfahren, daß Rougon in Ungnade gefallen war, und kam nun angerannt, um zu sehen, ob es hier keinen Strohhalm gäbe, an den er sich klammern könnte. Rougon blickte ihm bis in die Seele, als er sagte: »Ich hätte Ihnen heute abend geschrieben ... Reichen Sie Ihren Rücktritt ein, mein Bester ...«
»Das ist alles, was ich wissen wollte, ich werde meinen Rücktritt einreichen«, erwiderte Du Poizat nur.
Und vor sich hin pfeifend, stand er auf.
Als er mit kleinen Schritten auf und ab ging, bemerkte er Delestang, der inmitten eines wüsten Haufens von Pappschachteln auf dem Teppich kniete. Schweigend gab er ihm die Hand. Dann zog er eine Zigarre aus der Tasche und steckte sie an der Kerze an.
»Da man umzieht, darf man auch rauchen«, sagte er, während er sich abermals in den Sessel niederließ. »Umziehen ist lustig!«
Rougon war in einen Stoß Papiere vertieft, die er mit größter Aufmerksamkeit las. Er sortierte sie sorgfältig, verbrannte die einen, bewahrte andere auf. Du Poizat blies mit zurückgelehntem Kopf dünne Rauchfäden aus dem Mundwinkel und sah Rougon bei seinem Tun zu. Sie hatten sich ein paar Monate vor der Februarrevolution kennengelernt. Damals wohnten beide bei Frau Mélanie Correur, im Hôtel Vanneau in der Rue Vanneau. Du Poizat lebte als ihr Landsmann dort; er war ebenso wie Frau Correur in Coulonges, einer kleinen Stadt im Arrondissement Niort, geboren. Sein Vater, ein Gerichtsvollzieher, hatte ihn zum Rechtsstudium nach Paris geschickt, wohin er ihm monatlich hundert Francs für den Lebensunterhalt zahlte, obgleich er schöne runde Summen verdiente, indem er Geld auf kurze Zeit zu hohen Zinsen auslieh; das Vermögen dieses Biedermannes blieb selbst in seiner Heimatgegend so unerklärlich, daß man ihn verdächtigte, in irgendeinem alten Schrank, dessen gerichtliche Beschlagnahme er durchgeführt hatte, einen Schatz gefunden zu haben. Seit den ersten Anfängen der bonapartistischen Propaganda machte sich Rougon diesen mageren Burschen zunutze, der wütend und mit beunruhigendem Lächeln seine monatlichen hundert Francs aufbrauchte; und sie beteiligten sich gemeinsam an den verfänglichsten Unternehmungen. Als später Rougon in die Gesetzgebende Versammlung einzutreten wünschte, war es Du Poizat, der mit aller Gewalt seine Wahl im Departement DeuxSèvres durchsetzte. Nach dem Staatsstreich arbeitete dann Rougon seinerseits für Du Poizat, indem er ihn zum Unterpräfekten in Bressuire ernennen ließ. Der junge Mann, kaum dreißig Jahre alt, hatte in seiner Heimat seinen Erfolg auskosten wollen, ein paar Meilen von seinem Vater entfernt, dessen Geiz ihn seit seinem Abgang vom Gymnasium marterte.
»Und wie geht's dem Papa Du Poizat?« fragte Rougon, ohne aufzusehen.
»Zu gut«, antwortete der andere geradeheraus. »Er hat sein letztes Dienstmädchen weggejagt, weil sie drei Pfund Brot gegessen hat. Jetzt hat er zwei geladene Gewehre hinter der Tür stehen, und wenn ich zu ihm gehe, muß ich mich über die Hofmauer hinweg in Unterhandlungen einlassen.«
Während der Unterhaltung hatte sich Du Poizat vorgebeugt und wühlte mit den Fingerspitzen in der Bronzeschale, in der noch halbverbrannte Papierstücke lagen. Rougon, der dieses Spiel bemerkt hatte, hob mit einem Ruck den Kopf. Er hatte vor seinem ehemaligen Kampfgefährten, dessen unregelmäßig stehende weiße Zähne denen eines jungen Wolfs glichen, immer eine leise Angst empfunden. Einst, als sie noch zusammen arbeiteten, war er stets sehr darum besorgt gewesen, ihm auch nicht das geringste kompromittierende Aktenstück in den Händen zu lassen. Deshalb warf er jetzt, als er sah, daß jener die unversehrt gebliebenen Wörter zu lesen versuchte, eine Handvoll brennender Briefe in die Schale. Du Poizat verstand vollkommen. Aber er lächelte, scherzte.
»Das ist das Großreinemachen«, meinte er. Und er ergriff eine lange Schere und bediente sich ihrer als Pinzette. Er steckte die Briefe, die am Erlöschen waren, aufs neue an der Kerze an, ließ die allzu fest zusammengedrückten Papierknäuel in der Luft verbrennen und rührte in den glimmenden Überresten wie in dem flammenden Alkohol einer Punschbowle. In der Schale flogen leuchtende Funken umher, indes bläulicher Rauch aufstieg und langsam zu dem offenen Fenster zog. Die Kerze begann zuweilen zu flackern und brannte dann wieder mit einer ganz geraden, sehr hohen Flamme.
»Ihre Kerze sieht aus wie ein Kirchenlicht«, sagte Du Poizat grinsend. »Oh, was für ein Begräbnis, mein armer Freund! Wie viele Tote muß man in die Asche betten!«
Rougon war im Begriff zu antworten, als abermals Lärm aus dem Vorzimmer drang. Zum zweitenmal verwehrte Merle jemandem den Eintritt. Und als die Stimmen lauter wurden, sagte Rougon: »Delestang, seien Sie doch so liebenswürdig und sehen Sie nach, was da vor sich geht. Wenn ich mich blicken lasse, fällt man über uns her.«
Delestang öffnete behutsam die Tür, die er hinter sich wieder schloß. Aber fast im selben Augenblick steckte er den Kopf herein und flüsterte: »Kahn ist hier.«
»Nun gut, soll er hereinkommen«, entschied Rougon. »Aber nur er, hören Sie!«
Und er rief Merle herbei, um diesem seine Anordnungen zu wiederholen.
»Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Freund«, sagte er, sich Kahn zuwendend, als der Türhüter hinausgegangen war. »Aber ich bin so beschäftigt ... Setzen Sie sich neben Du Poizat und rühren Sie sich nicht, sonst werfe ich Sie alle beide hinaus.«
Den Abgeordneten schien dieser ungehobelte Empfang nicht im geringsten zu berühren. Er war an Rougons Eigentümlichkeiten gewöhnt. Er nahm einen Sessel, setzte sich neben Du Poizat, der sich eine zweite Zigarre ansteckte. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, begann er: »Es ist schon heiß ... Ich komme aus der Rue Marbeuf, ich glaubte, Sie noch zu Hause anzutreffen.«
Rougon antwortete nicht, es entstand eine Pause. Er zerknüllte Papiere und warf sie in einen Korb, den er zu sich herangezogen hatte.
»Ich muß mit Ihnen reden«, fing Herr Kahn an.
»Reden Sie, reden Sie«, sagte Rougon. »Ich höre Ihnen zu.«
Aber der Abgeordnete schien ganz plötzlich die Unordnung zu bemerken, die im Zimmer herrschte.
»Was machen Sie denn?« fragte er mit vollendet gespieltem Erstaunen. »Wechseln Sie das Arbeitszimmer?«
Er hatte den Ton so gut getroffen, daß Delestang die Freundlichkeit besaß, aufzustehen, um Herrn Kahn einen »Moniteur« hinzureichen.
»O mein Gott!« rief Herr Kahn, sobald er einen Blick auf die Zeitung geworfen hatte. »Ich dachte, die Sache sei seit gestern abend beigelegt. Das ist ein wahrer Blitzschlag ... Mein lieber Freund ...«
Er war aufgesprungen und drückte Rougon die Hände. Der sah ihn schweigend an; auf seinem vollen Gesicht zogen sich zwei große spöttische Falten scharf an den Mundwinkeln vorbei. Und da Du Poizat den Gleichgültigen spielte, vermutete er, daß sich die beiden am Vormittag getroffen hätten, um so mehr, als Herr Kahn versäumt hatte, erstaunt zu scheinen, als er den Unterpräfekten erblickte. Der eine mußte in den Staatsrat gegangen sein, während der andere in die Rue Marbeuf lief. Auf diese Weise waren sie sicher, ihn nicht zu verfehlen.
»Nun, Sie hatten mir etwas zu sagen?« fragte Rougon in seiner gelassenen Art.
»Sprechen wir nicht mehr davon, mein lieber Freund«, rief der Abgeordnete. »Sie haben Verdrießlichkeiten genug. Ich werde Sie an einem solchen Tage ganz gewiß nicht mit meinen kleinen Kümmernissen quälen.«
»Nein, lassen Sie sich dadurch nicht stören. Reden Sie nur.«
»Je nun, es ist wegen meiner Angelegenheit. Sie wissen ja, wegen dieser verwünschten Konzession ... Ich bin sogar froh, daß Du Poizat hier ist. Er wird uns einige Aufschlüsse geben können.«
Und er setzte lang und breit auseinander, wie weit seine Angelegenheit gediehen war. Es handelte sich um eine Eisenbahnlinie von Niort nach Angers, einen Plan, den er seit drei Jahren hegte. Allerdings führte der Schienenstrang über Bressuire, wo er Hochöfen besaß, deren Wert sich dadurch verzehnfachen sollte; einstweilen hielt sich das Unternehmen nur gerade so, wegen der Transportschwierigkeiten. Ferner bot die Verwirklichung des Projekts die Aussicht, höchst erfolgreich im trüben fischen zu können. Deshalb entfaltete Herr Kahn eine ungeheure Betriebsamkeit, um die Konzession zu erhalten; Rougon unterstützte ihn nachdrücklich, und die Konzession sollte gerade erteilt werden, als Herr de Marsy, der Innenminister, einerseits ärgerlich darüber, daß er an dem Geschäft, bei dem er prächtige Spekulationsgewinne witterte, nicht beteiligt war, andererseits sehr begierig darauf, Rougon Unannehmlichkeiten zu bereiten, den ganzen Einfluß seiner hohen Stellung dazu verwandte, gegen den Plan anzukämpfen. Er hatte sogar kürzlich mit der Dreistigkeit, die ihn so gefürchtet machte, die Konzession durch den Minister für öffentliche Arbeiten dem Direktor der WestbahnGesellschaft anbieten lassen; und er verbreitete das Gerücht, einzig diese Gesellschaft sei imstande, den Bau einer Zweigbahn, der ernsthafte Garantien erfordere, erfolgreich durchzuführen. Herr Kahn würde dabei hart mitgenommen werden. Der Sturz Rougons mußte ihn vollends ruinieren.
»Gestern habe ich erfahren«, sagte er, »daß ein Ingenieur jener Gesellschaft beauftragt worden ist, eine neue Streckenführung zu prüfen ... Haben Sie davon Wind gehabt, Du Poizat?«
»Gewiß«, antwortete der Unterpräfekt. »Man hat sogar schon mit der Prüfung angefangen ... Man versucht, den Bogen zu vermeiden, den Sie machen wollten, um Bressuire zu berühren. Die Strecke wird in gerader Richtung über Parthenay und Thouars verlaufen.«
Der Abgeordnete machte eine mutlose Gebärde.
»Das ist ja Schikane«, knurrte er. »Was würde es ihnen ausmachen, die Strecke an meinem Hüttenwerk vorbeizuführen? – Aber ich werde Einspruch erheben, ich werde eine Denkschrift gegen ihre Streckenführung verfassen ... Ich fahre mit Ihnen nach Bressuire zurück.«
»Nein, warten Sie nicht auf mich«, entgegnete Du Poizat lächelnd. »Ich werde wohl meinen Rücktritt einreichen.«
Herr Kahn ließ sich, wie von einer endgültigen Katastrophe getroffen, in seinen Sessel sinken. Mit beiden Händen rieb er seine Bartfräse und blickte flehend Rougon an. Der hatte seine Akten hingelegt. Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, hörte er zu.
»Sie möchten einen Rat haben, nicht wahr?« sagte er schließlich mit harter Stimme. »Nun gut, verhalten Sie sich ganz still, meine teuren Freunde, bemühen Sie sich darum, daß die Dinge auf ihrem derzeitigen Stand bleiben, und warten Sie ab, bis wir die Herren sind ... Du Poizat wird seinen Rücktritt einreichen, weil er, wenn er das nicht tut, vor Ablauf von vierzehn Tagen seine Entlassung erhalten wird. Was Sie betrifft, Kahn, so schreiben Sie an den Kaiser, verhindern Sie mit allen Mitteln, daß die Konzession an die WestbahnGesellschaft vergeben wird. Sie werden sie jetzt bestimmt nicht bekommen, aber solange sie niemandem gehört, kann sie später mal Ihnen gehören.« Und da die beiden Männer den Kopf schüttelten, fuhr er noch brutaler fort: »Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Ich liege am Boden, lassen Sie mir Zeit, mich wieder zu erheben ... Mache ich ein trauriges Gesicht? Nein, nicht wahr? Also gut, machen Sie mir das Vergnügen, nicht mehr so auszusehen, als gingen Sie hinter meinem Leichenwagen her ... Ich bin geradezu entzückt, ins Privatleben zurückzukehren. Endlich werde ich mich doch ein wenig ausruhen können!«
Die Arme verschränkt, den großen Körper wiegend, atmete er tief. Und Herr Kahn sprach nicht mehr von seiner Angelegenheit. Er ahmte Herrn Du Poizats gleichgültige Miene nach, bestrebt, vollständige Unbefangenheit an den Tag zu legen. Delestang hatte einen anderen Kasten in Angriff genommen, er machte hinter den beiden Sesseln so wenig Geräusch, daß man es zuweilen für das leise Geraschel einer Schar Mäuse halten konnte, die in den Aktenstößen spielten. Die Sonne, die über den roten Teppich wanderte, schnitt in den Schreibtisch einen Winkel blonden Lichts, in dem noch immer ganz bleich die Kerze brannte.
Inzwischen hatte ein vertrauliches Geplauder begonnen. Rougon, der jetzt wieder Bündel verschnürte, versicherte, die Politik sei nichts für ihn. Er lächelte gutmütig, während seine Lider, wie vor Müdigkeit, wieder über das Flammen seiner Augen sanken. Er hätte gern riesige Ländereien zu bestellen gehabt, mit Feldern, die er nach seinem Belieben bearbeiten würde, mit Viehherden, Pferden, Rindern, Schafen, Hunden, deren unumschränkter Gebieter er wäre. Und er erzählte, daß einst in Plassans, als er noch nichts weiter als ein kleiner Provinzadvokat gewesen, seine größte Freude darin bestanden habe, im Kittel loszuziehen und tagelang in den Schluchten der Seille zu jagen, wo er Adler abgeschossen habe. Er nannte sich einen Bauern, sein Großvater habe noch auf dem Felde schuften müssen. Dann fing er an, den der vornehmen Welt überdrüssigen Mann zu spielen. Die Macht langweile ihn. Er werde den Sommer auf dem Lande verbringen. Nie habe er sich unbeschwerter gefühlt als seit diesem Morgen; und er zuckte so gewaltig mit seinen starken Schultern, als würfe er eine Last ab.
»Was haben Sie hier als Präsident gehabt? Achtzigtausend Francs?« fragte Herr Kahn.
Rougon bejahte mit einer Kopfbewegung.
»Und nun bleiben Ihnen nur Ihre dreißigtausend Francs als Senator.«
Was ihm das ausmache! Er könne von nichts leben, denn er habe keine Laster, was übrigens stimmte. Weder Spieler noch Schürzenjäger, noch Schlemmer. Er sehne sich nur danach, Herr in seinem Hause zu sein, nach nichts sonst. Und unausweichlich kam er auf seine Idee von einem Bauernhof zurück, wo ihm alle Tiere gehorchen würden. Sein Ideal sei, eine Peitsche zu haben und zu befehlen, allen überlegen, klüger und stärker als alle zu sein. Nach und nach wurde er lebhaft, sprach von den Tieren, wie er von Menschen gesprochen haben würde, und behauptete, die Massen liebten den Stock, die Hirten lenkten ihre Herden nur mit Steinwürfen. Er verwandelte sich förmlich, seine dicken Lippen blähten sich vor Verachtung, das ganze Gesicht strotzte von Kraft. In der geballten Faust schwang er ein Aktenbündel und schien nahe daran zu sein, es Herrn Kahn und Herrn Du Poizat, die dieser plötzliche Leidenschaftsausbruch in Unruhe und Verlegenheit versetzte, an den Kopf zu werfen.
»Der Kaiser hat sehr schlecht gehandelt«, murmelte Du Poizat.
Da beruhigte sich Rougon plötzlich. Sein Gesicht wurde wieder grau, sein Körper sackte mit der Plumpheit eines fettleibigen Mannes zusammen. Er begann den Kaiser in übertriebener Weise zu loben: der besitze einen mächtigen Verstand, einen Geist von unglaublicher Tiefe. Du Poizat und Herr Kahn wechselten einen raschen Blick. Aber Rougon überbot sich noch, indem er von seiner Ergebenheit redete und ganz demutsvoll sagte, er sei immer stolz darauf gewesen, nichts weiter als ein einfaches Werkzeug in den Händen Napoleons III. zu sein. Schließlich machte er sogar Du Poizat, einen Burschen von unangenehmer Lebhaftigkeit, ungeduldig. Und ein Streit entspann sich. Du Poizat sprach bitter von all dem, was Rougon und er von 1848 bis 1851 für das Kaiserreich getan hätten, während sie bei Frau Mélanie Correur am Hungertuch nagten. Er erzählte von den schrecklichen Tagen, vor allem während des ersten Jahres, Tagen, die sie damit verbrachten, im Schmutz von Paris herumzupatschen, um Parteigänger zu werben. Später hatten sie zwanzigmal ihre Haut zu Markte getragen. War es nicht Rougon gewesen, der sich am Morgen des 2. Dezember an der Spitze eines Linienregiments des PalaisBourbon20 bemächtigt hatte? Bei diesem Spiel ging es um den Kopf. Und heute gab man ihn preis, wurde er das Opfer einer Hofintrige. Aber Rougon widersprach; man habe ihn nicht preisgegeben; er ziehe sich aus persönlichen Gründen zurück. Als dann Du Poizat, vollends in Schwung geraten, die Leute in den Tuilerien »Schweine« schimpfte, brachte ihn Rougon zum Schweigen, indem er dem Palisanderschreibtisch einen solchen Faustschlag versetzte, daß es krachte.
»Dumm ist das alles!« sagte er nur.
»Sie gehen ein wenig zu weit«, murmelte Herr Kahn.
Delestang, sehr bleich geworden, hatte sich hinter die Sessel gestellt. Leise öffnete er die Tür, um nachzusehen, ob niemand lausche. Doch im Vorzimmer bemerkte er nur die hohe Silhouette Merles, dessen ihm zugewandter Rücken wie die Verschwiegenheit selber wirkte. Rougons Worte hatten Du Poizat erröten lassen; nüchtern geworden, verstummte er nun und kaute mit verdrossener Miene auf seiner Zigarre herum.
»Zweifellos hat der Kaiser nicht die richtigen Leute um sich«, fing Rougon nach einer Pause wieder an. »Ich habe mir erlaubt, ihm das zu sagen, und er hat gelächelt. Er hat sogar zu scherzen geruht, indem er hinzufügte, daß meine Umgebung nicht mehr tauge als die seine.«
Du Poizat und Herr Kahn lachten gezwungen. Sie fanden den Ausspruch sehr hübsch.
»Aber ich wiederhole«, fuhr Rougon in einem eigentümlichen Ton fort, »ich ziehe mich aus freien Stücken zurück. Wenn man Sie fragt, die Sie zu meinen Freunden gehören, so versichern Sie, daß es mir noch gestern abend freigestanden habe, meine Demission zurückzunehmen ... Erklären Sie auch das Altweibergeschwätz für Lüge, das in bezug auf die RodriguezAngelegenheit umgeht, aus der man, wie es scheint, einen ganzen Roman macht. Vielleicht habe ich in dieser Sache nicht mit der Mehrheit des Staatsrates übereingestimmt, und das hat gewiß zu Reibungen geführt, die meinen Rücktritt beschleunigt haben. Aber ich hatte ältere und schwerwiegendere Gründe. Ich war schon lange entschlossen, die hohe Stellung aufzugeben, die ich dem Wohlwollen des Kaisers verdankte.«
Diesen ganzen Erguß begleitete er mit einer Geste der rechten Hand, wie er sie im Übermaß anzuwenden pflegte, wenn er vor der Kammer sprach. Seine Erklärungen waren augenscheinlich für die Öffentlichkeit bestimmt. Herr Kahn und Du Poizat, die ihren Rougon kannten, versuchten durch schlau geführte Reden, die eigentliche Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Der große Mann, wie sie ihn unter sich vertraulich nannten, mußte irgendein ungeheures Spiel treiben. Sie brachten das Gespräch auf die Politik im allgemeinen. Rougon machte sich über das parlamentarische System lustig, das er den »Misthaufen der Mittelmäßigkeiten« nannte. Die Abgeordnetenkammer genieße seiner Ansicht nach noch eine sinnlose Freiheit. Dort werde viel zuviel geredet. Frankreich müsse von einem gut zusammengesetzten Apparat regiert werden, an der Spitze der Kaiser, unten, auf die Funktion eines Räderwerks beschränkt, die großen Körperschaften und die Beamten. Er lachte, und seine Brust hüpfte, während er mit einer rasenden Verachtung für die Dummköpfe, die eine starke Regierung forderten, sein System übertrieben pries.
»Aber«, unterbrach ihn Herr Kahn, »der Kaiser oben, alle anderen unten, das ist nur für den Kaiser vergnüglich!«
»Wenn man sich langweilt, geht man eben«, sagte Rougon gelassen.
Er lächelte und fügte dann hinzu: »Man wartet ab, bis es unterhaltsam wird, und kommt dann wieder.«
Eine lange Pause trat ein. Herr Kahn begann seine Bartfräse zu reiben, zufrieden, weil er erfahren hatte, was er zu erfahren wünschte. Er hatte tags zuvor in der Abgeordnetenkammer richtig geraten, als er zu verstehen gab, Rougon sei in der Erkenntnis, daß sein Ansehen in den Tuilerien erschüttert war, von sich aus einer Entlassung zuvorgekommen, um ein neues Leben anzufangen; die Sache mit Rodriguez bot ihm eine prachtvolle Gelegenheit, als Ehrenmann zu fallen.
»Und was sagt man?« fragte Rougon, um das Schweigen zu brechen.
»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete Du Poizat. »Immerhin habe ich soeben in einem Café einen ordengeschmückten Herrn Ihren Rücktritt lebhaft billigen hören.«
»Béjuin war gestern sehr ergriffen«, erklärte Herr Kahn, als die Reihe an ihm war. »Béjuin ist Ihnen äußerst zugetan. Er ist ein etwas farbloser Bursche, aber von großer Zuverlässigkeit. Selbst der kleine La Rouquette schien sich mir sehr angemessen zu verhalten. Er spricht vortrefflich von Ihnen.«
Und sie setzten die Unterhaltung über diese und jene Leute fort. Rougon stellte ohne die geringste Befangenheit Fragen, ließ sich einen genauen Bericht von dem Abgeordneten erstatten, der ihm willfährig und bis ins einzelne seine Beobachtungen über das Verhalten des Corps législatif in bezug auf ihn mitteilte.
»Heute nachmittag«, unterbrach ihn Du Poizat, dem es schmerzlich war, daß er nicht mit Auskünften dienen konnte, »werde ich durch Paris bummeln, und morgen früh, sobald ich aufgestanden bin, werde ich Ihnen viel zu erzählen haben.«
»Dabei fällt mir ein«, rief Herr Kahn lachend, »ich vergaß, Ihnen von de Combelot zu erzählen! – Nein wirklich, ich habe noch nie einen verlegeneren Menschen gesehen ...«
Doch er brach ab, weil Rougon mit einem Augenzwinkern auf den Rücken Delestangs wies, der gerade auf einen Stuhl gestiegen und damit beschäftigt war, den Oberteil eines Bücherschrankes auszuräumen, wo sich Zeitungen häuften. Herr de Combelot war mit einer Schwester Delestangs verheiratet. Letzterer litt, seit Rougon in Ungnade gefallen war, etwas unter seiner Verwandtschaft mit einem Kammerherrn; deshalb wollte er gern etwas Keckheit beweisen. Er wandte sich um und sagte mit einem Lächeln: »Warum sprechen Sie nicht weiter? – Combelot ist ein Dummkopf. So, nun wissen Sie Bescheid.«
Diese unbekümmerte Aburteilung eines Schwagers erheiterte die Herren sehr. Als Delestang seinen Erfolg sah, trieb er es so weit, daß er sich über de Combelots Bart lustig machte, den berüchtigten schwarzen Bart, der bei den Damen so berühmt war. Dann sagte er ohne jeden Übergang, während er ein Bündel Zeitungen auf den Teppich warf, ernst: »Des einen Kummer ist des andern Freude.«
Dieser Ausspruch ließ den Namen des Herrn de Marsy in der Unterhaltung auftauchen. Rougon, den Kopf gebeugt, als sei er angelegentlich mit einer Aktenmappe beschäftigt, deren einzelne Taschen er sorgfältig durchsah, ließ seine Freunde sich ihren Groll vom Herzen reden. Sie sprachen von de Marsy mit dem Ingrimm von Politikern, die über einen Gegner herfallen. Es hagelte nur so von groben Worten, abscheulichen Beschuldigungen, bis zur Lüge übertriebenen wahren Geschichten. Du Poizat, der Marsy schon früher, vor dem Kaiserreich, gekannt hatte, versicherte, jener sei damals von seiner Geliebten ausgehalten worden, einer Baronin, deren Diamanten er innerhalb von drei Monaten durchgebracht habe. Herr Kahn behauptete, es gebe an der Pariser Börse kein einziges anrüchiges Geschäft, in dem man nicht Marsys Finger finde. Und sie feuerten sich gegenseitig an, warfen einander immer stärkere Tatsachen zu: bei einem Grubenunternehmen habe Marsy Bestechungsgelder in Höhe von fünfzehnhunderttausend Francs eingestrichen, letzten Monat habe er der kleinen Florence vom »Les Bouffes21« ein vornehmes Stadthaus spendiert, eine Bagatelle von sechshunderttausend Francs, sein Anteil aus einem unsauberen Handel mit Aktien der marokkanischen Eisenbahnen; schließlich sei vor noch nicht acht Tagen das große Geschäft mit den ägyptischen Kanälen, das von seinen Kreaturen aufgezogen worden sei, mit einem ungeheuren Skandal zusammengebrochen, nachdem die Aktionäre erfahren hätten, daß in den zwei Jahren, in denen sie Geld eingezahlt, noch kein Spatenstich getan worden war. Dann fielen sie über seine persönlichsten Dinge her, bemühten sich, sein vornehmes Äußere, das eines eleganten Abenteurers, herabzusetzen, sprachen von früheren Krankheiten, die ihm später noch einen bösen Streich spielen würden, und gingen so weit, die Gemäldesammlung anzugreifen, die er damals zusammenbrachte.
»Das ist ein versehentlich in die Haut eines Possenschreibers geratener Bandit«, sagte abschließend Du Poizat.
Rougon hob langsam den Kopf. Er sah die beiden Männer aus seinen großen Augen an.
»Was soll denn die ganze Rederei«, sagte er. »Marsy macht seine Geschäfte, zum Teufel, wie Sie ja auch die Ihren machen möchten ... Wir verstehen einander nicht besonders. Ja, wenn ich ihm eines Tages das Genick brechen könnte, würde ich es gern tun. Aber alles, was Sie da erzählen, ändert nichts daran, daß Marsy enorm tüchtig ist. Wenn es ihm gerade einfiele, würde er sehr leicht mit Ihnen beiden fertig werden, lassen Sie sich das gesagt sein.«
Und des Sitzens überdrüssig, stand er aus seinem Sessel auf und reckte die Glieder. Dann fügte er unter heftigem Gähnen hinzu: »Das um so mehr, meine lieben Freunde, als ich nicht mehr eingreifen könnte.«
»Oh, wenn Sie wollten«, murmelte Du Poizat mit einem dünnen Lächeln, »könnten Sie sehr viel bei de Marsy erreichen. Sie haben hier bestimmt irgendwelche Papiere, die er hoch bezahlen würde ... Sehen Sie, da unten das Aktenstück Lardenois, jenes Abenteuer, bei dem er eine so sonderbare Rolle gespielt hat. Ich kenne da einen Brief von ihm, einen sehr merkwürdigen, den ich selber Ihnen seinerzeit gebracht habe.«
Rougon ging zum Kamin und warf die Papiere hinein, mit denen er nach und nach den Korb gefüllt hatte. Die Bronzeschale reichte nicht mehr aus.
»Man schlägt einander tot, aber man fügt einander keine Nadelstiche zu«, sagte er mit einem verächtlichen Achselzucken. »Jedermann hat solche dummen Briefe geschrieben, die bei anderen herumliegen.«
Und er nahm den Brief, steckte ihn an der Kerze in Brand, benutzte ihn als Fidibus, um den Stoß Papiere im Kamin anzuzünden. Einen Augenblick lang blieb er dort zusammengekauert, dennoch riesenhaft, hocken und bewachte die brennenden Papiere, die bis auf den Teppich rollten. Einige Verwaltungsakten aus dickem Papier wurden schwarz, drehten sich zusammen wie dünne Bleiplatten; mit häßlichen Handschriften besudelte Briefe und Zettel brannten mit kleinen blauen Flammenzungen, während in der Feuerglut, mitten in einem Gewimmel von Funken, ganz versengte Stücke heil und noch lesbar blieben.
In diesem Augenblick ging die Tür weit auf. Eine lachende Stimme sagte: »Gut, gut, ich werde Sie entschuldigen, Merle ... Ich gehöre zum Hause. Wenn Sie mich hindern wollten, hier einzutreten, würde ich, bei Gott, den Weg durch den Sitzungssaal nehmen!«
Das war Herr d'Escorailles, den Rougon vor sechs Monaten zum Auditeur22 beim Staatsrat hatte ernennen lassen. An seinem Arm führte er die hübsche Frau Bouchard mit herein, die in einer hellen Frühjahrstoilette strahlte.
»Das hat mir gerade gefehlt! Jetzt auch noch Frauen!« brummte Rougon.
Er ging nicht gleich vom Kamin fort. Er blieb auf dem Fußboden hocken, in der Hand die Schaufel, mit der er aus Angst vor einem Brand die Flamme erstickte. Und mit verdrossener Miene hob er sein großes Gesicht.
Herr d'Escorailles ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Er und die junge Frau hatten schon beim Überschreiten der Schwelle aufgehört, einander anzulächeln, und statt dessen eine der Gelegenheit angemessene Haltung angenommen.
»Teurer Meister«, sagte er, »ich bringe Ihnen eine Ihrer Freundinnen, die Ihnen unbedingt ihr Bedauern aussprechen möchte ... Wir haben heute morgen den ›Moniteur‹ gelesen ...«
»Sie haben den ›Moniteur‹ gelesen, Sie alle«, knurrte Rougon, der sich endlich entschloß aufzustehen. Aber da gewahrte er jemanden, den er noch nicht bemerkt hatte. Nach einem Blinzeln murmelte er: »Ah, Herr Bouchard!«
Es war in der Tat ihr Ehemann. Still und würdevoll war er hinter den Röcken seiner Frau eingetreten. Herr Bouchard war sechzig Jahre alt, hatte einen völlig weißen Kopf und einen erloschenen Blick; sein Gesicht wirkte wie abgenutzt von seinen fünfundzwanzig Jahren Verwaltungsdienst. Er sprach kein Wort. Mit tief ergriffener Miene faßte er Rougons Hand, die er dreimal kräftig schüttelte.
»Na ja«, sagte Rougon, »es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie alle zu mir gekommen sind; nur stören Sie mich entsetzlich ... Kurz, setzen Sie sich da drüben hin ... Du Poizat, geben Sie der gnädigen Frau Ihren Sessel.«
Als er sich umdrehte, sah er sich nun Oberst Jobelin gegenüber. »Auch Sie, Oberst!« rief er.
Die Tür war offengeblieben, und Merle hatte sich dem Eintreten des Obersten, der unmittelbar hinter den Bouchards die Treppe heraufgekommen war, nicht widersetzen können. Der Oberst hielt seinen Sohn an der Hand, einen großen Schlingel von fünfzehn Jahren, damals Schüler der dritten Klasse des Gymnasiums LouisleGrand.
»Ich wollte Ihnen Auguste herbringen«, erklärte er. »Im Unglück geben sich die wahren Freunde zu erkennen ... Auguste, gib die Hand.«
Aber Rougon stürzte zum Vorzimmer und schrie: »Machen Sie doch die Tür zu, Merle! Wo haben Sie denn Ihre Gedanken! Ganz Paris wird noch hereinkommen.«
Der Türhüter wandte ihm sein ruhiges Gesicht zu und sagte: »Das kommt davon, daß man Sie gesehen hat, Herr Präsident.«
Und er mußte beiseite treten, um die Charbonnels vorbeizulassen. Sie kamen nebeneinander herein, aber nicht untergefaßt, nach Atem ringend, tief unglücklich, bestürzt. Sie sprachen beide zugleich.
»Wir haben soeben den ›Moniteur‹ gelesen ... Ach, welche Nachricht! Wie verzweifelt wird Ihre arme Mutter sein! Und wir – in welch traurige Lage versetzt uns das!«
Diese zwei, naiver als die anderen, fingen sofort mit ihren unwichtigen Angelegenheiten an. Rougon brachte sie zum Schweigen. Er schob einen unter dem Türschloß verborgenen Riegel vor, wobei er murmelte, jetzt könne man die Tür seinetwegen einschlagen, und als er dann sah, daß offenbar nicht einer seiner Freunde sich entschließen mochte, das Zimmer zu verlassen, ergab er sich und versuchte, inmitten der neun Personen, die den Raum füllten, seine Arbeit zu Ende zu bringen. Das Ausräumen der Papiere hatte das Zimmer schließlich völlig in Unordnung gebracht. Auf dem Teppich lag ein wirres Durcheinander von Akten, so daß der Oberst und Herr Bouchard, die zu einer Fensternische gelangen wollten, die allergrößte Vorsicht walten lassen mußten, um auf dem Wege dorthin nicht irgend etwas Wichtiges zu zertreten. Auf allen Sitzgelegenheiten häuften sich verschnürte Bündel; einzig Frau Bouchard hatte sich auf einen leergebliebenen Sessel setzen können; und sie lächelte zu den Artigkeiten Du Poizats und Herrn Kahns, während Herr d'Escorailles, der keine Fußbank mehr fand, ihr einen dicken blauen, mit Briefen vollgepfropften Umschlag unter die Füße schob. Die in einer Ecke auf einen Haufen umgestürzten Schubfächer ermöglichten es den Charbonnels, sich für einen Augenblick hinzuhocken, um wieder zu Atem zu kommen, indes der junge Auguste, entzückt davon, in dieses Umzugsdurcheinander geraten zu sein, umherschnüffelte und hinter dem Berg von Schubfächern verschwand, in dessen Mitte sich Delestang verschanzt zu haben schien. Letzterer machte viel Staub, indem er von oben die Zeitungen aus dem Bücherschrank herunterwarf. Frau Bouchard hüstelte.
»Sie tun nicht gut daran, sich in diesem Schmutz aufzuhalten«, sagte Rougon, damit beschäftigt, die Schubfächer zu leeren, die nicht anzurühren er Delestang gebeten hatte.
Aber die junge Frau, ganz rosig vom Husten, versicherte ihm, daß sie sich sehr wohl fühle und ihr Hut den Staub vertragen könne. Und die Clique konnte ihre Anteilnahme gar nicht genug bekunden. Der Kaiser kümmere sich wahrlich nicht um das Wohl des Landes, wenn er sich von seines Vertrauens so wenig würdigen Männern umgarnen lasse. Frankreich erleide einen Verlust. Übrigens sei das immer so: gegen einen großen Geist verbündeten sich stets alle Mittelmäßigen.
»Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn.
»Um so schlimmer für sie!« sagte der Oberst. »Sie treffen sich selbst, wenn sie ihre Diener schlagen.«
Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort behalten. Er wandte sich zu Rougon um.
»Wenn ein Mann wie Sie stürzt, trauert das ganze Volk!«
Die Clique bestätigte: »Ja, ja, dann trauert das ganze Volk!«
Bei diesen plumpen Lobsprüchen hob Rougon den Kopf. Seine grauen Backen bekamen einen roten Schimmer, sein ganzes Gesicht lächelte verhalten vor Befriedigung. Er war so eitel auf seine Macht, wie es eine Frau auf ihre Anmut ist; und er liebte es, wenn die Schmeicheleien seine breite Brust, die so stark war, daß kein Pflasterstein sie zerschmettern konnte, aus nächster Nähe trafen. Unterdessen wurde es offensichtlich, daß seine Freunde einander im Wege waren; sie belauerten sich mit Blicken, versuchten sich gegenseitig zu verdrängen, wollten nicht deutlich reden. Jetzt, da der große Mann gezähmt zu sein schien, mußte man sich beeilen, ihm ein Versprechen zu entreißen. Und als erster faßte der Oberst einen Entschluß. Er führte Rougon, der, ein Schubfach unter dem Arm, widerstandslos mitging, in eine Fensternische.
»Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ihn im Flüsterton, mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Gewiß, Ihre Ernennung zum Kommandeur der Ehrenlegion ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur werden Sie wohl einsehen, daß es mir heute unmöglich ist, irgend etwas zuzusichern ... Ich fürchte, ich gestehe es Ihnen, meine Freunde werden die Folgen davon, daß ich in Ungnade gefallen bin, zu spüren bekommen.«
Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selber werde kämpfen. Dann drehte er sich plötzlich um und rief: »Auguste!«
Der Schlingel kauerte auf allen vieren unter dem Schreibtisch und war damit beschäftigt, die Aufschriften auf den Aktendeckeln zu lesen, was ihm ermöglichte, leuchtende Blicke auf Frau Bouchards Stiefelchen zu werfen. Er kam rasch herbei.
»Da ist mein munterer Sprößling«, sagte der Oberst leise. »Sie wissen, daß ich dieses Wurm da eines Tages irgendwo unterbringen muß. Ich rechne dabei auf Sie. Ich schwanke noch zwischen der Gerichts und der Verwaltungslaufbahn ... Gib deinem guten Freund die Hand, Auguste, damit er sich deiner erinnert.«
Inzwischen hatte sich Frau Bouchard, die vor Ungeduld an ihrem Handschuh knabberte, erhoben und das Fenster zur Linken erreicht; Herrn d'Escorailles hatte sie mit einem Blick befohlen, ihr zu folgen. Ihr Gatte war bereits dort; die Ellbogen auf die Schutzstange gestützt, genoß er die Aussicht. Ihm gegenüber zitterte das Laub der großen Kastanienbäume des Tuileriengartens in der heißen Sonne, während von der Pont Royal bis zur Pont de la Concorde die Seine ihr blaues, ganz mit Lichtflittern übersätes Wasser wälzte.
Auf einmal wandte sich Frau Bouchard um und rief: »Oh, Herr Rougon, sehen Sie doch nur!«
Und als sich Rougon beeilte, den Oberst zu verlassen, um ihrem Wunsch zu entsprechen, zog sich Du Poizat, der der jungen Frau nachgegangen war, diskret zurück und gesellte sich wieder zu Herrn Kahn, der am Mittelfenster stand.
»Sehen Sie doch, der mit Ziegeln beladene Kahn da wäre beinahe gekentert«, plapperte Frau Bouchard.
Rougon blieb bereitwillig dort in der Sonne stehen, bis Herr d'Escorailles, auf einen abermaligen Blick der jungen Frau hin, zu ihm sagte: »Herr Bouchard will um seine Entlassung einkommen. Wir haben ihn mitgebracht, damit Sie ihm Vernunft predigen.«
Darauf erklärte Herr Bouchard, daß ihn die Ungerechtigkeiten empörten.
»Ja, Herr Rougon, ich habe als Sekretär im Innenministerium angefangen, und ich habe es bis zum Bürovorsteher gebracht, ohne etwas der Begünstigung oder irgendwelchen Ränken zu verdanken ... Bürovorsteher bin ich seit dem Jahre siebenundvierzig. Nun gut! Inzwischen ist der Posten des Abteilungschefs schon fünfmal frei geworden, viermal während der Republik und einmal unter dem Kaiserreich, ohne daß der Minister an mich, der ich der Rangordnung nach Anspruch darauf habe, gedacht hätte ... Jetzt werden Sie das Versprechen, das Sie mir gegeben haben, nicht mehr einlösen können, und ich will lieber abgehen.«
Rougon mußte ihn beschwichtigen. Der Posten sei immerhin noch nicht an einen anderen vergeben; wenn er ihm auch diesmal entgehe, so sei das nur eine verpaßte Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich gewiß wieder einmal ergeben werde. Dann ergriff Rougon Frau Bouchards Hände und machte ihr auf eine väterliche Art Komplimente. Das Haus des Bürovorstehers war das erste gewesen, wo er nach seiner Ankunft in Paris empfangen worden war. Dort hatte er den Oberst getroffen, ein Geschwisterkind des Bürovorstehers. Später, als Herr Bouchard mit vierundfünfzig Jahren seinen Vater beerbte und ganz plötzlich von dem Wunsch gepackt wurde, sich zu verheiraten, hatte Rougon Frau Bouchard, geborene Adèle Desvignes, einer sehr wohlerzogenen jungen Dame aus einer angesehenen Familie in Rambouillet, als Trauzeuge gedient. Der Bürovorsteher hatte ein junges Mädchen aus der Provinz haben wollen, weil er auf Ehrbarkeit hielt. Adèle, blond, klein und bestrickend mit der ein wenig faden Naivität ihrer blauen Augen, war nach vier Ehejahren bei ihrem dritten Liebhaber angelangt.
»Nun, machen Sie sich keinen Kummer«, sagte Rougon, der noch immer ihre Handgelenke mit seinen großen Händen umklammert hielt, »Sie wissen genau, daß man alles tut, was Sie wünschen ... Jules wird Ihnen an einem der nächsten Tage berichten, wie die Dinge stehen.«
Und er nahm Herrn d'Escorailles beiseite und teilte ihm mit, daß er selber an diesem Morgen an dessen Vater geschrieben habe, um ihn zu beruhigen. Der junge Auditeur solle ruhig seine Stellung beibehalten. Die Familie d'Escorailles war eine der ältesten Familien in Plassans, wo sie allgemeine Verehrung genoß. Deshalb setzte Rougon, der früher in schiefgetretenen Schuhen an dem Palais des alten Marquis, des Vaters von Jules, vorbeigegangen war, seinen Stolz darein, den jungen Mann zu protegieren. Die Familie trieb noch immer einen frommen Kult mit Heinrich V.23, gleichzeitig aber ließ sie es zu, daß sich ihr Kind dem Kaiserreich verband. Das kam von den abscheulichen Zeiten.
Am Mittelfenster, das sie geöffnet hatten, um besser abgesondert zu sein, unterhielten sich Herr Kahn und Du Poizat und sahen dabei auf die fernen Dächer der Tuilerien hinaus, die in dem flimmernden Sonnenlicht bläulich schimmerten. Sie fühlten einander auf den Zahn, gaben abgerissene, von großen Pausen unterbrochene Worte von sich, Rougon sei zu heftig, er hätte sich nicht über die RodriguezAngelegenheit ärgern dürfen, die sich so leicht beilegen lasse. Dann murmelte Herr Kahn mit abwesendem Blick, als spräche er zu sich selber: »Man weiß, daß man fällt, aber man weiß nie, ob man wieder aufsteht.«
Du Poizat tat, als habe er nichts gehört. Und lange danach sagte er: »Oh, er ist ein sehr starker Kerl.«
Da drehte sich der Abgeordnete plötzlich um und sprach, den anderen fest ansehend, sehr schnell: »Unter uns gesagt, mir ist bange um ihn. Er spielt mit dem Feuer ... Gewiß, wir sind seine Freunde, und es ist nicht die Rede davon, ihn im Stich zu lassen. Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, daß er bei dem allen sehr wenig an uns gedacht hat ... So habe ich zum Beispiel ungeheuer große und wichtige Dinge unter den Händen, die er mit seinem unüberlegten Vorgehen gefährdet hat. Er hätte kein Recht, es mir zu verübeln, wenn ich jetzt an eine andere Tür klopfte, nicht wahr? Denn schließlich erleide nicht ich allein Schaden, sondern auch die Bevölkerung.«
»Man muß an eine andere Tür klopfen«, wiederholte Du Poizat mit einem Lächeln.
Herr Kahn aber rückte, von plötzlichem Zorn ergriffen, mit seiner wahren Meinung heraus.
»Soll man es für möglich halten! – Dieser verteufelte Bursche bringt einen mit jedem auseinander. Wenn man zu seiner Clique gehört, ist es, als stände es einem an der Stirn geschrieben.«
Er beruhigte sich, seufzte und schaute zum Are de Triomphe hinüber, dessen leicht graue Steinmasse über die grünen Flächen der ChampsElysées hinausragte.
Bedächtig sagte er: »Was will man machen? Ich bin nun mal von einer blödsinnigen Treue.«
Seit einem Augenblick stand der Oberst hinter den beiden Herren.
»Die Treue ist der Pfad der Ehre«, sprach er mit seiner soldatischen Stimme.
Du Poizat und Herr Kahn traten auseinander, um dem Oberst Platz zu machen, der fortfuhr: »Rougon lädt heute eine Schuld gegen uns auf sich. Rougon ist nicht mehr sein eigener Herr.«
Diese Worte hatten eine ungeheure Wirkung. Nein, Rougon war gewiß nicht mehr sein eigener Herr. Und man mußte ihm das deutlich sagen, damit er seine Pflichten begriff. Alle drei senkten die Stimme, trafen heimliche Vereinbarungen, machten einander Hoffnungen. Von Zeit zu Zeit wandten sie sich um, warfen einen raschen Blick in das große Zimmer, um zu sehen, ob nicht einer der Freunde den großen Mann zu lange mit Beschlag belege.
Jetzt sammelte der große Mann die Aktenstöße zusammen, wobei er sich gleichzeitig mit Frau Bouchard weiterunterhielt. Die Charbonnels aber waren in der Ecke, wo sie sich bis dahin stumm und verlegen aufgehalten hatten, in einen Wortstreit geraten. Zweimal hatten sie versucht, Rougons habhaft zu werden, der sich von dem Oberst Und der jungen Frau hatte entführen lassen. Schließlich schob Herr Charbonnel seine Frau auf ihn zu.
»Heute morgen«, stammelte sie, »haben wir einen Brief von Ihrer Mutter erhalten ...«
Er ließ sie nicht ausreden. Er selber führte, abermals die Akten ohne übermäßige Gereiztheit im Stich lassend, die Charbonnels in die rechte Fensternische.
»Wir haben einen Brief von Ihrer Mutter erhalten«, wiederholte Frau Charbonnel.
Und sie wollte ihm den Brief vorlesen, als er ihn ihr wegnahm, um ihn mit einem Blick zu überfliegen.
Die Charbonnels, ehemalige Ölhändler aus Plassans, waren die Schützlinge Frau Félicités, wie man Rougons Mutter in der kleinen Stadt, in der sie lebte, zu nennen pflegte. Sie hatte die Charbonnels anläßlich eines Gesuchs, das sie dem Staatsrat einreichen wollten, zu ihm geschickt. Der Sohn eines Vetters von ihnen, ein gewisser Chevassu, Anwalt in Faverolles, der Hauptstadt des benachbarten Departements, hatte bei seinem Ableben den Schwestern von der Heiligen Familie ein Vermögen von fünfhunderttausend Francs vermacht. Die Charbonnels, die niemals mit dieser Erbschaft gerechnet hatten, nun aber plötzlich durch den Tod eines Bruders des Verblichenen zu Erben geworden waren, klagten laut über Erbschleicherei; und als die Gemeinde vom Staatsrat die Ermächtigung erbat, das Legat anzunehmen, verließen sie ihren alten Wohnsitz Plassans und eilten nach Paris, wo sie sich im Hôtel du Périgord in der Rue Jacob einmieteten, um ihre Angelegenheit aus der Nähe zu verfolgen. Und diese Angelegenheit zog sich schon sechs Monate hin.
»Wir sind sehr traurig«, seufzte Frau Charbonnel, während Rougon den Brief las. »Ich wollte ja nichts von diesem Prozeß hören. Aber mein Mann sagte immer wieder, mit Ihrer Hilfe sei uns das Geld sicher, Sie brauchten nur ein Wort zu sagen, und die fünfhunderttausend Francs flössen in unsere Tasche ... Nicht wahr, Charbonnel?«
Der ehemalige Ölhändler schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Das war ein Betrag«, fuhr die Frau fort, »dafür lohnte es sich, seine bisherige Lebensweise auf den Kopf zu stellen ... Ach ja, sie ist auf den Kopf gestellt worden, unsere Lebensweise! Denken Sie doch, Herr Rougon, noch gestern hat sich das Zimmermädchen geweigert, uns frische Handtücher zu geben! Das mir, die ich in Plassans fünf Schränke voll Wäsche habe!«
Und sie beklagte sich weiter bitter über Paris, das sie verabscheue.
Sie waren für acht Tage hierhergekommen, später hatten sie sich, da sie von Woche zu Woche hofften, abreisen zu können, nichts nachschicken lassen. Jetzt, als die Sache kein Ende nahm, ließen sie es eigensinnig bei ihrem möblierten Zimmer bewenden, aßen, was das Hausmädchen ihnen gerade brachte, und saßen ohne Wäsche, ja fast ohne Kleidungsstücke da. Sie hatten nicht einmal eine Bürste, und Frau Charbonnel frisierte sich mit einem zerbrochenen Kamm. Zuweilen setzten sie sich auf ihren kleinen Koffer und weinten vor Erschöpfung und Wut.
»Und dieses Hôtel hat so zweideutige Gäste!« murmelte Herr Charbonnel mit großen verstörten Augen. »Da wohnt ein junger Mann neben uns. Man hört da Sachen ...«
Rougon faltete den Brief zusammen.
»Meine Mutter«, sagte er, »gibt Ihnen den ausgezeichneten Rat, sich zu gedulden. Ich kann Sie nur auffordern, sich mit einem neuen Vorrat an Mut zu wappnen ... Ihr Prozeß scheint mir gut zu stehen; aber nun bin ich abgegangen, und da wage ich Ihnen nichts mehr zu versprechen.«
»Morgen verlassen wir Paris!« schrie Frau Charbonnel in einem Anfall von Verzweiflung.
Doch kaum hatte sie diesen Schrei ausgestoßen, als sie ganz blaß wurde. Herr Charbonnel mußte sie stützen. Und einen Augenblick lang standen sie wortlos da, sahen einander mit zitternden Lippen an und hätten am liebsten geweint. Es wurde ihnen schwach, ein jäher Schreck befiel sie, als seien ganz plötzlich die fünfhunderttausend Francs vor ihren Augen zerronnen.
Rougon fuhr herzlich fort: »Sie haben es mit einem starken Gegner zu tun. Monsignore24 Rochart, der Bischof von Faverolles, ist persönlich nach Paris gekommen, um die Eingabe der Schwestern von der Heiligen Familie25 zu unterstützen. Ohne sein Dazwischentreten hätten Sie schon lange gewonnenes Spiel. Der Klerus ist heute leider sehr mächtig ... Aber ich lasse hier Freunde zurück, ich hoffe, etwas tun zu können, ohne selber in Erscheinung zu treten. Sie haben so lange gewartet, daß, wenn Sie morgen abreisten ...«
»Wir werden bleiben. Wir werden bleiben«, beeilte sich Frau Charbonnel zu stammeln. »Ach, Herr Rougon, diese Erbschaft wird uns teuer zu stehen kommen!«
Rougon machte sich eifrig wieder an seine Papiere. Er ließ einen befriedigten Blick durch den Raum schweifen, erleichtert, weil er niemanden mehr sah, der ihn noch in eine Fensternische hätte führen können; die ganze Clique war abgespeist. In wenigen Minuten brachte er seine Arbeit ein gutes Stück weiter. Er besaß eine brutale Heiterkeit, mit der er sich über die Leute lustig machte, um sich für den Verdruß zu rächen, den man ihm verursachte. Eine Viertelstunde lang wurde er furchtbar für seine Freunde, deren Geschichten er sich eben noch mit soviel Wohlwollen angehört hatte. Er trieb es so weit, er zeigte sich so schroff gegen die hübsche Frau Bouchard, daß sich die Augen der jungen Frau mit Tränen füllten, obwohl sie nicht zu lächeln aufhörte. Die Freunde, an solche Keulenschläge gewöhnt, lachten. Niemals war es besser um ihre Angelegenheiten bestellt als in den Stunden, da Rougon seine Fäuste auf ihrem Nacken übte.
In diesem Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.
»Nein, nein, machen Sie nicht auf!« rief er Delestang zu, der aufgesprungen war. »Will man mich etwa zum Narren halten! Mir dröhnt schon der Kopf!«
Und als man die Tür heftiger erschütterte, knurrte er zwischen den Zähnen: »Ach, wie würde ich diesen Merle hinauspfeffern, wenn ich hierbliebe!«
Es klopfte nicht mehr. Auf einmal aber tat sich in einer Ecke des Zimmers eine kleine Tür auf, durch die sich ein riesiger Frauenrock aus blauer Seide rücklings hereinzwängte. Und dieser sehr helle, reich mit Bandschleifen verzierte Rock verhielt dort einen Augenblick, halb schon im Zimmer, ohne daß man etwas anderes sah. Draußen sprach lebhaft eine ganz zarte Frauenstimme.
»Herr Rougon!« rief die Dame, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur in einem mit einem Rosensträußchen garnierten Hut.
Rougon, der wütend, die Fäuste geballt, näher gekommen war, ergab sich in sein Schicksal, drückte der Eintretenden die Hand und dienerte.
»Ich habe Merle gefragt, wie es ihm hier gefällt«, sagte Frau Correur und ließ dabei ihren Blick zärtlich auf dem großen Kerl von Türhüter ruhen, der aufrecht und lächelnd vor ihr stand. »Und Sie, Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?«
»Aber ja, gewiß doch«, erwiderte Rougon liebenswürdig.
Merle behielt sein verzücktes Lächeln, die Augen starr auf Frau Correurs üppigen Hals gerichtet. Sie warf sich in die Brust, brachte mit einer Hand die Locken an den Schläfen in Ordnung.
»Es geht also gut, junger Mann«, sagte sie. »Wenn ich jemanden unterbringe, möchte ich, daß alle zufrieden sind ... Und wenn Sie einen Rat brauchen sollten, so kommen Sie zu mir, morgens, Sie wissen ja, zwischen acht und neun. Also, seien Sie brav.«
Und mit den an Rougon gerichteten Worten: »Nichts geht über die ehemaligen Soldaten«, trat sie ganz in das Arbeitszimmer. Dann gab sie ihn nicht mehr frei; sie führte ihn mit kleinen Schritten zu dem Fenster am anderen Ende und zwang ihn so, den ganzen Raum zu durchqueren. Sie schalt ihn, weil er nicht aufgemacht hatte. Wenn sich Merle nicht bereit gefunden hätte, sie durch die kleine Tür hereinzulassen, hätte sie also draußen bleiben müssen? Doch Gott wisse, wie nötig es für sie sei, ihn zu sprechen! Denn schließlich könne er doch nicht einfach weggehen wollen, ohne ihr zu sagen, wie es um ihre Bittgesuche stehe. Sie zog ein kleines, sehr kostbares, in rosa Moiré gebundenes Notizbuch aus der Tasche.
»Ich habe den ›Moniteur‹ erst nach dem Frühstück gesehen«, sagte sie. »Ich habe sofort eine Droschke genommen ... Hören Sie, wie steht es mit der Angelegenheit von Frau Leturc, der Hauptmannswitwe, die um einen Tabakladen bittet? Ich habe ihr für nächste Woche eine Entscheidung versprochen ... Und die Sache jener jungen Dame, Sie wissen schon, Herminie Billecoq, eine frühere Schülerin von Saint Denis26, die ihr Verführer, ein Offizier, zu heiraten eingewilligt hat, falls irgendeine ehrliche Seele die vorgeschriebene Mitgift vorstrecken will. Wir hatten an die Kaiserin gedacht ... Und all die anderen Damen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, die seit Monaten warten?«
Rougon antwortete in aller Ruhe, erklärte die Verzögerungen, ging auf die geringsten Einzelheiten ein. Er gab Frau Correur jedoch zu verstehen, daß sie von nun an sehr viel weniger auf ihn zählen dürfe. Da wurde sie tieftraurig. Es beglücke sie doch so sehr, anderen zu helfen! Was denn aus ihr und allen diesen Damen werden solle? Und sie endete damit, von ihren persönlichen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, von den Martineaus in Coulonges, einer guten Familie aus der Vendée, in der man bis zu sieben aufeinanderfolgende Generationen Notare nachweisen könne. Niemals ließ sie sich deutlich darüber aus, wie sie selber zu dem Namen Correur gekommen war. Im Alter von vierundzwanzig Jahren war sie mit einem Metzgerburschen durchgebrannt, nachdem sie sich einen ganzen Sommer lang mit ihm in einem Schuppen getroffen hatte. Ihr Vater hatte unter dem Schlag dieses Skandals, einer Ungeheuerlichkeit, von der man noch jetzt in jener Gegend sprach, sechs Monate lang mit dem Tode gerungen. Seit jener Zeit lebte sie in Paris, für ihre Familie sozusagen gestorben. Zehnmal hatte sie an ihren Bruder, der jetzt dem Notariat vorstand, geschrieben, ohne ihn zu einer Antwort bewegen zu können; und dieses Schweigen legte sie ihrer Schwägerin zur Last; »eine Frau, die es mit den Pfaffen hält, die diesen Dummkopf Martineau an der Nase herumführt«, sagte sie. Eine ihrer fixen Ideen war, wie Du Poizat nach Coulonges zurückzukehren, um sich dort als sehr wohlhabende und geachtete Frau zu zeigen.
»Noch vor acht Tagen habe ich geschrieben«, murmelte sie. »Ich wette, sie wirft meine Briefe ins Feuer ... Dennoch müßte sie mir, wenn Martineau stürbe, das Haus ganz weit auftun. Sie haben keine Kinder, ich würde wichtige Angelegenheiten zu regeln haben. Martineau ist fünfzehn Jahre älter als ich und leidet, wie man mir erzählt hat, an Gicht.«
Dann änderte sie plötzlich den Ton und sagte: »Nun, denken wir nicht mehr an all das ... Jetzt geht es darum, daß man sich für Sie einsetzt, nicht wahr, Eugène? Und man wird sich einsetzen, das werden Sie sehen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie alles sind, damit wir überhaupt etwas sind ... Erinnern Sie sich noch an einundfünfzig?«
Rougon lächelte. Und als sie ihm mütterlich beide Hände drückte, neigte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Falls Sie Gilquin sehen, sagen Sie ihm, er solle vernünftig sein. Hat er es sich doch in der vorigen Woche einfallen lassen, nachdem er sich so benommen hatte, daß man ihn auf die Wache brachte, meinen Namen anzugeben, damit ich hingehen und seine Freilassung fordern sollte!«
Frau Correur versprach, mit Gilquin zu reden, einem ihrer früheren Mieter aus jener Zeit, da Rougon im Hôtel Vanneau wohnte, einem sehr nützlichen Burschen, wenn es darauf ankam, der aber von einer recht kompromittierenden Liederlichkeit war.
»Ich habe eine Droschke unten, ich mache mich davon«, sagte sie mit einem Lächeln und sehr laut, während sie in die Mitte des Zimmers zurückkehrte.
Und trotzdem blieb sie noch einige Minuten, von dem Wunsch erfüllt, die ganze Clique mit ihr zugleich fortgehen zu sehen. Um einen allgemeinen Aufbruch herbeizuführen, bot sie sogar an, jemanden in ihrer Droschke mitzunehmen. Der Oberst nahm an, und man kam überein, daß der kleine Auguste neben dem Kutscher sitzen solle. Dann begann ein großes Händeschütteln. Rougon hatte sich in die Nähe der weit offenen Tür gestellt. Alle, die an ihm vorbeigingen, sprachen ihm noch einmal mit ein paar phrasenhaften Worten ihre Anteilnahme aus. Herr Kahn, Du Poizat und der Oberst reckten den Hals, flüsterten ihm ganz leise etwas ins Ohr, damit er sie nicht vergäße. Die Charbonnels waren schon auf der obersten Treppenstufe, und Frau Correur plauderte im Hintergrund des Vorzimmers mit Merle, während sich Frau Bouchard, auf die in ein paar Schritt Entfernung Herr d'Escorailles und ihr Gatte warteten, noch sehr anmutig, sehr sanft bei Rougon versäumte und ihn fragte, zu welcher Stunde sie ihn ganz allein in der Rue Marbeuf sprechen könne, weil sie in Gegenwart anderer allzu blöd sei. Als aber der Oberst sie diese Bitte äußern hörte, machte er plötzlich kehrt; die anderen folgten ihm, alle kamen wieder herein.
»Wir alle werden Sie besuchen!« rief der Oberst.
»Sie dürfen sich nicht vergraben«, sagten mehrere Stimmen.
Herr Kahn bat mit einer Handbewegung um Ruhe. Dann gab er den großartigen Satz von sich: »Sie gehören nicht mehr sich selbst, Sie gehören Ihren Freunden und Frankreich.«
Und endlich brachen sie auf. Rougon konnte die Tür wieder schließen. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Da kam Delestang, den er ganz vergessen hatte, hinter dem Haufen Pappkästen hervor, in dessen Schutz er soeben als gewissenhafter Freund das Ordnen der Papiere beendet hatte. Er war ein wenig stolz auf seine Leistung. Er handelte, indes die anderen redeten. So nahm er denn auch mit wahrem Genuß die lebhaften Dankesbezeigungen des großen Mannes entgegen. Nur er verstehe wirklich, einem hilfreich zu sein; er habe Sinn für Ordnung und eine Arbeitsweise, womit er es weit bringen werde. Und Rougon fand noch mehrere andere schmeichelhafte Dinge, ohne daß sich erkennen ließ, ob er sich nicht lustig machte. Dann, sich umwendend und einen Blick in alle Winkel werfend: »Aber nun sind wir, glaube ich, dank Ihrer fertig ... Man braucht nur noch Merle den Auftrag zu geben, diese Bündel da zu mir bringen zu lassen.«
Er rief den Türhüter, bezeichnete ihm seine persönlichen Akten.
Auf alle Anweisungen antwortete der Türhüter: »Jawohl, Herr Präsident!«
»Ach, Sie Trottel«, schrie Rougon schließlich gereizt, »nennen Sie mich doch nicht mehr Präsident, ich bin es ja nicht mehr!«
Merle verbeugte sich, machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb zögernd stehen. Er kehrte zurück und sagte: »Unten ist eine Dame zu Pferde, die wünscht, Herrn ... Sie hat lachend erklärt, sie würde bestimmt heraufreiten, wenn nur die Treppe breit genug wäre ... Sie wollte dem Herrn nur die Hand drücken.«
Rougon ballte schon die Fäuste, weil er es für einen Scherz hielt. Aber Delestang, der durch ein Fenster des Treppenabsatzes geschaut hatte, kam angelaufen und murmelte mit sehr erregtem Gesicht: »Fräulein Clorinde!«
Da ließ Rougon ihr ausrichten, daß er hinunterkomme. Als Delestang und er dann nach ihren Hüten griffen, sah er ihn, erstaunt über seine Erregung, mit gerunzelten Brauen und argwöhnischer Miene an.
»Hüten Sie sich vor den Frauen!« wiederholte er.
Und von der Schwelle aus schenkte er dem Arbeitszimmer einen letzten Blick. Durch die drei offengebliebenen Fenster fiel das volle Tageslicht herein, beleuchtete grell die ausgeräumten Schränke, die umherliegenden Schubfächer, die verschnürten und mitten auf dem Teppich aufgehäuften Bündel. Das Arbeitszimmer sah sehr groß, sehr trübselig aus. Im Kamin hatte die Masse der in ganzen Packen verbrannten Schriftstücke nur eine kleine Schaufel voll schwarzer Asche zurückgelassen. Als er die Tür schloß, erlosch die auf einer Ecke des Schreibtisches vergessene Kerze, wobei der kristallene Leuchtereinsatz mit lautem Klang in der Stille des leeren Zimmers zersprang.