Читать книгу Seine Exzellenz Eugene Rougon - Émile Zola - Страница 6
Kapitel III
ОглавлениеNachmittags gegen vier Uhr pflegte sich Rougon zuweilen für kurze Zeit zur Gräfin Balbi zu begeben. Er ging als Nachbar hin, zu Fuß. Die Gräfin bewohnte ein kleines Palais, ein paar Schritte von der Rue Marbeuf entfernt, an der Avenue des ChampsElysées. Übrigens war sie selten zu Hause; und wenn sie zufällig anwesend war, lag sie zu Bett und ließ sich entschuldigen. Das verhinderte nicht, daß das Treppenhaus des kleinen Palais von einem Heidenlärm geräuschvoller Besucher erfüllt war und daß unaufhörlich die Türen der Salons schlugen. Ihre Tochter Clorinde empfing in einem langen schmalen Raum, einer Art Maleratelier, das nach der Avenue zu große verglaste Öffnungen hatte.
Fast drei Monate lang hatte sich Rougon mit der Brutalität eines keuschen Mannes dem entgegenkommenden Verhalten dieser Damen gegenüber, die sich ihm auf einem Ball des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten hatten vorstellen lassen, sehr ablehnend benommen. Er begegnete ihnen überall, stets zeigten die beiden das gleiche auffordernde Lächeln, immer schwieg die Mutter, sprach das junge Mädchen anmaßend und sah ihm gerade in die Augen. Und er war standhaft, er mied sie, schlug die Augen nieder, um sie nicht zu sehen, lehnte die Einladungen ab, die sie ihm zukommen ließen. Immer wieder bedrängt, verfolgt bis in sein Haus hinein, an dem Clorinde mit Vorliebe vorbeizureiten schien, zog er dann Erkundigungen ein, bevor er sich zu ihnen wagte.
In der italienischen Botschaft äußerte man sich zu ihm sehr günstig über diese Damen: den Grafen Balbi habe es tatsächlich gegeben; die Gräfin unterhalte hohe Beziehungen in Turin; die Tochter schließlich sei noch im vergangenen Jahr nahe daran gewesen, einen kleinen deutschen Fürsten zu heiraten. Aber als sich Rougon anschließend an die Herzogin Sanquirino wandte, sah die Sache ganz anders aus. Dort versicherte man ihm, Clorinde sei zwei Jahre nach dem Tode des Grafen geboren; übrigens gehe eine sehr verwickelte Legende über das Ehepaar Balbi um, der zufolge Mann und Frau eine Menge Abenteuer hinter sich hätten, beiderseits Ausschweifungen, eine in Frankreich ausgesprochene Scheidung, eine in Italien überraschend vollzogene Aussöhnung, nach der sie in einer Art wilder Ehe gelebt hätten. Ein junger Botschaftsattaché, sehr auf dem laufenden über das, was sich am Hofe Viktor Emanuels27 zutrug, wurde noch deutlicher: wenn die Gräfin dort unten noch Einfluß besitze, so verdanke sie das seiner Ansicht nach einem früheren Liebesverhältnis mit einer sehr hochgestellten Persönlichkeit; und er ließ durchblicken, daß sie in Turin geblieben sein würde, hätte sich nicht ein gewisser ungeheurer Skandal ereignet, über den er sich nicht näher auslassen könne. Rougon, allmählich von dem Reiz seiner Nachforschungen gepackt, ging bis zur Polizeipräfektur, wo er nichts Genaues ermitteln konnte; die Akten über die beiden Ausländerinnen stellten diese lediglich als zwei Frauen dar, die auf großem Fuß lebten, ohne daß etwas von einem ihnen gehörenden soliden Vermögen bekannt gewesen wäre. Sie behaupteten, Güter in Piemont zu besitzen. Tatsächlich war es zuweilen mit ihrem Aufwand plötzlich zu Ende; dann verschwanden sie auf einmal, um bald in neuem Glanz wieder aufzutauchen. Kurz, man wußte nichts über sie; man zog es vor, nichts zu wissen. Sie verkehrten in der besten Gesellschaft, ihr Haus wurde als neutraler Boden anerkannt, auf dem man Clorindes Überspanntheit als eine fremdländische Blüte duldete. Rougon entschloß sich, diese Damen zu besuchen.
Beim dritten Besuch hatte die Neugier des großen Mannes zugenommen. Er war von einer schwerfälligen Sinnlichkeit, die nur sehr langsam erwachte. Was ihn zunächst an Clorinde anzog, war das Prickelnde des Unbekannten, ihre ganze Vergangenheit, eine sie völlig beherrschende Zukunftsvorstellung, die er auf dem Grunde dieser großen Augen, den Augen einer jungen Göttin, zu lesen vermeinte. Wohl hatte man ihm abscheuliche Geschichten erzählt von einer ersten Schwäche für einen Kutscher und von einem später mit einem Bankier abgeschlossenen Geschäft, der die Scheinjungfräulichkeit des Fräuleins aus dem kleinen Palais der ChampsElysées bezahlt habe. Aber in manchen Stunden erschien sie ihm so kindlich, daß er zu zweifeln begann, sich fest vornahm, sie zu Geständnissen zu bewegen, und wiederkam, um das Geheimnis dieses seltsamen Mädchens zu ergründen, die, ein lebendes Rätsel, ihn schließlich ebensosehr beschäftigte wie ein schwieriges Problem der hohen Politik. Bis dahin war er ein Frauenverächter gewesen, und die erste, an die er geriet, war bestimmt der komplizierteste Mechanismus, den man sich vorstellen konnte.
Am Tage nach jenem, an dem Clorinde auf ihrem Mietspferd erschienen war, um Rougon an der Tür des Staatsrats teilnahmsvoll die Hand zu drücken, hatte er ihr einen Besuch gemacht, den sie übrigens nachdrücklich gefordert hatte. Sie müsse, hatte sie gesagt, ihm etwas zeigen, das ihn aus seiner trüben Stimmung reißen werde. Er nannte sie lachend »mein Laster«; er vergaß gern bei ihr die Zeit, belustigt, geschmeichelt, aufmerksamen Geistes, um so mehr, als er noch an ihr herumbuchstabierte, womit er noch nicht weitergekommen war als am ersten Tag. Als er um die Ecke der Rue Marbeuf bog, warf er einen Blick in die Rue du Colisée, auf das Stadthaus Delestangs, den er schon mehrmals dabei ertappt zu haben glaubte, wie er, das Gesicht zwischen den halb geöffneten Sommerläden, von der anderen Seite der Avenue aus nach Clorindes Fenstern spähte; aber die Läden waren geschlossen, Delestang mußte wohl morgens auf sein Mustergut La Chamade gefahren sein.
Die Tür des Palais Balbi stand stets weit offen. Rougon traf am Fuß der Treppe eine kleine, dunkelhäutige, schlecht frisierte Frau in einem zerlumpten gelben Kleid, die wie in einen Apfel in eine Orange biß.
»Antonia, ist Ihre Herrin zu Hause?« fragte er sie.
Sie antwortete nicht, da sie den Mund voll hatte, bewegte nur heftig und lachend den Kopf. Ihre Lippen waren ganz verschmiert vom Orangensaft; sie kniff die kleinen Augen zusammen, die wie zwei Tintenflecke auf ihrer braunen Haut aussahen.
Rougon, bereits an die schlampige Dienerschaft des Hauses gewöhnt, ging hinauf. Im Treppenhaus kam er an einem baumlangen Diener mit dem Aussehen eines Banditen und einem langen schwarzen Bart vorbei, der ihn ruhig ansah, ohne ihm die Geländerseite freizugeben. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks fand er sich dann allein drei offenen Türen gegenüber. Die zur Linken führte in Clorindes Zimmer. Er war so vorwitzig, einen langen Hals zu machen. Obwohl es bereits vier Uhr war, war das Zimmer noch nicht aufgeräumt; ein vor dem Bett aufgestellter Wandschirm verdeckte zur Hälfte die herunterhängenden Decken, und über den Wandschirm geworfen, trockneten die untenherum ganz mit Schmutz bespritzten Röcke vom Tage zuvor. Vor dem Fenster stand auf dem Fußboden die mit Seifenwasser gefüllte Waschschüssel, während die Katze des Hauses, ein grauer Kater, zusammengerollt auf einem Haufen Kleidungsstücke schlief.
Clorinde hielt sich meist im zweiten Stock auf, in jenem Raum, aus dem sie nacheinander ein Atelier, ein Rauchzimmer, ein Treibhaus, einen Sommersalon gemacht hatte. Je weiter Rougon hinaufstieg, um so stärker vernahm er Stimmenlärm, helles Gelächter, das Gepolter stürzender Möbelstücke. Und als er vor der Tür angelangt war, unterschied er schließlich, daß ein schwindsüchtiges Klavier den Lärm anführte, während eine Stimme sang. Er klopfte zweimal, ohne Antwort zu erhalten. Da entschloß er sich, einzutreten.
»Ah! Bravo, bravo! Da ist er ja!« rief Clorinde und klatschte in die Hände.
Er, der für gewöhnlich schwer aus der Fassung zu bringen war, blieb einen Augenblick lang staunend auf der Schwelle stehen. Vor dem alten Klavier, auf das er wütend einhieb, um ihm weniger dünne Töne zu entlocken, saß der Cavaliere Rusconi, der italienische Botschafter, ein schöner Mann, brünett und, wenn es ihm gerade paßte, ein ernsthafter Diplomat. In der Mitte des Raumes walzte der Abgeordnete La Rouquette mit einem Stuhl, dessen Rücklehne er zärtlich mit den Armen an sich drückte, so hingerissen von seinem Schwung, daß er das Parkett mit umgestürzten Sitzgelegenheiten bestreut hatte. Und im grellen Licht eines der Fenster stand, einem jungen Mann gegenüber, der sie mit Reißkohle auf eine Leinwand zeichnete, mitten auf einem Tisch Clorinde mit nackten Schenkeln, nackten Armen, nackter Brust, völlig nackt und mit gelassener Miene Modell als Jagdgöttin Diana. Auf einem Kanapee saßen drei tiefernste Herren, rauchten dicke Zigarren und betrachteten, die Beine übereinandergeschlagen, das junge Mädchen, ohne ein Wort zu sprechen.
»Lassen Sie, rühren Sie sich nicht«, rief der Cavaliere Rusconi Clorinde zu, die vom Tisch herunterspringen wollte. »Ich werde die Vorstellung übernehmen.« Und von Rougon begleitet, sagte er scherzend, als sie an Herrn La Rouquette vorbeigingen, der atemlos in einen Sessel gesunken war: »Herr La Rouquette, den Sie kennen. Ein künftiger Minister.«
Dann fuhr er, sich dem Maler nähernd, fort: »Herr Luigi Pozzo, mein Sekretär, Diplomat, Maler, Musiker und Verliebter.«
Die drei Herren auf dem Kanapee vergaß er. Doch als er sich umwandte, bemerkte er sie; und er gab seinen scherzenden Ton auf, verneigte sich in ihrer Richtung und murmelte dabei in formvollendetem Ton: »Herr Brambilla, Herr Staderino, Herr Viscardi, alle drei politische Flüchtlinge.«
Die drei Venetianer verbeugten sich, ohne ihre Zigarren aus der Hand zu legen. Der Cavaliere Rusconi kehrte gerade ans Klavier zurück, als Clorinde ihn heftig schalt und ihm vorwarf, er sei ein schlechter Zeremonienmeister. Und ihrerseits auf Rougon weisend, sagte sie einfach, aber mit einer besonderen, sehr schmeichelhaften Betonung: »Herr Eugène Rougon.«
Man verbeugte sich abermals. Rougon, der einen Augenblick lang irgendeinen unpassenden Scherz befürchtet hatte, war überrascht von dem plötzlichen Takt und der Würde dieses großen Mädchens, das da halbnackt in seinem Gazegewand stand. Er setzte sich und erkundigte sich nach dem Befinden der Gräfin Balbi, wie es seine Gepflogenheit war; er tat sogar bei jedem Besuch so, als gelte er der Mutter, was ihm schicklicher erschien.
»Ich hätte mich sehr gefreut, ihr persönlich meine Aufwartung machen zu dürfen«, fügte er hinzu, die Formel anwendend, die er in diesem Fall zu gebrauchen pflegte.
»Aber Mama ist ja hier«, sagte Clorinde, mit dem Ende ihres Bogens aus vergoldetem Holz auf eine Ecke des Raumes deutend.
Und die Gräfin war tatsächlich da; hinter Möbelstücken verborgen, lag sie in einem großen Sessel. Das löste allgemeines Erstaunen aus. Auch die drei politischen Flüchtlinge hatten offenbar nichts von ihrer Anwesenheit gewußt; sie standen auf und verbeugten sich. Rougon ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Er blieb bei ihr stehen, und sie, immer noch ausgestreckt, antwortete einsilbig, mit jenem ständigen Lächeln, das sie niemals verließ, nicht einmal wenn sie litt. Dann versank sie wieder in ihre Schweigsamkeit, war zerstreut, blickte seitlich auf die Avenue hinaus, wo ein Strom von Wagen entlangrollte. Sie hatte sich zweifellos hierhergesetzt, um dem Verkehr zuzusehen. Rougon ließ sie allein.
Inzwischen suchte der Cavaliere Rusconi, der wieder am Klavier saß, leise die Tasten anschlagend und mit halber Stimme italienische Worte vor sich hin singend, nach einer Melodie. Herr La Rouquette fächelte sich mit seinem Taschentuch. Clorinde hatte sehr ernst ihre Pose wieder eingenommen. Und Rougon ging in der plötzlich entstandenen Stille gemächlich auf und ab und betrachtete die Wände. Der Raum war mit einem erstaunlichen Durcheinander von Gegenständen vollgestopft: allerlei Möbelstücke, ein Schreibtisch, eine Truhe, mehrere Tische – alles in die Mitte geschoben –, schufen ein Labyrinth enger Gänge; an einem Ende welkten, schief aneinandergelehnt, ausrangierte Treibhauspflanzen, deren herabhängende grüne Wedel ganz von Rost zerfressen waren; am anderen Ende aber lag ein großer Haufen trocken gewordenen Tons, zwischen dem man noch die zerbröckelten Arme und Beine einer Statue erkannte, an der sich Clorinde versucht hatte, als sie eines schönen Tages von der Laune gepackt worden war, Künstlerin zu werden. Der sehr ausgedehnte Raum bot in der Tat an freiem Raum nur einen kleinen Platz vor einem der Fenster, eine Art viereckiger Lücke, die man mit zwei Kanapees und drei nicht zueinander passenden Sesseln in einen kleinen Salon verwandelt hatte.
»Sie dürfen rauchen«, sagte Clorinde zu Rougon.
Er dankte, er rauche nie. Sie, ohne sich umzuwenden, rief: »Cavaliere, drehen Sie mir doch eine Zigarette. Tabak muß vor Ihnen auf dem Klavier stehen.«
Und während der Cavaliere die Zigarette drehte, trat wieder Schweigen ein. Rougon, ärgerlich darüber, all diese Leute hier zu finden, wollte gehen und seinen Hut holen. Er trat jedoch wieder vor Clorinde hin, den Kopf erhoben, fragte lächelnd: »Haben Sie mich nicht gebeten, vorbeizukommen, weil Sie mir etwas zeigen wollten?«
Sehr ernst, ganz mit dem Modellstehen beschäftigt, antwortete sie nicht sogleich. Er mußte nochmals fragen: »Was wollten Sie mir denn zeigen?«
»Mich«, sagte sie.
Sie sagte das in einem überlegenen Ton, ohne jede Geste, in ihrer Göttinnenpose auf dem Tisch stehend. Rougon, nun seinerseits sehr ernst, trat einen Schritt zurück, betrachtete sie lange. Und sie war wirklich prachtvoll mit ihrem reinen Profil, ihrem schlanken Hals, den eine abfallende Linie mit den Schultern verband. Vor allem besaß sie jene königliche Schönheit, die Schönheit der Büste. Ihre runden Arme und Beine schimmerten wie Marmor. Ein wenig gebogen dadurch, daß sie die linke Hüfte leicht vorgeschoben hatte, streckte sie die rechte Hand in die Luft und bot so den Blicken eine lange, sehr wirkungsvolle und geschmeidige, in der Taille eingebogene, am Schenkel ausgebogene Linie von der Achselhöhle bis zur Ferse. Mit der anderen Hand stützte sie sich in der ruhig kraftvollen Haltung der antiken Jagdgöttin auf ihren Bogen, unbekümmert um ihre Nacktheit, der Liebe der Männer nicht achtend, kalt, hoheitsvoll, unsterblich.
»Sehr hübsch, sehr hübsch«, murmelte Rougon, der nicht wußte, was er sagen sollte.
In Wahrheit war ihm ihre statuenhafte Regungslosigkeit unbehaglich. Sie schien so sieghaft, so davon überzeugt, klassisch schön zu sein, daß er, wenn er es gewagt hätte, Kritik an ihr geübt haben würde wie an einem Marmorbild, das seine spießbürgerlichen Augen durch gewisse Effekte beleidigte; er hätte eine zierlichere Taille, weniger breite Hüften, eine höher angesetzte Brust vorgezogen. Dann wandelte ihn ein brutales Gelüst an, ihr in die Wade zu greifen. Er mußte etwas zurücktreten, um diesem Gelüst nicht nachzugeben.
»Haben Sie genug gesehen?« fragte Clorinde, immer noch ernst und von sich überzeugt. »Warten Sie, jetzt kommt etwas anderes.«
Und auf einmal war sie nicht mehr Diana. Sie ließ ihren Bogen fallen, sie wurde Venus. Die Hände hinter den Kopf gehoben und in ihren Haarknoten verschlungen, den Oberkörper etwas zurückgebogen, so daß sich die Spitzen der Brüste hoben, lächelte sie, öffnete ein wenig die Lippen und ließ den Blick schweifen, das Gesicht plötzlich wie in Sonne gebadet. Sie wirkte kleiner und als habe sie fleischigere Glieder, ganz vergoldet von einem Schauer des Begehrens, dessen warme Wellen er über ihre seidige Haut rieseln zu sehen vermeinte. Sie kauerte dort, bot sich dar, machte sich begehrenswert, sah aus wie eine unterwürfige Geliebte, die in einer Umarmung ganz und gar genommen werden will.
Herr Brambilla, Herr Staderino und Herr Viscardi spendeten ihr ernsthaft Beifall, ohne ihre finstere Verschwörerstarre aufzugeben.
»Bravo! bravo! bravo!«
Herr La Rouquette brach in Begeisterungsrufe aus, indes der Cavaliere Rusconi, der sich dem Tisch wieder genähert hatte, um dem jungen Mädchen die Zigarette zu reichen, mit verzücktem Blick stehenblieb und leicht den Kopf wiegte, als schlage er damit den Takt seiner Bewunderung.
Rougon sagte nichts. Er schlang die Hände so fest ineinander, daß seine Finger knackten. Ein leichter Kälteschauer hatte ihn soeben vom Nacken bis zu den Fersen überlaufen. Jetzt dachte er nicht mehr daran, fortzugehen; er richtete sich auf Bleiben ein. Sie aber hatte bereits laut lachend, die Zigarette rauchend und mit hochfahrend geschürzten Lippen ihren durch keine Kleidung behinderten Körper wieder aufgerichtet. Sie erzählte, daß sie brennend gern Schauspielerin geworden wäre, alles hätte sie darstellen können, Zorn, Zärtlichkeit, Keuschheit, Entsetzen; und mit einer Haltung, einem Mienenspiel deutete sie Charaktere an. Dann sagte sie ganz plötzlich: »Herr Rougon, möchten Sie, daß ich Sie spiele, wie Sie im Corps législatif reden?«
Sie blähte sich auf, warf sich in die Brust, schnaufend, die Fäuste vorwärtsschleudernd, mit einer so drolligen Mimik, so wahr in der Übertreibung, daß alle vor Entzücken vergingen. Rougon lachte wie ein Kind; er fand sie anbetungswürdig, sehr durchtrieben und sehr beunruhigend.
»Clorinda, Clorinda«, murmelte Luigi und klopfte leicht mit dem Malstock auf seine Staffelei.
Clorinde bewegte sich so viel, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Er hatte die Reißkohle beiseite gelegt, um in der bemühten Art eines Schülers dünne Farben auf die Leinwand zu streichen. Inmitten des Gelächters blieb er ernst, warf flammende Blicke auf das junge Mädchen und sah mit einer schrecklichen Miene die Männer an, mit denen sie scherzte. Es war sein Einfall gewesen, sie in diesem Gewand der Jagdgöttin Diana zu malen, von dem seit dem letzten Botschaftsball ganz Paris sprach. Er bezeichnete sich als ihren Vetter, weil sie beide in derselben Straße von Florenz geboren waren. »Clorinda!« wiederholte er in zornigem Ton.
»Luigi hat recht«, sagte sie. »Sie sind nicht ganz gescheit, meine Herren; Sie vollführen einen Lärm! Arbeiten wir, arbeiten wir!«
Und sie nahm wieder ihre olympische Stellung ein. Abermals wurde sie zu einem schönen Marmorbild. Die Herren verharrten auf ihren Plätzen, regungslos, wie angewurzelt. Einzig Herr Rouquette wagte es, mit den Fingerspitzen einen leisen Trommelwirbel auf der Armlehne seines Sessels zu schlagen. Rougon, den Rücken weit hintenübergebogen, sah Clorinde an und geriet nach und nach ins Träumen, von Phantasien überfallen, in denen das junge Mädchen ins Maßlose wuchs. Eine Frau war trotz allem ein seltsamer Mechanismus! Nie war es ihm eingefallen, es zu erforschen. Er begann ungewöhnliche Schwierigkeiten zu ahnen. Für Sekunden hatte er ein sehr deutliches Vorgefühl von der Macht dieser nackten Schultern, die wohl fähig waren, eine Welt ins Wanken zu bringen. Clorinde dehnte sich vor seinen getrübten Augen immer mehr aus, versperrte ihm mit ihrer zu einer riesigen Statue gewordenen Gestalt das ganze Fenster. Doch er schloß und öffnete die Lider, und da fand er sie, sehr viel weniger groß als er selber, wieder auf dem Tisch. Nun mußte er lächeln; wenn er es gewollt hätte, würde er ihr wie einem kleinen Mädchen die Rute gegeben haben; und er wunderte sich, daß er sich einen Augenblick lang vor ihr gefürchtet hatte.
Unterdessen erhob sich am anderen Ende des Raumes ein gedämpftes Stimmengeräusch. Rougon hörte, wie es seine Gewohnheit war, aufmerksam hin, vernahm aber nichts als ein schnelles Murmeln italienischer Silben. Der Cavaliere Rusconi, der sich soeben hinter die Möbel geschlichen hatte, stützte sich, ehrerbietig der Gräfin zugeneigt, mit der Hand auf die Rücklehne ihres Sessels und schien ihr irgend etwas mit allen Einzelheiten zu erzählen. Die Gräfin begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Einmal jedoch machte sie eine Gebärde heftigen Abstreitens, und der Cavaliere beugte sich noch tiefer, beschwichtigte sie mit seiner singenden Stimme, die wie Vogelgezwitscher dahinplätscherte. Dank seiner Kenntnis des Provenzalischen erhaschte Rougon schließlich ein paar Worte, die ihn ernst stimmten.
»Mama«, rief plötzlich Clorinde, »hast du dem Cavaliere die gestern abend gekommene Depesche gezeigt?«
»Eine Depesche!« wiederholte der Cavaliere ganz laut.
Die Gräfin hatte aus einer ihrer Taschen einen Packen Briefe gezogen, in dem sie lange herumsuchte. Endlich reichte sie ihm ein ganz zerknittertes Stück blaues Papier. Sobald er es überflogen hatte, machte er eine überraschte und zornige Bewegung.
»Nanu!« rief er, die anwesende Gesellschaft vergessend, auf französisch, »das wissen Sie seit gestern! Ich aber habe diese Nachricht erst heute morgen erhalten!«
Clorinde brach in lautes Lachen aus, was ihn vollends ärgerlich machte.
»Und Frau Gräfin lassen mich ihr die Geschichte lang und breit erzählen, als wisse sie nichts davon! – Da ja der Sitz der Botschaft hier ist, werde ich jeden Tag herkommen und die Korrespondenz durchsehen.«
Die Gräfin lächelte. Sie blätterte noch immer in ihrem Briefpacken, nahm ein anderes Schriftstück heraus und ließ es ihn lesen. Diesmal schien er sehr befriedigt zu sein. Und die leise geführte Unterhaltung begann von neuem. Er hatte zu seinem ehrerbietigen Lächeln zurückgefunden. Als er die Gräfin verließ, küßte er ihr die Hand.
»So, damit wären die ernsten Angelegenheiten erledigt«, sagte er halblaut, als er sich wieder ans Klavier setzte.
Er hieb aus Leibeskräften einen in jenem Jahr sehr beliebten Gassenhauer herunter. Dann sprang er, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, plötzlich auf, um seinen Hut zu holen.
»Sie gehen?« fragte Clorinde.
Sie winkte ihn heran, stützte sich auf seine Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Lachend schüttelte er den Kopf. Er murmelte: »Ganz großartig, ganz großartig ... Das werde ich denen da unten schreiben.« Und nachdem er sich verbeugt hatte, ging er hinaus.
Luigi hatte Clorinde, die auf dem Tisch hockte, durch einen Schlag mit seinem Malstock veranlaßt, sich wieder aufrecht hinzustellen.
Der Strom der Wagen, der die Avenue entlangrollte, langweilte die Gräfin auf die Dauer zweifellos, denn sobald sie das Kupee des Cavaliere, das inmitten der Landauer, die aus dem Bois de Boulogne28 kamen, verschwand, aus den Augen verloren hatte, zog sie an einer Klingelschnur hinter ihr. Der baumlange Diener mit dem Banditengesicht trat ein und ließ die Tür offen. Die Gräfin vertraute sich seinem Arm an, durchquerte, zwischen den Herren, die sich vor ihr verbeugten, hindurchschreitend, langsam den Raum. Sie dankte mit einem Kopfneigen, mit ihrem Lächeln. Auf der Schwelle wandte sie sich dann um und sagte zu Clorinde: »Ich habe meine Migräne, ich will mich ein Weilchen hinlegen.«
»Flaminio«, rief das junge Mädchen dem Bedienten zu, der ihre Mutter wegführte, »legen Sie ihr ein heißes Bügeleisen an die Füße!«
Die drei politischen Flüchtlinge nahmen nicht wieder Platz. Sie blieben noch einen Augenblick lang in einer Reihe stehen und kauten ihre Zigarren zu Ende, die sie alle mit der gleichen korrekten und wohlgezielten Bewegung in einen Winkel hinter dem Tonhaufen warfen. Und sie defilierten an Clorinde vorbei, gingen in feierlichem Zuge fort.
»Mein Gott«, sagte La Rouquette, der gerade ein ernstes Gespräch mit Rougon begonnen hatte, »ich weiß genau, daß die Zuckerfrage von großer Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um einen ganzen Zweig der französischen Industrie. Das Unglück ist, daß, wie mir scheint, niemand in der Kammer diese Materie von Grund auf studiert hat.«
Rougon, den er langweilte, antwortete nur durch Kopfbewegungen. Der junge Abgeordnete trat näher an ihn heran und fuhr, seinem Zierpuppengesicht plötzlich Würde verleihend, fort: »Sehen Sie, ich habe einen Onkel in der Zuckerindustrie. Er besitzt eine der ertragreichsten Raffinerien von Marseille ... Nun, ich habe drei Monate bei ihm verbracht. Ich habe mir Notizen gemacht, oh, sehr viele Notizen. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern, kurz, ich machte mich mit allem vertraut! – Sie verstehen, ich wollte vor der Kammer sprechen ...«
Er spielte sich vor Rougon auf, er gab sich ungeheure Mühe, ihn von den einzigen Dingen zu unterhalten, die, wie er glaubte, jenen interessieren mußten, war dabei allerdings sehr bestrebt, sich im Lichte eines gediegenen Politikers zu zeigen.
»Und Sie haben nicht gesprochen?« fiel ihm Clorinde ins Wort, die Herrn La Rouquettes Anwesenheit ungeduldig zu machen schien.
»Nein, ich habe nicht gesprochen«, erwiderte er mit leiserer Stimme, »ich glaubte, nicht sprechen zu sollen ... Im letzten Moment fürchtete ich, meine Zahlen könnten nicht ganz genau sein.«
Rougon sah ihn fest an und sagte dabei ernst: »Wissen Sie die Anzahl der Zuckerstücke, die pro Tag im Café Anglais verbraucht werden?«
Einen Augenblick lang riß Herr La Rouquette verblüfft die Augen auf. Dann brach er in Lachen aus.
»Ach, reizend, reizend!« rief er. »Ich verstehe, Sie scherzen ... Aber das, das ist die Frage des Zuckerhandels; ich sprach von der Frage der Zuckerindustrie ... Reizend! Sie gestatten mir wohl, den Ausspruch zu wiederholen, nicht wahr?«
Er wippte vor Vergnügen in seinem Sessel. Er bekam wieder ein rosiges Gesicht, fühlte sich wieder wohl und suchte nach gefälligen Worten. Clorinde aber zog ihn der Frauen wegen auf. Sie habe ihn noch vor zwei Tagen im Théâtre des Variétés29 mit einer kleinen, sehr häßlichen, wie ein Pudel struwweligen Blondine gesehen. Zuerst leugnete er. Dann aber, ärgerlich über die grausame Art, in der sie von dem »kleinen Pudel« sprach, vergaß er sich, verteidigte diese Dame, eine sehr wohlerzogene Person, die gar nicht so übel sei, und er erzählte von ihrem Haar, ihrem Wuchs, ihren Beinen. Clorinde wurde unausstehlich. Herr La Rouquette rief schließlich: »Sie erwartet mich, und ich gehe zu ihr.«
Als er dann die Tür hinter sich geschlossen hatte, klatschte das junge Mädchen frohlockend in die Hände und sagte wiederholt: »Weg ist er, glückliche Reise!«
Und sie sprang munter vom Tisch und lief auf Rougon zu, dem sie beide Hände reichte. Sie tat sehr sanft; sie sei sehr verdrießlich, daß er sie nicht allein angetroffen habe. Welch eine Mühe habe es sie gekostet, die ganze Gesellschaft wegzuschicken! Die Leute begriffen nichts, wirklich! Dieser La Rouquette mit seiner Zuckerindustrie sei reichlich lächerlich! Aber jetzt werde man sie vielleicht nicht mehr stören, und sie könnten plaudern. Sie habe ihm so viel zu sagen! Während sie so sprach, führte sie ihn zu einem Kanapee. Er hatte sich hingesetzt, ohne ihre Hände loszulassen, als Luigi hart mit seinem Malstock aufklopfte und dabei in ärgerlichem Ton wiederholte: »Clorinda! Clorinda!«
»Ach ja, richtig, das Porträt!« rief sie lachend.
Sie entschlüpfte Rougon, ging hin und beugte sich auf eine zärtlich geschmeidige Art von hinten über den Maler. Oh, wie hübsch das sei, was er da gemacht hatte! Das komme sehr gut heraus. Aber sie sei wirklich etwas müde, und sie bitte um eine Viertelstunde Ruhe. Übrigens könne er ja am Gewand malen, dafür brauche sie doch nicht Modell zu stehen. Luigi warf funkelnde Blicke auf Rougon, fuhr fort, übellaunige Worte zu murmeln. Da sagte sie mit gerunzelten Brauen, aber immer noch lächelnd, sehr schnell etwas auf italienisch zu ihm. Und er schwieg, führte aufs neue vorsichtig seinen Pinsel.
»Ich schwindle nicht«, versicherte sie, während sie zu Rougon zurückkehrte und sich neben ihn setzte, »mein linkes Bein ist mir völlig eingeschlafen.«
Sie klopfte sich auf das linke Bein, um das Blut wieder in Umlauf zu bringen, wie sie sagte. Durch die Gaze sah man als rosigen Fleck ihre Knie. Sie hatte jedoch vergessen, daß sie nackt war. Nachdenklich neigte sie sich ihm zu, die Haut ihrer Schulter an dem rauhen Tuch seines Überziehers scheuernd. Auf einmal aber ließ ein Knopf, auf den sie unerwartet traf, ihr einen heftigen Schauder über den Busen laufen. Sie sah an sich herab, wurde sehr rot. Und eilig holte sie irgendein Stück schwarze Spitze, das sie um sich schlang.
»Mir ist ein bißchen kalt«, sagte sie, nachdem sie einen Sessel vor Rougon geschoben und sich hineingesetzt hatte.
Außer einem schmalen Streifen ihrer bloßen Handgelenke ließ sie nichts unter der Spitze hervorschauen. Sie hatte sich das Gewebe so um den Hals gewunden, daß es eine große Krawatte bildete, in die sie das Kinn vergrub. In dieser Hülle, die die Brust gänzlich verdeckte, war sie jetzt bis auf ihr wieder bleich und ernst gewordenes Gesicht ganz und gar schwarz.
»Nun, was ist mit Ihnen geschehen?« fragte sie. »Erzählen Sie mir alles.«
Und mit der Freimütigkeit kindlicher Neugier forschte sie ihn aus, wieso er in Ungnade gefallen sei. Sie betonte die Ausländerin, ließ sich bis zu drei Malen Einzelheiten wiederholen, die sie nicht verstanden zu haben behauptete. Sie unterbrach ihn mit Ausrufen in italienischer Sprache, während er in ihren dunklen Augen jeder Regung folgen konnte, die sein Bericht hervorrief. Weshalb er sich mit dem Kaiser überworfen habe? Wieso er auf eine so hohe Stellung habe verzichten können? Wer denn seine Feinde seien, daß er sich so habe unterkriegen lassen? Und da er zögerte, als sie ihn mit der Behauptung, er wolle irgend etwas nicht gestehen, in die Enge trieb, sah sie ihn mit so rührender Treuherzigkeit an, daß er sich gehenließ und ihr die Geschichte vollständig erzählte. Bald hatte sie zweifellos alles erfahren, was sie zu wissen wünschte. Sie warf noch ein paar Fragen hin, die sehr wenig mit dem Thema zu tun hatten und deren Seltsamkeit Rougon erstaunte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und schwieg. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie dachte tief nach.
»Nun?« fragte er lächelnd.
»Nichts«, murmelte sie, »es hat mich traurig gemacht.«
Er war gerührt und versuchte, abermals ihre Hände zu fassen, doch sie verbarg sie unter der Spitze, und das Schweigen dauerte an. Nach Verlauf von zwei langen Minuten hob sie die Lider wieder und sagte: »Sie haben also irgendwelche Pläne?«
Er sah sie fest an. Flüchtig tauchte ein Verdacht in ihm auf. Aber sie war jetzt so anbetungswürdig, wie sie da in der Haltung einer Leidenden tief im Sessel lag, als hätten die Kümmernisse ihres »lieben Freundes« sie aller Kraft beraubt, daß er sich nicht an das leichte Frösteln kehrte, das ihm soeben über den Nacken gerieselt war. Sie schmeichelte ihm sehr. Gewiß werde er nicht lange abseits bleiben, eines Tages werde er wieder der Herr sein. Sie sei überzeugt, daß er sich mit großen Gedanken trage und seinem Stern vertraue, denn das stehe ihm an der Stirn geschrieben. Weshalb er sie nicht zu seiner Vertrauten mache? Sie sei so verschwiegen, es würde sie so beglücken, seine Zukunft mit ihm zu teilen! Berauscht, immer noch bestrebt, die kleinen Hände, die sich in der Spitze verbargen, wieder zu erwischen, sprach Rougon weiter, sprach immerzu, gab schließlich alles preis, seine Hoffnungen, seine Gewißheiten. Sie drängte ihn nicht mehr, ließ ihn ungestört weiterreden, rührte sich nicht, aus Angst, er könnte dann aufhören. Sie betrachtete ihn forschend, zergliederte ihn Stück für Stück, untersuchte seinen Schädel, wog seine Schultern, maß seine Brust. Das war entschieden ein starker Mann, der sie, so kräftig sie auch war, sich mit einem Handgriff auf den Rücken geworfen und sie ohne weiteres so hoch hinaufgetragen haben würde, wie sie gewollt hätte.
»Ach, der liebe Freund!« sagte sie plötzlich. »Was mich betrifft, ich habe nie gezweifelt!«
Sie hatte sich halb erhoben, hatte die Arme ausgebreitet und die Spitze zu Boden gleiten lassen. Nun kam sie wieder zum Vorschein, noch nackter, bot sich widerstandslos dar, ließ die Schultern mit einer so geschmeidigen Bewegung einer verliebten Katze aus der Gaze schlüpfen, daß sie aus dem Oberteil ihres Gewandes herauszuspringen schien. Es war eine jähe Vision, als gewähre sie Rougon eine Belohnung und ein Versprechen. Und war nicht nur das Stück Spitze herabgeglitten? Schon hob sie es auf, schlang es fester um sich.
»Pst!« flüsterte sie, »Luigi wird böse.«
Und sie lief zu dem Maler hin, beugte sich abermals über ihn und sprach, den Mund dicht an seinem Halse, sehr schnell auf ihn ein. Rougon rieb sich, als sie nicht mehr bebend vor Lebendigkeit bei ihm war, heftig die Hände, war nervös, beinahe ärgerlich. Sie rief bei ihm ein seltsames Prickeln auf der Haut hervor. Und er fluchte auf sie. Mit zwanzig Jahren hätte er sich nicht dümmer anstellen können. Sie hatte ihm soeben wie einem Kind Geständnisse entlockt, ihm, der seit zwei Monaten versuchte, sie zum Reden zu bringen, ohne ihr etwas anderes abzugewinnen als herzliches Gelächter. Sie hatte ihm nur einen Augenblick lang ihre Hände zu entziehen brauchen, und schon hatte er sich soweit vergessen, alles zu erzählen, damit sie sie ihm wieder reichte. Jetzt – das wurde ihm klar – würde sie ihn erobern; sie erwog wohl schon, ob es noch der Mühe lohne, ihn zu verführen.
Rougon lächelte mit der Überlegenheit eines starken Mannes. Er würde sie zerbrechen, wenn er es wollte. War nicht sie es, die ihn herausforderte? Und unredliche Gedanken stiegen in ihm auf, ein ganzer Verführungsplan, in dessen Verfolg er sie sitzenlassen würde, nachdem er sie besessen. Er konnte wahrlich nicht diesem erwachsenen Mädchen gegenüber, die in solcher Art ihre Schultern zeigte, die Rolle eines Einfaltspinsels spielen. Dennoch war er nicht mehr ganz sicher, ob die Spitze nicht von selber herabgeglitten war.
»Finden Sie, daß ich graue Augen habe?« fragte Clorinde, die wieder zu ihm kam.
Er stand auf, sah sie aus nächster Nähe an, ohne dadurch die klare Ruhe ihrer Augen zu trüben. Doch als er die Hände vorstreckte, gab sie ihm einen leichten Schlag. Es sei nicht nötig, daß er sie berühre. Sie war jetzt sehr kalt. Mit einer Schamhaftigkeit, die sich über die kleinsten Lücken beunruhigte, wickelte sie sich in ihren Spitzenlappen. Mochte er auch seinen Spott mit ihr treiben, sie necken, Miene machen, Gewalt zu gebrauchen, sie verhüllte sich nur um so mehr, stieß kleine Schreie aus, wenn er die Spitze streifte. Außerdem wollte sie sich nicht wieder hinsetzen.
»Ich möchte lieber ein bißchen gehen«, sagte sie, »das macht meine Beine gelenkig.«
Da begleitete er sie. Sie wanderten zusammen auf und ab. Er versuchte, ihr nun seinerseits Geständnisse zu entlocken. Für gewöhnlich antwortete sie nicht auf Fragen. Sie hatte eine Art, sprunghaft zu plaudern, unterbrochen von Ausrufen, untermischt mit Geschichtchen, die sie niemals zu Ende erzählte. Als er sie mit List über eine zweiwöchige Abwesenheit in Gesellschaft ihrer Mutter im Monat zuvor befragte, reihte sie eine nicht endende Folge von Anekdoten über diese Reisen aneinander. Sie sei überall gewesen, in England, Spanien, Deutschland; alles habe sie gesehen. Daran schloß sich ein Regen unwichtiger kindischer Beobachtungen über das Essen, die Moden, das jeweilige Wetter. Zuweilen begann sie etwas zu erzählen, wobei sie sich mit bekannten Persönlichkeiten, deren Namen sie anführte, in Szene setzte. Rougon spitzte die Ohren, glaubte, sie werde sich endlich eine vertrauliche Äußerung entfahren lassen; aber die Erzählung schlug in Kinderei um oder blieb wohl auch ohne Abschluß. Auch an diesem Tage erfuhr er nichts. Auf ihrem Gesicht lag das Lächeln, hinter dem sie sich verbarg. Sie blieb trotz all ihren geschwätzigen Ergüssen undurchdringlich.
Betäubt von diesen verwirrenden Mitteilungen, von denen die einen die anderen Lügen straften, wußte Rougon schließlich nicht mehr, ob er ein zwölfjähriges, bis zur Dummheit unschuldiges Mädelchen vor sich habe oder eine sehr gescheite Frau, die aus Raffinement zur Einfalt zurückgekehrt war.
Clorinde unterbrach sich in der Erzählung eines Abenteuers, das sie in einer kleinen spanischen Stadt erlebt hatte, wo sie das Bett, das ein Reisender ihr aus Ritterlichkeit angeboten, habe annehmen müssen, während er auf einem Stuhl schlief. »Sie sollten nicht in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie ohne jeden Übergang. »Man muß Sie dort vermissen.«
»Danke schön, Fräulein Machiavelli«, erwiderte er lachend.
Sie lachte lauter als er. Aber dennoch fuhr sie fort, ihm ausgezeichnete Ratschläge zu geben. Und als er wieder versuchte, sie wie im Spiel in den Arm zu kneifen, wurde sie böse, schrie, man könne keine zwei Minuten lang ernsthaft reden. Ach, wenn sie ein Mann wäre. Wie gut würde sie es verstehen, ihren Weg zu machen! Die Männer hatten so wenig Verstand!
»Kommen Sie, erzählen Sie mir die Lebensgeschichten Ihrer Freunde«, fing sie wieder an und setzte sich auf die Tischkante, während Rougon vor ihr stehen blieb.
Luigi, der den Blick nicht von ihnen wandte, schloß heftig seinen Malkasten.
»Ich gehe weg«, sagte er.
Aber Clorinde eilte auf ihn zu, holte ihn zurück, schwor, sie werde ihm gleich wieder Modell stehen. Sie mußte sich wohl davor fürchten, mit Rougon allein zu bleiben. Und als Luigi nachgab, versuchte sie Zeit zu gewinnen.
»Sie werden mich doch etwas essen lassen. Ich habe solchen Hunger! Ach, nur zwei Bissen.«
Sie öffnete die Tür und rief: »Antonia! Antonia!«
Und sie erteilte auf italienisch eine Anordnung. Kaum hatte sie sich wieder auf die Tischkante gesetzt, als Antonia eintrat, auf jeder Hand ein Butterbrot. Die Dienerin hielt sie ihr hin wie auf einem Tablett, mit dem ihr eigenen Lachen einer albernen Person, die man gerade kitzelt, einem Lachen, das ihren roten Mund in dem dunklen Gesicht aufriß. Dann ging sie, die Hände an ihrem Rock abwischend, hinaus. Clorinde rief sie zurück, um ein Glas Wasser zu verlangen.
»Wollen Sie mithalten?« fragte sie Rougon. »Butter ist etwas sehr Gutes. Manchmal streue ich Zucker darauf. Aber man darf nicht immer ein Leckermaul sein.«
Das war sie in der Tat nicht. Rougon hatte sie eines Morgens beim Frühstück überrascht, als sie im Begriff war, ein Stück kalten Eierkuchen vom Tage zuvor zu essen. Er verdächtigte sie des Geizes, eines italienischen Lasters.
»Drei Minuten, nicht wahr, Luigi?« rief sie, während sie in die erste Schnitte biß.
Und sich wieder Rougon zuwendend, der immer noch vor ihr stand, fragte sie: »Nun, was hat zum Beispiel Herr Kahn für eine Geschichte, wieso ist er Abgeordneter?«
In der Hoffnung, ihr irgendeine unfreiwillige Eröffnung abzunötigen, ließ Rougon bereitwillig dieses neue Verhör über sich ergehen.
Er wußte, daß sie sehr neugierig auf das Leben eines jeden war, die Ohren nach allen unvorsichtigen Äußerungen spitzte, unaufhörlich auf der Lauer lag nach den verwickelten Intrigen, von denen sie ständig umgeben war. Hochgestellte Leute interessierten sie besonders.
»Oh!« erwiderte er lachend, »Kahn ist als Abgeordneter geboren. Er muß bereits seine Zähne auf den Bänken des Abgeordnetenhauses bekommen haben. Unter LouisPhilippe saß er schon im rechten Flügel des Zentrums und unterstützte mit jugendlicher Leidenschaft die konstitutionelle Monarchie. Nach achtundvierzig ist er zum linken Flügel übergegangen, übrigens nach wie vor sehr leidenschaftlich; er hat in erhabenem Stil ein republikanisches Glaubensbekenntnis verfaßt. Jetzt ist er wieder zum rechten Flügel zurückgekehrt und verteidigt leidenschaftlich das Kaiserreich ... Außerdem ist er Sohn eines jüdischen Bankiers aus Bordeaux, steht einem Hochofenwerk bei Bressuire vor, hat sich zum Spezialisten für finanzielle und industrielle Fragen ausgebildet, lebt in Erwartung des Vermögens, das er eines Tages erwerben wird, recht mittelmäßig, wurde am letzten 15. August zum Offizier der Ehrenlegion befördert ...«
Und Rougon richtete den Blick ins Leere und überlegte.
»Ich habe, glaube ich, nichts vergessen ... Nein, Kinder hat er nicht ...«
»Wie? Er ist verheiratet?« rief Clorinde aus.
Sie deutete durch eine Handbewegung an, daß Herr Kahn sie nicht weiter interessiere. Das sei ein Duckmäuser; niemals habe er seine Frau vorgeführt. Darauf erklärte ihr Rougon, daß Frau Kahn sehr zurückgezogen in Paris lebe. Und dann begann er, ohne eine Frage abzuwarten, von neuem: »Wünschen Sie jetzt den Lebenslauf Béjuins?«
»Nein, nein«, sagte das junge Mädchen.
Aber er fuhr dennoch fort: »Er ist aus der Ecole polytechnique30 hervorgegangen. Er hat Broschüren geschrieben, die kein Mensch gelesen hat. Er leitet die Kristallfabrik in SaintFlorent, drei Meilen von Bourges ... Entdeckt hat ihn der Präfekt31 des Departements Cher ...«
»Hören Sie doch auf!« schrie sie.
»Ein würdiger Mann, der richtig wählt, niemals redet, sehr geduldig wartet, bis man an ihn denkt, immer da ist und einen ansieht, damit man ihn nicht vergißt ... Ich habe ihn zum Ritter der Ehrenlegion ernennen lassen ...«
Sie mußte ihm den Mund zuhalten; ärgerlich geworden, sagte sie: »Ach, der ist auch verheiratet! Er ist langweilig ... Ich habe bei Ihnen seine Frau gesehen, ein Trampel! Sie hat mich aufgefordert, ihre Kristallfabrik bei Bourges zu besichtigen.«
Sie steckte den Rest ihrer ersten Brotschnitte mit einmal in den Mund. Dann trank sie einen großen Schluck Wasser. Ihre Beine hingen von der Tischkante herunter, und ein wenig zusammengesunken, den Hals zurückgebogen, baumelte sie mit ihnen in einer mechanischen Bewegung, deren Rhythmus Rougon genau verfolgte. Bei jedem Hin und Herschlenkern schwollen die Waden unter der Gaze an.
»Und Herr Du Poizat?« fragte sie nach einer Pause.
»Du Poizat war Unterpräfekt«, antwortete er nur.
Erstaunt über die Kürze der Geschichte, sah sie ihn an. »Ich weiß wohl«, sagte sie. »Was weiter?«
»Weiter wird er später Präfekt werden, und dann wird er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.«
Sie begriff, daß er nicht mehr darüber sagen wollte. Außerdem hatte sie den Namen Du Poizat beiläufig hingeworfen. Jetzt zählte sie die Herren an den Fingern her. Beim Daumen beginnend, murmelte sie: »Herr d'Escorailles: der ist nicht ernst zu nehmen, er liebt alle Frauen ... Herr La Rouquette: überflüssig, den kenne ich zu gut ... Herr de Combelot: noch ein Verheirateter ...«
Und als sie beim Ringfinger haltmachte, da ihr niemand mehr einfiel, sah Herr Rougon sie fest an und sagte: »Sie vergessen Delestang.«
»Da haben Sie recht!« rief sie. »Erzählen Sie mir also von dem?«
»Das ist ein schöner Mann«, erklärte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Er ist sehr reich. Ich habe ihm stets eine große Zukunft prophezeit.«
In dieser Tonart fuhr er fort, übertrieb die Lobsprüche, verdoppelte die Summen. Das Mustergut La Chamade sei zwei Millionen wert. Delestang werde bestimmt eines Tages Minister. Aber Clorinde behielt einen geringschätzigen Zug um den Mund.
»Er ist sehr dumm«, murmelte sie schließlich.
»Sieh da!« sagte Rougon mit einem verschlagenen Lächeln. Er schien von dem Ausspruch, den sie sich hatte entschlüpfen lassen, entzückt zu sein.
Dann stellte sie mit einem jener jähen Sprünge, an die er schon gewöhnt war, eine neue Frage, wobei sie ihn nun ihrerseits fest ansah.
»Herrn de Marsy kennen Sie ja wohl sehr genau?«
»Ja, ja, wir kennen einander«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken, als ergötze ihn das, was sie ihn da fragte, noch mehr.
Doch er wurde wieder ernst. Er wurde sehr würdevoll, sehr gerecht.
»Das ist ein Mann von ungewöhnlichem Verstand«, behauptete er. »Ich rechne es mir zur Ehre an, ihn zum Feind zu haben ... Er hat sich mit allem befaßt. Mit achtundzwanzig Jahren war er Oberst. Später begegnete man ihm als Leiter einer großen Fabrik. Dann hat er sich nacheinander mit Landwirtschaft, Finanzen und Handel beschäftigt. Man behauptet sogar, er habe Porträts gemalt und Romane geschrieben.«
Clorinde vergaß zu essen; sie war ins Träumen geraten.
»Ich habe neulich abends mit ihm geplaudert«, sagte sie leise. »Das ist ein Prachtkerl ... Er ist eben der Sohn einer Königin32.«
»Meiner Ansicht nach«, fuhr Rougon fort, »schadet es ihm, daß er so geistreich ist. Ich habe eine andere Vorstellung von Kraft. Ich habe ihn unter sehr ernsten Umständen mit Wortspielen witzeln hören. Immerhin, er hat es zu etwas gebracht, er regiert nicht weniger als der Kaiser. All diese Bastarde haben Glück! – Das Persönlichste an ihm ist sein schneidiges Vorgehen, eine eiserne Hand, kühn, entschlossen, sehr zart und dennoch sehr schlagfertig.«
Unwillkürlich hatte das junge Mädchen den Blick auf die groben Hände Rougons gesenkt. Er merkte es und sagte lächelnd: »Oh, ich habe Pranken, nicht wahr? Deshalb haben Marsy und ich einander nie verstanden. Er säbelt die Leute elegant nieder, ohne seine weißen Handschuhe zu beflecken. Ich – erschlage sie.«
Er hatte die Fäuste geballt, fleischige Fäuste mit behaarten Fingergliedern, und er schüttelte sie, froh über ihre ungeheure Größe.
Clorinde griff nach dem zweiten Butterbrot, in das sie, immer noch verträumt, die Zähne grub. Endlich hob sie die Augen zu Rougon auf.
»Nun, und Sie?« fragte sie.
»Meine Geschichte wollen Sie wissen?« sagte er. »Nichts ist leichter erzählt. Mein Großvater verkaufte Gemüse, ich selber habe bis zu meinem achtunddreißigsten Jahr als kleiner Advokat meine abgetragenen Schuhe durch meine heimatliche Kleinstadt geschleift. Gestern war ich noch ein Unbekannter. Ich habe nicht, wie unser Freund Kahn, meine Schultern damit abgenützt, sämtliche Regierungen zu stützen. Ich bin nicht, wie Béjuin, aus der Ecole polytechnique hervorgegangen. Ich laufe weder mit dem schönen Namen des kleinen Escorailles noch mit der schönen Gestalt dieses armen Combelot herum. Ich habe keine so angesehenen Verwandten wie La Rouquette, der seinen Abgeordnetensitz seiner Schwester verdankt, der Witwe des Generals de Llorentz, die heute Palastdame ist. Mein Vater hat mir nicht, wie es Delestang geschah, ein im Weinhandel erworbenes Vermögen von fünf Millionen hinterlassen. Ich bin nicht, wie der Graf de Marsy, auf den Stufen eines Throns geboren und bin nicht, am Rock einer gelehrten Frau hängend, unter den Liebkosungen Talleyrands33 aufgewachsen. Nein, ich bin ein neuer Mann, ich habe nichts als meine Fäuste ...«
Und laut lachend schlug er, die Sache ins Scherzhafte ziehend, seine Fäuste aneinander. Aber er hatte sich hoch aufgerichtet, er schien zwischen seinen geschlossenen Fingern Steine zu zermalmen. Clorinde bewunderte ihn.
»Ich war nichts; jetzt werde ich sein, was mir gefällt«, fuhr er fort, alles um sich her vergessend, nur für sich selber redend. »Ich bin eine Macht. Und ich kann nur die Schultern zucken über die andern, wenn sie sich auf ihre Ergebenheit für das Kaiserreich berufen! Lieben sie es etwa? Haben sie es im Gefühl? Würden sie sich nicht allen Regierungsformen anpassen? Ich bin mit dem Kaiserreich groß geworden; ich habe es geschaffen, und es hat mich geschaffen ... Ich wurde nach dem 10. Dezember34 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, zum Offizier im Januar 1852, zum Kommandeur am 15. August 1854, zum Großoffizier vor drei Monaten. Unter der Präsidentschaft war ich für kurze Zeit Minister für öffentliche Arbeiten; später hat mich der Kaiser mit einer Mission in England beauftragt; dann bin ich in den Staatsrat eingezogen und in den Senat ...«
»Und wo werden Sie morgen einziehen?« fragte Clorinde mit einem Lachen, hinter dem sie ihre brennende Neugier zu verbergen trachtete.
Er sah sie an, brach jäh ab.
»Sie sind recht neugierig, Fräulein Machiavelli«, sagte er. Da baumelte sie noch heftiger mit den Beinen. Eine Pause entstand. Als Rougon sie abermals in tiefe Träumerei versunken sah, hielt er den Augenblick für günstig, um etwas aus ihr herauszulocken.
»Die Frauen ...«, begann er.
Doch sie unterbrach ihn; mit verschleiertem Blick, leicht ihren Gedanken zulächelnd, sprach sie halblaut: »Oh, die Frauen haben anderes.«
Das war ihr einziges Geständnis. Sie aß ihr Butterbrot auf, leerte in einem Zuge das Glas klaren Wassers und stand mit einem Sprung, der von ihrer Reitergeschicklichkeit zeugte, auf dem Tisch.
»Also Luigi!« rief sie.
Der Maler hatte sich, vor Ungeduld auf seinem Schnurrbart kauend, seit einem Weilchen erhoben und war um sie und Rougon herumgetrappelt. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder, griff nach seiner Palette. Aus den drei Minuten Gnadenfrist, die Clorinde erbeten hatte, war eine Viertelstunde geworden. Jetzt aber stand sie, immer noch in das Stück schwarze Spitze gehüllt, auf dem Tisch. Als sie dann wieder in ihre Stellung zurückgefunden hatte, entblößte sie sich mit einer einzigen Bewegung. Sie wurde wieder zum Marmorbild, sie empfand keine Scham mehr.
In den ChampsElysées rollten die Wagen spärlicher. Die sinkende Sonne füllte die Avenue mit einem Geflimmer, das die Bäume bestäubte, als hätten die Räder diese Wolke rotgelben Lichts aufgewirbelt. In dem durch die hohen Fenster fallenden Tagesschein wurden Clorindes Schultern von goldenen Reflexen überspielt. Und allmählich verblich der Himmel.
»Ist die Heirat des Herrn de Marsy mit jener walachischen Fürstin noch immer beschlossen?« fragte sie nach einer kleinen Weile.
»Ich denke doch«, antwortete Rougon. »Sie ist ungeheuer reich. Marsy fehlt es stets an Geld. Übrigens erzählt man, er sei in sie vernarrt.«
Die Stille wurde nicht mehr gestört. Rougon blieb, fühlte sich wie zu Hause, dachte nicht mehr daran, fortzugehen. Er überlegte, nahm sein Umherwandern wieder auf. Diese Clorinde war wirklich ein sehr verführerisches Mädchen. Er dachte so an sie, als habe er sie schon seit langem verlassen; und die Augen aufs Parkett geheftet, versank er in undeutliche Gedanken, sehr angenehme Gedanken, deren inneres Prickeln ihm Genuß bereitete. Es kam ihm vor, als entsteige er mit einer köstlichen Mattigkeit der Glieder einem lauen Bad. Ein eigentümlicher Duft von fast zuckriger Strenge drang auf ihn ein. Er hätte sich gern auf eines der Kanapees gelegt, um dort in diesem Duft einzuschlafen.
Er wurde jäh durch den Laut von Stimmen aufgeschreckt. Ein hochgewachsener Greis, den er nicht hatte eintreten sehen, küßte Clorinde, die sich lächelnd über den Rand des Tisches hinabbeugte, auf die Stirn.
»Guten Tag, meine Kleine«, sagte er. »Wie schön du bist! Du zeigst wohl alles, was du hast?«
Er grinste ein wenig, und als Clorinde verwirrt ihr Stück schwarze Spitze aufraffte, meinte er lebhaft: »Nein, nein, es ist sehr hübsch so, du kannst alles sehen lassen, glaub's nur! – Ach, mein armes Kind, ich habe ganz andere gesehen!«
Dann wandte er sich zu Rougon um, den er mit »lieber Kollege« ansprach, drückte ihm die Hand und fügte hinzu: »Ein wildes Mädelchen, das sich, als sie noch klein war, mehr als einmal auf meinen Knien vergessen hat! Jetzt hat sie einen Busen, der einen geradezu blendet!«
Es war der alte Herr de Plouguern. Er zählte siebzig Jahre. Unter LouisPhilippe vom Departement Finistère in die Kammer entsandt, gehörte er zu den legitimistischen Abgeordneten, welche die Wallfahrt zum Belgrave Square35 machten; und anschließend an die entehrende Abstimmung, von der seine Gefährten und er überrascht wurden, reichte er seinen Rücktritt ein. Später, nach den Februartagen, bekundete er seine plötzliche Liebe zur Republik, der er auf den Bänken der Verfassunggebenden Versammlung kräftig Beifall zollte. Jetzt war er, seit ihm der Kaiser im Senat eine wohlverdiente Zuflucht gesichert hatte, Bonapartist. Nur verstand er sich darauf, es als Edelmann zu sein. Seine große Unterwürfigkeit gestattete sich zuweilen den Reiz eines Anflugs von Opposition. Undankbarkeit ergötzte ihn. Skeptiker bis ins Mark, verteidigte er dennoch Religion und Familie. Er glaubte, das seinem Namen, einem der glänzendsten der Bretagne, schuldig zu sein. An manchen Tagen fand er das Kaiserreich unmoralisch und sprach das ganz laut aus. Er selber hatte sehr ausschweifend, sehr erfinderisch und die Genüsse verfeinernd, ein Leben voll anrüchiger Abenteuer geführt; man erzählte trotz seiner Jahre Geschichten von ihm, die in den jungen Leuten Träume weckten. Auf einer Reise durch Italien hatte er die Gräfin Balbi kennengelernt, deren Liebhaber er fast dreißig Jahre lang blieb; nach jahrelangen Trennungen taten sie sich in den Städten, wo sie einander zufällig trafen, für drei Nächte wieder zusammen. Es wurde erzählt, Clorinde sei seine Tochter; aber weder er noch die Gräfin wußten zuverlässig etwas davon, und seit das Kind zu einer fülligen und begehrenswerten Frau heranwuchs, betonte er, daß er früher viel mit ihrem Vater verkehrt habe. Er blickte sie mit seinen noch immer funkelnden Augen zärtlich an und erlaubte sich bei ihr sehr freie Vertraulichkeiten eines alten Freundes.
Herr de Plouguern, groß, dürr und knochig, hatte Ähnlichkeit mit Voltaire, den er insgeheim verehrte.
»Pate, siehst du dir mein Porträt nicht an?« rief Clorinde.
Sie nannte ihn aus Anhänglichkeit Pate. Er war hinter Luigi getreten und blinzelte kennerhaft.
»Köstlich!« murmelte er.
Rougon kam näher heran, und Clorinde selber sprang vom Tisch, um das Bild zu betrachten. Und alle drei wollten vor Entzücken vergehen. Die Malerei war sehr sauber. Der Künstler hatte bereits die ganze Leinwand mit einer leichten, durchsichtigen Farbschicht in Rosa, Blau und Gelb bedeckt, die den blassen Schimmer eines Aquarells hatte. Und das Gesicht lächelte mit einer hübschen Puppenmiene, mit seinen geschwungenen Lippen, den an den Enden aufwärtsgebogenen Brauen, den von zartem Zinnoberrot überhauchten Wangen. Es war eine Diana wie für den Deckel einer Konfektdose.
»Oh, sehen Sie doch, dort neben dem Auge das kleine Leberfleckchen«, sagte Clorinde, vor Bewunderung in die Hände klatschend. »Dieser Luigi, nichts vergißt er!«
Rougon, den Gemälde in der Regel langweilten, war hingerissen. In diesem Augenblick begriff er die Kunst. In sehr überzeugtem Ton gab er das Urteil ab: »Das ist vortrefflich gezeichnet.«
»Und die Farbgebung ist hervorragend«, sagte Herr de Plouguern. »Diese Schultern sind wirkliches Fleisch ... Sehr reizend die Brüste. Besonders die linke ist frisch wie eine Rose ... Ah, welche Arme! Diese Kleine hat erstaunliche Arme! Besonders gefällt mir die Schwellung über der Ellbogenbeuge; das ist vollendet herausmodelliert.«
Und zum Maler gewandt, fügte er hinzu: »Herr Pozzo, mein höchstes Kompliment. Ich habe schon eine ›Badende‹ von Ihnen gesehen. Aber dieses Porträt wird noch bedeutender ... Weshalb stellen Sie nicht aus? Ich kannte einen Diplomaten, der wunderbar Geige spielte; das hat ihn nicht gehindert, erfolgreich seinen Weg zu machen.«
Luigi, sehr geschmeichelt, verbeugte sich. Inzwischen nahm das Tageslicht ab, und da er, wie er sagte, ein Ohr noch fertigmalen wollte, bat er Clorinde, ihre Stellung für längstens zehn Minuten nochmals einzunehmen.
Herr de Plouguern und Rougon fuhren fort, sich über Malerei zu unterhalten. Letzterer gestand, daß ihn Spezialstudien davon abgehalten hätten, die Entwicklung der Kunst während der letzten Jahre zu verfolgen; aber er betonte nachdrücklich seine Bewunderung für schöne Werke. Er kam darauf zu sprechen, daß die Farbe ihn ziemlich kaltlasse; eine schöne Zeichnung befriedige ihn vollkommen, eine Zeichnung, die imstande sei, die Seele zu erheben und große Gedanken einzuflößen. Was Herrn de Plouguern anlangte, so liebte dieser nur die Alten; er habe alle Museen Europas besucht, er verstehe nicht, wie man so kühn sein könne, sich noch ans Malen zu wagen. Dennoch habe er im vergangenen Monat von einem Künstler, den niemand kenne und der wirklich viel Talent besitze, einen kleinen Salon ausschmücken lassen.
»Er hat mir Amoretten, Blumen, Laubwerk ganz ausgezeichnet gemalt«, sagte er. »Tatsächlich glaubt man, die Blumen pflücken zu können. Und es gibt da Insekten, Schmetterlinge, Fliegen, Maikäfer, die man für lebend halten könnte. Kurz, das Ganze ist sehr heiter ... Ich liebe die heitere Malerei.«
»Die Kunst ist nicht zum Langweilen da«, meinte Rougon abschließend.
In diesem Augenblick, wie sie so nebeneinander gemächlich umhergingen, zerdrückte Herr de Plouguern unter dem Absatz seines Halbstiefels irgend etwas, das mit dem leichten Geräusch einer Knallerbse zersprang.
»Was ist denn das?« rief er.
Er hob einen Rosenkranz auf, der von einem Sessel geglitten war, auf den Clorinde wohl ihre Taschen entleert hatte. Eine der Glasperlen dicht beim Kreuz war zu Pulver zermalmt; am Kreuz selber, einem winzigen silbernen Kreuz, war einer der Arme umgebogen und plattgedrückt. Der Greis schwenkte den Rosenkranz mit höhnischem Lächeln und sagte: »Kleine, weshalb läßt du denn dieses Spielzeug herumliegen?«
Aber Clorinde war purpurrot geworden. Mit aufgeworfenen Lippen und vor Zorn getrübten Augen sprang sie mit einem Satz vom Tisch, verhüllte eilig ihre Schultern, stammelte: »Der Rose! Der Rose! Er hat meinen Rosenkranz kaputtgemacht!«
Und sie entriß ihm den Rosenkranz. Sie weinte wie ein Kind.
»Na, na«, sagte Herr de Plouguern, noch immer lachend. »Sieh einer meine Betschwester an! Neulich morgens hat sie mir fast die Augen ausgekratzt, weil ich sie, als ich hinten in ihrem Alkoven einen Palmzweig entdeckte, gefragt habe, was sie denn mit dem kleinen Besen da fege ... Weine doch nicht mehr, kleines Schaf! Ich habe dem lieben Gott nichts gebrochen.«
»Doch, doch«, schrie sie. »Sie haben ihm weh getan.«
Sie duzte ihn nicht mehr. Mit zitternden Händen entfernte sie den Rest der Glasperle. Dann wollte sie unter verstärktem Schluchzen das Kreuz in Ordnung bringen. Sie wischte es mit den Fingerspitzen ab, als habe sie Blutstropfen auf seinem Metall perlen sehen. Sie flüsterte: »Der Papst hat ihn mir geschenkt, als ich ihn zum erstenmal mit Mama besuchte. Er kennt mich gut, der Papst; er nennt mich ›seinen schönen Apostel‹, weil ich ihm eines Tages gesagt habe, daß ich gern für ihn sterben würde ... Ein Rosenkranz, der mir Glück brachte. Jetzt wird er keine Kraft zum Guten mehr haben, er wird den Teufel herbeiziehen ...«
»Komm, gib ihn her«, fiel ihr Herr de Plouguern ins Wort. »Du wirst dir die Fingernägel verderben, wenn du das in Ordnung bringen willst ... Silber ist hart, meine Kleine.«
Er hatte den Rosenkranz wieder an sich genommen, er versuchte, den Querbalken des Kreuzes geradezubiegen, behutsam, um es nicht zu zerbrechen. Clorinde weinte nicht mehr, mit starren Augen sah sie ihm gespannt zu. Auch Rougon streckte mit einem Lächeln den Kopf vor; er war von einer erbärmlichen Ungläubigkeit, in einem solchen Maße, daß das junge Mädchen schon zweimal nahe daran gewesen war, wegen unangebrachter Scherze mit ihm zu brechen.
»Donnerwetter«, sagte Herr de Plouguern halblaut, »weich ist er nicht, dein lieber Gott! Ich habe nur Angst, ihn mitten entzweizubrechen ... Du sollst deinen lieben Gott ersetzt bekommen, Kleine.«
Er machte einen neuen Versuch, das Kreuz brach glattweg durch.
»Ach, das tut mir leid!« rief er aus. »Diesmal ist es entzweigegangen.«
Rougon hatte zu lachen begonnen. Da wich Clorinde mit tiefschwarzen Augen und verzerrtem Gesicht zurück, sah die beiden starr an, stieß sie dann mit geballten Fäusten wütend weg, als wolle sie sie zur Tür hinauswerfen. Wie von Sinnen beschimpfte sie sie auf italienisch.
»Sie schlägt uns, sie schlägt uns«, sagte Herr de Plouguern fröhlich.
»Da sieht man die Früchte des Aberglaubens«, stieß Rougon zwischen den Zähnen hervor.
Der Greis hörte auf zu scherzen, zeigte plötzlich eine ernste Miene; und als der große Mann fortfuhr, lauter hergebrachte Redensarten über den verabscheuungswürdigen Einfluß des Klerus, über die erbärmliche Erziehung der katholischen Frauen, über den Niedergang des den Priestern ausgelieferten Italiens vorzubringen, erklärte er mit schroffer Stimme: »Die Religion bewirkt die Größe der Staaten.«
»Wenn sie die Staaten nicht wie ein Geschwür zerfrißt«, erwiderte Rougon. »So steht die Sache. Wenn der Kaiser die Bischöfe nicht in Schach hält, wird er es bald mit ihnen allen zu tun kriegen.«
Da wurde Herr de Plouguern seinerseits ärgerlich. Er verteidigte Rom. Er sprach von den Überzeugungen seines ganzen Lebens. Ohne Religion würden die Menschen in den Zustand wilder Tiere zurücksinken. Und er ging dazu über, die große Sache der Familie zu verteidigen. Die gegenwärtige Epoche nehme eine Wendung zum Grundschlechten; noch nie habe sich das Laster schamloser zur Schau gestellt, noch nie habe die Ruchlosigkeit solche Verwirrung in den Gewissen angerichtet.
»Reden Sie mir nicht von Ihrem Kaiserreich«, rief er schließlich. »Es ist ein Bastard der Revolution ... Oh, wir wissen Bescheid, Ihr Kaiserreich träumt von der Demütigung der Kirche. Aber wir sind auch noch da, wir werden uns nicht wie Hammel abschlachten lassen ... Machen Sie nur mal einen kleinen Versuch, mein lieber Herr Rougon, Ihre Ansichten im Senat einzugestehen.«
»Ach, antworten Sie ihm nicht mehr«, sagte Clorinde. »Wenn Sie ihn reizen, wird er schließlich noch Christus anspucken. Er ist ein Verdammter.«
Rougon gab sich besiegt, er verbeugte sich. Es entstand eine Pause. Das junge Mädchen suchte auf dem Parkett das kleine vom Kreuz abgebrochene Stück; als sie es gefunden hatte, wickelte sie es mit dem Rosenkranz zusammen sorgfältig in ein Stück Zeitung. Sie beruhigte sich.
»Hör mal, Herzchen«, begann plötzlich Herr de Plouguern, »ich habe dir noch nicht erzählt, weshalb ich hier heraufgekommen bin. Ich habe für heute abend eine Loge im PalaisRoyal36, und ich nehme dich mit.«
»Dieser Pate!« rief Clorinde aus, vor Vergnügen wieder ganz rosig geworden. »Man muß Mama wecken.«
Und sie küßte ihn, »zur Belohnung«, wie sie sagte. Lächelnd, mit ausgestreckter Hand, wandte sie sich Rougon zu und sagte mit einem köstlichen Schmollgesicht: »Sie sind mir doch nicht böse? Bringen Sie mich also nicht wieder zum Rasen mit Ihren heidnischen Ideen ... Ich werde ganz dämlich, wenn man mich mit der Religion neckt. Ich könnte meine besten Freundschaften in Gefahr bringen.«
Luigi, der einsah, daß er das Ohr an diesem Tage nicht mehr fertigmalen konnte, hatte unterdessen seine Staffelei in eine Ecke geschoben. Er griff nach seinem Hut, kam und berührte das junge Mädchen an der Schulter, um sie darauf aufmerksam zu machen, daß er weggehe. Und sie begleitete ihn bis zum Treppenabsatz, sie selber zog die Tür hinter sich und ihm zu; aber sie verabschiedeten sich so geräuschvoll voneinander, daß man einen leichten Schrei Clorindes vernahm, der sich in einem unterdrückten Lachen verlor. Als sie wieder ins Zimmer trat, sagte sie: »Ich gehe mich umziehen, es sei denn, der Pate will mich so ins PalaisRoyal mitnehmen.« Und alle drei amüsierten sich über diesen Einfall. Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Als Rougon aufbrach, ging Clorinde mit ihm hinunter und ließ Herrn de Plouguern für einen Augenblick allein, so lange wie sie brauchte, um ein Kleid anzuziehen. Im Treppenhaus war es schon völlig dunkel. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie so langsam voraus, daß er die leise Berührung ihres Gazeüberwurfes an seinen Knien spürte. Als sie dann vor der Tür ihres Schlafzimmers angelangt war, trat sie ein; sie machte zwei Schritte, bevor sie sich umwandte ... Er war ihr gefolgt. Dort erhellten die zwei Fenster das ungemachte Bett, die stehengebliebene Waschschüssel, die noch immer auf dem Haufen Kleidungsstücke schlafende Katze mit einem bleichen Schimmer.
»Sie sind mir nicht böse?« wiederholte sie mit fast flüsternder Stimme, wobei sie ihm die Hände hinstreckte.
Er schwor, es nicht zu sein. Er hatte ihre Hände ergriffen, ließ die seinen an ihren Armen bis über die Ellbogen hinaufgleiten, wobei er sich vorsichtig unter der schwarzen Spitze vorwärtstastete, damit seine plumpen Finger weiter gelangten, ohne etwas zu zerreißen. Sie hob die Arme ein wenig, als wünsche sie, ihm diese Bemühung zu erleichtern. Sie standen im Schatten des Wandschirms, keiner sah das Gesicht des anderen. Und in diesem Zimmer, dessen dumpfe Luft ihm das Atmen erschwerte, verspürte er wieder jenen Duft von fast zuckriger Schärfe, der ihn schon zuvor berauscht hatte. Doch sobald er über ihre Ellbogen hinaufgelangt war und seine Hände brutal wurden, fühlte er, wie sich Clorinde ihm entzog, und er hörte sie durch die hinter ihnen offengebliebene Tür rufen: »Antonia! Licht, und bringen Sie mir mein graues Kleid.«
Als sich Rougon wieder auf der Avenue des ChampsElysées befand, blieb er einen Augenblick wie betäubt stehen und atmete die frische Luft ein, die von der Höhe des ArcdeTriomphe heranwehte. Die Avenue, durch die jetzt keine Wagen mehr fuhren, ließ eine nach der anderen ihre Gasflammen aufleuchten, deren plötzliche Helligkeit das Dunkel mit einem Lauffeuer funkelnder Sterne tüpfelte. Ihm war, als habe er soeben einen Blutsturz gehabt, er strich sich mit den Händen übers Gesicht.
»Ach nein«, sagte er ganz laut, »das wäre zu dumm!«