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Drittes Kapitel
ОглавлениеGleich beim Fisch – Rochen von zweifelhafter Frische mit brauner Butter, den Adèle, diese Pfuscherin, in einer Woge von Essig ertränkt hatte – ermunterten Hortense und Berthe Onkel Bachelard, der zwischen ihnen saß, zum Trinken, schenkten abwechselnd sein Glas voll und sagten immer wieder: »Es ist dein Namenstag, so trink doch! Auf dein Wohl, Onkel!«
Sie hatten das Komplott geschmiedet, sich zwanzig Francs schenken zu lassen. Jedes Jahr setzte ihre vorsorgliche Mutter so ihren Bruder zwischen die beiden und lieferte ihn ihnen aus. Aber es war ein hartes Stück Arbeit, das die ganze Gier zweier Mädchen erforderte, denen Träume von Louis-Quinze-Schuhen13 und fünfknöpfigen Handschuhen zusetzten. Damit der Onkel die zwanzig Francs herausrückte, mußte er völlig blau sein. Innerhalb der Familie war er von wildem Geiz, während er außerhalb auf wüsten Gelagen die achtzigtausend Francs verpraßte, die er jährlich beim Kommissionsgeschäft verdiente. Glücklicherweise war er an diesem Abend bereits angetrunken eingetroffen, weil er den Nachmittag bei einer Färberin im Faubourg Montmartre verbracht hatte, die sich für ihn Wermut aus Marseille schicken ließ. »Auf euer Wohl, meine Kätzchen!« erwiderte er jedesmal mit seiner polternden, teigigen Stimme und leerte sein Glas.
Er war geradezu mit Juwelen bedeckt, hatte eine Rose im Knopfloch und nahm die Mitte der Tafel ein, wirkte gewaltig in seiner Stattlichkeit eines ausschweifenden und großmäuligen Geschäftsmanns, der sich in allen Lastern gewälzt hat. Seine falschen Zähne erhellten sein verwüstetes Gesicht, dessen große rote Nase unter dem schneeigen Käppchen seines kurzgeschnittenen Haars aufloderte, mit allzu grellem Weiß; und von Zeit zu Zeit fielen seine Lider von selbst über seine matten und trüben Augen herab. Gueulin, der Sohn einer Schwester seiner Frau, pflegte zu versichern, der Onkel sei in den zehn Jahren, die er Witwer sei, nicht nüchtern geworden.
»Narcisse, ein wenig Rochen, er ist ausgezeichnet«, sagte Frau Josserand, die angesichts der Trunkenheit ihres Bruders lächelte, obgleich sich ihr im Grunde dabei der Magen umdrehte.
Sie saß ihm gegenüber, zu ihrer Linken hatte sie den kleinen Gueulin und zu ihrer Rechten einen jungen Mann, Hector Trublot, dem gegenüber sie sich revanchieren mußte. Gewöhnlich benutzte sie dieses Familienessen dazu, gewisse Einladungen hinter sich zu bringen; und so kam es, daß auch eine im Hause wohnende Dame, Frau Juzeur, anwesend war, die neben Herrn Josserand saß. Da der Onkel sich übrigens bei Tisch sehr schlecht aufzuführen pflegte, so daß man schon sein Vermögen berücksichtigen mußte, um ihn ohne Ekel ertragen zu können, zeigte sie ihn nur vertrauten Freunden oder solchen Leuten, denen hinfort noch länger Sand in die Augen zu streuen sie für unnötig erachtete. So hatte sie zum Beispiel eine Weile an den jungen Trublot als Schwiegersohn gedacht, der zur Zeit – so lange, bis sein Vater, ein reicher Mann, ihm eine Geschäftsbeteiligung kaufte – bei einem Börsenmakler angestellt war; da Trublot aber einen stillen Haß auf die Ehe bekundet hatte, tat sie sich ihm gegenüber keinen Zwang mehr an, sie setzte ihn sogar neben Saturnin, der niemals hatte sauber essen können. Berthe, die stets an der Seite ihres Bruders saß, hatte den Auftrag, ihn mit einem Blick in Zaum zu halten, wenn er mit den Fingern allzusehr in der Sauce herumfuhr.
Nach dem Fisch erschien eine fette Pastete, und die Töchter des Hauses hielten den Augenblick für gekommen, den Angriff zu beginnen.
»So trink doch, Onkel!« sagte Hortense. »Es ist ja dein Namenstag ... Läßt du nichts springen zu deinem Namenstag?«
»Ach ja, richtig«, setzte Berthe mit unbefangener Miene hinzu. »An seinem Namenstag läßt man doch was springen ... Du wirst uns zwanzig Francs schenken.«
Als Bachelard von Geld reden hörte, stellte er sich auf einmal noch betrunkener. Das war seine gewohnte Bosheit: seine Augenlider fielen herab, er spielte den Blöden.
»He, was?« lallte er.
»Zwanzig Francs, du weißt doch, was zwanzig Francs sind, stell dich nicht dumm«, erwiderte Berthe. »Schenk uns zwanzig Francs, und wir haben dich lieb, oh, wir haben dich ganz mächtig lieb!«
Sie waren ihm um den Hals gefallen, überschütteten ihn verschwenderisch mit Kosenamen, küßten sein glühendes Gesicht ohne Widerwillen vor dem gemeinen Geruch nach ausschweifendem Leben, den er ausströmte.
Herr Josserand, den dieser ständige Dunst von Absinth, Tabak und Moschus störte, wurde von Empörung erfaßt, als er sah, wie sich der jungfräuliche Liebreiz seiner Töchter an all dem Scheußlichen rieb, das sich der Onkel auf allen Bürgersteigen aufgelesen hatte.
»Laßt ihn doch sein!« rief er.
»Warum denn?« sagte Frau Josserand, die ihrem Gatten einen fürchterlichen Blick zuschleuderte. »Sie amüsieren sich ... wenn Narcisse ihnen zwanzig Francs schenken will, so steht es ihm doch frei.«
»Herr Bachelard ist so gut zu ihnen!« murmelte die kleine Frau Juzeur gefälligerweise.
Aber der Onkel sträubte sich, tat noch stumpfsinniger, und den Mund voller Speichel, sagte er immer wieder: »Das ist drollig ... Keine Ahnung, Ehrenwort! Keine Ahnung ...«
Da wechselten Hortense und Berthe einen Blick und ließen von ihm ab. Zweifellos hatte er noch nicht genug getrunken. Und mit dem Gelächter von Dirnen, die einen Mann ausnehmen wollen, machten sie sich wiederum daran, sein Glas vollzuschenken. Ihre nackten Arme, die von anbetungswürdiger jugendlicher Fülle waren, fuhren alle paar Minuten unter die große flammende Nase des Onkels.
Unterdessen blickte Trublot als schweigsamer Bursche, der sich seine Vergnügungen allein zu verschaffen pflegte, Adèle nach, während diese schwerfällig hinter den Gästen hin und her ging. Er war sehr kurzsichtig, und so wie er sie sah, war sie hübsch mit ihren ausgeprägten Zügen einer Bretonin und ihrem Haar, das eine Farbe hatte wie schmutziger Hanf. Gerade als sie den Braten auftrug, ein in der Kasserolle geschmortes Stück Kalbfleisch, legte sie sich halb über seine Schulter, um die Mitte des Tisches erreichen zu können; und während er so tat, als wolle er seine Serviette aufheben, kniff er sie kräftig in die Wade. Das Dienstmädchen schaute ihn verständnislos an, als hätte er sie um Brot gebeten.
»Was gibtʼs?« fragte Frau Josserand. »Hat sie Sie gestoßen, Herr Trublot? Oh, dieses Mädchen! Sie ist von einer Ungeschicklichkeit! Aber das ist nun mal nicht anders. Die ist noch ganz neu, die muß erst herangebildet werden.«
»Allerdings; es ist weiter nicht schlimm«, erwiderte Trublot, der seinen starken, schwarzen Bart mit der Gelassenheit eines jungen indischen Gottes kraulte.
Die Unterhaltung wurde lebhafter in diesem Eßzimmer, das zuerst eisig war und nach und nach vom Geruch der Speisen erwärmt wurde.
Frau Juzeur vertraute Herrn Josserand wieder einmal die Traurigkeiten ihres dreißigjährigen einsamen Lebens an. Sie hob die Augen gen Himmel, sie begnügte sich mit der folgenden taktvollen Anspielung auf das Drama ihres Lebens: ihr Mann habe sie nach zehntägiger Ehe verlassen, und niemand wisse warum; weiter sage sie nichts darüber. Jetzt lebe sie allein in einer stets verschlossenen Wohnung, die daunenhaft wohlig sei und die nur Priester beträten.
»Das ist so traurig in meinem Alter!« murmelte sie schmachtend, während sie mit zierlichen Gebärden ihr Kalbfleisch aß.
»Ein recht unglückliches Frauchen«, raunte Frau Josserand mit einer Miene tiefen Mitgefühls Trublot ins Ohr.
Aber Trublot warf gleichgültige Blicke auf diese Frömmlerin mit den hellen Augen, die voller Vorbe halte und Hintergedanken steckte. Das war nicht sein Geschmack.
Es entstand eine Panik. Saturnin, auf den Berthe nicht mehr aufpaßte, da sie allzusehr mit ihrem Onkel beschäftigt war, vergnügte sich mit seinem Fleisch, das er in kleine Stückchen zerschnitt und daraus auf seinem Teller Muster zusammenlegte. Dieses arme Geschöpf brachte seine Mutter, die Angst vor ihm hatte und sich seiner schämte, zur Verzweiflung; sie wußte nicht, wie sie ihn loswerden sollte, wagte aus Eigenliebe nicht, einen Arbeiter aus ihm werden zu lassen, nachdem sie ihn seinen Schwestern geopfert hatte, indem sie ihn aus einem Internat herausnahm, wo sein eingeschlafener Verstand allzu langsam erwachte; und all die Jahre hindurch, die er unnütz und beschränkt im Haus umherschlich, stand sie tausend Ängste aus, wenn sie ihn in Gesellschaft vorführen sollte. Ihr Stolz blutete.
»Saturnin!« rief sie.
Aber glücklich über den Matsch auf seinem Teller, fing Saturnin an, höhnisch zu grinsen. Er hatte keinen Respekt vor seiner Mutter, schimpfte sie mit der Scharfsichtigkeit von Verrückten, die laut denken, freiheraus eine grobe Lügnerin und ein zänkisches Weib. Sicher hätten die Dinge eine schlimme Wendung genommen, er hätte ihr den Teller an den Kopf geworfen, wenn Berthe, die wieder an ihre Rolle dachte, ihn nicht starr angesehen hätte. Er wollte Widerstand leisten; dann erloschen seine Augen, er blieb bis zum Ende der Mahlzeit düster und schlapp, wie in einem Traum, auf seinem Stuhl sitzen.
»Hoffentlich haben Sie Ihre Flöte mitgebracht, Gueulin?« fragte Frau Josserand, die das Unbehagen ihrer Gäste zu zerstreuen suchte.
Gueulin spielte aus Liebhaberei Flöte, aber einzig und allein in Häusern, wo er sich behaglich fühlte.
»Mein Flöte, gewiß«, erwiderte er.
Er war zerstreut, sein rotes Haar und sein roter Backenbart waren noch struppiger als sonst; was die jungen Damen da mit ihrem Onkel anstellten, erregte sein höchstes Interesse. Er war bei einer Versicherungsgesellschaft angestellt, und gleich nach Büroschluß pflegte er Bachelard aufzusuchen und ihn nicht mehr zu verlassen, während er in seinem Gefolge dieselben Cafés und dieselben verrufenen Orte abklapperte. Hinter dem großen schlotterigen Körper des einen konnte man stets mit Sicherheit die fahle kleine Gestalt des anderen erblicken.
»Feste! Lassen Sie ihn nicht los!« sagte er unvermittelt wie ein Mann, der die Schläge beurteilt.
Der Onkel verlor in der Tat den Boden unter den Füßen. Als Adèle nach dem Gemüse, wäßrigen grünen Bohnen, Vanille- und Johannisbeereis auftrug, entstand unverhoffte Freude rings um die Tafel; und die Töchter des Hauses mißbrauchten die Situation, um ihren Onkel die Hälfte der Flasche Champagner trinken zu lassen, für die Frau Josserand bei einem benachbarten Kolonialwarenhändler drei Francs bezahlte. Der Onkel wurde zärtlich, er vergaß seine Schwachsinnskomödie.
»Zwanzig Francs, he! Weshalb zwanzig Francs? Ach, ihr wollt zwanzig Francs! Aber ich habe doch wahrhaftig keine. Fragt Gueulin. Nicht wahr, Gueulin, ich habe meine Börse vergessen, du hast im Café bezahlen müssen ... Wenn ich das Geld hätte, meine Kätzchen, würde ich es euch ja geben, ihr seid doch zu niedlich.«
Gueulin mit seiner kalten Miene lachte mit dem Kreischen eines schlecht geschmierten Flaschenzugs. Und er murmelte: »Dieser alte Gauner!« Dann ließ er sich mit einemmal hinreißen und rief: »Durchsuchen Sie ihn doch!«
Da stürzten sich Hortense und Berthe erneut ohne jede Zurückhaltung auf den Onkel. Das Gelüst auf die zwanzig Francs, das von ihrer guten Erziehung im Zaum gehalten wurde, machte sie schließlich toll; und sie ließen alle Rücksicht fahren. Die eine untersuchte mit beiden Händen die Westentaschen, während die andere die Finger bis zum Handgelenk in die Taschen des Überrocks versenkte.
Jedoch der Onkel kämpfte, hintenübergeworfen, noch immer; aber ihn packte das Lachen, ein von den Rülpsern des Rausches zerschnittenes Lachen.
»Ehrenwort! Ich habe nicht einen Sou ... Hört doch auf, ihr kitzelt mich ja!«
»In der Hose!« rief Gueulin energisch, den dieses Spiel erregte.
Und kurz entschlossen wühlte Berthe in der einen Hosentasche herum. Die Hände der Mädchen bebten, sie wurden beide brutal, sie hätten den Onkel noch geohrfeigt. Aber Berthe stieß einen Siegesschrei aus: aus der Tiefe der Tasche holte sie eine Handvoll Kleingeld hervor, das sie auf einen Teller streute; und dort lag in einem Haufen von Zweisousstücken und einigen Silbermünzen ein Zwanzigfrancsstück.
»Ich habʼs!« sagte sie, während sie über und über rot und mit aufgelöstem Haar das Stück in die Luft warf und wieder auffing.
Die ganze Tischgesellschaft klatschte in die Hände, fand das sehr drollig. Es entstand Getöse, das war die Fröhlichkeit des Abendessens. Frau Josserand betrachtete ihre Töchter mit dem Lächeln einer gerührten Mutter. Der Onkel, der sein Kleingeld wieder einsammelte, sagte mit lehrhafter Miene, wenn man zwanzig Francs haben wolle, dann müsse man sie verdienen. Und zu seiner Rechten und Linken schnauften müde und befriedigt die Töchter des Hauses mit noch bebenden Lippen und waren ganz entkräftet von ihrer Begierde.
Es ertönte ein Glockenschlag. Man hatte langsam gegessen, die Gäste trafen bereits ein. Herr Josserand, der beschlossen hatte, ebenfalls wie seine Frau zu lachen, pflegte bei Tisch gern etwas von Béranger14 vorzusingen; aber seine Frau, deren poetischen Geschmack er verletzte, gebot ihm Schweigen. Sie beschleunigte den Nachtisch, zumal der Onkel, der mißmutig geworden war, seit man ihm das Geschenk von zwanzig Francs abgenötigt hatte, Streit suchte, indem er sich beklagte, sein Neffe Léon habe nicht einmal geruht, sich herzubemühen und ihm zum Namenstag Glück zu wünschen. Léon sollte erst zur Abendgesellschaft kommen. Als man sich endlich erhob, sagte Adèle, der Architekt von unten und ein junger Mann seien gekommen und befänden sich im Salon.
»Ach ja, dieser junge Mann«, murmelte Frau Juzeur und nahm Herrn Josserands Arm an. »Sie haben ihn also eingeladen? Ich habe ihn heute beim Concierge gesehen. Er sieht sehr gut aus.«
Frau Josserand nahm eben Trublots Arm, als Saturnin, der allein am Tisch zurückgeblieben war und den der ganze Radau um die zwanzig Francs nicht aus dem Schlaf geweckt hatte, in den er mit offenen Augen verfallen war, in einem jähen Wutanfall seinen Stuhl umwarf und schrie: »Ich will nicht, Himmelsakrament! Ich will nicht!«
Gerade dies befürchtete seine Mutter immer besonders. Sie gab ihrem Mann einen Wink, er möge Frau Juzeur wegführen. Dann machte sie sich los vom Arm Trublots, der begriff und verschwand; aber er mußte sich wohl irren, denn er flitzte hinter Adèle drein nach der Küche hin. Ohne sich um den übergeschnappten, wie sie ihn nannten, zu kümmern, feixten Bachelard und Gueulin in einer Ecke und versetzten einander Klapse.
»Er war ganz komisch, ich habe schon geahnt, daß heute abend so etwas kommt«, murmelte Frau Josserand ganz besorgt. »Komm schnell, Berthe!«
Aber Berthe zeigte Hortense gerade das Zwanzigfrancsstück.
Saturnin hatte ein Messer ergriffen. Er sagte ein um das andere Mal: »Himmelsakrament! Ich will nicht, denen werde ich den Bauch aufschlitzen!«
»Berthe!« rief die verzweifelte Stimme der Mutter.
Und als Berthe herbeieilte, hatte sie gerade noch Zeit, Saturnin bei der Hand zu packen, damit er nicht in den Salon ging. In Zorn geraten, schüttelte sie ihn, während er ihr mit seiner Verrücktenlogik alles auseinandersetzte.
»Laß mich nur machen, sie müssen dran glauben ... Es ist besser, sage ich dir ... Ihre schmutzigen Geschichten habe ich satt. Die verraten uns alle.«
»Das ist ja nicht zum Aushalten!« schrie Berthe. »Was hast du denn? Was schwatzt du da?«
Von einer dumpfen Wut getrieben, sah er sie verstört an und stammelte: »Man will dich schon wieder unter die Haube bringen ... Niemals, hörst du! Ich will nicht, daß man dir was zuleide tut.«
Das junge Mädchen konnte nicht umhin zu lachen. Wo habe er das denn her, daß man sie unter die Haube bringen wolle?
Aber er nickte: er wußte es, er fühlte es.
Und als seine Mutter eingriff, um ihn zu beruhigen, faßte er das Messer so fest, daß sie zurückwich. Sie zitterte indessen, daß dieser Auftritt zu hören sein könnte; schnell sagte sie zu Berthe, sie solle ihn wegbringen und ihn in sein Zimmer einschließen, während er, immer närrischer werdend, die Stimme erhob.
»Ich will nicht, daß man dich unter die Haube bringt, ich will nicht, daß man dir was zuleide tut ... Wenn man dich unter die Haube bringt, schlitze ich ihnen den Bauch auf.«
Da legte ihm Berthe die Hände auf die Schultern und sah ihn starr an.
»Hör mal«, sagte sie, »verhalte dich ruhig, oder ich hab dich nicht mehr lieb.«
Er schwankte, ein Ausdruck der Verzweiflung ließ sein Gesicht weich werden, seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Du hast mich nicht mehr lieb, du hast mich nicht mehr lieb ... Sag das nicht. O bitte, sag, daß du mich noch liebhast, sag, daß du mich immer liebhaben wirst und daß du nie einen anderen liebhaben wirst.«
Sie hatte ihn beim Handgelenk ergriffen und führte ihn weg; er war folgsam wie ein Kind.
Im Salon nannte Frau Josserand, ihre Vertraulichkeit übertreibend, Campardon ihren lieben Nachbarn. Warum habe Frau Campardon ihr nicht die große Freude bereitet mitzukommen? Und auf die Antwort des Architekten hin, seine Frau sei stets ein wenig leidend, erhob sie laut Einspruch; man hätte sie auch in Morgenrock und Pantoffeln empfangen, sagte sie. Aber ihr Lächeln ließ Octave, der mit Herrn Josserand plauderte, nicht los; alle ihre Liebenswürdigkeiten waren, über Campardons Schulter hinweg, an ihn gerichtet. Als ihr Gatte ihr den jungen Mann vorstellte, legte sie eine so lebhafte Herzlichkeit an den Tag, daß er in Verlegenheit geriet.
Es trafen Gäste ein, beleibte Mütter mit mageren Töchtern, aus dem Büroschlaf nicht richtig erwachte Väter und Onkel, die Herden heiratsfähiger Töchter vor sich her trieben. Zwei mit rosa Papier verhüllte Lampen tauchten den Salon in Dämmerlicht, und darin ertranken die schäbigen alten Möbel mit ihrem gelben Samt, das Klavier mit der stumpf gewordenen Politur, die drei verräucherten Schweizer Ansichten, die schwarze Flecken auf die kalte Nacktheit der in Weiß und Gold gehaltenen Fächer der Wandtäfelung setzten. Und in dieser geizigen Helligkeit traten die Gäste in den Hintergrund, ärmliche und gleichsam abgenutzte Gestalten mit Toiletten, die man mühselig ausstaffiert hatte, ohne sich deshalb in sein Schicksal zu ergeben. Frau Josserand trug ihr feuerrotes Kleid vom Vorabend; allein um die Leute irrezuführen, hatte sie den Tag damit verbracht, Ärmel an das Mieder zu nähen und sich einen Spitzenumhang anzufertigen, um ihre Schultern zu verdecken, während ihre Töchter in schmutziger Unterjacke neben ihr wütend die Nadel hin und her gezogen und ihre einzigen Toiletten, die sie seit dem vorigen Winter so Stück für Stück änderten, mit neuen Garnituren aufgefrischt hatten.
Nach jedem Anschlagen der Glocke kam Geflüster aus der Diele. Man plauderte leise in dem düsteren Raum, in den das gezwungene Lachen einer jungen Dame dann und wann einen falschen Ton hineinbrachte. Hinter der kleinen Frau Juzeur stießen Bachelard und Gueulin einander mit dem Ellbogen an, wobei sie Unanständigkeiten vom Stapel ließen; und Frau Josserand paßte mit beunruhigten Blicken auf die beiden auf, denn sie fürchtete, daß ihr Bruder sich vorbeibenehmen könnte. Aber Frau Juzeur konnte alles hören; ihre Lippen bebten leise, sie lächelte mit engelhafter Sanftmut über die schlüpfrigen Geschichten. Onkel Bachelard stand in dem Ruf, ein gefährlicher Mann zu sein. Sein Neffe hingegen war keusch. So schön die Gelegenheiten auch sein mochten, Gueulin lehnte die Frauen aus theoretischen Gründen ab, nicht etwa weil er sie verachtete, sondern weil er das fürchtete, was auf das Glück folgte: immer Scherereien, pflegte er zu sagen.
Endlich tauchte Berthe auf. Sie ging rasch auf ihre Mutter zu.
»Oje, hat das Mühe gekostet!« flüsterte sie ihr ins Ohr. »Er wollte nicht schlafen gehen, ich habe ihn eingesperrt und zweimal abgeschlossen ... Aber ich habe Angst, er schlägt da drin alles kaputt.«
Frau Josserand zupfte sie heftig am Kleid.
Octave, der in ihrer Nähe stand, hatte soeben den Kopf gewandt.
»Meine Tochter Berthe, Herr Mouret«, sagte sie mit ihrer holdesten Miene und stellte sie ihm vor. »Herr Octave Mouret, mein Liebes.« Und sie blickte ihre Tochter an.
Die kannte diesen Blick gut, der gleichsam ein Gefechtsbefehl war und in dem sie die Lehren vom vergangenen Abend wiederfand. Sogleich gehorchte sie mit der Willfährigkeit und Gleichgültigkeit einer Tochter, die sich nicht mehr um den Bart des Freiers zu scheren pflegt. Sie sagte ihre kurze Rolle ganz hübsch her, hatte die leichte Anmut einer bereits müden und in allen Themen bewanderten Pariserin, sprach mit Begeisterung vom Süden, wo sie niemals hingekommen war.
An das steife Benehmen der unschuldigen Mädchen aus der Provinz gewöhnt, war Octave entzückt von diesem Geschnatter eines kleinen Frauchens, das sich kameradschaftlich anvertraute.
Aber Trublot, der seit dem Ende der Mahlzeit verschwunden war, kam verstohlenen Schrittes zur Tür des Eßzimmers herein; und Berthe, die ihn bemerkt hatte, fragte ihn unbesonnenerweise, wo er herkäme. Er schwieg sich aus, sie stand betreten da; um sich aus der Verlegenheit zu helfen, stellte sie dann die beiden jungen Leute einander vor.
Ihre Mutter hatte sie nicht aus den Augen gelassen, von nun an nahm sie die Haltung eines kommandierenden Generals an, leitete die Angelegenheit von dem Sessel aus, in den sie sich gesetzt hatte. Als sie meinte, die erste Plänkelei habe ein befriedigendes Ergebnis gezeitigt, rief sie ihre Tochter mit einem Wink zurück und sagte leise zu ihr: »Warte mit deinem Musizieren, bis Vabres da sind ... Und spiele laut!«
Octave war mit Trublot allein geblieben und suchte diesen auszufragen.
»Eine reizende Person.«
»Ja, nicht übel.«
»Das Fräulein in Blau ist ihre ältere Schwester, nicht wahr? Sie sieht nicht so gut aus.«
»Bei Gott! Sie ist mager!«
Trublot, der mit seinen kurzsichtigen Augen hinschaute, ohne etwas sehen zu können, hatte die Bulligkeit eines kräftigen, in seine Geschmacksrichtung verrannten Mannestieres. Er war befriedigt zurückgekommen und knabberte schwarze Dinger, in denen Octave zu seiner Überraschung Kaffeebohnen erkannte.
»Sagen Sie mal«, fragte Trublot unvermittelt, »im Süden sind die Frauen wohl fett?«
Octave lächelte und stand sich sogleich bestens mit Trublot. Beiden gemeinsame Ansichten brachten sie einander näher. Auf einem abseits stehenden Kanapee tauschten sie Vertraulichkeiten: der eine sprach von seiner Chefin aus dem »Paradies der Damen«, von Frau Hédouin, einer verdammt schönen, aber zu kalten Frau; der andere sagte, er sei bei seinem Börsenmakler, Herrn Desmarquay, von neun bis fünf in die Korrespondenzabteilung gesteckt worden, und dort bei seinem Chef sei ein fabelhaftes Dienstmädchen.
Unterdessen hatte sich die Tür des Salons geöffnet, drei Leute kamen herein.
»Das sind Vabres«, flüsterte Trublot und beugte sich zu seinem neuen Freund hinüber. »Auguste, der große, der ein Gesicht wie ein kranker Hammel hat, ist der älteste Sohn des Hausbesitzers: dreiunddreißig Jahre alt, dauernd Kopfschmerzen, die ihm die Augen hinaustreiben und die ihn einst daran gehindert haben, weiter Latein zu lernen; ein mürrischer Bursche, der Kaufmann geworden ist ... Der andere Théophile, diese gelbhaarige Mißgeburt mit dem schütteren Bart, dieser kleine achtundzwanzigjährige Greis, der von Husten- und Wutanfällen geschüttelt wird, hat es mit einem Dutzend Berufen versucht, hat dann Madame Valérie geheiratet, die junge Frau, die vorausgeht ...«
»Ich habe sie schon gesehen«, fiel Octave ein. »Sie ist die Tochter eines Kurzwarenhändlers aus dem Viertel, nicht wahr? Wie diese kleinen Schleier doch täuschen können! Sie war mir hübsch vorgekommen ... Dabei sieht sie nur sonderbar aus mit ihrem verkrampften Gesicht und dem bleifarbenen Teint.«
»Auch so eine, die nicht mein Traum ist«, meinte Trublot. »Sie hat prächtige Augen, es gibt Männer, denen das genügt ... Oje, ist die mager!«
Frau Josserand hatte sich erhoben, um Valérie die Hände zu drücken.
»Wie!« rief sie. »Herr Vabre ist nicht mitgekommen? Und auch Herr und Frau Duveyrier haben uns nicht mit ihrem Besuch beehrt? Sie hatten uns doch zugesagt. Oh, das ist aber sehr schlimm!«
Die junge Frau entschuldigte ihren Schwiegervater, den sein Alter in seiner Wohnung zurückhalte und der im übrigen abends lieber arbeite. Was ihren Schwager und ihre Schwägerin angehe, so hätten sie ihr aufgetragen, für sie um Entschuldigung zu bitten, da sie eine Einladung zu einer offiziellen Abendgesellschaft erhalten hätten, von deren Besuch sie nicht Abstand nehmen könnten.
Frau Josserand kniff die Lippen zusammen. Sie versäumte keinen einzigen Sonnabendempfang bei diesen Angebern aus dem ersten Stock, die geglaubt hätten, sie würden sich was vergeben, wenn sie an einem Dienstag in den vierten Stock hinaufgestiegen wären. Ihre bescheidene Teegesellschaft war freilich nicht so viel wert wie deren Konzerte mit großem Orchester. Aber nur Geduld! Wenn ihre beiden Töchter erst verheiratet waren und sie zwei Schwiegersöhne mit deren Familien hatte, um ihren Salon zu füllen, würde auch sie Chöre singen lassen.
»Halte dich bereit«, flüsterte sie Berthe ins Ohr.
Es waren etwa dreißig Personen anwesend, die sich ziemlich drängten, denn der den Töchtern des Hauses als Zimmer dienende kleine Salon wurde nicht geöffnet. Die Neuankömmlinge tauschten Händedrücke mit den Anwesenden aus. Valérie hatte sich neben Frau Juzeur gesetzt, während Bachelard und Gueulin ganz laut abfällige Bemerkungen über Théophile Vabre machten, den sie einen »Taugenichts« nannten, was sie komisch fanden. In einem Winkel saß Herr Josserand, der zu Hause so sehr in den Hintergrund trat, daß man ihn für einen Gast hätte halten können und man ihn stets suchte, selbst wenn er vor einem stand, und lauschte bestürzt einer Geschichte, die einer seiner alten Freunde erzählte: Bonnaud, er kenne doch Bonnaud, den ehemaligen Chef der Buchhaltungsabteilung bei der Nordbahn, der, dessen Tochter sich im vergangenen Frühjahr verheiratet habe? Also Bonnaud habe vor kurzem entdeckt, daß sein Schwiegersohn, ein sehr gut aussehender Mann, ein ehemaliger Clown sei, der zehn Jahre lang von einer Kunstreiterin ausgehalten worden sei.
»Still, still!« murmelten eifrige Stimmen.
Berthe hatte das Klavier geöffnet.
»Mein Gott«, erläuterte Frau Josserand, »es ist ein anspruchsloses Stück, eine einfache Träumerei ... Herr Mouret, Sie lieben doch Musik, nehme ich an. Treten Sie doch näher ... Meine Tochter spielt es ziemlich gut, oh, bloß als Dilettantin, aber mit Seele, ja, mit viel Seele.«
»Jetzt hat sie ihn geschnappt!« sagte Trublot leise. »Der Dreh mit der Sonate.«
Octave mußte sich erheben und stand jetzt in der Nähe des Klaviers. Wenn man die einschmeichelnde Zuvorkommenheit sah, mit der Frau Josserand ihn umgab, so schien es, als lasse sie Berthe einzig und allein für ihn spielen.
»›An den Ufern der Oise‹«, erklärte sie. »Es ist wirklich hübsch ... Nun, wohlan, mein Liebling, und sei nicht aufgeregt. Herr Mouret wird nachsichtig sein.«
Das junge Mädchen fing ohne, jede Aufregung an, das Stück zu spielen. Im übrigen ließ ihre Mutter sie nicht mehr aus den Augen, sie sah dabei aus wie ein Unteroffizier, der bereit ist, einen Verstoß gegen die Dienstvorschrift mit einer Ohrfeige zu ahnden. Sie war verzweifelt, daß das durch fünfzehn Jahre tägliches Tonleiterüben kurzatmig gewordene Instrument nicht die Klangfülle vom großen Flügel der Familie Duveyrier hatte; und ihrer Meinung nach spielte ihre Tochter niemals laut genug.
Schon beim zehnten Takt hörte Octave, der eine andächtige Miene aufsetzte und bei den Bravourläufen mit dem Kinn wackelte, nicht mehr hin. Er betrachtete die Zuhörer, die höflich zerstreute Aufmerksamkeit der Herren und das gekünstelte Entzücken der Damen, jene ganze Abspannung, wie sie Leute empfinden, die wieder sich selbst überlassen sind, die wieder von den tagtäglichen Sorgen erfaßt werden, deren Schatten in ihre müden Gesichter steigt. Mit weit aufgerissenem Mund und blutdürstig fletschenden Zähnen träumten Mütter in einem unbewußten Sichgehenlassen sichtlich davon, daß sie ihre Töchter unter die Haube brächten; das war die Sucht in diesem Salon, eine rasende Gier nach Schwiegersöhnen, die diese Spießbürgerinnen bei den asthmatischen Klängen des Klaviers verzehrte. Die Töchter, die sehr müde waren, schliefen ein, hatten den Kopf zwischen die Schultern eingezogen und vergaßen, sich gerade zu halten. Octave, der eine Geringschätzung für junge Mädchen hegte, interessierte sich noch mehr für Valérie; sie war entschieden häßlich in ihrem merkwürdigen, mit schwarzem Atlas besetzten gelben Seidenkleid; und unruhig, trotz allem verlockt, kam er immer wieder auf sie zurück, während sie mit unstet umherirrenden Augen, durch die schrille Musik gereizt, das verzerrte Lächeln einer Kranken aufsetzte.
Aber eine Katastrophe trat ein. Es hatte geklingelt, ein Herr kam ohne jede Behutsamkeit herein.
»Oh, Herr Doktor!« sagte Frau Josserand mit zorniger Stimme.
Doktor Juillerat machte eine entschuldigende Handbewegung und blieb an Ort und Stelle stehen.
In diesem Augenblick hob Berthe mit langsamer werdendem und ersterbendem Anschlag eine kleine Phrase hervor, die von der Gesellschaft mit beifälligem Gemurmel begrüßt wurde. Ah, entzückend! Köstlich! Frau Juzeur verging vor Wonne, fühlte sich gleichsam gekitzelt. Hortense, die neben ihrer Schwester stand und die Seiten umblätterte, verharrte störrisch im prasselnden Regen der Töne und lauschte angestrengt auf das Geläute der Türglocke; und als der Doktor eingetreten war, hatte sie vor Enttäuschung eine so heftige Handbewegung gemacht, daß sie soeben eine Seite auf dem Notenhalter zerrissen hatte. Aber jäh erzitterte das Klavier unter Berthes zerbrechlichen Händen, die wie Hämmer drauflosschlugen: es war das Ende der Träumerei in einem betäubenden Getöse wütender Akkorde.
Es entstand Unschlüssigkeit. Man erwachte. War es zu Ende? Dann brachen die Komplimente los. Wunderbar! Ein außergewöhnliches Talent!
»Das gnädige Fräulein ist wirklich eine erstklassige Künstlerin«, sagte Octave, der in seinen Betrachtungen gestört wurde. »Niemals hat mir jemand ein solches Vergnügen bereitet.«
»Nicht wahr, mein Herr?« rief Frau Josserand entzückt aus. »Sie macht ihre Sache ganz gut, das muß man doch zugeben ... Mein Gott, wir haben ihr ja auch nichts versagt, der Kleinen: sie ist unser Schatz! Alle Talente, die sie sich gewünscht hat, hat sie ... Ach, Herr Mouret, wenn Sie sie erst kennen würden ...«
Von neuem erfüllte verworrener Stimmenlärm den Salon. Seelenruhig nahm Berthe die Lobreden entgegen; und sie entfernte sich nicht vom Klavier, wartete, bis ihre Mutter sie von ihrer Fron entband. Schon erzählte diese Octave, auf welche erstaunliche und schmissige Art und Weise ihre Tochter »Die Schnitter«, einen brillanten Galopp, vorzutragen pflege, da versetzten dumpfe und ferne Schläge die Gäste in Aufregung. Seit einem Weilchen waren die Stöße immer heftiger geworden, als sei jemand mit aller Anstrengung dabei, eine Tür einzuschlagen. Alle verstummten und blickten einander fragend an.
»Was ist denn das?« wagte Valérie zu fragen. »Das hat vorhin schon gegen Schluß des Musikstückes so geklopft.«
Frau Josserand war ganz bleich geworden. Sie hatte erkannt, daß Saturnin da mit der Schulter gegen die Tür stieß. Oh, dieser elende Übergeschnappte! Und sie sah ihn mitten in die Gesellschaft hineinplatzen. Wenn er weiterbumste, war wieder mal eine Partie vermasselt!
»Das ist die Küchentür, die klappt«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. »Adèle kann sie niemals richtig zumachen ... Schau doch mal nach, Berthe.«
Auch das junge Mädchen hatte begriffen. Sie erhob sich und verschwand. Sogleich hörten die Stöße auf, aber Berthe kam nicht sofort wieder zurück. Onkel Bachelard, der die »Ufer der Oise« in skandalöser Weise durch laute Bemerkungen gestört hatte, brachte seine Schwester vollends aus der Fassung, indem er Gueulin zurief, man öde ihn an und er gehe einen Grog trinken. Beide kehrten ins Eßzimmer zurück, dessen Tür sie geräuschvoll hinter sich schlossen.
»Der gute Narcisse, immer originell!« sagte Frau Josserand zu Frau Juzeur und zu Valérie, zwischen die sie sich setzte. »Seine Geschäfte nehmen ihn so sehr in Anspruch! Wissen Sie, er hat dieses Jahr an die hunderttausend Francs verdient!«
Octave, der endlich frei war, hatte sich eilends wieder zu dem auf dem Kanapee eingeschlummerten Trublot gesellt. In der Nähe der beiden stand inmitten einer Gruppe Doktor Juillerat, ein alter Arzt aus dem Stadtviertel, ein mittelmäßiger Mensch, der mit der Zeit aber ein guter praktischer Arzt geworden war und der allen diesen Damen bei der Entbindung beigestanden und alle diese Fräulein behandelt hatte. Er befaßte sich speziell mit Frauenkrankheiten, weshalb er abends in einer Salonecke von den Ehemännern umworben zu werden pflegte, die auf eine kostenlose Konsultation aus waren.
Eben sagte Théophile zu ihm, Valérie habe am Vortage schon wieder einen Anfall gehabt; sie bekomme dann immer keine Luft, sie klage über einen Knoten, der ihr in die Kehle steige; und auch ihm gehe es nicht gut, aber das sei ja nicht dasselbe. Da sprach er nur noch von seiner eigenen Person, erzählte von seinen Verdrießlichkeiten: er habe Jura zu studieren begonnen, habe es in der Industrie bei einem Gießer versucht, habe es in den Büros des Leihhauses mit der Verwaltung probiert; dann habe er sich mit Photographieren beschäftigt und glaubte eine Erfindung gemacht zu haben, wie nämlich Wagen von ganz allein fortbewegt werden könnten; mittlerweile vertreibe er aus Gefälligkeit Flötenklaviere, eine andere Erfindung eines seiner Freunde. Und er kam wieder auf seine Frau zu sprechen; ihre Schuld sei es, wenn bei ihnen zu Hause nichts klappe; sie bringe ihn um mit ihren dauernden Nervenzuständen.
»Verschreiben Sie ihr doch etwas, Herr Doktor!« flehte er mit haßentflammten Augen, hustend und greinend in der weinerlichen Wut darüber, daß er nichts zustande brachte.
Trublot musterte ihn voller Verachtung; und als er Octave anschaute, lachte er kurz im stillen.
Unterdessen fand Doktor Juillerat nichtssagende und beruhigende Worte: freilich, man werde der lieben gnädigen Frau Erleichterung verschaffen. Schon mit vierzehn Jahren hatte sie in dem Laden in der Rue Neuve-Saint-Augustin keine Luft bekommen; er hatte sie wegen Schwindelanfällen behandelt, die mit Nasenbluten zu enden pflegten; und als Théophile voller Verzweiflung an ihre schmachtende Sanftmut erinnerte, die sie als junges Mädchen gehabt, während sie ihn jetzt mit ihrer Wunderlichkeit peinige und sich ihre Laune zwanzigmal am Tage ändere, begnügte sich der Doktor mit einem Nicken. Nicht allen Frauen bekäme die Ehe gut.
»Mein Gott noch mal!« murmelte Trublot. »Ein Vater, der dreißig Jahre lang Nadeln und Zwirn verkauft hat und dabei zum Vieh abgestumpft ist, eine Mutter, die das Gesicht ständig voller Pickel hat, und das in einem luftlosen Loch des alten Paris – wie soll denn so was annehmbare Töchter machen?«
Octave, saß überrascht da. Er verlor ein wenig von seiner Achtung vor diesem Salon, den er als Provinzler voller Erregung betreten hatte. Neugier erwachte in ihm, als er Campardon erblickte, der nun ebenfalls den Doktor konsultierte, aber ganz leise, als ein gesetzter Mensch, der bestrebt ist, niemand in die Mißgeschicke seiner Ehe einzuweihen.
»Was ich sagen wollte, Sie wissen doch Bescheid«, bat er Trublot. »Sagen Sie mal, was für eine Krankheit hat Frau Campardon eigentlich? Ich sehe doch, daß die Leute ein untröstliches Gesicht machen, wenn von ihr die Rede ist.«
»Aber, mein Lieber«, erwiderte der junge Mann, »sie hat ...« Und er neigte sich zu Octaves Ohr.
Octave lauschte, sein Gesicht lächelte zuerst, wurde dann länger und länger, nahm den Ausdruck tiefer Verblüffung an.
»Nicht möglich!« sagte er.
Da schwor Trublot bei seinem Ehrenwort. Er kenne eine andere Dame, der es genauso gehe.
»Übrigens«, fuhr er fort, »kommt es als Folge einer Entbindung manchmal vor, daß ...« Und er begann wieder leise zu sprechen.
Octave war überzeugt und wurde traurig. Er, der einen Augenblick so allerlei Ideen gehabt, der sich einen Roman ausgedacht hatte: der Architekt sei anderswo gebunden und treibe ihn seiner Frau zu, um ihr Ablenkung zu verschaffen! Auf jeden Fall wußte er nun, daß sie wohlbehütet war. In der Erregung über diese Damenunterwäsche, in der sie wühlten, rieben sich die beiden jungen Leute aneinander und vergaßen, daß man sie hören konnte.
Gerade war Frau Juzeur dabei, Frau Josserand anzuvertrauen, welchen Eindruck Octave auf sie gemacht hatte. Sie halte ihn zweifellos für sehr anständig, aber ihr sei Herr Auguste Vabre lieber. Dieser stand in einer Ecke des Salons und verhielt sich schweigsam, weil er unbedeutend und von seiner allabendlichen Migräne geplagt war.
»Mich wundert aber doch, liebe Madame Josserand, daß Sie für Ihre Berthe nicht an ihn gedacht haben. Ein Junggeselle voller Klugheit, der sein eigenes Geschäft hat. Und er braucht eine Frau, ich weiß, daß er sich zu verheiraten trachtet.«
Frau Josserand hörte überrascht zu. In der Tat, an den Modewarenhändler hätte sie nie gedacht.
Indessen ließ Frau Juzeur nicht locker, denn sie hatte in all ihrem Unglück die Leidenschaft, auf die Glückseligkeit anderer Frauen hinzuarbeiten, weshalb sie sich um alle Herzensangelegenheiten im Hause kümmerte. Sie versicherte, Auguste schaue Berthe unaufhörlich an. Schließlich berief sie sich auf ihre Erfahrung mit Männern: Herr Mouret werde sich niemals einfangen lassen, während dieser biedere Herr Vabre sehr bequem, sehr vorteilhaft zu haben sei.
Aber Frau Josserand, die Herrn Vabre mit dem Blick abschätzte, kam entschieden zu dem Urteil, daß ein solcher Schwiegersohn nicht gerade ein Prunkstück für ihren Salon sein würde.
»Meine Tochter kann ihn nicht ausstehen«, sagte sie, »und ich werde niemals ihrem Herzen zuwiderhandeln!«
Ein großes, mageres Fräulein hatte soeben eine Phantasie über die »Weiße Dame15« vorgetragen. Da Onkel Bachelard im Eßzimmer eingeschlafen war, kam Gueulin wieder mit seiner Flöte zum Vorschein und machte eine Nachtigall nach. Man hörte übrigens nicht zu, Bonnauds Geschichte hatte sich herumgesprochen. Herr Josserand saß erschüttert da, die Väter hoben die Arme, den Müttern blieb die Luft weg. Wie? Bonnauds Schwiegersohn war ein Clown? Wem sollte man da noch trauen? Und die Eltern bekamen in ihrer Verheiratungsgier Alpträume von vornehmen Zuchthäuslern im Frack. Bonnaud hatte sich in der Tat so sehr gefreut, seine Tochter unterzubringen, daß er sich trotz seiner strengen Vorsicht als peinlich genauer Chef der Buchhaltungsabteilung begnügt hatte, flüchtige Erkundigungen einzuziehen.
»Mama, der Tee ist serviert«, sagte Berthe, die mit Adèle die beiden Türflügel öffnete.
Und während die Gäste langsam ins Eßzimmer hinübergingen, trat sie zu ihrer Mutter und flüsterte: »Jetzt langtʼs mir aber! Er will, daß ich dableibe und ihm Geschichten erzähle, sonst will er alles kurz und klein schlagen, sagt er!«
Auf einem zu schmalen grauen Tischtuch war eines jener mühselig angerichteten Teegedecke zu sehen, eine bei einem benachbarten Bäcker gekaufte Brioche, die von Petits Fours und belegten Brötchen flankiert war. An beiden Tischenden verdeckte eine Blumenpracht, wundervolle und teure Rosen, die Mittelmäßigkeit der Butter und den alten Staub auf den Biskuits. Man brach in Bewunderung aus. Neidgefühle wurden entfacht: diese Josserands richteten sich bestimmt noch zugrunde, um ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und während die Gäste scheele Blicke auf die Blumensträuße warfen, kippten sie sich mit saurem Tee voll, fielen ohne Vorsicht über die altbackenen Kuchen und die nicht durchgebackene Brioche her, da sie wenig zu Abend gegessen hatten und nur noch daran dachten, mit vollem Bauch schlafen zu gehen. Für diejenigen, die keinen Tee mochten, reichte Adèle Gläser mit Johannisbeersaft herum. Er sei köstlich, wurde erklärt.
Währenddessen schlief der Onkel in einer Ecke. Man weckte ihn nicht, höflich tat man sogar so, als sehe man ihn nicht. Eine Dame sprach von den Strapazen des Geschäftslebens. Berthe war eifrig bemüht, sie bot belegte Brötchen an, trug Tassen mit Tee umher, fragte die Herren, ob sie noch etwas Zucker wünschten. Aber sie konnte es nicht bewältigen, und Frau Josserand suchte ihre Tochter Hortense, da gewahrte sie diese mitten im menschenleeren Salon, wo sie mit einem Herrn plauderte, von dem nur der Rücken zu sehen war.
»Na ja«, stieß sie zornentbrannt hervor. »Endlich kommt er ja!«
Gezischel lief um. Das war dieser Verdier, der seit fünfzehn Jahren mit einer Frau zusammen lebte und darauf wartete, Hortense heiraten zu können. Jeder kannte die Geschichte, die jungen Damen wechselten Blicke; aber man vermied es, davon zu sprechen, man kniff schicklichkeitshalber die Lippen zusammen. Octave, der in Kenntnis gesetzt worden war, betrachtete mit interessierter Miene den Rücken des Herrn. Trublot kannte die Geliebte, ein braves Mädchen, eine ehemalige Fose, die solide geworden sei, die jetzt, wie er sagte, ehrbarer sei als die allerehrbarste Bürgersfrau, ihren Mann umhegte und seine Wäsche in Schuß halte; und er war von brüderlicher Sympathie für sie erfüllt. Während man sie beide vom Eßzimmer aus musterte, machte Hortense mit der ihr eigenen Verdrießlichkeit eines unberührten und wohlerzogenen Mädchens Verdier wegen seiner Verspätung eine Szene.
»Aha, Johannisbeersaft!« sagte Trublot, als er Adèle mit dem Tablett in der Hand vor sich sah. Er schnupperte daran, wollte keinen haben. Als das Dienstmädchen sich aber umdrehte, wurde es vom Ellbogen einer dicken Dame gegen Trublot gedrückt, und er kniff das Mädchen heftig ins Kreuz.
Adèle lächelte, sie kam mit dem Tablett zurück.
»Danke, nein«, erklärte er. »Nachher.«
Rings um den Tisch hatten Damen Platz genommen, während die Herren hinter ihnen im Stehen aßen. Ausrufe wurden laut, eine Begeisterung äußerte sich, die in den vollen Mündern erstickte.
Die Herren wurden herbeigerufen.
Frau Josserand rief: »Ach ja, richtig, daran habe ich gar nicht mehr gedacht ... sehen Sie doch, Herr Mouret, Sie sind doch ein Kunstliebhaber.«
»Passen Sie auf, der Dreh mit dem Aquarell!« flüsterte Trublot, der das Haus kannte.
Es war etwas Besseres als ein Aquarell. Wie zufällig stand eine Porzellanschale auf dem Tisch; auf dem Boden der Schale war, eingerahmt in die nagelneue Fassung aus überfirnißter Bronze, das »Junge Mädchen mit dem zerbrochenen Krug« in verwaschenen Farbtönen gemalt, die von hellem Lila bis zu zartem Blau reichten. Berthe lächelte inmitten des Lobes.
»Das gnädige Fräulein hat ja alle Talente«, sagte Octave mit seiner liebenswürdigen Art. »Oh, wie das abgetönt ist, und ganz genau, ganz genau!«
»Was die Zeichnung betrifft, so verbürge ich mich für sie!« erklärte Frau Josserand triumphierend. »Es ist kein Haar mehr oder weniger vorhanden ... Berthe hat das hier nach einem Stich kopiert. Im Louvre16 sind wirklich gar zu viele Aktbilder zu sehen, und das Publikum ist dort manchmal so gemischt!«
Um diese Wertung abgeben zu können, hatte sie die Stimme gedämpft, von dem Wunsch erfüllt, den jungen Mann davon in Kenntnis zu setzen, daß es, wenn ihre Tochter auch Künstlerin war, durchaus nicht in Schamlosigkeit ausartete. Übrigens mußte Octave kühl auf sie wirken, sie fühlte, daß die Schale nicht zog, und sie begann ihn mit unruhiger Miene zu belauern, während Valérie und Frau Juzeur, die bei ihrer vierten Tasse Tee angelangt waren, die Malerei mit leisen Rufen der Bewunderung musterten.
»Sie schauen sie ja immer noch an«, sagte Trublot zu Octave, als er merkte, daß dieser die Augen wieder auf Valérie geheftet hatte.
»Freilich«, erwiderte er ein wenig verlegen. »Komisch, in diesem Augenblick ist sie hübsch ... Eine feurige Frau, das sieht man ... Sagen Sie mal, ob man es riskieren könnte?«
Trublot blies die Backen auf.
»Feurig, das weiß man nie ... Merkwürdiger Geschmack! Auf alle Fälle ist das besser, als die Kleine zu heiraten!«
»Welche Kleine?« rief Octave, der sich vergaß. »Wie! Glauben Sie, ich werde mich einwickeln lassen? Aber niemals! Mein Bester, wir Marseiller heiraten nicht!«
Frau Josserand war näher getreten. Der Satz traf sie mitten ins Herz. Wieder mal ein vergeblicher Feldzug! Wieder mal ein verlorener Abend! Der Schlag war so stark, daß sie sich an einen Stuhl lehnen mußte; verzweifelt betrachtete sie den abgeputzten Tisch, auf dem nur noch das verbrannte Kopfende der Brioche herumlag. Sie zählte ihre Niederlagen schon nicht mehr, aber diese sollte die letzte sein, darauf leistete sie einen entsetzlichen Eid, und sie schwor, sie wollte nicht länger Leuten etwas vorsetzen, die einzig und allein deshalb zu ihr kamen, um sich den Bauch vollzuschlagen. Und fassungslos, erbittert überflog sie mit dem Blick das Eßzimmer, sie forschte, welchem Mann sie ihre Tochter wohl in die Arme werfen könnte, da gewahrte sie an der Wand Auguste, der ergeben dastand und nichts zu sich genommen hatte.
Eben bewegte sich Berthe mit einer Tasse Tee in der Hand lächelnd auf Octave zu. Sie setzte den Feldzug fort, sie gehorchte ihrer Mutter.
Aber diese packte sie am Arm und schalt sie ganz leise eine dumme Gans.
»Bring diese Tasse doch Herrn Vabre, der seit einer Stunde wartet«, sagte sie sehr laut voller Anmut. Dann flüsterte sie ihr wieder ins Ohr und sah sie dabei mit ihrem Schlachtenblick an: »Sei nett, sonst kriegst du es mit mir zu tun!«
Einen Augenblick war Berthe aus der Fassung gebracht, fing sich jedoch sogleich wieder. So änderte sich das oft dreimal an einem Abend. Mit dem Lächeln, das sie für Octave aufgesetzt hatte, brachte sie Auguste die Tasse Tee; sie war nett, sprach von Lyoner Seiden, gab sich zuvorkommend wie eine Frau, die sich sehr gut hinter einem Ladentisch ausnehmen würde.
Augustes Hände zitterten ein wenig, und er war rot, denn er litt an diesem Abend an heftigen Kopfschmerzen.
Aus Höflichkeit kehrten einige Leute in den Salon zurück, um noch einen Augenblick Platz zu nehmen. Man hatte gegessen, man konnte aufbrechen. Als man Verdier suchte, war er bereits fortgegangen; und mißmutig nahmen mehrere junge Mädchen nur das verschwommene Bild seines Rückens mit. Ohne auf Octave zu warten, entfernte sich Campardon mit dem Doktor, den er auf dem Treppenabsatz noch zurückhielt, um ihn zu fragen, ob wirklich keine Hoffnung mehr bestehe. Während des Tees war die eine Lampe ausgegangen und verbreitete nun einen Geruch nach ranzigem öl; und die andere Lampe, deren Docht blakte, erhellte den Raum mit einem so schauerlichen Schein, daß sich sogar Vabres trotz der Liebenswürdigkeiten erhoben, mit denen Frau Josserand sie überhäufte. Octave war ihnen in die Diele vorausgegangen, wo er eine Überraschung erlebte: Trublot, der seinen Hut nahm, war auf einmal verschwunden. Er konnte sich nur über den zur Küche führenden Gang aus dem Staub gemacht haben.
»Nanu, wo steckt er denn? Er benutzt den Dienstbotenaufgang!« murmelte der junge Mann. Aber er grübelte über dieses Vorkommnis nicht weiter nach.
Valérie war da und suchte nach einem Halstuch aus Crêpe de Chine. Die beiden Brüder, Théophile und Auguste, gingen hinab, ohne sich um sie zu kümmern.
Da Octave das Halstuch gefunden hatte, gab er es ihr nun mit der entzückten Miene, mit der er die hübschen Kundinnen im »Paradies der Damen« zu bedienen pflegte. Sie schaute ihn an, und er war überzeugt, daß ihre Augen Flammen gesprüht, als sie fest in seine Augen geschaut hatten.
»Sie sind zu liebenswürdig, mein Herr«, sagte sie einfach.
Frau Juzeur, die zuletzt aufbrach, umhüllte sie beide mit einem zärtlichen und diskreten Lächeln.
Und als Octave ganz erhitzt wieder in seinem kalten Zimmer angelangt war, betrachtete er sich einen Augenblick im Spiegel: Wahrhaftig, er konnte das Ding riskieren!
Unterdessen raste Frau Josserand stumm, wie von einem Gewittersturm fortgerissen, durch die öde Wohnung. Sie hatte ungestüm das Klavier zugeklappt, die letzte Lampe ausgelöscht; dann war sie ins Eßzimmer hinübergegangen und hatte begonnen, mit so kräftigem Atem die Kerzen auszublasen, daß die Hängelampe dabei erbebte. Der Anblick der kahlgegessenen Tafel mit ihrem wüsten Durcheinander von leeren Tellern und Tassen brachte sie noch mehr zur Raserei; und sie ging umher, warf fürchterliche Blicke auf ihre Tochter Hortense, die seelenruhig dasaß und das verbrannte Kopfende der Brioche aufaß.
»Du ärgerst dir ja schon wieder die Galle an den Hals, Mama«, sagte Hortense. »Es klappt also nicht? Ich bin jedenfalls zufrieden. Er kauft ihr Hemden, damit sie endlich geht.«
Die Mutter zuckte die Achseln.
»Was? Du meinst, das beweise nichts? Also gut, steuere du dein Schifflein, wie ich das meine steuere ... Na, das ist ja eine Brioche, die sich was darauf einbilden kann, so schlecht zu sein! Da darf man wirklich nicht zimperlich sein, um so ein Dreckzeug hinunterzuschlingen.«
Herr Josserand, der nach den Abendgesellschaften seiner Frau immer wie zerschlagen war, gönnte sich auf einem Stuhl etwas Erholung; aber er bekam Angst vor einem Zusammenstoß, er fürchtete, seine Frau könnte ihn bei ihrem wütenden Gerenne mit fortreißen; und er trat zu Bachelard und Gueulin, die Hortense gegenüber am Tisch saßen. Der Onkel hatte beim Erwachen ein Fläschchen Rum entdeckt. Er leerte es, wobei er voller Bitterkeit wieder auf die zwanzig Francs zurückkam.
»Es ist nicht wegen des Geldes«, sagte er immer wieder zu seinem Neffen, »sondern wegen der Art und Weise ... Du weißt ja, wie ich zu den Frauen bin: mein Hemd würde ich ihnen geben, aber ich will nicht, daß sie es verlangen ... Sobald sie was verlangen, wurmt es mich, und ich rücke keinen roten Heller für sie raus.« Und als ihn seine Schwester an seine Versprechungen erinnern wollte, sagte er: »Sei still, Eléonore! Ich weiß, was ich für die Kleine tun muß ... Aber, siehst du, Frauen, die was verlangen, die gehen über meine Kräfte. So eine habe ich nie lange behalten können, nicht wahr, Gueulin? Und außerdem zeigt man wirklich so wenig Rücksichtnahme! Léon hat nicht einmal geruht, mir zum Namenstag Glück zu wünschen.«
Mit verkrampften Fäusten nahm Frau Josserand ihre Wanderung wieder auf. Richtig, da war ja auch noch Léon, der immer Versprechungen machte und sie wie die anderen im Stich zu lassen pflegte. Auch so einer, der keinen Abend geopfert hätte, um seine Schwestern unter die Haube zu bringen! Soeben hatte sie einen Petit Four entdeckt, der hinter die eine Vase gefallen war, und sie verschloß ihn in eine Schublade, da brachte Berthe, die hinausgegangen war, um Saturnin zu befreien, diesen mit zurück. Sie beschwichtigte ihn, während er verstört mit mißtrauischen Augen fieberhaft in den Ecken herumstöberte wie ein Hund, der lange eingesperrt gewesen ist.
»Ist der aber dumm!« sagte Berthe. »Er glaubt, man hätte mich eben unter die Haube gebracht. Und nun sucht er den Ehemann! Wahrhaftig, mein armer Saturnin, da kannst du lange suchen ... Wo ich dir doch sage, daß es schiefgegangen ist! Du weißt genau, daß es immer schiefgeht.«
Da explodierte Frau Josserand.
»Oh, ich schwöre euch, diesmal geht es nicht schief, und wenn ich selber ihm die Pfote festbinden müßte! Einer ist da, der für die anderen büßen wird ... Ja, ja, mein lieber Josserand, du kannst mich noch so sehr mustern und dabei aussehen, als ob du nicht verstehst: die Hochzeit findet statt, und zwar ohne dich, wenn es dir nicht paßt ... Hörst du, Berthe, den da brauchst du nur aufzulesen!«
Saturnin schien nicht zu verstehen. Er schaute unter den Tisch. Das junge Mädchen deutete mit einem Wink auf ihn; aber Frau Josserand machte eine Gebärde, als wolle sie erklären, daß man ihn schon verschwinden lassen werde. Und Berthe murmelte: »Du meinst also tatsächlich Herrn Vabre? Na, mir ist es gleich ... Daß man mir allerdings kein belegtes Brötchen aufgehoben hat ...!«