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Viertes Kapitel

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Gleich vom folgenden Tage an befaßte sich Octave mit Valérie. Er kundschaftete aus, was sie gewöhnlich um die Zeit tat, da er Aussicht hatte, ihr auf der Treppe zu begegnen; und er richtete es so ein, daß er oft in sein Zimmer hinaufstieg, machte sich das Mittagessen zunutze, das er bei Campardons einnahm, entschlüpfte nötigenfalls unter einem Vorwand aus dem »Paradies der Damen«. Bald bemerkte er, daß die junge Frau, die ihr Kind in den Jardin des Tuileries17 auszuführen pflegte, alle Tage gegen zwei Uhr durch die Rue Gaillon ging. Da pflanzte er sich dann in der Ladentür auf, er wartete auf sie, grüßte sie mit dem ihm eigenen galanten Lächeln eines schönen Verkäufers. Bei jeder ihrer Begegnungen grüßte Valérie höflich mit einem Kopfnicken zurück, ohne jemals stehenzubleiben; aber er sah ihren schwarzen Blick vor Leidenschaft brennen, in ihrem vergrämten Gesicht und im geschmeidigen Wiegen ihrer Taille entdeckte er etwas, das ihn ermutigte.

Sein Plan stand bereits fest, der kühne Plan eines Verführers, der gewohnt ist, mit der Tugend der Ladenmädchen rücksichtslos umzuspringen. Es drehte sich einfach darum, Valérie in sein Zimmer im vierten Stock hinaufzulocken; die Treppe war stets menschenleer und feierlich, dort oben würde sie niemand entdecken; und er ergötzte sich bei dem Gedanken an die moralischen Ermahnungen des Architekten, denn eine Frau aus dem Hause nehmen war ja etwas anderes als Frauen mitbringen.

Doch ein Umstand beunruhigte Octave. Die Küche der Familie Pichon war durch den Gang von ihrem Eßzimmer getrennt, wodurch sie genötigt waren, ihre Tür häufig offenzulassen. Gleich um neun Uhr pflegte Herr Pichon ins Büro zu gehen, um erst gegen fünf Uhr wieder heimzukehren; und alle zwei Tage ging er in der Woche nach dem Abendessen noch weg, um von acht Uhr bis Mitternacht Bücher zu führen. Übrigens schlug die junge Frau, sobald sie Octaves Schritt hörte, die Tür zu, denn sie war sehr zurückhaltend, fast scheu. Er erblickte sie nur von hinten und gleichsam fliehend, mit ihrem blassen, in einen schmalen Knoten zusammengezwängten Haar. Durch diese diskreterweise stets nur einen Spalt breit geöffnete Tür hatte er bisher lediglich einige Winkel der Häuslichkeit erhascht, traurige und saubere Möbel, Wäschestücke, deren Weiß im grauen Tageslicht eines Fensters, das er nicht sehen konnte, glanzlos geworden war, die Ecke eines Kinderbetts hinten in einem zweiten Zimmer, die ganze monotone Einsamkeit einer Frau, die von morgens bis abends den stets gleichen Obliegenheiten eines Beamtenhaushalts nachgeht. Niemals übrigens ein Geräusch; das Kind schien stumm und müde zu sein wie die Mutter; kaum war dann und wann das leise Summen eines schmachtenden Liedes zu hören, das die Mutter stundenlang mit ersterbender Stimme vor sich hin trällerte. Aber nichtsdestoweniger war Octave wütend auf diese Zicke, wie er sie, nannte. Vielleicht spionierte sie ihm nach. Auf jeden Fall würde Valérie niemals hinaufkommen können, wenn die Tür von Pichons dauernd so aufging.

Gerade wähnte er die Angelegenheit im besten Zuge. Eines Sonntags war er, während der Gatte gerade abwesend war, so geschickt zu Werke gegangen, daß er sich in dem Augenblick auf dem Treppenflur des ersten Stocks befand, als die junge Frau im Morgenrock aus der Wohnung ihrer Schwägerin kam, um in ihre eigene Wohnung zurückzukehren; und sie hatte mit ihm sprechen müssen, sie waren einige Minuten verweilt und hatten ein paar höfliche Redensarten gewechselt. Kurzum, er hoffte, beim nächsten Mal in ihre Wohnung vorzudringen. Das weitere pflegte bei einer Frau mit solchem Temperament ganz von selbst zu gehen.

An diesem Abend wurde bei Campardons während des Abendessens Valérie vorgenommen. Octave suchte das Ehepaar zum Reden zu bringen. Da Angèle aber lauschte und Lisa, die im Begriff war, mit ernster Miene eine Hammelkeule aufzutragen, verstohlene Blicke zuwarf, ergingen sich die Eltern zunächst in Lobeserhebungen. Übrigens verteidigte der Architekt jederzeit die »Achtbarkeit« des Hauses mit der Überzeugung eines eitlen Mieters, der daraus eine ungeteilte Ehrbarkeit seiner eigenen Person herzuleiten schien.

»Oh, mein Lieber, anständige Leute ... Sie haben sie ja bei Josserands gesehen. Der Mann ist kein Dummkopf: er steckt voller Ideen, am Ende wird er noch etwas ganz Bedeutendes herausbringen. Was die Frau angeht, so hat sie ihr eigenes Gepräge, wie wir Künstler sagen.«

Frau Campardon, die sich seit dem Vortage wieder schlechter fühlte und halb und halb bettlägerig war, wenngleich ihre Krankheit sie nicht daran hinderte, dicke, innen noch blutige Scheiben Roastbeef zu essen, murmelte ihrerseits matt: »Der arme Herr Théophile, ihm gehtʼs wie mir, er schleppt sich so dahin ... Wahrhaftig, es ist verdienstvoll von Valérie, denn eine Freude ist es nicht, unaufhörlich einen vor Fieber zitternden Mann neben sich zu haben, den die Krankheit meistens quengelig und ungerecht macht.«

Beim Nachtisch erfuhr der zwischen dem Architekten und seiner Frau sitzende Octave mehr darüber, als er begehrte. Sie vergaßen Angèle, sie sprachen in Andeutungen, mit kurzen Blicken, die den Doppelsinn der Sätze unterstrichen; und wenn ihnen der passende Ausdruck fehlte, beugten sie sich abwechselnd zu ihm hinüber und sagten das, was sie ihm Vertrauliches mitteilen wollten, ihm unverblümt ins Ohr. Alles in allem sei dieser Théophile ein Trottel und obendrein impotent, der es verdiene, daß ihn seine Frau so behandelte. Was Valérie angehe, so tauge sie nicht viel; selbst wenn ihr Mann sie befriedigen könnte, würde sie sich ebenso schlecht aufführen, so sehr gehe die Natur mit ihr durch. Alle Welt wisse übrigens ganz genau, daß sie sich in ihrer Verzweiflung darüber, niemals ein Kind zu bekommen, und in der Furcht, ihren Anteil an der Hinterlassenschaft des alten Vabre einzubüßen, falls Théophile etwa sterben sollte, ihren kleinen Camille zwei Monate nach ihrer Verheiratung von einem Fleischergesellen aus der Rue Sainte-Anne hatte machen lassen.

Campardon neigte sich ein letztes Mal zu Octaves Ohr.

»Wissen Sie, mein Lieber, mit einem Wort: eine hysterische Frau!« Und in dieses Wort legte er die ganze schmutzige Phantasie eines Spießbürgers, das genüßliche wurstlippige Lächeln eines Familienvaters, der, plötzlich losgelassen, sich an orgiastischen Bildern weidet.

Angèle sah, als hätte sie verstanden, auf ihren Teller nieder und vermied es, Lisa anzublicken, um nicht lachen zu müssen.

Aber das Gespräch nahm eine andere Wendung, man unterhielt sich jetzt über Pichons, und die Lobesworte wollten kein Ende nehmen.

»Oh, die! Was für rechtschaffene Leute!« sagte Frau Campardon immer wieder. »Manchmal erlaube ich Marie, wenn sie mit ihrer kleinen Lilitte ausgeht, Angèle mitzunehmen. Und das schwöre ich Ihnen, Herr Mouret, all und jedem vertraue ich meine Tochter nicht an; ich muß der Moral der Leute unbedingt sicher sein ... Nicht wahr, Angèle, du hast Marie doch gern?«

»Ja, Mama«, erwiderte Angèle.

Es folgten weitere Einzelheiten. Es sei unmöglich, eine Frau zu finden, die besser und in strengeren Grundsätzen erzogen worden sei. So müsse man denn auch sehen, wie glücklich der Mann sei! Ein so nettes und sauberes einfaches Ehepaar, das einander anbete und bei dem niemals der geringste Streit zu hören sei!

»Übrigens würde man sie nicht im Hause behalten, wenn sie sich schlecht aufführten«, sagte der Architekt ernst und vergaß dabei, was er Vertrauliches über Valérie von sich gegeben hatte. »Hier wünschen wir nur ehrbare Leute ... Mein Ehrenwort, an dem Tage, da meine Tochter der Gefahr ausgesetzt wäre, Weibsbildern auf der Treppe zu begegnen, würde ich kündigen.«

An diesem Abend wollte er mit der Cousine Gasparine heimlich in die Opéra-Comique gehen. Daher holte er auch gleich seinen Hut, wobei er allerdings von einem Geschäft sprach, das ihn bis in die späte Nacht aufhalten würde.

Rose jedoch mußte über diese Geschichte Bescheid wissen, denn als ihr Mann sie mit seiner gewohnten überströmenden Zärtlichkeit küßte, hörte Octave, wie sie mit ihrer ergebenen und mütterlichen Stimme leise sagte: »Amüsiere dich gut und erkälte dich nicht nach Schluß der Vorstellung.«

Am Tage darauf kam Octave ein Gedanke: nämlich mit Frau Pichon Freundschaft zu schließen, indem er ihr gutnachbarliche Gefälligkeiten erwies; so würde sie, falls sie Valérie jemals ertappte, beide Augen zudrücken. Und noch am gleichen Tage bot sich eine Gelegenheit. Frau Pichon pflegte Lilitte, die jetzt anderthalb Jahre alt war, in einem Korbwägelchen spazierenzufahren, über das Herr Gourd in Zorn geriet; nie hatte der Concierge darin eingewilligt, daß der Wagen über die Haupttreppe hinaufgeschafft wurde, er mußte über den Dienstbotenaufgang getragen werden; und da die Wohnungstür oben zu schmal war, mußten jedesmal Räder und Deichsel abmontiert werden, was viel Arbeit machte. An diesem Tage nun kam Octave gerade nach Hause, als seine Nachbarin sich damit abmühte, die Muttern zu lösen, wobei ihr ihre Handschuhe hinderlich waren. Als sie merkte, daß er hinter ihr stand und darauf wartete, daß sie den Treppenflur frei machte, verlor sie völlig den Kopf, und ihre Hände zitterten.

»Aber Madame, warum machen Sie sich diese ganze Mühe?« fragte er schließlich. »Es wäre doch einfacher, diesen Wagen hinten im Gang hinter meine Tür zu stellen.«

Sie antwortete nicht in ihrer übermäßigen Schüchternheit, die sie in hockender Stellung verharren ließ, weil sie nicht die Kraft hatte, sich wieder aufzurichten; und er sah, wie unter dem Halbschleier ihres Huts glühende Röte den Nacken und die Ohren überflutete. Da ließ er nicht locker.

»Ich schwöre Ihnen, Madame, es würde mich keineswegs stören.« Ohne abzuwarten, nahm er den Wagen, trug ihn ganz selbstverständlich davon.

Sie mußte ihm folgen; aber sie blieb so verwirrt, so verstört über dieses in ihrem platten Alltagsleben recht beachtliche Erlebnis, daß sie bei seinem Tun zusah und nichts als Bruchstücke von gestammelten Sätzen hervorbrachte: »Mein Gott, das macht doch zuviel Mühe, mein Herr ... Ich bin beschämt, Sie werden sich den Platz verstellen ... Mein Mann wird sehr froh sein ...«

Und sie kehrte in ihre Wohnung zurück; von einer Art Scham erfüllt, schloß sie diesmal fest hinter sich zu.

Octave hielt sie für dämlich. Der Wagen störte ihn sehr, denn er war ihm beim öffnen seiner Tür hinderlich, und er mußte sich schräg in sein Zimmer zwängen. Aber seine Nachbarin schien gewonnen, zumal Herr Gourd dank Campardons Fürsprache gern diese Mißlichkeit hinten in diesem entlegenen Gang zuließ.

Jeden Sonntag kamen Maries Eltern, Herr und Frau Vuillaume, um den Tag bei ihr zu verbringen. Als Octave am nächsten Sonntag fortging, erblickte er die ganze Familie beim Kaffeetrinken; und taktvoll beschleunigte er seine Schritte, da stand Herr Pichon, nachdem sich die junge Frau rasch zu seinem Ohr hinübergebeugt hatte, eilends auf und sagte:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, ich bin immer außer Hause, ich habe Ihnen noch nicht danken können. Aber mir liegt sehr daran, Ihnen zum Ausdruck zu bringen, wie glücklich ich war ...«

Octave wehrte ab. Kurzum, er mußte eintreten. Obgleich er bereits Kaffee getrunken hatte, nötigte man ihn, eine Tasse anzunehmen. Um ihm eine Ehre zu erweisen, hatte man ihn zwischen Herrn und Frau Vuillaume gesetzt. Gegenüber, auf der anderen Seite des runden Tisches, überkam Marie wieder eine jener Anwandlungen von Verwirrung, die ihr alle Augenblicke ohne sichtlichen Anlaß alles Blut des Herzens ins Gesicht trieb. Er betrachtete sie, denn er hatte sie sich noch nie in aller Muße ansehen können. Aber sie war, wie Trublot zu sagen pflegte, nicht sein Ideal: er fand, sie sei dürftig, farblos, habe ein ausdrucksloses Gesicht, schütteres Haar, aber feine und hübsche Züge.

Als sie sich ein wenig gefaßt hatte, lachte sie mehrmals leise und sprach wieder von dem Wagen, über den sie sich nicht genug auslassen konnte.

»Jules, wenn du gesehen hättest, wie der Herr ihn auf seinen Armen davontrug ... Ach ja, das ging ruck, zuck!«

Pichon bedankte sich abermals. Er war groß und mager, sah kränklich aus, war schon gebeugt vom maschinemäßigen Büroleben, und in seinen trüben Augen lag die stumpfsinnige Ergebenheit eines Schulpferdes.

»O bitte! Reden wir nicht weiter davon«, sagte Octave schließlich. »Das ist wirklich nicht der Mühe wert ... Madame, Ihr Kaffee ist vorzüglich, ich habe niemals so guten Kaffee getrunken.«

Sie errötete abermals, und zwar so heftig, daß selbst ihre Hände rosig wurden.

»Setzen Sie ihr keine Flausen in den Kopf, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume ernst. »Ihr Kaffee ist gut, aber es gibt besseren. Und Sie sehen ja, daß sie sich gleich etwas drauf eingebildet hat!«

»Eingebildetsein taugt nichts«, erklärte Frau Vuillaume. »Wir haben sie stets zu Bescheidenheit ermahnt.«

Beide waren sie klein und dürr, sehr alt und sahen grau im Gesicht aus; die Frau war in ein schwarzes Kleid gezwängt, der Mann trug einen dünnen Überrock, auf dem nur der Fleck eines breiten, roten Ordensbandes zu sehen war.

»Herr Mouret«, fing Herr Vuillaume wieder an, »mir ist im Alter von sechzig Jahren an dem Tag das Kreuz der Ehrenlegion18 verliehen worden, als ich in Pension ging, nachdem ich neununddreißig Jahre lang Schriftführer im Unterrichtsministerium gewesen bin. Nun, mein Herr, an diesem Tag habe ich wie an allen anderen Tagen zu Abend gegessen, ohne daß mich Hochmut von meinen Gewohnheiten abgebracht hätte ... Das Kreuz stand mir zu, das wußte ich. Ich war lediglich von Dankbarkeit erfüllt.« Sein Dasein war klar, jedermann sollte es kennenlernen. Nach fünfundzwanzig Dienstjahren war sein Jahresgehalt auf viertausend Francs erhöht worden. Seine Pension betrug demnach zweitausend Francs. Da ihre kleine Marie aber erst spät zur Welt gekommen war, als Frau Vuillaume keine Kinder mehr zu bekommen hoffte, hatte er als Expedient mit fünfzehnhundert Francs wieder arbeiten gehen müssen. Jetzt, da das Kind versorgt war, lebten sie von der Pension, indem sie sich in der Rue Durantin auf dem Montmartre, wo das Leben weniger teuer war, mit einer kleinen Wohnung begnügten. »Ich bin sechsundsiebzig Jahre alt«, sagte er zum Abschluß, »und so istʼs eben, lieber Schwiegersohn, so istʼs eben!«

Schweigsam und müde, die Augen auf seinen Orden geheftet, sah Pichon ihn an. Ja, das würde auch seine Geschichte sein, wenn das Glück ihm hold war. Er war der jüngste Sohn einer Obsthändlerin, die ihren Laden durchgebracht hatte, damit er das Abitur machen konnte, weil das ganze Stadtviertel ihm große Klugheit nachsagte; und acht Tage vor seinem Triumph an der Sorbonne19 war sie zahlungsunfähig gestorben. Nachdem er sich drei Jahre kümmerlich bei einem Onkel hatte durchschlagen müssen, hatte er das unverhoffte Glück gehabt, ins Ministerium eintreten zu können, das ihn zum Erfolg führen sollte und wo man ihm bereits zur Heirat verholfen hatte.

»Man tut seine Pflicht, die Regierung tut die ihre«, murmelte er, während er die mechanische Rechnung aufstellte, daß er noch sechsunddreißig Jahre zu warten hatte, bis er mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde und zweitausend Francs Pension erhielt. Dann wandte er sich zu Octave: »Sehen Sie, mein Herr, eine Last sind vor allem die Kinder.«

»Allerdings«, sagte Frau Vuillaume. »Hätten wir noch ein zweites bekommen, wären wir niemals ausgekommen ... Denken Sie deshalb auch daran, Jules, was ich verlangt habe, als ich Ihnen Marie zur Frau gab: ein Kind, nicht mehr, oder wir würden Ärger miteinander bekommen! Nur die Arbeiter hecken Junge, so wie die Hühner Eier legen, unbesorgt darum, was das mal kostet. Freilich lassen sie sie dann ja auch draußen rumlaufen; wahre Viehherden, die mich auf den Straßen anekeln.«

Octave hatte Marie angeblickt, da er meinte, dieses heikle Thema werde ihre Wangen purpurrot färben. Aber sie blieb blaß, sie pflichtete ihrer Mutter mit der Seelenruhe eines unschuldigen Mädchens bei. Octave langweilte sich tödlich und wußte nicht, auf welche Art und Weise er sich entfernen sollte. So also pflegten diese Leute den Nachmittag in dem kleinen, kalten Eßzimmer zu verbringen, indem sie alle fünf Minuten langsam ein paar Worte kauten, in denen nur von ihren eigenen Angelegenheiten die Rede war. Selbst das Dominospiel fanden sie zu aufregend.

Jetzt setzte Frau Vuillaume ihre Ansichten auseinander. Nach einem langen Stillschweigen, das allen vieren keinerlei Verlegenheit bereitete, als hätten sie das Bedürfnis verspürt, sich neue Gedanken zurechtzulegen, meinte sie:

»Sie haben kein Kind, mein Herr? Das kommt noch ... Ach, es bedeutet Verantwortung, besonders für eine Mutter! Als die Kleine da geboren wurde, war ich neunundvierzig Jahre alt, mein Herr, ein Alter, in dem man sich glücklicherweise zu benehmen weiß. Ein Junge wächst ja noch von selbst auf, aber ein Mädchen! Und ich habe wenigstens den Trost, meine Pflicht getan zu haben, o ja!«

Nun trug sie in kurzen Sätzen ihren Erziehungsplan vor. Zunächst einmal Ehrbarkeit. Keine Spielereien auf der Treppe, die Kleine stets zu Hause und sorgfältig beaufsichtigt halten, denn die Gassenmädel haben nur Schlechtigkeiten im Sinn. Die Türen geschlossen, die Fenster zu, nur kein Luftzug, der garstige Dinge von der Straße hereinbringt. Draußen keinesfalls die Hand des Kindes loslassen, es daran gewöhnen, die Augen niedergeschlagen zu halten, um jedem schlechten Anblick zu entgehen. In Sachen der Religion keine Übertreibung, gerade so viel, wie als sittlicher Kern notwendig ist. Wenn das Mädchen dann größer geworden, Hauslehrerinnen nehmen, es nicht in Pensionate stecken, wo die Unschuldigen verdorben werden; und obendrein muß man dem Unterricht beiwohnen, auf das achtgeben, was das Kind nicht wissen darf, die Zeitungen selbstverständlich verstecken und den Bücherschrank abschließen. Ein kleines Fräulein erfährt davon noch immer zuviel, erklärte die alte Dame abschließend.

Während ihre Mutter sprach, schaute Marie mit verschwommenem Blick ins Leere. Sie sah die klösterlich abgesperrte kleine Wohnung wieder, diese engen Räume in der Rue Durantin, wo sie sich nicht mit den Ellbogen aufs Fensterbrett lehnen durfte. Es war eine verlängerte Kindheit, allerlei Verbote, die sie nicht begriff, Zeilen, die ihre Mutter in ihrer Modezeitung mit Tinte durchstrich und deren schwarze Balken sie zum Erröten brachten, von Anstößigkeiten gereinigte Lektionen, die selbst ihre Lehrerinnen in Verlegenheit setzten, wenn sie diese ausfragte. Eine sehr sanfte Kindheit im übrigen, ein schlaffes und laues Heranwachsen wie in einem Treibhaus, ein Wachtraum, in dem die Wörter der Sprache und die täglichen Begebenheiten zu albernen Bedeutungen entstellt wurden. Und noch jetzt, da sie, von diesen Erinnerungen erfüllt, verloren vor sich hin blickte, schwebte auf ihren Lippen das Lachen eines Kindes, das in der Ehe unwissend geblieben war.

»Sie können mir wirklich glauben, wenn es Ihnen beliebt, mein Herr«, sagte Herr Vuillaume, »meine Tochter hatte mit über achtzehn Jahren noch keinen einzigen Roman gelesen ... Nicht wahr, Marie?«

»Ja, Papa.«

»Ich besitze«, fuhr er fort, »die sehr schön eingebundenen gesammelten Werke von George Sand20, und trotz der Befürchtungen ihrer Mutter habe ich mich entschlossen, ihr ein paar Monate vor ihrer Verheiratung zu erlauben, den ›André21‹ zu lesen, ein ungefährliches, phantasievolles Werk, das die Seele erhebt ... Ich, ich bin für eine freisinnige Erziehung. Die Literatur hat gewiß ihre Berechtigung ... Diese Lektüre hat eine außerordentliche Wirkung auf unsere Tochter ausgeübt, mein Herr. Sie weinte nachts im Schlafe: ein Beweis dafür, daß zum Begreifen des Genies nichts besser geeignet ist als eine reine Phantasie.«

»Es ist so schön!« murmelte die junge Frau, deren Augen glänzten.

Aber nachdem Pichon die folgende Theorie dargelegt hatte: vor der Ehe keine Romane, in der Ehe alle Romane, schüttelte Frau Vuillaume den Kopf. Sie lese niemals und befände sich doch wohl dabei.

Nun sprach Marie leise von ihrer Einsamkeit.

»Mein Gott, bisweilen nehme ich ein Buch zur Hand. Übrigens sucht Jules sie für mich in der Leihbücherei in der Passage Choiseul aus ... Wenn ich wenigstens noch Klavier spielen könnte!«

Octave verspürte schon lange das Bedürfnis, einen Satz anzubringen.

»Wie, Madame!« rief er aus. »Sie spielen nicht Klavier?«

Es entstand Verlegenheit. Die Eltern schützten eine Verkettung unglücklicher Umstände vor, da sie nicht eingestehen wollten, daß sie die Kosten gescheut hatten. Übrigens versicherte Frau Vuillaume, Marie könne von Geburt aus richtig singen; als junges Mädchen habe sie allerlei sehr hübsche Lieder singen können, sie hätte die Melodien nur einmal zu hören brauchen, um sie zu behalten; und die Mutter erinnerte an jenes spanische Lied – die Geschichte einer Gefangenen, die sich nach ihrem Herzliebsten sehnt –, das sie als Kind so ausdrucksvoll vorzutragen pflegte, daß auch den verstocktesten Herzen Tränen entlockt wurden.

Aber Marie blieb untröstlich. Die Hand nach dem Nebenzimmer ausstreckend, wo ihr Töchterlein schlief, beteuerte sie: »Ach, ich schwöre feierlich, daß Lilitte Klavier spielen lernen wird, und wenn ich die größten Opfer bringen müßte!«

»Denke zunächst einmal daran, sie so zu erziehen, wie wir dich selber erzogen haben«, sagte Frau Vuillaume streng. »Gewiß, ich habe nichts gegen die Musik, sie entfaltet das Gemüt. Vor allem aber gib auf deine Tochter acht, halte die schlechte Luft von ihr fern, sieh zu, daß sie ihre Unwissenheit bewahrt ...« Sie begann wieder von vorn, sie legte sogar noch mehr Nachdruck auf die Religion, legte fest, wie oft ein Mädchen im Monat zur Beichte zu gehen habe, bestimmte die Messen, die man unbedingt besuchen müsse, und das alles unter dem Gesichtspunkt der Schicklichkeit.

Da sprach Octave erschöpft von einer Verabredung, die ihn nötige aufzubrechen. Seine Ohren sausten vor Langeweile, er war sich klar, daß dieses Gespräch in solcher Weise bis zum Abend weitergehen würde. Und er flüchtete, mochten doch die Vuillaumes und die Pichons vor immer denselben langsam ausgetrunkenen Tassen Kaffee sitzen und sich untereinander erzählen, was sie sich Sonntag für Sonntag aufs neue wiederholten. Als er ein letztes Mal grüßte, wurde Marie mit einem Schlag und ohne Grund purpurrot.

Von diesem Nachmittag an beschleunigte Octave sonntags vor der Tür der Pichons seine Schritte, besonders wenn er Herrn und Frau Vuillaumes rechthaberische Stimmen hörte. Im übrigen war er ganz mit Valéries Eroberung beschäftigt. Trotz der flammenden Blicke, deren Ziel er zu sein glaubte, wahrte sie eine unerklärliche Zurückhaltung; und darin sah er das Spiel einer koketten Frau. Eines Tages begegnete er ihr sogar wie zufällig im Jardin des Tuileries, wo sie seelenruhig über ein Gewitter vom Tage zuvor zu plaudern begann, was ihn vollends darin bestärkte, daß verteufelt viel mit ihr los sei. So ging er denn überhaupt nicht mehr von der Treppe weg und paßte den Augenblick ab, da er, zur Brutalität entschlossen, in ihre Wohnung eindringen konnte.

Sooft er jetzt vorüberging, lächelte Marie errötend. Sie wechselten freundnachbarliche Grüße. Als er ihr eines Tages gegen Mittag einen Brief hinaufbrachte, womit Herr Gourd ihn betraut hatte, um sich die vier Treppen zu ersparen, fand er sie in arger Verlegenheit: gerade hatte sie Lilitte im Hemd auf den runden Tisch gesetzt und war bemüht, sie wieder anzukleiden.

»Was gibtʼs denn?« fragte der junge Mann.

»Ach, es ist wegen der Kleinen hier!« erwiderte sie. »Mir ist der unselige Einfall gekommen, sie auszuziehen, weil sie jammerte. Und nun weiß ich nicht mehr weiter, ich weiß nicht mehr weiter!«

Er blickte sie verwundert an. Sie drehte einen Rock hin und her, suchte die Häkchen. Dann setzte sie hinzu:

»Sie verstehen, ihr Vater hilft mir doch immer morgens, bevor er geht, sie zurechtzumachen ... Allein finde ich mich in ihren Sachen ja nie zurecht. Das ärgert mich, das regt mich auf ...«

Die Kleine, die es satt hatte, im Hemd dazusitzen, und durch Octaves Anblick erschreckt war, zappelte und warf sich auf dem Tisch hintenüber.

»Geben Sie acht!« rief er. »Sie wird gleich runterfallen.«

Es war eine Katastrophe. Marie sah ganz so aus, als wage sie die nackten Glieder ihrer Tochter gar nicht zu berühren. Sie betrachtete sie unausgesetzt mit der Verblüffung einer Jungfrau, die bestürzt darüber ist, daß sie so was hat machen können. Und außer der Furcht, der Kleinen Schaden zuzufügen, gesellte sich zu ihrer Ungeschicklichkeit ein unbestimmter Widerwille vor diesem lebenden Fleisch. Doch mit Hilfe Octaves, der sie beruhigte, kleidete sie Lilitte wieder an.

»Was machen Sie bloß, wenn Sie erst ein Dutzend haben?« sagte er lachend.

»Aber wir werden ja nie mehr eins bekommen!« erwiderte sie verstört.

Da scherzte er: es sei nicht recht von ihr, das zu beschwören, ein Kind sei so schnell gemacht!

»Nein, nein!« sagte sie immer wieder hartnäckig. »Sie haben Mama neulich gehört. Sie hat es Jules doch verboten ... Sie kennen sie nicht; es gäbe endlose Streitigkeiten, wenn noch ein zweites käme.«

Octave hatte seinen Spaß an der Gelassenheit, mit der sie diese Frage erörterte. Er setzte ihr weiter zu, ohne daß es ihm gelang, sie verlegen zu machen.

Sie mache übrigens, was ihr Mann wolle. Freilich, sie liebe Kinder; hätte sich ihr Mann noch welche wünschen dürfen, so hätte sie nicht nein gesagt. Und unter dieser Willfährigkeit, die sich den Befehlen der Mutter unterordnete, stach die Gleichgültigkeit einer Frau hervor, deren Mütterlichkeit noch nicht erwacht war. Lilitte nahm sie nicht mehr in Anspruch als ihr Haushalt, den sie aus Pflichtgefühl führte. Hatte sie das Geschirr abgewaschen und die Kleine spazierengefahren, so setzte sie ihr altes, von schläfriger Leere erfülltes Jungmädchenleben fort, eingewiegt von der unbestimmten Erwartung einer Freude, die nicht kommen wollte. Als Octave gesagt hatte, immer so allein müsse sie sich doch langweilen, schien sie überrascht zu sein; nein, sie langweile sich niemals, die Tage flössen ja trotz alledem dahin, ohne daß sie beim Schlafengehen wisse, mit welcher Arbeit sie sie verbracht habe. Außerdem gehe sie sonntags zuweilen mit ihrem Mann aus; ihre Eltern kämen, oder sie lese auch. Würde sie vom Lesen keine Kopfschmerzen bekommen, so hätte sie jetzt, da sie alles lesen durfte, von morgens bis abends gelesen.

»Ärgerlich ist nur«, meinte sie, »daß sie in der Leihbücherei in der Passage Choiseul nichts haben ... So wollte ich ›André‹ haben, um ihn noch einmal zu lesen, so sehr hat es mich damals zu Tränen gerührt. Nun ja, gerade ist ihnen der Band gestohlen worden ... Dazu schlägt mir mein Vater seinen eigenen ab, weil Lilitte die Bilder zerreißen könnte.«

»Aber mein Freund Campardon«, sagte Octave, »hat die ganze George Sand ... Ich werde ihn um ›André‹ für Sie bitten.«

Sie errötete, ihre Augen glänzten. Wahrhaftig, er sei zu liebenswürdig!

Und als er sie verließ, stand sie mit baumelnden Armen, den Kopf ohne jeden Gedanken, vor Lilitte, in der Haltung, die sie ganze Nachmittage lang beibehielt. Nähen verabscheute sie, sie häkelte, und zwar immerzu die gleichen Spitzendeckchen, die auf den Möbeln herumlagen.

Am Tage darauf, einem Sonntag, brachte Octave ihr das Buch. Pichon hatte fortgehen müssen, um eine Visitenkarte bei einem seiner Vorgesetzten abzugeben. Und da der junge Mann Marie fertig angekleidet antraf – sie war gerade von einem Gang in die Nachbarschaft zurückgekehrt –, fragte er sie aus Neugierde, ob sie aus der Messe zurückkäme, denn er hielt sie für fromm.

Sie verneinte. Bevor ihre Mutter sie verheiratet hatte, habe sie sie ganz regelmäßig hingeführt. Während des ersten halben Jahres ihrer Ehe sei sie, da sie sich daran gewöhnt hatte, wieder hingegangen, in der ständigen Furcht, zu spät zu kommen. Als sie dann einige Messen versäumt habe, habe sie – warum, wisse sie nicht – den Fuß nicht mehr in eine Kirche gesetzt. Ihr Mann könne die Priester nicht ausstehen, und ihre Mutter sage zu ihr jetzt nicht einmal mehr ein Sterbenswort davon. Allerdings war sie durch Octaves Frage bewegt, als hätte er in ihr soeben Dinge wachgerufen, die unter den Trägheiten ihres Daseins begraben lagen.

»Ich muß doch demnächst mal morgens in die Kirche Saint-Roch gehen«, sagte sie. »Eine Beschäftigung, die einem fehlt, das ruft sogleich eine Leere hervor.« Und auf diesem blassen Gesicht eines spät zur Welt gekommenen, von zu alten Eltern gezeugten Mädchens tauchte die krankhafte Sehnsucht nach einem anderen Dasein auf, das einst im Land der Phantasiegebilde erträumt worden war. Sie konnte nichts verheimlichen, alles stieg ihr ins Gesicht, unter diese Haut, die wie bei Bleichsucht fein und durchsichtig war. Dann wurde sie gerührt, mit einer vertraulichen Gebärde ergriff sie Octaves Hände. »Ach, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mir dieses Buch gebracht haben! Kommen Sie morgen nach dem Mittagessen. Ich werde es Ihnen zurückgeben und Ihnen sagen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat ... Das wird Spaß machen, nicht wahr?«

Als Octave sie verließ, dachte er, sie sei doch immerhin drollig. Sie interessierte ihn allmählich, er wollte mit Pichon sprechen, um ihn aufzutauen und zu veranlassen, sie ein bißchen aufzurütteln; denn sicherlich brauchte dieses Frauchen nur aufgerüttelt zu werden. Gerade am folgenden Tag traf er den Beamten, als der eben fortging; und er begleitete ihn auf die Gefahr hin, selber eine Viertelstunde zu spät ins »Paradies der Damen« zu kommen. Aber Pichon erschien ihm noch weniger aufgeschlossen als seine Frau, er steckte voller beginnender Wunderlichkeiten, sein ganzes Sinnen war darauf gerichtet, sich bei Regenwetter nicht die Schuhe zu beschmutzen. Er ging auf den Zehenspitzen und sprach dabei fortwährend von seinem stellvertretenden Bürovorsteher. Octave, der in dieser Angelegenheit von brüderlichen Absichten beseelt war, ließ ihn schließlich in der Rue Saint-Honoré laufen, nachdem er ihm geraten hatte, Marie oft ins Theater zu führen.

»Warum denn?« fragte Pichon verdutzt.

»Weil es gut ist für die Frauen. Das macht sie nett.«

»Ach, meinen Sie?«

Er versprach, daran zu denken, er überquerte die Straße, wobei er schreckerfüllt nach den Droschken ausspähte, da ihn im Leben allein die quälende Angst vor Dreckspritzern plagte.

Zum Mittagessen klopfte Octave bei den Pichons, um das Buch wieder abzuholen. Marie las, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beide Hände tief in das ungekämmte Haar vergraben. Soeben hatte sie, ohne erst ein Tischtuch aufzulegen, ein Ei aus einem Blechteller gegessen, der inmitten des Durcheinanders eines hastig gedeckten Tisches herumstand. Auf dem Boden schlief Lilitte, war dort vergessen worden und lag mit der Nase auf den Scherben eines Tellers, den sie sicher zerschlagen hatte.

»Nun?« fragte Octave.

Marie antwortete nicht sogleich. Sie hatte ihren Morgenrock anbehalten, dessen Knöpfe abgerissen waren, so daß ihr Hals zu sehen war, sah unordentlich aus wie eine Frau, die eben aufgestanden ist.

»Ich habe kaum hundert Seiten gelesen«, sagte sie schließlich. »Meine Eltern sind gestern gekommen.« Und sie sprach mühsam mit einem bitteren Geschmack im Mund: Als sie noch jung war, hätte sie gern tief in den Wäldern gewohnt. Immerzu hatte sie davon geträumt, sie träfe einen Jäger, der in sein Horn stieß. Er war näher gekommen und vor ihr in die Knie gesunken. Das war in einem Dickicht geschehen, in weiter Ferne, wo Rosen blühten wie in einem Park. Darauf waren sie mit einem Mal miteinander vermählt gewesen, und dann hatten sie ewig lustwandelnd dort gelebt. Sie war sehr glücklich gewesen und hatte sich nichts weiter gewünscht. Mit der Zärtlichkeit und Ergebenheit eines Sklaven hatte er ihr zu Füßen gelegen.

»Heute morgen habe ich mit Ihrem Mann gesprochen«, sagte Octave. »Sie gehen nicht genug aus, und ich habe ihn bewogen, Sie ins Theater zu führen.«

Aber sie schüttelte den Kopf, ein Schauer ließ sie erblassen. Es trat Schweigen ein. Sie fand sich in dem engen Eßzimmer mit seinem kalten Tageslicht wieder. Das Bild des mürrischen und korrekten Jules hatte jäh seinen Schatten auf den Jäger aus den Liedern, die sie sang, geworfen, auf den Jäger, dessen fernes Horn stets in ihren Ohren ertönte. Zuweilen horchte sie: vielleicht kam er. Ihr Mann hatte niemals ihre Füße in seine Hände genommen, um sie zu küssen; auch war er niemals niedergekniet, um ihr zu sagen, daß er sie anbete. Jedoch liebte sie ihn sehr; aber sie wunderte sich, daß die Liebe nicht mehr Süße in sich barg.

»Sehen Sie, mir benimmt es den Atem«, sagte sie, auf das Buch zurückkommend, »wenn in den Romanen Stellen vorkommen, wo die Leute einander Liebeserklärungen machen.«

Zum ersten Mal hatte sich Octave hingesetzt. Er hätte beinahe gelacht, da er gefühlsseligen Liebeleien wenig Geschmack abgewinnen konnte.

»Ich«, sagte er, »ich verabscheue leere Redensarten ... Wenn man füreinander schwärmt, ist es am besten, sich das sofort zu beweisen.«

Aber sie schien nicht zu begreifen, ihr Blick war klar.

Er streckte die Hand aus, streifte ihre Hand, beugte sich, um sich eine Stelle im Buch anzusehen, so weit zu ihr hinüber, daß sein Atem ihr durch den auseinanderklaffenden Morgenrock die Schulter wärmte, und ihr Fleisch blieb tot. Da stand er auf, von einer Geringschätzung erfüllt, in der auch etwas Mitleid lag.

Als er aufbrach, sagte sie noch: »Ich lese sehr langsam, vor morgen werde ich nicht fertig sein ... Morgen wirdʼs aber Spaß machen! Kommen Sie abends herein.«

Gewiß, er hatte nichts weiter mit ihr im Sinne, und dennoch war er in Aufruhr versetzt. In ihm entstand eine seltsame Freundschaft für dieses junge Ehepaar, das ihn aufbrachte, so blödsinnig kam es ihm dem Leben gegenüber vor. Und in ihm reifte der Gedanke, den beiden gegen ihren Willen gefällig zu sein: er würde sie zum Abendessen mitnehmen, würde sie betrunken machen, würde seinen Spaß daran haben, wenn sie sich einander an den Hals hängten. Wenn ihn diese Anwandlungen von Güte überkamen, dann warf er – der sonst keine zehn Francs verliehen hätte – das Geld leidenschaftlich gern zum Fenster hinaus, um zwei Verliebte aneinanderzuketten und ihnen Glück zu schenken.

Im übrigen brachte die Kälte der kleinen Frau Pichon Octave wieder auf die feurige Valérie zurück. Die würde sich bestimmt nicht zweimal über den Nacken blasen lassen. Er machte Fortschritte in ihren Gunstbezeigungen: als sie eines Tages vor ihm die Treppe hinaufstieg, hatte er ein Kompliment über ihr Bein gewagt, ohne daß sie böse zu sein schien.

Endlich bot sich die Gelegenheit, auf die er so lange gelauert. Es war an dem Abend, an dem er eigentlich zu Marie gehen wollte, wie er es ihr versprochen hatte: sie würden allein sein, könnten über den Roman plaudern, ihr Mann sollte erst sehr spät heimkommen. Aber von Entsetzen bei dem Gedanken an diesen literarischen Schmaus gepackt, war der junge Mann lieber ausgegangen. Dennoch wagte er sich gegen zehn Uhr hin, da traf er auf dem Treppenflur des ersten Stocks Valéries Dienstmädchen, das mit verstörter Miene zu ihm sagte:

»Madame hat einen Nervenanfall, der gnädige Herr ist nicht da, die Leute gegenüber sind alle im Theater ... Kommen Sie, ich flehe Sie an. Ich bin allein, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Valérie lag mit starren Gliedern ausgestreckt in einem Sessel ihres Schlafzimmers. Das Dienstmädchen hatte ihr das Korsett aufgeschnürt, aus dem der Busen hervorquoll. Übrigens ließ der Anfall fast sofort nach. Sie schlug die Augen auf, wunderte sich, daß sie Octave erblickte, benahm sich im übrigen wie in Gegenwart eines Arztes.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr«, murmelte sie mit noch immer erstickter Stimme. »Das Mädchen ist erst seit gestern bei mir, und sie hat den Kopf verloren.«

Die vollkommene Ruhe, mit der sie ihr Korsett ablegte und ihr Kleid wieder zunestelte, setzte den jungen Mann in Verlegenheit. Er blieb stehen, schwor sich, nicht so fortzugehen, wagte jedoch nicht, sich zu setzen. Das Dienstmädchen, dessen Anblick sie zu reizen schien, hatte sie hinausgeschickt; dann war sie zum Fenster gegangen, um die von draußen eindringende kalte Luft tief einzuatmen, wobei sie den Mund in langem nervösem Gähnen weit aufriß.

Nach einem Schweigen begannen sie beide zu plaudern.

Das habe sie mit ungefähr vierzehn Jahren bekommen, Doktor Juillerat sei es müde, an ihr herumzudoktern; bald habe sie es in den Armen, bald im Kreuz. Kurzum, sie gewöhne sich daran; das sei schließlich egal, wo doch bestimmt niemand ganz gesund sei.

Und während sie sprach und ihre Glieder schlaff waren, geriet er bei ihrem Anblick in Erregung, sie wirkte herausfordernd auf ihn mit ihrem unordentlichen Aufzug, mit ihrem bleifarbenen Teint, ihrem Gesicht, das von dem Anfall verzerrt war wie von einer langen Liebesnacht. Hinter der schwarzen Woge ihres aufgelösten Haars, das ihr auf die Schultern herabfloß, glaubte er den armseligen und bartlosen Kopf des Ehemanns zu sehen. Da streckte er die Hände aus und wollte sie mit der brutalen Gebärde, mit der er eine Dirne gepackt hätte, nehmen.

»Nanu, was denn?« sagte sie mit höchst überraschter Stimme. Nun betrachtete sie ihn ihrerseits mit so kalten Augen und ohne jede Erregung, daß er sich zu Eis erstarrt fühlte und seine Hände mit linkischer Langsamkeit wieder sinken ließ, weil er einsah, wie lächerlich seine Gebärde war. Dann setzte sie mit einem letzten nervösen Gähnen, das sie im Keime erstickte, langsam hinzu: »Ach, lieber Herr, wenn Sie wüßten!« Und ohne böse zu werden, zuckte sie die Achseln, war gleichsam zermalmt von dem Gefühl der Verachtung und des Überdrusses für den Mann.

Als Octave sah, wie sie, ihre nur lose zugebundenen Röcke nachschleifend, auf einen Klingelzug zuging, glaubte er, sie entschließe sich, ihn hinauswerfen zu lassen.

Aber sie verlangte bloß Tee; und sie bestellte ihn sehr leicht und sehr heiß.

Völlig aus der Fassung gebracht, stotterte er herum, entschuldigte sich, gelangte zur Tür, während sie sich erneut tief in ihren Sessel ausstreckte mit der Miene einer fröstelnden Frau, die ein heftiges Schlafbedürfnis verspürt.

Auf der Treppe blieb Octave bei jedem Stockwerk stehen. Also liebte sie das nicht? Er hatte soeben gespürt, daß sie gleichgültig war, ohne Begierde und ohne Auflehnung, ebensowenig gefügig wie seine Chefin, Frau Hédouin. Warum sagte Campardon, sie sei hysterisch? Es war albern, daß er ihn durch Erzählen dieser dummen Geschichte getäuscht hatte; denn ohne die Lüge des Architekten hätte er ein solches Abenteuer niemals riskiert. Und er war ganz benommen über diesen Ausgang, verwirrt in seinen Ansichten über die Hysterie und mußte an die Geschichten denken, die erzählt wurden. Trublots Bemerkung fiel ihm wieder ein: bei diesen verdrehten Weibern, deren Augen wie glühende Kohlen leuchteten, wisse man nicht, woran man sei.

Ärgerlich auf die Frauen, dämpfte Octave oben das Geräusch seiner Stiefeletten. Aber die Tür von Pichons ging auf, und er mußte sich dreinschicken. Marie wartete auf ihn, sie stand in dem schmalen Raum, den die rußige Lampe schwach erhellte. Die Wiege hatte sie an den Tisch herangezogen, dort in dem Rund gelben Lichts schlief Lilitte. Das Mittagsgedeck war anscheinend auch zum Abendessen verwendet worden, denn das zugeschlagene Buch lag neben einem schmutzigen Teller, auf dem noch Radieschenstrünke waren.

»Sind Sie fertig?« fragte Octave, erstaunt über das Schweigen der jungen Frau.

Sie schien berauscht, das Gesicht war verquollen wie beim Erwachen aus einem allzu schweren Schlaf.

»Ja, ja«, sagte sie mühsam. »Oh, einen ganzen Tag habe ich dagesessen, den Kopf zwischen den Händen, und war vertieft darin ... Wenn einen das packt, dann weiß man nicht mehr, wo man ist ... Mir tut der Hals ganz weh.« Und da sie wie gerädert war, sprach sie nicht weiter von dem Buch, so erfüllt war sie von ihrer Erregung, von den verworrenen Träumereien über ihre Lektüre, daß sie schier erstickte. In ihren Ohren sauste es bei den fernen Rufen des Horns, das der Jäger aus ihren Liedern im blauen Märchenland der idealen Liebe Blies. Darauf sagte sie ohne Übergang, sie sei am Vormittag in die Kirche Saint-Roch gegangen, um die Neunuhrmesse zu hören. Sie habe sehr geweint, die Religion sei ein Ersatz für alles. »Ach, ich fühle mich jetzt wohler«, sagte sie, wobei sie tief aufseufzte und vor Octave stehenblieb.

Es trat Schweigen ein. Sie lächelte ihm mit ihren treuherzigen Augen zu. Niemals hatte er sie so nutzlos gefunden mit ihrem dünnen Haar und ihren umflorten Zügen. Aber als sie ihn weiter betrachtete, wurde sie ganz blaß, sie taumelte; und er mußte die Hände ausstrecken, um sie zu stützen.

»Mein Gott, mein Gott!« stammelte sie aufschluchzend.

Verwirrt sah er sie an.

»Sie sollten etwas Lindenblütentee trinken ... Das kommt vom zu vielen Lesen.«

»Ja, als ich das Buch zugeschlagen habe und mich allein sah, da ist mir das auf den Magen geschlagen ... Wie gut Sie sind, Herr Mouret! Ohne Sie hätte ich mir weh getan.« Unterdessen blickte er sich suchend nach einem Stuhl um, auf den er sie setzen konnte.

»Soll ich Feuer machen?«

»Danke, dabei würden Sie sich schmutzig machen ... Ich habe wohl bemerkt, daß Sie immer Handschuhe tragen.«

Und bei diesem Gedanken hatte sie wieder die erstickende Beklemmung befallen, und auf einmal ohnmächtig werdend, küßte sie, als habe es ihr Traum gerade zufällig so gefügt, ungeschickt ins Leere hinein und streifte dabei das Ohr des jungen Mannes.

Octave empfing diesen Kuß voller Bestürzung. Die Lippen der jungen Frau waren eisig. Als sie dann mit einer Hingabe des ganzen Körpers an seine Brust gerollt war, entflammte er in einer jähen Begierde, und er wollte sie nach hinten ins Schlafzimmer tragen. Aber diese so derbe Annäherung weckte Marie aus der Bewußtlosigkeit ihres Falles; der Instinkt der Frau, der Gewalt angetan wird, empörte sich, sie sträubte sich, sie rief nach ihrer Mutter und vergaß ihren Mann, der gleich heimkehren würde, und ihre Tochter, die neben ihr schlief.

»Nicht das, o nein, o nein! Das ist verboten.«

Glühend sagte er immer wieder:

»Es wird ja keiner erfahren, ich werde es niemandem sagen.«

»Nein, Herr Octave ... Sie verderben doch das Glück, das mir die Begegnung mit Ihnen verschafft hat ... Das führt zu nichts, versichere ich Ihnen, und ich hatte mir so manches erträumt ...«

Da redete er nicht mehr, er hatte eine Vergeltung zu üben, unverblümt sagte er sich im stillen: Du, du mußt dran glauben! Da sie sich weigerte, ihm ins Schlafzimmer zu folgen, drückte er sie brutal rücklings über die Tischkante; und sie unterwarf sich, zwischen dem vergessenen Teller und dem Roman, den ein Stoß zu Boden fallen ließ, nahm er Besitz von ihr. Die Tür war nicht einmal geschlossen worden, inmitten des Schweigens stieg die Feierlichkeit der Treppe herauf. Auf dem Kopfkissen der Wiege schlief friedlich Lilitte.

Als sich Marie und Octave in der Unordnung der Röcke, wieder erhoben hatten, fanden sie einander nichts zu sagen. Sie ging mechanisch nach ihrer Tochter sehen, nahm den Teller weg, stellte ihn dann wieder hin. Er blieb stumm, von demselben Unbehagen erfaßt, so unerwartet war das Abenteuer gekommen, und er erinnerte sich, daß er die brüderliche Absicht gehabt hatte, dafür zu sorgen, daß sich die junge Frau ihrem Mann an den Hals hängte. Da er das Bedürfnis verspürte, dieses unerträgliche Schweigen zu brechen, murmelte er schließlich:

»Hatten Sie denn die Tür nicht zugemacht?«

Sie warf einen kurzen Blick auf den Treppenflur, sie stammelte: »Wahrhaftig, sie war offen.«

Ihr Gang schien gehemmt, und auf ihrem Gesicht lag Ekel.

Der junge Mann dachte jetzt, bei einer Frau ohne Gegenwehr, in dieser tiefen Einsamkeit und Dummheit, sei das eigentlich kein Spaß. Nicht einmal Lust hatte sie empfunden.

»Ach je! Das Buch ist runtergefallen!« sagte sie und hob es auf.

Aber eine Ecke des Einbandes war eingeknickt. Dies brachte sie einander näher und verschaffte ihnen Erleichterung. Sie fanden die Sprache wieder. Marie zeigte sich untröstlich.

»Es ist nicht meine Schuld ... Sie sehen ja, ich hatte es in Papier eingeschlagen, aus Furcht, es schmutzig zu machen ... Wir haben es ganz unabsichtlich hinuntergestoßen.«

»Lag es denn da?« sagte Octave. »Ich habe es gar nicht bemerkt ... Ach, was mich betrifft, mir ist das schnuppe! Aber Campardon hängt so an seinen Büchern!«

Sie reichten sich das Buch, suchten die Ecke wieder geradezubiegen. Ihre Finger umschlangen einander ohne ein Erbeben. Als sie über die Folgen nachdachten, verharrten sie wahrhaft bestürzt über das Mißgeschick, das diesem schönen Band George Sand zugestoßen war.

»Das mußte ja ein schlimmes Ende nehmen«, schloß Marie mit Tränen in den Augen.

Octave war genötigt, sie zu trösten. Er werde sich eine Geschichte ausdenken, Campardon werde ihn schon nicht fressen. Und in dem Augenblick, da sie sich trennten, setzte ihre Verlegenheit von neuem ein. Gern hätten sie einander wenigstens einen liebenswürdigen Satz gesagt; aber das Du erstickte ihnen in der Kehle. Zum Glück waren Schritte zu hören, das war der Ehemann, der die Treppe heraufkam. Schweigend faßte Octave sie wieder und küßte sie nun seinerseits auf den Mund. Abermals unterwarf sie sich willfährig, und ihre Lippen waren eisig wie zuvor.

Als er lautlos in sein Zimmer zurückgekehrt war, sagte er sich, während er seinen Überzieher ablegte, daß auch diese hier so was nicht zu lieben scheine. Was begehrte sie dann aber, und warum fiel sie den Leuten in die Arme? Die Frauen waren entschieden recht komisch.

Am folgenden Tag erklärte Octave nach dem Mittagessen bei Campardons gerade noch einmal, er habe vorhin ungeschickterweise das Buch vom Tisch gestoßen, da kam Marie herein. Sie fuhr Lilitte in den Jardin des Tuileries, sie fragte, ob man ihr Angèle anvertrauen wolle. Und ohne jede Verwirrung lächelte sie Octave zu, betrachtete sie mit ihrer unschuldigen Miene das auf einem Stuhl liegengebliebene Buch.

»Wieso denn? Ich bin Ihnen doch dankbar«, sagte Frau Campardon. »Angèle, geh und setz dir einen Hut auf ... Bei Ihnen ist mir nicht bange.«

Marie, die ganz sittsam ein einfaches dunkles Wollkleid trug, sprach von ihrem Mann, der gestern abend erkältet heimgekehrt sei, und vom Fleischpreis, den man bald nicht mehr werde erschwingen können. Als sie Angèle dann mitgenommen hatte, beugten sich alle zu den Fenstern hinaus, um sie zusammen weggehen zu sehen. Auf dem Bürgersteig schob Marie langsam mit ihren behandschuhten Händen Lilittes Wagen vor sich her, während Angèle, die sich beobachtet wußte, neben ihr einherging und die Augen niederschlug.

»Das ist doch wenigstens eine anständige Frau!« rief Frau Campardon aus. »Und so sanft! Und so ehrbar!«

Da klopfte der Architekt Octave auf die Schulter und sagte:

»Es geht doch nichts über die häusliche Erziehung, mein Lieber!«

Ein feines Haus

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