Читать книгу Bruchlandung auf Wolke 7 - Mina Teichert - Страница 7
Rette sich, wer kann
ОглавлениеEmotionale Übererregbarkeit ist ein großes Thema für mich und andere AD(H)Sler. Genauso wie die daraus resultierende Überfokussierung, das Reinsteigern in Konflikte oder eben jede neue Obsession. Weckt irgendetwas oder irgendjemand unsere Begeisterung, rückt alles andere in den Hintergrund, und zumindest ich bin manchmal nicht in der Lage, Handlungen angemessen zu dosieren.
Zehn Monate vergingen, in denen mir der junge Robert-Pattinson-Bauer nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ich hatte herausgefunden, dass er Jonas hieß und viel zu jung für mich war – eines Tages hatte da dieses Plakat an einer Hauswand des Hofes gehangen, mit einer 25 darauf und Happy Birthday, Jonas!, ziemlich eindeutig, und ich sagte mir immer wieder, dass ich ihn mir aus dem Kopf schlagen sollte. Doch es gelang mir nicht.
Beinahe täglich sahen wir uns aus der Ferne, wenn ich zu Cherryblossom fuhr. Manchmal hatte ich das Gefühl, der Jungbauer wartete schon auf mich, nur um mich zu grüßen. Denn jedes Mal wenn ich am Hof vorbeituckerte, kam er gerade mit einem Trecker, auf dem Fahrrad oder zu Fuß um die Ecke und hob die Hand zum Gruß. Aber Einbildung ist ja bekanntlich auch eine Bildung, denn niemals machte er Anstalten, mich anzusprechen, und er winkte vermutlich nur aus purer Höflichkeit.
Es war erstaunlich, was für Gründe ich mir selbst suchte, um immer und immer wieder denselben Weg abzureiten und einen Zusammenstoß quasi herbeizuführen. Zum Beispiel war mir der Waldweg, den ich hätte nehmen können, plötzlich zu schlammig und zu dunkel und die Hauptstraße zu sehr befahren, die Hühner eines Nachbarn jagten Cherryblossom neuerdings irgendwie Angst ein – hach, dieses überempfindliche Pferd –, und überhaupt, am schönsten konnte man nun mal über den Hof reiten. Allerdings konnte es einfach nicht so weitergehen.
In meiner Verzweiflung griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Freundin Airi, die über die langen Jahre unserer Freundschaft all meine desaströsen Love-Interrests kennengelernt und umfangreiche Erfahrungen im Ausreden doofer Ideen gesammelt hatte.
Es klingelte viel zu lange. Dinge, die ich noch erledigen musste, gingen mir durch den Kopf: Wäsche aus der Maschine holen, dieses Mal, bevor sie anfing zu stinken, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen … Wie zur Bestätigung schrillte eine meiner Eieruhren los, die mich ans nahende Abendessen erinnern sollte. Meine Tochter sah es nicht gern, wenn sie vom Tanzunterricht nach Hause kam, hungrig wie ein Wolf, und es stand nichts auf dem Tisch. Kann ich verstehen, und ich fragte mich, ob ich eigentlich das Gulasch von vorgestern aus dem Tiefkühler geholt hatte.
»Hallo? Wer stört?«, begrüßte mich Airi am anderen Ende der Leitung, als ich gerade auflegen wollte, um dem Gefrierschrank einen Besuch abzustatten.
»Ich.« Mein Blick wanderte erneut zur Uhr, es war fast fünf, und mir fiel ein, dass das Fußballtraining ihres Sohnes näher rückte. Unmögliche Zeit für einen Sechsjährigen, wie ich fand. Ich selbst hätte schon jetzt tot ins Bett fallen können.
»Was gibt’s? Ich muss gleich los. Weißt du doch.« Airi hielt die Luft für Sekunden an, das tat sie immer, wenn sie ein Seufzen unterdrückte.
»Oh. Stimmt ja«, sagte ich zerknirscht und gähnte. Ich schlief zu wenig, dank des Gedankenkreiselns und der Träumereien von einem Typen, den ich nicht kannte. Es hat seine Nachteile, wenn man sich super in Dinge reinsteigern kann. Dunkle Augenringe sind nur eine der Nebenwirkungen. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, maulte ich in den Hörer. »Ich werde noch verrückt. Möglicherweise muss ich auswandern, damit mein Hirn mir wieder gehorcht.« In Gedanken packte ich bereits meinen Hausrat zusammen.
»Ach herrje.« Airi lachte, aber ich konnte nicht entscheiden, ob es fröhlich klang oder entnervt. Im Hintergrund hörte ich ihre Kinder herumtoben, möglicherweise stritten sie um irgendetwas. Dinge gingen zu Boden, Füße trampelten umher.
»Immer noch der Bauer?«, fragte Airi leicht abgelenkt, und bevor ich antworten konnte, wurde es noch lauter auf ihrer Seite des Telefons. O Gott! Ein Kläffen. Es hörte sich an wie das Gebell eines Pinschers oder etwas Ähnlichem, das schnell außer sich gerät.
»Seit wann habt ihr einen Hund?« Irritiert ging ich die Gespräche der letzten Wochen durch. Hatte ich was überhört? Ich konnte mich an Airis Überlegung erinnern, für die Kids einen Hasen anzuschaffen – aber einen Hund?
»Wir haben keinen Hund, was redest du da?« Sie klang ungeduldig und brüllte etwas in den Hintergrund, das sich nach Schluss jetzt! anhörte.
Ich hielt das Telefon vom Ohr weg, um mein Trommelfell zu schonen. Jetzt erahnte ich, dass das schrille Kläffen gar keines war, und hakte nach: »Was ist denn das für ein Mordskrach?«
»Ach, das ist nur Finn. Er streitet mit Thale, wer die Fernbedienung haben darf.«
Ach so, Geschwisterliebe. Ich kann mich dunkel an meine Kindheit mit meinem Bruder erinnern, der mich ADHS-bedingt regelmäßig aus der Haut fahren ließ. Er war so unfassbar laut und nervig. Sogar wenn er im Bett lag, machte er Krach, indem er auf der Matratze wippte, bis er quasi beim Sport einschlief. Und er wollte immer recht haben – genau wie ich. Eigentlich bin ich ein recht friedlicher Mensch. Aber er schaffte es, dass ich gewalttätig wurde und ihn liebend gern zur Adoption freigegeben hätte. Leider spielten meine Eltern nicht mit und antworteten weder auf meine Fragen zu einem möglichen Umtauschrecht, noch duldeten sie es, wenn ich ihn kniff, weil er mich nervte.
»Du solltest ihm sagen, dass sich solch ein Verhalten äußerst bedenklich auf die Stimmbänder auswirken kann«, schlug ich vor und fragte mich, ob Airis Sohn überhaupt in den Stimmbruch käme, wenn er weiter so herumkrähte. Können Stimmbänder eigentlich reißen?
»Finn, Mina sagt, du hörst dich an wie ein kleiner, hässlicher Hund, wenn du so kreischst.«
Okay, das hatte ich so nicht gesagt. Das Kreischen ging in Geheule über, und ich vernahm die Wortfetzen gemein und blöd, bevor sich der Junge stampfend vermutlich die Treppe hinauf in sein Zimmer entfernte.
»Na, bei euch ist ja was los.«
Airi stieß hart die Luft aus. »Der normale Wahnsinn. Aber jetzt sag schon, wo drückt der Schuh?«
Ich drehte den Schreibtischstuhl um die eigene Achse, hob gerade noch meine Füße, um den Stapel Rechnungen, der davor auf dem Boden lag, nicht auseinanderzutreten, und kam vor der nächsten Unordnung zum Stehen. Ich musste unbedingt die Ordner neu befüllen und all die Heftklammern und Klarsichtfolien wegräumen. Zunächst jedoch musste ich dafür sorgen, dass ich endlich wieder mehr denken konnte als Hach, ist der süß, der nette Bauer. Hirn, mach was!
»Immer wenn ich in die Nähe des Hofes komme, klopft mein Herz und ich halte nach ihm Ausschau. Ich glaube, er hat schon Angst vor mir.« Ich kritzelte mit dem Bleistift auf meiner To-do-Liste herum, die dadurch unleserlich und zur Was-soll’s-Liste wurde.
»Möglich«, antwortete Airi und schrie kurz danach eine Anweisung an ihre Kinder die Treppe hinauf.
»Deshalb denke ich, dass nur ein Umzug hilft. Weit weg von ihm, nach Kanada zum Beispiel.« Oder ein Eingriff, der mein Gedächtnis auslöschte. Halt, das wäre doof. Dann hätte ich ja auch alles andere vergessen.
»Und was hält Lu davon?«, fragte Airi nach der Umzugsoption.
Ich seufzte. »Ich schätze, nicht so viel.«
»Siehst du. Außerdem muss sie jetzt erstmal die Trennung von Hannes und dir verkraften. Ich finde, das reicht fürs Erste.«
Sie hatte recht, denn im Grunde steckte ich noch in einer Beziehungskiste, die aktuell dem Scheidungsanwalt vorlag. Erst gestern hatte mein Fast-Ex-Mann seine letzten Kartons abgeholt, und es war noch nicht allzu lange her, dass ich Airi gegenüber geschworen hatte: »Nie wieder Männer!«
Gott, war ich mal wieder inkonsequent!
»Du hast wie immer so recht«, gab ich zu und dachte an Hannes. »Was schlägst du vor?« Ich brauchte jetzt unbedingt jemanden Erwachsenen, der die Führung übernahm.
»Ich sag dir, was du machst – du sprichst ihn an, deinen Bauern, und checkst ihn ab.«
»Wie meinen?« Im Abchecken bin ich die totale Niete. Jedes Mal vergesse ich, worauf es ankommt, und so etwas mit Stift und Notizblock anzugehen, wäre äußerst schräg gewesen. Andererseits …
»Du kannst ihm ja vorsichtig zu verstehen geben, dass du ihn interessant findest«, schlug Airi vor. »Und dann lernt ihr euch kennen und du stellst fest, dass er nichts für dich ist.«
Ich drehte erneut den Stuhl, schneller diesmal. Dabei fiel mein Blick auf den Locher, den ich vorhin gesucht hatte, und ich stoppte die Fahrt. Etwas zu schnell vielleicht, denn der Stuhl kippte um. Es krachte, aber ich hatte den Locher.
»Was machst du denn da, Himmel, Arsch und Zwirn?«
»Nichts«, ächzte ich, während ich mich aufrappelte, das Telefon fest im Griff.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«, vergewisserte Airi sich, was durchaus berechtigt war, denn bei mir wusste man nie, ob ich noch zuhörte.
»Ja, ich soll ihm sagen, dass ich möglicherweise auf ihn stehe, und ihn kennenlernen.«
»So in etwa.« Airi seufzte. »Ich meine, komm schon. Was sagtest du noch, wie alt der ist? 28? Das ist doch viel zu jung, der ist doch noch grün hinter den Ohren … Pff.«
Ich hatte es nicht gewagt, ihr von der 25 auf dem Plakat an der Hauswand zu erzählen, und korrigierte sie auch jetzt nicht. »Mensch, Mina. Du bist eine echte Frau. Du bist bald 32 …«
Ich biss mir auf die Lippe und hätte ihr am liebsten den Mund verboten. Musste sie das unbedingt so betonen? Ich fühlte mich noch gar nicht wie Mitte dreißig.
»Männer in dem Alter, die immer noch ledig sind, sind unbeständig wie das Wetter«, fuhr Airi fort, und ich dachte: Apropos Wetter, stand auf und trat ans Fenster. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als würden Ameisen eine Party darin feiern. Draußen türmten sich unwetterträchtig dunkle Wolken am Himmel, und ich überlegte, ob ich die Tischdecke und Sitzauflagen reingeholt hatte.
»Es gibt aber auch Ausnahmen«, versuchte ich, beim Thema von unbeständigen Männern zu bleiben. »Kann man Sitzauflagen eigentlich in den Trockner stopfen?« Klappte super.
»Nö, keine Ahnung. Spring nicht in den Themen, Minchen.«
Es regnete Bindfäden. So ein Mist.
»Männer sind wie Wein. Sie müssen reifen, und manche korken auch.«
Airis Mann war zwölf Jahre älter als sie, und eigentlich waren wir der festen Überzeugung, dass ein jüngerer Mann aus genannten Gründen niemals in Frage kam. Diesbezüglich hätte mein Bald-Ex-Mann Hannes eigentlich super für mich passen müssen, der in diesem Jahr noch seinen 39. Geburtstag feiern würde. Allerdings waren es, als wir uns kennenlernten und viel zu schnell verlobten, weniger sein Alter als vielmehr die schönen Gs, die so bestechend auf mich wirkten: gutaussehend, gutmütig, geduldig, gutsituiert, geordnet … obwohl? Jetzt kam mir plötzlich das Wort genervt in den Sinn.
Mir jagte eine Erinnerung durch den Kopf von der letzten gemeinsamen Party, auf der Hannes und ich gewesen waren. Mit zwei seiner Arbeitskollegen hatten wir an einem runden Tisch gesessen, und die Männer fachsimpelten die meiste Zeit über Administration, während ich mich zu Tode langweilte.
»Passwörter sollten immer Sonderzeichen enthalten«, meinte einer und winkte hektisch nach einem Kellner, der nicht sofort parierte. »Und was noch viel wichtiger ist – die Groß- und Kleinschreibung muss variieren.«
Ich nippte an meinem Glas Weißwein und gluckste. »Also mein Passwort zum Leben heißt Humor. Ist der nicht am wichtigsten?«, versuchte ich einen Scherz. Er kam, glaube ich, nicht sonderlich gut an, denn der Kollege lachte nicht und Hannes antwortete: »Intelligenter Einwurf, Schatz. Hier nimm noch einen Schluck Wein, vielleicht wird es dann besser.«
Ich trank einen großen Schluck auf seinen unverhohlenen Spott. Wann war er eigentlich so fies geworden? Ich musste über Fallen nachdenken, in die man im Laufe eines Lebens so gerät. Und ob man sie quasi selbst wählt.
»Ganz ehrlich, Mina. Was willst du denn mit einem Bauern?« Airis Stimme riss mich aus den Erinnerungen. »Den verspeist du doch nach wenigen Tagen zum Frühstück.«
Ich schüttelte mich. »Denkst du, Bauern sind per se dumm?« Ich runzelte die Stirn, setzte mich wieder und rollte mit dem Stuhl über einen Aktenordner. Er knackte und ging kaputt.
»Na ja, denk doch mal nach – wie viel muss man schon können, um Scheiße auf dem Feld zu verteilen?«
Augenblicklich schwirrte mir ein Artikel durch den Kopf, den ich letztens gelesen hatte. Der Landwirt: der wichtigste Beruf auf Erden. Balance zwischen Ökologie und Ökonomie.
»Das sind doch Vorurteile«, murrte ich. Mich schätzt man auch oft als dumm ein, weil ich so verpeilt bin. Und selbst, falls ich wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte sein sollte, so bin ich noch lange nicht unterbelichtet.
»Wenn du meinst.« Es knisterte in der Leitung, und erst dachte ich, Airi hätte die Nase voll und einfach aufgelegt, doch dann sprach sie weiter. »Die Nichte von meinem Onkel Stefan hat einen Landwirt geheiratet, und jetzt steht sie rund um die Uhr in einem stinkenden Stall und muss zusätzlich die bettlägerige Mutter versorgen. Neben den eigenen vier Kindern natürlich, die Bauern gehen ja immer gleich in Massenproduktion, und dann muss sie auch noch für die ganzen Angestellten kochen. Mittlerweile weiß die schon nicht mal mehr, wie man sich die Haare färbt. Für so was hat sie nämlich gar keine Zeit mehr. Und jetzt kommen wir mal zur entscheidenden Frage: Wie passt du in solch ein Bild?«
Ich schwieg, starrte nur das Fensterglas an, an dem die Regentropfen wie Tränen hinabrannen. Es war wirklich zum Heulen, dass ich keine Antwort auf die Frage wusste.
»Na gut, ich lerne ihn kennen und lache später über mich«, entschied ich schließlich und verabschiedete mich.
Wenn ich mal einen Plan fasse, dann setze ich ihn auch in die Tat um. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad ins Dorf zu dem für mich so spannenden Hof und wartete neben einer großen Eiche darauf, dass Jonas vom Hof fuhr, damit ich ihn abpassen konnte. In den letzten Tagen war ich oft hier entlanggeritten und hatte erkannt, dass er immer genau um halb vier Uhr mit seinem schwarzen Škoda in Richtung Ortsmitte fuhr.
Die Sonne schien, und mir war unangenehm warm. Airi hatte mir noch geraten, nicht übers Ziel hinauszuschießen. »Annährung muss vernünftig dosiert werden«, sagte sie. Und ich solle mich ganz auf meine Sinne verlassen, die würden mir schon verraten, was ich wissen musste. Ich fragte mich, welche Sinne sie genau meinte: den Starrsinn, dem ich gerne verfalle? Oder den Irrsinn? Das war doch alles Unsinn!
Ich ließ das Fahrrad vor den Stamm kippen und hockte mich auf einen Findling. Vor etwa einer Woche hatten Jonas und ich ein paar Worte gewechselt, als ich ihn während eines Ausritts traf. Rein zufällig natürlich. Ich war noch nie gut im Small Talk und musste aufpassen, dass mein Gerede nicht zu einem Verhör wurde. Lebst du hier? Ich weiß, blödeste Frage ever. Wer wohnt hier noch? Es gingen nämlich immer wieder neue Gesichter ein und aus, eine enorme Großfamilie fürchtete ich. Magst du deinen Job? Wie viele Kühe habt ihr? Bla, bla, bla. Trotzdem lächelte er die ganze Zeit. Das musste doch etwas zu bedeuten haben, oder nicht?
Nach unserem schwerfälligen Wortwechsel hatte ich versucht, einen sehr galanten Abgang hinzulegen und ließ Cherryblossom aus dem Stand angaloppieren. Meine Stute fand die Idee toll und ging prompt mal durch. Was ich nämlich in diesem Augenblick außer Acht gelassen hatte, war, dass das Pferd unter Stalldrang litt und nie schnell genug nach Hause kommen konnte. Jedenfalls stürzte ich beinahe von ihrem Rücken, als sie um die nächste Ecke jagte. Ein Glück kam uns kein Auto oder sonst was Großes in die Quere. Wäre sonst vermutlich meine letzte Großtat gewesen.
Die Zeit verging im Schneckentempo, und ich begann mich zu fragen, ob mein Plan wirklich so gut war, wie ich ihn mir vorstellte. Was, wenn ich mich zum absoluten Vollhorst machte? Der Bauer hatte doch bestimmt eine Freundin. Und dann kam ich desperate Housewife um die Ecke und lauerte ihm peinlich auf. Stalking für Anfänger sozusagen. Irgendwann rappelte ich mich auf und schnappte mein rotes Hollandrad. Für Schnapsideen hatte ich eindeutig zu wenig Alkohol dabei.
Doch dann passierte es. Der schwarze Škoda rauschte über das Kopfsteinpflaster, und mein Hirn stellte kurzfristig seinen Dienst ein. Ich warf mein Rad zur Seite und hechtete auf die Straße, Stichwort: kaputte Impulskontrolle. Reifen quietschten, ich grinste und fuchtelte zur Begrüßung mit der Hand. Vielleicht hätte ich doch nicht das Blümchenkleid anziehen sollen, dachte ich, plötzlich kam es mir zu kurz vor.
Jonas starrte mich erschrocken an. Ich tänzelte um die Motorhaube herum und öffnete die Beifahrertür. Ganz selbstverständlich und mit einem gehauchten »Hey« rutschte ich neben ihn ins Auto. Ich lächelte, ordnete meine Gedanken und versuchte, seine Verblüffung zu ignorieren. Mein Herz war ein Gasballon, der in den Himmel strebte. Einmal mehr in meinem Leben. Aus Erfahrung wusste ich, wie schnell sie platzen und zu Boden stürzen, wenn sie zu hoch fliegen.
»Hallo«, antwortete Jonas irgendwann, und seine Knöchel wurden weiß, weil er sich mit beiden Händen ans Lenkrad klammerte. »Das war aber schon etwas gewagt, oder?«
Ich dachte immer noch an Flüge über den Wolken und murmelte: »Und ob.« Im Grunde sogar mordsgefährlich, da ich im Begriff war, ihm mein Herz zu offenbaren. »Wie geht’s?«
»Noch gut, wieso?« Er lächelte und sah mich mit einer gewissen Vorsicht im Blick an. »Was kann ich für dich tun?«
Okay. Jetzt wurde es ernst. Ich schluckte trocken, hielt mich intuitiv am Handgriff der Tür fest, als würden wir ein Rennen fahren. »Du kannst mir eine Antwort geben.«
»Worauf denn?« Seine schönen grauen Augen zogen sich etwas zusammen. Hatte er etwa Angst?
Ich versuchte, mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, und holte tief Luft. »Nun gut. Die Sache ist die«, begann ich und ließ den Griff wieder los. »Wie dir sicherlich aufgefallen ist, suche ich seit zehn Monaten deine Nähe.«
»Ist das so?«, fragte er lahm.
»Also, ich mag dich. Keine Ahnung wieso …« Das läuft ja super, Minchen! Weiter so. Vielleicht noch eine subtile Beleidigung? »Ich meine, weil wir uns ja gar nicht kennen. Und ich muss immer an dich denken, und das macht mich total verrückt.« Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu, und als sein Mundwinkel zu einem Lächeln zuckte, redete ich einfach weiter. Ich wollte es hinter mich bringen. »Ich für meinen Teil sehe da nur zwei Möglichkeiten: Entweder du sagst mir, dass du eine Freundin hast oder dass du dich kein Stück für mich interessierst, was natürlich total in Ordnung wäre …« Nein, wäre es nicht! Das wäre grausam! »… oder wir lernen uns kennen und sehen, was daraus wird.«
Super, das hörte sich an wie eine Drohung. Mir fiel auf, dass die Scheibe auf seiner Fahrerseite beschlug und der gute Jungbauer sichtlich ins Schwitzen geraten war.
»Ich meine, du hast die Wahl.« Ich nestelte nervös an meinen Fingern. Ich schätzte, diese Aktion war mit Abstand die peinlichste, die ich in meiner Laufbahn je gebracht habe.
»Und?«, hakte ich einfach mal nach, weil ich die Anspannung nicht länger aushielt und mir seine Antwort echt zu lange dauerte. Das war ja wie beim Bachelor, wenn es vor der Verteilung der letzten Rose erstmal in die Werbepause ging.
»Da muss ich drüber nachdenken«, sagte er dann.
Was gab es denn da bitte so viel zu denken? Ja oder nein? War doch ganz einfach, oder? »War das ein Nein?«
»Ich muss darüber nachdenken«, wiederholte er sichtlich mitgenommen, und wir tauschten erstmal nur Telefonnummern aus. Ich bemühte mich, mir meine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, und sah zu, dass ich Land gewann. Tatsächlich dachte Jonas eine ganze Woche darüber nach, ob er sich noch einmal mit mir treffen wollte oder nicht. Eine ganz schön lange Zeit, in der ich fast verrückt wurde. Na ja, verrückter als eh schon. Schließlich kam die erlösende SMS, in der er mich zu einem Picknick einlud, was dem Gasballon in meinem Körper neuen Auftrieb gab.
An jenem Tag küssten wir uns das allererste Mal, und es war magisch, trotz des kleinen Zusammenstoßes unserer Zähne, der nach zahnärztlicher Fürsorge schrie. Jonas hatte eindeutig Übungsbedarf, was Mädchen anging. Ich weiß nicht, ob es seine Unverdorbenheit war, die mich vor allem so angezogen hatte, oder die Tatsache, dass er so unkompliziert war und wir sofort viel lachen konnten.
Als wir uns aneinanderkuschelten und in den Himmel guckten, musste ich an Airi und ihren Ratschlag denken. Lern ihn kennen und stell fest, dass er nichts für dich ist. Das war jetzt irgendwie blöd gelaufen. Wer hätte gedacht, dass der Bauer von nebenan eine ordentliche Portion Mina vertrug? Und auch noch Spaß dabei zu haben schien?
Die nächsten Wochen waren wie ein Traum. Wir turtelten und knutschten, wo und so lange es ging. Ich hatte ganz vergessen, wie sich vom Küssen wunde Lippen anfühlten, und feierte das Leben. Ich bemalte Straßen mit Kreideherzen und schrieb seinen Namen darunter. Jonas, überall nur Jonas! Lange hatte ich nicht mehr so viel Energie gehabt, und ich ließ die Welt wissen, wie es mir ging.
***
Wo wir gerade bei Kreideherzen sind …
Als ich 14 war, machte ich einen Jungen namens Ben zum Ziel meiner Obsession. Er ging zwei Stufen über mir in die Klasse und war außerdem der Sohn meiner Deutschlehrerin. Er hatte blondes Haar und blaue Augen so tief wie das Meer. Zumindest bildete ich mir das ein. Zu der Zeit liebte ich alles, was mit Farben zu tun hatte, und alles, was sich in meinem Alltag ereignete, musste später in Form von Bildern und Textschnipseln festgehalten werden. Wo andere popelige Tagebücher führten, füllte ich ganze Schränke mit meinen Werken. So kam es mir mehr als entgegen, dass der Junge, den ich mochte und der mir eines Tages auf dem Schulhof aufgefallen war, weil er ein Basecap in einem wirklich quietschigen Grün trug, mir hübsche Nachrichten mit Kreide am Zaun eines Spielplatzes hinterließ. Jeden Tag nach der Schule war ich gespannt wie ein Flitzebogen, was er wohl diesmal für eine Botschaft in bunten Farben für mich hinterlassen hatte.
Zuerst waren sie ganz subtil: Ich mag deinen Style, lovely Mina. Gezeichnet B., stand dort eingerahmt von bunten Punkten quer auf der obersten Latte auf Höhe der alten Rutsche. Ich wäre fast vorbeigefahren, ohne zu bemerken, dass ich gemeint war. Doch es gab keine anderen Minas hier im Dorf. Besonders nicht viele, die sich die Haare beim Versuch, sie schwarz zu bekommen, aus Versehen grün gefärbt hatten, gern Klamotten aus Omas Zeiten trugen und damit aus der Masse stachen. Ich liebte meine schwarzen Boots, dazu einen weiten Rock und die Spitzenbluse aus den Sechzigerjahren. Dieses Outfit peppte ich mit bunten Halstüchern auf, ebenfalls allesamt von meiner gerade erst verstorbenen Oma, die ich sehr vermisste. Zugegeben, meine Klamotten waren nicht immer ganz vorteilhaft gewählt, aber auffällig. Ein Glück, dass ich ein recht hübsches Gesicht hatte.
Als ich die Nachricht auf dem Zaun des Spielplatzes entdeckte, machte ich also eine Vollbremsung und starrte auf die Buchstaben. Auf dem Pfosten lag Kreide wie für mich platziert, und ich begann meinerseits eine Nachricht zu schreiben: Wer ist B.?
Konnte es wirklich Ben sein, der Junge, den ich seit Monaten auf dem Schulhof anschmachtete und der mir gerade erst gestern zugezwinkert hatte? Was so ein Zwinkern alles in einem auslösen kann! Ich war augenblicklich im siebten Himmel gewesen und noch eine Spur verknallter. Nun plagte mich die Angst, dass er am Ende nur was ins Auge bekommen haben und ich mir seine Zuneigung nur einbilden könnte. Ich war gut im Dingeeinreden. Zum Beispiel, dass unsere Nachbarin Frau Naumann eigentlich vom Mars stammte und kleine Kinder fraß. Ich hatte mir diese Geschichte selbst so häufig erzählt, dass ich seit Jahren einen weiten Bogen um ihr Haus machte und woanders hinsah, wenn sie mir begegnete und mich grüßte.
Am nächsten Morgen stand eine neue Nachricht für mich auf dem Zaun. Du kennst mich, ich weiß, dass du mich beobachtest. Daneben waren ein Fernglas gemalt und ein Smiley.
Auweia!
Ich mag dich eben auch, schrieb ich. Sollte ich ein Herz dahintersetzen? Aus Vorsicht entschied ich mich dagegen. Schließlich konnte ich mir nicht sicher sein, dass sich nicht nur jemand als Ben ausgab und mich verarschte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, auch nicht, dass ich solch einer Gemeinheit auf dem Leim ging. In der sechsten Klasse, wir fuhren auf Klassenfahrt nach Plön, bekam ich Liebesbriefe, die gar nicht von dem Jungen aus der Parallelklasse stammten, wie ich zunächst dachte, sondern von Christine, die mich hasste und die Lyrik, die ich zur Antwort schrieb, sogleich zur öffentlichen Belustigung freigab. Ich regte mich so darüber auf, dass ich mich in einer Tour übergab und von meinen Eltern abgeholt werden musste. Mich reinsteigern kann ich.
Dieses Mal war es anders, und auf dem Pausenhof erhielt ich am nächsten Tag das ersehnte Zeichen. Als Ben obercool mit seinen Jungs an mir vorbeischlenderte, hielt er plötzlich inne, tat so, als würde er etwas vom Boden aufheben, und gab mir ein Stück Kreide in die Hand. Mein Herz schlug wild gegen meine Rippen und mir wurde schwindelig, als unsere Hände sich berührten.
Ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr wichtig. Kein Mathe, kein Kunstunterricht, keine Vokabeln oder Tests, und auch meine besten Freundin Tina rückte ganz zu ihrem Leidwesen in den Hintergrund. Wie oft sie mich in dieser Zeit fragte: »Hey, hast du mir zugehört?«, konnte ich bald nicht mehr zählen. Ich hatte Mühe, überhaupt etwas mitzukriegen, was nicht unmittelbar mit Ben zu tun hatte. Wenn es jedoch um seine Wenigkeit ging, sog ich jede Information auf wie ein Schwamm. Bald wusste ich, dass er um 15 Uhr Fußballtraining hatte, und fand diesen sonst verhassten Sport plötzlich ganz toll. Und ich fand heraus, dass er in der Querstraße hinter dem Spielplatz mit unseren Nachrichten wohnte, dass er eine Adoptivschwester hatte, sein Vater aus Frankreich kam und er Katzen mochte. Ich führte eine imaginäre Liste, die sich ausschließlich mit solchen Informationen beschäftigte. Schuhgröße, Kleidungsstil, bevorzugte Marken und Pflegeprodukte fanden auch einen Platz darauf.
Eines Tages nach der Schule tauschten wir weitere Nachrichten. Ich will dich küssen. Du mich auch? Kreuze an: ja, nein, vielleicht, war der Höhepunkt unserer Kommunikation und setzte mich innerlich unter Strom. Ich sag nur: scheiß Hormone. Die kosten einen echt den Verstand. Eine Weile dachte ich nach, bevor ich vielleicht ankreuzte und mich nicht weiter als zehn Minuten vom Spielplatz entfernte. Als ich es nicht mehr aushielt und mein Vielleicht in ein Ja umändern wollte, war schon eine neue Nachricht für mich da.
Unter welchen Umständen wird es ein Ja?, fragte Ben. So, wie es aussah, trieb er sich ebenfalls in der Nähe herum.
Wenn du mich direkt fragst, kritzelte ich und schwang mich auf mein Fahrrad, um eine erneute Runde zu drehen. Gott, ich weiß noch, wie ich innerlich bebte, als ich wieder zurückkam und schon von Weitem sah, dass Ben mit dem Rücken ans Kletterhaus gelehnt auf mich wartete. Er sah so gut aus, wie er dastand. Wie River Phoenix in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Einer meiner Lieblingsfilme.
Ich parkte mein Rad am Zaun, es begann zu regnen, und die Kreidenachrichten wurden fortgewaschen. Wir suchten Schutz unter der Rutsche und schwiegen uns eine ganze Weile lang an. Ich dachte darüber nach, dass einige aus der Schule der Meinung waren, Ben sei ein Bad Boy und man müsse sich als tugendhaftes Mädchen vor ihm in Acht nehmen. Ich für meinen Teil warf alle Vorsicht über Bord und stellte mich auf die Zehenspitzen. Wir waren uns ganz nah, und seine Hand legte sich in meinen Nacken. Seine Finger waren kalt, eiskalt, um genau zu sein, doch als sein Mund auf meinen traf, wurde mir unendlich warm. Ich schätzte, er hatte das schon öfter gemacht. Als seine Zungenspitze meine Lippen teilte und meine suchte, begann ich zu zittern. Der Gefühlwirrwarr war beinahe zu viel für mich. Ben schmeckte nach Rauch und Minze. Ob seine Mutter wusste, dass er Zigaretten konsumierte? Das würde sie ganz sicher nicht gut finden. Meine Lider schlossen sich, während seine Arme sich um meine Mitte schlossen und seine Zunge über meine Zähne huschte. Was suchte er dort? Seine Hand verirrte sich unter meinen Pullover und tastete meinen Rücken ab. Oh mein Gott. Was genau ging gerade ab?
Irgendwann löste er sich von mir, und ich nahm etwas Abstand.
»Du bist echt heiß«, raunte er mir zu.
War das ein Kompliment? Ich hätte andere Worte bevorzugt: »Du bist etwas Besonderes«, »Ich bin verliebt in dich«, »Du bist wunderbar« oder so. Aber immerhin. Heiß war auch nett.
»Du aber auch.« Mehr fiel mir gerade nicht ein. Mein Kopf war voll mit Watte in Herzchenform, die von einer zur anderen Seite schwebten und wieder zurückploppten.
Als Ben »Willst du mit mir gehen?« fragte, nickte ich.
»Klar.« Ins Kino, einen Spaziergang, was immer er wollte. Und dann könnten wir uns über schwarze Löcher und Universen unterhalten. Oder über Zeitmaschinen und Disneyfilme, die unbedingt umgeschrieben werden müssen. Wie Bambi zum Beispiel, denn es ist einfach unerträglich, dass dieses Reh ohne Mutter aufwachsen muss und von einem Hasen lernt, dass man besser den Mund hält, wenn man nichts Nettes zu sagen hat.
Ben küsste meine Nasenspitze und zog mich wieder in seine Arme. Und obwohl der Regen seine Nässe zu uns unter die Rutsche schickte, knutschten wir eine ganze Weile, und es war das erste Mal, dass ich diese eindeutige Reaktion eines Jungen auf Mädchen wahrnahm, die ich aus der Bravo kannte. Diese Beule in der Hose, die sich bei jeder Umarmung fest an meinen Körper drückte.
In der darauffolgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich war der festen Überzeugung, dass ich wie die berühmte Julia meine große Liebe gefunden hatte, und musste das Ben unbedingt sagen. Dass er der Richtige war, dass ich nur auf ihn gewartet hatte und ab jetzt nur für ihn weiterlebte. Ich konnte an nichts anderes denken und wälzte mich im Bett herum. Meine Arme und Beine bewegten sich unaufhörlich vor Unruhe, schlimmer als sonst. Und meine Träume und Wünsche flogen viel zu tief. Stunde um Stunde steigerte ich mich tiefer in meinen Liebestaumel hinein – hallo, Hyperfokussierung! Leider gab es damals noch kein WhatsApp oder dergleichen, und so stieg ich um 23.34 Uhr aus meinem Fenster, um mit dem Fahrrad zu unserem Zaun zu fahren, damit er die Worte, die mir im Kopf umherschwirrten, gleich morgens auf dem Weg zur Schule lesen konnte.
Der silberne Sichelmond schickte sein Licht zu mir herunter, während ich wie eine Irre durch die Nacht fuhr. Als ich beim Spielplatz ankam, war bereits Mitternacht. Kurzerhand entschied ich, meine Nachricht nicht beim Spielplatz zu hinterlassen, sondern bei ihm zu Hause. Die weiße Hauswand war wie eine leere Leinwand und lud geradezu dazu ein, sie mit meinen Gefühlen zu verschönern. Zuerst malte ich ein großes Herz mit unseren Initialen. M&B.
Alsbald geriet ich in einen rauschartigen Zustand, der mir natürlich nicht fremd war. Das passierte immer, wenn ich ein Motiv im Kopf hatte, und hörte erst wieder auf, wenn es vollbracht war. Irgendwann war die blöde Kreide alle, und ich sah mich auf dem Grundstück um. In der offenen Garage fand ich zu meinem Glück alte Eimer mit Wandfarben und einen kleinen Topf mit blauem Lack. Was für eine freudige Nacht! Ich erschuf mein schönstes Kunstwerk der Liebe – zwei blaue Monster in Herzform, die sich gegenseitig kleine rote Herzen zuwarfen – und signierte es, bevor ich fuhr. Ben würde Augen machen, so viel stand fest.
Und ich würde mich wundern, was meine Aktion für einen Wirbel verursachte.
Als ich nach Hause kam, war das ganze Haus hellwach. Sogar der verpennte Pudel meiner Mutter begrüßte mich mit lautem Gebell, als ich gerade zu meinem Fenster wollte. Im nächsten Moment schwang die Haustür auf, und mein Vater blitzte mich wütend an. Er trug seinen dunkelblauen Pyjama und seine vom Pudel zerpflückten Pantoffeln.
»Wo zum Teufel warst du?«, raunzte er mir entgegen.
Mein Mund klappte auf, ohne dass ein Ton herauskam. Mir lag der Satz »Zigaretten holen« auf der Zunge, doch der wäre sicher nicht gut angekommen, also schwieg ich. Meine Mutter kam die Treppe heruntergerannt. Ich war mir nicht sicher, ob sie geweint hatte, und mein Magen wurde zu einem eisigen Klumpen.
»Du kannst doch nicht einfach abhauen«, legte Papa jetzt los und packte mich am Schlafittchen. Das Hochgefühl der letzten Stunden verpuffte sofort. Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein Vater manchmal, bevor er schlafenging, in unsere Zimmer wanderte, um uns richtig zuzudecken. Wie alt war ich? Fünf?
»Ich konnte nicht schlafen und wollte nur etwas frische Luft schnappen«, verteidigte ich mich. Unser Pudel verkroch sich hinter der alten Standuhr, der Feigling.
»Dein Vater hätte beinahe auf der Wache angerufen und dich zur Fahndung ausgerufen, Mina«, unterrichtete mich meine Mutter, und ich musste daran denken, dass ich seit Omas Tod etwas melancholisch war, viel Schwarz trug und ständig The Cure hörte. So ungefähr anderthalb Jahre lang hinterfragte ich die Daseinsberichtigung der Menschen, vornehmlich meine eigene, was durchaus beunruhigend für Eltern sein konnte. Oje.
»Was hast du denn da auf der Jacke?« Die Augen meines Vaters weiteten sich. »Ist das Blut?« Er drehte und wendete mich vor sich, sodass ich beinahe ein Schleudertrauma bekam. Seine Aufregung donnerte ungebremst in mich selbst hinein.
»Das ist nur Farbe!« Ich zerrte mir die Jacke vom Körper. Das ganze Theater wurde mir allmählich zu bunt.
»Rauf auf dein Zimmer, das diskutieren wir morgen in Ruhe aus.«
»Ich kann es kaum erwarten«, antwortete ich und kassierte einen Klapps im Nacken. Waren körperliche Züchtigungen nicht verboten? Und sollte mein Herr Vater das als Kriminalkommissar nicht eigentlich wissen?
»Ich bin kein Kind mehr. Und wenn ich frische Luft brauche, darf ich sie atmen, so viel ich will und wo ich will!«, krähte ich ihm entgegen, wodurch auch der letzte Schlafende in diesem Haus geweckt wurde: mein zehnjähriger Bruder Henry, der um die Ecke torkelte und mich verwundert ansah.
»Was ist denn los?«, nuschelte er, und ich verpasste ihm einen Schubs, einfach weil er mir am nächsten stand. Mein Frust musste ja schließlich irgendwohin.
»Solange du unter meinem Dach lebst, meine liebe Tochter, tust du, was ich sage. Und du verlässt das Haus nur, wenn ich es erlaube.«
Ich dachte über Diktaturen und andere Staatsformen nach und stellte mir Käfige aus Glas vor. Mist – hatte ich eigentlich die Politikmappe abgegeben?
Papa schimpft gerade mit dir, erinnerte mich mein Hirn schließlich, und ich stieß »Als ob« aus, eine meiner Lieblingserwiderungen, die so ziemlich auf alles passte.
»Du hast Hausarrest«, sprang meine Mutter meinem Vater bei.
Mein nächstes »Als ob« blieb mir im Hals stecken. Ich durfte gerade so gar nicht eingesperrt werden. Normalerweise störte mich so was nicht weiter, weil ich mich gern verkroch. Soziale Kontakte waren schon immer anstrengend für mich, und das Heim bot Sicherheit und Ruhe. Doch jetzt war die Vorstellung, nicht hinaus zu dürfen, angsteinflößender als jeder Rummelplatzbesuch, bei dem ich nach der ersten Popcornbude bereits hoffnungslos verloren bin, weil sich mein Blick an jedem Detail festsaugt, das bunt ist, und mein Herz sich dem Rhythmus von allem Blinkenden anpasst.
»Das lass ich mir nicht gefallen«, brüllte ich zurück. Unser Pudel zog den Schwanz ein und winselte. Wenigstens einer, der zu Recht Furcht vor mir hatte. Ich war kurz davor auszuticken. Nichts würde sich zwischen Ben und mich stellen.
Bis auf Bens Eltern vielleicht, die mich anzeigten, weil ich ihre Hauswand ruiniert hatte … Doch daran dachte ich nicht, als ich mich an meinen Eltern vorbeidrückte und die Treppen hinauf in mein Zimmer verschwand, wo ich komplett angezogen auf mein Bett fiel und sofort einschlief.
Das Frühstück am nächsten Morgen verlief in frostigem Schweigen, was mir ganz recht war, da lediglich mein Körper am Tisch saß, während mein Hirn noch im nebligen Schlummerland verweilte. Dieser Zustand hielt an, bis ich die Schule erreichte, überdauerte die erste Schulstunde und wurde erst unterbrochen, als ich damit begann, Tina von meinem Kuss mit Ben zu berichten. Sie hing gebannt an meinen Lippen, während ich von dem Gefühl erzählte, als unsere Zungenspitzen sich fanden. In der kleinen Pause klopfte es an der Tür, und ich wurde aus der Klasse geholt und mit recht ungehaltenen Worten zum Direktor zitiert. What the fuck!
Mein Vater und die Polizei waren auch schon da. Dass mein Taschengeld für ein ganzes Jahr gestrichen wurde, um die Maler für die Hausfassade zu bezahlen, war eine Sache. Dass Ben nicht mehr mit mir redete und mich ab sofort ignorierte, weil ich verrückt sei, eine ganz andere. Noch heute wünsche ich mir, er hätte mich langsamer fallen lassen. Der Aufprall, den ich erlebte, war nämlich so heftig, dass ich begann, das Leben an sich zu hinterfragen und welche Vorteile der Tod so zu bieten hätte.