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SCHLAF KINDLEIN, SCHLAF

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1.

Melodisches Vogelgezwitscher, erste sanfte Sonnenstrahlen und der zarte Duft von erwachenden Blumen. Ein wunderschöner Spätfrühlingsmorgen kündigt sich an. Laure sitzt bereits auf der Terrasse und schlürft an ihrem Cappuccino. Nachdenklich starrt sie in den vor ihr liegenden gehegten Garten. Dieser wurde mit Liebe zum Detail von Paolo bepflanzt. Neben einem wunderschönen Rosenbogen erblühen ringsum rosafarbene, hellgelbe, blaue und weiße Blumen in den klar abgetrennten Rabatten. Der Sommer macht sich bereit, um seine volle Kraft zu entfalten. Eigentlich kann Laure die heiß ersehnte Jahreszeit kaum noch erwarten. Endlich kann sie das Hallenbad verlassen und ihre Bahnen nun wieder im Freibad zurücklegen und sich darüber hinaus eine schöne Bräune zulegen.

Doch was sie sonst an einem so wunderschönen Tag erfreut, ist heute gänzlich unwichtig. Denn an diesem Morgen starrt sie wie hypnotisiert in die zarten Blütenknospen. Ihre Gedanken liegen ganz fern. Sie sinniert wieder über den Traum der letzten Nacht.

Wieso kam ihr diese Situation so bekannt vor? Hat sie sie schon einmal in einem Film gesehen? Darüber in einem Thriller gelesen oder hat ihr jemand schon einmal davon erzählt?

Vielleicht ist es nur eine harmlose Traumsymbolik. Doch was sollte es bedeuten? Angst vor dem Versagen beim Sender?

Derzeit läuft alles bestens. Ihr Chef hatte sie letztens besonders gelobt und ihr zudem weitere Recherchearbeit für eine neue Sendung zugesagt. Für diese soll sie ein spannendes Konzept für ein außergewöhnliches Reisemagazin entwickeln. Sie freut sich schon sehr auf diese neue Herausforderung und über das Vertrauen, dass in ihre Fähigkeiten gelegt wird.

Also Ängste um den Job können es wohl nicht sein. Welche logischen Schlüsse könnte man noch aus diesem Traum ziehen? Denn auch mit Paolo läuft es wunderbar. Sie sehen sich regelmäßig und verbringen ihre Wochenenden in den Bergen oder gemeinsam im Garten. Paolo interessiert sich sehr für Laures Aufgaben im Sender und macht regelmäßig Scherze über ihre Ernsthaftigkeit und Verbissenheit im Alltag, bis auch sie wieder darüber lachen kann.

Wie auch beim letzten Mal, als sie beide ihren Abend in einer angesagten Bar verbrachten. Anstelle ihres Lieblingsdrinks - einen Gin Fizz - bekam sie eine Margarita.

Als sie den Kellner wenige Minuten darauf ansprach, dass sie diesen Drink nicht bestellt habe, erwiderte dieser, dass sie nun schon davon getrunken habe und dies ebenso ein guter Cocktail sei. Warum sie sich darüber nun so aufrege? Sie lief hochrot an und wollte gerade den Mund öffnen, um den Kellner die Meinung zu geigen, als Paolo mit einem lässigen Augenzwinkern sagte: „Lass gut sein, Liebling. Ich nehm das Getränk, nimm‘ du dafür meinen Wein. Den magst du doch auch so gern.“ Der Kellner zog von Dannen und Laure starrte Paolo verdutzt und zugleich wütend an. „Paolo, ich wollte dem Kellner gerade klar machen, dass ich ein anderes Getränk bekommen habe und dass er mir ein neues bringen soll. Dies ist seine Aufgabe. Ich dachte mir eigentlich, dass man bei einem Fehler dem Gast entgegen kommt. Eine Entschuldigungsgeste wäre wohl nicht zu viel erwartet. Und als ich ihn gerade deswegen aufmerksam machen wollte, lenkst du wieder ein. Das ist so typisch für dich!“ Paolo schmunzelt vergnügt. „Aber Laure, typisch für dich ist, dass du dich so leicht aus der Fassung bringen lässt.“ Und er lächelt weiterhin, als er weiterspricht: „Der Kellner hat einen Fehler gemacht und er ist nicht gut in seinem Job, weil er dir nicht entgegenkommt. Oder aber der Chef von ihm fordert dies so. Fakt ist auf jeden Fall, dass dies kein Drama ist. Natürlich kannst du ihn darauf aufmerksam machen, doch wollen wir uns den Abend verderben, indem der Kerl dann anschließend in deine zweite Margarita spuckt, die du letztendlich trinken würdest?“

Sie musste zugeben, dass er einerseits Recht hatte. Warum aufregen und sich die Laune verderben. Andererseits erschien ihr das als ungerecht und sie fordert nun mal gern stets ihr Recht ein. Dass Paolo diese Situation abbricht und sie somit ausbremst, passt ihr gar nicht. Doch wenn sie ihm in die sanften braunen Augen blickt kann sie nicht umhin, als ihm sofort zu verzeihen. „Ist schon ok, ich werde ihn trinken. Schmeckt ja auch gut. Und dann ist unser Abend gerettet.“ Sein Lächeln wird noch breiter. „Ja, allerdings. Danke, Schatz! Und nun lass uns von etwas anderem reden. Wie war‘s beim Sender?“

2.

Grünlich schimmerndes und dennoch klares Wasser. Golden funkelt die Sonne in den sich kräuselnden Wellen. Ein sattes Abendrot beleuchtet die umliegenden hügeligen Felder und das flache Ufer. Laure schließt die Augen und atmet sanft durch. Nur einzelnes Vogelgezwitscher erklingt. Fröhlich und aufmunternd. Ein Trost der Natur. Sie lässt den Blick über den See schweifen, der ganz zärtlich vom Wind gestreift wird.

Heute hat sie früher Feierabend gemacht und ist mit dem Auto zu ihrem Lieblingssee in der Nähe aufgebrochen. Dort sitzt sie nun auf einer einsam liegenden Bank und beobachtet das harmonische Treiben der Natur.

Hier kann sie abschalten, den Alltag einen Moment lang vergessen. Die vollkommene Harmonie. Ein wunderbarer Ort. Hier kann einem nichts Böses geschehen. Oder doch?

Es herrscht scheinbar der sprichwörtliche Frieden auf Erden. Dennoch sträuben sich bei Laure alle Nackenhaare auf. Ihr Puls rast und sie hat das Gefühl, dass sich ganz in der Nähe jemand oder etwas aufhält. Eine eigenartige Bedrohung in einem verlassenen Flecken Natur. Sie mahnt sich, ihre Gedanken auf etwas anderes zu richten. Doch die Nervosität nimmt immer weiter zu. Ihre Handflächen beginnen bereits zu schwitzen und ihre Finger zittern unkontrolliert. Nun bebt auch noch ihr kompletter Oberkörper. Zur Beruhigung wiegt sie sich vor und zurück. Die sich in ihr breitmachende Panik gewinnt jedoch die Oberhand. Die Bedrohung scheint nun ganz nah zu sein.

Obwohl sie nichts oder niemanden sehen kann, steigt ihr ein vertrauter Duft in die Nase. Süßlich herb und dazu leicht rostig. Plötzlich spürt sie außerdem ein bleiernes Gewicht auf ihren Schultern, als würde jemand fest daran ziehen und sie gegen die Erde drücken wollen. Und dann dieser Schmerz. Dieser unsäglich grässliche Schmerz. Er befindet sich tief in ihrem Inneren. Doch wenn sie sich stark darauf konzentriert, erkennt sie, dass sein Ursprung woanders liegt. Er zieht sich vom Bauch bis hin zu einer unteren Region. Dabei fühlt er sich wie tausend kleine Messerstiche an. Zugleich dumpf als auch bohrend. Unendlich andauernd. ‚Es wird nie wieder gut werden‘, dröhnt es durch ihren Kopf. ‚Brav sein und schön still sein‘, befiehlt ihr eine innere Stimme. Wieso hört diese Qual nicht auf? Was oder wer ist dafür verantwortlich?

Als ihre Schmerzen ins schier Unermessliche steigen, ist es von einem Moment zum anderen stockfinster. Das Gefühlschaos hat nun ein Ende. Oder hat es erst begonnen?

Der beruhigende Takt des antiken Weckers auf ihrem Nachtkästchen erfüllt den sonst totenstillen Raum. Daneben ist nur noch ein ganz leises Schnauben wahrnehmbar. Der Duft ist verschwunden. Stattdessen riecht es frisch und süßlich nach einer lauen Sommernacht.

Laure fühlt sich federleicht. Einzig allein der Schmerz in ihrer Intimregion ist noch zu verspüren, hat aber an Intensität bereits abgenommen. Neben ihr liegt Paolo, friedlich schlummernd. Sie richtet sich in ihrem Bett auf und wirft einen Blick in das dunkle Schlafzimmer. Was gerade noch ein Horrorszenario gewesen ist, ist jetzt eine vertraute Umgebung. Die Messingschale auf der nussbraunen Kommode. Das Poster von Monet darüber. Der berühmte Seerosenteich mit seinen herrlich pastelligen Farben. Die lavendelfarbigen und samtigen Vorhänge. Alles hat sich verändert. Es war nur wieder einmal ein böser Traum. Und nun ist sie wieder zurück.

Doch die Erleichterung mag sich nicht einstellen. Ein besorgniserregender Gedanke keimt in ihr auf. Was, wenn es einmal Realität war? Wenn ein Funken Wahrheit darin liegt? Schnell verwirft sie diesen Gedanken wieder. ‚So ein Unsinn‘, denkt sie sich. Dies muss eine ganz logische Ursache haben. Wahrscheinlich bekommt sie ihre Tage und ihr Körper muss mit einem Hormonchaos zurechtkommen. Vielleicht sollte sie wieder ihren Frauenarzt aufsuchen und sich gründlich durchchecken lassen.

Oder die seltsamen Schmerzen in der Intimregion rühren von der Pille, welche sie aktuell einnimmt. Aber vielleicht sind es auch Chlamydien. Über diese hat sie einmal in einer Frauenzeitschrift gelesen. Diese liegen im Durchschnitt bei etwa 10 % der Bevölkerung vor und werden durch häufigen Sexualkontakt mit wechselnden Partnern übertragen.

Sie ist zwar bereits seit zwei Jahren mit Paolo zusammen, vor ihrer Beziehung war sie jedoch häufig mit einigen Typen aus Bars oder auch mit welchen vom Sender im Bett. Eventuell hat sie sich dadurch angesteckt? Doch dagegen spricht, dass die Schmerzen eigentlich nur im Traum und einige Zeit nach dem Aufwachen zu verspüren sind. Aber sind Menschen nicht unterschiedlich? Vor allem in ihren Empfindungen?

Sie wird es einfach abklären lassen, dann weiß sie Bescheid. Bestimmt ist es etwas ganz Harmloses. Und Alpträume können von so vielen Situationen hervorgerufen worden sein. Von einem Film zum Beispiel, welchen sie einmal gesehen hat und ihr Gehirn sich plötzlich daran erinnert. Auf jeden Fall ist dies kein Grund zur Sorge, nur weil sie in letzter Zeit öfters Alpträume hat. Es ist alles in Ordnung. Die intensive Grübelei hat vorerst ein jähes Ende, als sie nach wenigen Minuten wieder einschläft und erst am nächsten Morgen wieder erwacht.

3.

Ist es Karma, Schicksal oder unendliches Glück? Das ist die große Frage, wenn wir auf den einen Menschen treffen, mit dem wir uns von Beginn an verbunden fühlen. Wir haben das Gefühl, dass wir uns auf dem richtigen Weg. befinden.

Eine buddhistische wie auch eine asiatische Weisheit lehren uns: ‚Großes Verstehen kommt mit großer Liebe.‘ und ‚Die Liebe ist ein scheuer Vogel, der den Schlüssel deines Gefängnisses um seinen Hals trägt.‘ Liebende verstehen, Liebende unterstützen sich und vor allem, Liebende verhelfen sich gegenseitig auf dem Weg zur Freiheit.

So empfinden es auch Laure und Paolo, als sie sich das erste Mal begegnen.

4.

Sanftmütige mandelbraune Augen und stets ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Fast schelmenhaft und dennoch unglaublich liebenswürdig und vertrauenerweckend. Als Laure Paolo zum ersten Mal erblickt hat, ist es sofort um sie geschehen. Ihre Augen führen einen regen Wettkampf aus, stetig zwischen den faszinierenden Augen und den lächelnden geschwungenen Lippen hin und her wechselnd. Doch eine alte Macht der Gewohnheit sagt ihr, dass sie sich nicht zu leicht davon beeindrucken lassen sollte. Vertraue keinem Fremden. Bloß keine Emotionen zulassen. Erst einmal muss dieser Mann aus der Ferne beobachtet werden. Ein solch gutaussehender Typ kann doch nur ein arrogantes hinterhältiges und Frauen verachtendes Arschloch sein. Die Gespräche mit ihm wären bestimmt von selbstgefälligen Monologen und Bekundungen gekennzeichnet. Letztendlich würde er sie nur ins Bett kriegen wollen und wäre am nächsten Morgen wieder verschwunden. Wenn sie überhaupt gut genug für ihn war. Ein solcher Mann gibt sich nicht mit normal aussehenden Frauen zufrieden. Für ihn müssen es schon Topmodels mit Size Zero sein, die zwar nicht viel im Kopf haben, aber leicht zu vögeln sind.

Trotz dieser Gedanken kann sie den Blick nicht von ihm lassen. Sie sollte ihn nicht nur aufgrund seines äußeren Erscheinens von vornherein abstempeln. Wenn sie ihn genauer beobachtet, liegt in seinem verschmitzten Lächeln nicht nur ein pikaresker Ausdruck, sondern auch pure Lebensfreude, wahre und offene Sympathie gegenüber seinen Gesprächspartnern. Es wird ihr nun ganz warm ums Herz und sie merkt, dass sie selbst zu lächeln beginnt. Sollte sie ihn ansprechen? Aber was sollte sie ihm bloß sagen? Sollte nicht der Mann den ersten Schritt machen? Und würde er sie überhaupt wahrnehmen neben all den wunderschönen Frauen, welche heute anwesend sind?

Plötzlich bemerkt sie, wie er sie ebenso anstarrt. Ob er sich wohl wirklich für sie interessiert?

5.

„Schon wieder überall diese Snobs und Angeber. Wie heißt denn noch gleich dieser schnörkellose Moderator von der Samstagabend-Sendung? Der Typ geht mir sowas von auf den Zeiger mit seinem hirnrissigen Gequatsche!“

„Hey komm schon! Der Kerl ist zwar wirklich bescheuert, aber immerhin macht er seinen Job gut. Kai Homann heißt er. Ich stand mal hinter der Kamera für ihn, als er noch die Theatersendung moderierte. Die war gar nicht so übel, immerhin ging es dort wenigstens um kultivierte Inhalte. War wirklich sehr spannend ihm zuzuhören. Außerdem war immer alles ziemlich schnell im Kasten, da er sehr natürlich agierte und den Producer immer zufrieden gestellt hat. Ich kann mich nicht an einen einzigen Set-Tag erinnern, an welchem er es verpatzt hätte. Er ist wirklich gut, da ist ein bisschen Arroganz nicht unüblich. Aber du hast Recht, jetzt ist er wirklich ein Arsch. Das war nicht immer so. Früher konnte man mit ihm bei einem kühlen Bier nach Drehschluss echt gut über Gott und die Welt philosophieren. Tja, aber die Zeiten sind wohl vorbei, seit er die neue Sendung moderiert.“

„Wow, ihr wart wohl best friends oder wie? Oder bist du vielleicht doch schwul? Paolo der Poporitter!“ Schallendes Gelächter folgt und Paolo winkt mit einer Hand ab, lächelt wie ein Schelm und nimmt dafür einen großen Schluck von seinem Bier.

Paolo sieht darüber hinweg, denn er weiß es selbst besser, dass er ein ganzer Kerl ist. Auch wenn er oft sensibler und einfühlsamer als andere Männer mit seiner Umwelt umgeht.

Heute ist der große Abend des Senders. Sein Kamerakollege Mario und er stehen in der Nähe der Bar und beobachten die umstehenden und vorbeigehenden Mitarbeiter und geladenen Gäste der Party im Münchner Olympiapark. Anlass der Feier ist die Erhöhung der Einschaltquote um 1,00 % auf 3,00 % gegenüber dem Vorjahr. Nun hatten sie den Durchbruch zu einem qualitativen und angesagten Kultursender im bunten Fernsehland Deutschlands geschafft. Sogar der größte Konkurrent Arte sieht in dem neuen Sender eine potentielle Bedrohung. Mit urigem Münchner Charme und anspruchsvollen Sendungen, hochwertigen Dokumentationen und Spielfilmen macht der Sender auch den großen öffentlich-rechtlichen Anstalten bereits zu schaffen, obwohl diese mit öffentlichen Geldern und Förderungen unterstützt werden.

Der Privatfernsehsektor ist dagegen eine ganz andere Liga. Vor allem, da der deutsche Fernsehmarkt stark durchmischt ist. Zahlreiche Spartensender, die zwar Inhaltsvielfalt propagieren, aber dennoch alle dasselbe senden. Und kein Konzept kann den beiden Privatkonzernen – der ProSiebenSat.1- und der RTL-Mediengruppe - das Wasser reichen. Bis auf Kult TV. Was einst als idealistisches Konzept von einem ehemaligen Theaterregisseur, einem Producer und einer Journalistin begann, ist heute nun Wirklichkeit: dem Publikum anspruchsvolle und dennoch leicht verständliche Kultur im südlichen Raum Deutschlands – vorwiegend natürlich in München und der alpinen Region – zu präsentieren. Anspruchsvoll heißt hierbei nicht nur über Theaterstücke, Orchesterauftritte, Filmfestivals, usw. zu senden, sondern auch die Kultur und Lebensart von Jugendlichen, Frauenvereinen, privaten Künstlertreffs und vielen weiteren versammelten kulturinteressierten Menschen zu dokumentieren und darüber zu berichten. Die Freude an der Kulturausübung in der Gemeinschaft steht hier im Vordergrund. Genauso nah und authentisch wie das Bundesland Bayern.

Von ehemals zehn Mitarbeitern wuchs das Unternehmen innerhalb zehn Jahren stark an. Nun gibt es über 200 Redakteure, Moderatoren, Producer, Cutter, Tontechniker, Buchhaltungskräfte, … und eben auch Kameramänner wie Paolo und sein Kollege und Kumpel Mario.

Paolo erinnert sich noch heute an seinen ersten Tag beim Sender. Er war vorfreudig und neugierig auf die Arbeit hinter der Kamera. Welche Einstellung wäre die richtige für eine Anmoderation, welchen Blickwinkel wählt man bei einer Dokumentation und wann konnte er eine Kamerafahrt einsetzen?

Es bildeten sich schon vorab erste Szenarios in seinem Geist, bevor er mit der Arbeit begann. Um dann nach kürzester Zeit ernüchtert festzustellen, dass die Kameraführung sehr automatisiert von Statten geht und ebenso sehr routiniert ohne große Überlegungen abläuft. Er war unglaublich enttäuscht darüber bei einem niveauvollen Unternehmen tätig zu sein und seine kreativen Ideen nicht ausüben zu können. Heute hat er sich damit abgefunden, denn eines Tages würde er ein Kult-Regisseur sein. Das Ansehen wäre ihm dabei nicht so wichtig, mehr zählte die Kunst der Cinématographie. Seine Leidenschaft zu leben und zu spüren. Wie ein Künstler der Boheme.

Schon als kleiner Junge faszinierten ihn Filme und Filmemacher. Mit seiner Leica nahm er erste Kurzfilme auf. Als er dann gegen den Willen seines Vaters an der Kunstakademie das Studium begann, machte das seinen Vater noch rasender. Und Paolo konnte nicht anders, als sich gegen ihn aufzulehnen, zu rebellieren. Bis er merkte, dass die dortigen Professoren und Studenten zu vergeistigt und viel zu illusionär im Kopf waren. Dies war nichts für ihn, er wollte doch echte, spürbare Kunst produzieren.

Er brach das Studium ab und entschied sich dafür, eine Ausbildung als Kameramann zu absolvieren, stets in der Hoffnung nach einigen Jahren Erfahrungen die Kompetenzen für einen Regisseur aufweisen zu können. Und nun acht Jahre später, steht er nach wie vor hinter der Kamera und konzipiert keine Plots und Szenen.

Doch er wird seinen Traum nicht aufgeben, er bleibt optimistisch. Das Leben ist gut und er hat noch viel Zeit, seinen eigenen Weg zu gehen. Er verdient ausreichend Geld, führt etwas aus, was er gut kann und hat beim Sender einen guten Freund gefunden. Was will man mehr?

Wäre er dem Bestreben seines Vaters nachgegangen, würde er heute in einer Bank oder in einer Anwaltskanzlei versauern und seine kreative Begabung verkümmern lassen. Dieser wünscht sich stets, dass sein Sohn ihm nacheifern würde. Als erfolgreicher Banker zog der ursprüngliche Katalane mit Frau und Kind von Barcelona nach Frankfurt. Das Manhattan Deutschlands. Die Geschäfte liefen großartig, doch Mutter und Sohn vermissten das milde Klima und die lebensfrohen Menschen. Es fehlte ihnen an sprudelndem Leben, historischen Gemäuern, Kulturveranstaltungen und einzigartigen Naturoasen. Da sein Vater weiter seinen vielversprechenden Bankgeschäften nachgehen wollte, entschied man sich für einen Umzug nach München, um einen Kompromiss einzugehen. Sowohl südlicher, mit milderem Klima und einer unbeschreiblichen Natur als auch international anerkannt mit namhaften Banken.

Als Jugendlicher verbrachte Paolo viel Zeit mit seiner Mutter in der Münchner Innenstadt. Schon seit jeher hatte Paolo eine enge und sehr vertraute Beziehung zu seiner Mutter, ohne, dass diese zu intim gewesen wäre. Sie war mehr eine sehr gute Freundin für ihn und auch umgekehrt war Paolo stets wie ein sehr guter Freund für seine Mutter. Gemeinsam gingen sie zu neuen Theatervorstellungen ins Bayerische Staatstheater, zum Picknick in den Englischen Garten, in die Alte Pinakothek wie auch ins Kino. Es war eine wunderbare Zeit.

Seine Mutter erzählte ihm viel über spanische Kunst, Literatur und Film. Über die Zeit, als Franco das Land beherrschte und somit auch den Geist der Gesellschaft prägte wie auch in der Übergangsphase, der Transición. Als ehemalige Professorin an der Kunstakademie in Barcelona der Reial Acadèmia Catalana de Belles Arts de Sant Jordi wusste sie über fast alles Bescheid.

Sie war seine Heldin, so weise und kämpferisch wie Athene und so liebevoll und fürsorglich wie Mutter Theresa. Ganz anders als sein Vater, welcher nur an nüchternen Zahlen und Bilanzen festhielt und seinem Sohn, wenn überhaupt, nur wenig Zeit erübrigte. In dieser fand er keinen Zugang zu ihm. Keine Stunden auf dem Rasen beim Fußball oder in der Garage, um sein Fahrrad zu reparieren. Es gab nur Diskussionen über berufliche Ziele, Pflichtbewusstsein und natürlich Geld. Paolo kam dies immer durch und durch deutsch vor. Doch seine Freunde auf der Schule und einige auf der Akademie waren ganz anders. Identifizierte sich sein Vater mit einem deutschen Leitbild, welches in dieser Form gar nicht existierte? Oder lag es daran, dass er aus einer ärmlichen Familie stammend, sich stets durchkämpfen musste, um sein Ziel, eines Tages ein erfolgreicher Mann zu werden, zu erreichen? Natürlich war es schwer für ihn, aber weswegen konnte er Paolo nicht seinen Freiraum gestatten? Akzeptieren, dass er nicht für Zahlen und Businesspläne geschaffen war. Er würde nur wie eine wasserliebende Pflanze in der Wüste austrocknen und verkümmern. Und eine Frage stellte er sich damals immer wieder und fand nie eine Antwort darauf:

Wie um alles in der Welt fand seine Mutter Gefallen an seinem Vater? Sie als leidenschaftliche Frau von Welt, mit Sinn für Kunst und Kultur. Wie konnte er sie beeindrucken? War er denn früher anders gewesen, bevor Paolo auf die Welt kam?

Als er als eines Tages wieder einmal von seinem Vater an den Kopf geworfen bekam, dass er keine Ziele hätte und mit seiner Filmerei seinen Weg als arbeitsloser Versager schon vorhersehen könnte, war Paolo außer sich vor Wut und Enttäuschung. Er konnte seinen Vater einfach nicht verstehen. Er verzog sich in sein Zimmer und sah sich seine letzten Aufnahmen an, bis seine Mutter behutsam sein Zimmer betrat. Sie setzte sich neben ihn auf sein Bett und streichelte ihm sanft über den Kopf.

„Papa meint es nicht so, cariño1. Er möchte doch nur, dass du es später gut hast. Dass du von deinem Beruf leben kannst. Er fürchtet nur, dass du nicht erfolgreich wirst in einem Land wie Deutschland. Doch ich weiß, was in dir steckt. Du hast großes Talent und Deutschland ist auch das Land der Dichter und Denker wie auch der Künste. Du wirst deinen Weg gehen, da bin ich mir sicher. Wir müssen nur noch deinen Vater davon überzeugen. Er kommt eben aus einer Familie, in der Geld dringend nötig gewesen wäre und Pragmatismus die einzige Überlebensstrategie für deinen Vater darstellte. Es war nur logisch, dass er ins Bankengeschäft ging. Dort konnte man schnell sehr viel Geld verdienen.“

Paolo seufzte. „Ja, ich weiß, Mama. Aber hatte er denn als junger Mann keine Träume von der Zukunft? Wollte er denn tatsächlich schon immer in einer Bank arbeiten? Ich verstehe es einfach nicht, wieso er nicht sehen kann, dass ich dafür nicht geeignet bin. Ich bin keine Leuchte in Mathematik und Finanzen sind mir ein Graus. Ich könnte als Banker einfach nicht arbeiten. Dort wäre ich ein totaler Versager!“

„Das weiß ich, mi amor2. Obwohl ich das Wort Versager nie wieder hören möchte. Auch dein Vater wird es bald verstehen. Und wie schon gesagt, er möchte nur das Beste für dich. Er möchte dich gut versorgt wissen. Auch er war früher sehr fasziniert von der Kunst im Bürgerkrieg wie die Arbeiten von Pablo Picasso und in der Zeit nach Franco. Damals in Spanien waren wir beide auf vielen Vernissagen, Filmvorführungen und Literaturabenden in Barcelona und Madrid. Es war eine wunderbare Zeit.“

Paolo blickte verwundert zu seiner Mutter auf. „Ach wirklich? Er hat sich für Kunst interessiert? Und wieso tut er das heute nicht mehr?“

Seine Mutter legt behutsam ihre Hand auf seine und antwortet ihm: „Paolo, dein Vater war früher ein wahrer Freigeist. Er sehnte sich nach Demokratie und freie Meinungsäußerung. Nach Franco war dies bei vielen Spaniern der Fall. Und in der damaligen Kunst konnte man dies ausdrücken, was jahrelang verborgen war. Die Unterdrückung des Volkes. Es war wie eine Therapie für viele Menschen. Es verschafft ihnen Heilung. Doch diese Wirkung ließ nach, sobald sich die demokratische Phase im Land etabliert hatte. Sobald Gewöhnung eintritt und der Kapitalismus das neue Leitdiktat wurde. Vor allem mit dem wirtschaftsstarken Deutschland verband dein Vater seit jeher Erfolgsstreben und Kapitalvermehrung. Es war um seine idealistischen Vorstellungen vom Leben geschehen. Als kleiner Junge wollte er nur später einmal viel Geld für seine Familie verdienen. Mit der Zeit sah er, dass dies im Bankengeschäft leicht zu machen war. Sein eigentlicher Traum war es, ein Sänger an der Oper zu werden. Er hat eine außerordentliche Stimme. Als er das erste Mal für mich sang, hab ich mich schlagartig in ihn verliebt.“ Paolo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus:

„Was? Papa wollte Opernsänger werden? Das ist ja unglaublich! Wieso hat er denn seinen Traum aufgegeben, nachdem Spanien nun ein westlich geprägtes Land war?“

Carina sah Paolo mit einem sanften Ausdruck an, mit den wunderschönen mandelbraunen Augen, welche Paolo von ihr geerbt hatte. Sie lächelte resigniert und sagte schließlich: „Ach amor mío3, das Leben kommt oft ganz anders wie man es sich vorstellt. Nur wenige schaffen es, ihren Traum zu leben. Auch wenn du in einem scheinbar freien Land lebst, gibt es doch andere Zwänge, welche dir die Grenzen deiner Möglichkeiten bewusst werden lassen. Um Opernsänger zu werden, eine Ausbildung zu bekommen, hätte dein Vater erst einmal viel Geld gebraucht, um diese bezahlen zu können. Doch seine Familie hatte kaum welches. Und woher sollte er es bekommen? Förderungen gab es damals kaum und wenn überhaupt, dann nicht für jemanden, dessen Familie in der sozialen Unterschicht angesiedelt war. Der Wunsch nach schnellem Wohlstand und Flucht vor diesem Milieu war stärker, als der Wunsch seiner Begabung und seinem Traum nachzugehen. Du musst verstehen, Paolo, er war wie ein getriebenes Tier, dein Vater. Er sah keine andere Möglichkeit. So begann er mit 14 Jahren als Putzkraft in einer Bank und als er jeden Tag die schick gekleideten Banker in ihren teuren Anzügen sah, beschloss er eines Tages, selbst einer zu werden. Wenn diese Männer solche Anzüge tragen konnten, dann mussten diese viel Geld zum Leben haben. Anscheinend lebten sie in Saus und Braus.

Er studierte abends oft nach seiner Schicht einige herumliegende Bankauszüge und Akten und machte in einer öffentlichen Schule für Berufstätige seinen Abschluss im Bankwesen. Er bewarb sich bei dieser Bank als Banklehrling, doch sie wiesen ihn zuerst ab. Er gab nicht auf und bewarb sich bei Banken in der ganzen Stadt. Solange bis er eines Tages einen Job als Bankassistent bekam. Dort musste er zuerst Akten sortieren, schreddern, usw. Doch eines Tages gab man ihm eine Lehrstelle und anschließend einen Job als Bankangestellter, weil man feststellte, dass er gut mit den Kunden umgehen sowie mit Zahlen gut jonglieren konnte und auch sonst ein kluges Kerlchen war. Und nun ist er heute ein erfolgreicher Banker. Er hat sich von ganz unten nach ganz oben hochgearbeitet. Und dies möchte er dir vor Augen führen, dass das Leben eben kein Wunschkonzert ist und sich die Pläne oft schnell ändern können.“

6.

„Paolo? Hey, Mann! Was ist los mit dir? Träumst du oder was?“

Paolo bemerkt erst jetzt, dass er die letzten Minuten vollkommen abgeschweift, mit den Gedanken wieder in die Vergangenheit gereist war und seine jetzige Umwelt komplett ausgeblendet hatte.

Bis ihn Mario zurück in die Gegenwart katapultierte. Er fühlt sich wie jemand, der für Stunden im Wasser untergetaucht gewesen war und nun an die Oberfläche geholt wird. Seine Sinne sind noch trüb und begreifen kaum, wo sie sich befinden. Am liebsten würde er sich jetzt ohrfeigen, um wieder ein klares Bewusstsein zu erhalten, doch das würde merkwürdig aussehen. Sein Kumpel Mario würde ihn für verrückt erklären. Er hört ihn schon sagen: „Hey, bist du jetzt total bescheuert geworden? Paolo, der melancholische Spinner!“ Und um dies zu vermeiden, sagt Paolo nur: „Sorry, Mario. Deine Geschichte über die heiße Blondine war einfach zu bildlich. Ich hab mich hinreißen lassen und mir eine eigene Story, wie wir beide eine kleine Nummer schieben, im Kopf ausgedacht.“ Er tippt sich gegen seine rechte Schläfe und verzieht wiederum seinen Mund zu einem schelmischen Grinsen. Sein Kumpel Mario verfällt daraufhin in ein schallendes Gelächter, worin Paolo einstimmt.

Bis er sie genau in diesem Moment erblickt. Eine wunderschöne, zierliche und dennoch perfekt proportionierte Brünette in einem königsblauen bodenlangen Kleid, welches sich perfekt an ihren wohlgeformten Körper schmiegt. Ihre seidigen, langen Haare sind locker hochgesteckt und sie trägt ein dezentes Make-up. Bis auf diese sinnlichen rotbraunen Lippen, welche ihn fast um den Verstand bringen.

Als sie plötzlich sein hypnotisiertes Starren bemerkt, erkennt er ihre leuchtend grünen Augen, welche einen neugierigen Ausdruck verraten. Das ist der Augenblick, in welchem sich Paolo in Laure verliebt.

UNARTIG

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