Читать книгу Verflixt und ausgesperrt! - Mira Bergen - Страница 4

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***

Eine Tafel Schokolade wechselte den Besitzer. Frodewin und Lauritz machten es sich hinter dem Fernrohr bequem und nahmen zielstrebig das Haus der Wunderlichs ins Visier.

Nach der Rückkehr aus Glücksstädt erfreute sich dieses Objekt bei den Zwergen allergrößter Beliebtheit und es gab Wartelisten für den Wachdienst am Fernrohr. Geschickt ausgewählte Geschenke konnten zu spontanen Veränderungen der Reihenfolge der Anwärter führen, weshalb Lauritz jetzt schon den zweiten Tag nacheinander hier saß und Frodewin als Herr über die Listen (und das Fernrohr) über ein breiteres Sitzkissen nachdachte. Vielleicht war Schokolade doch keine so gute Idee. Erstaunlich, wie Lauritz es anstellte, immer an die beste Schokolade heranzukommen. Die von der Sorte, bei der man nicht aufhören konnte.*

»Und? Ist jemand zu Hause?«, fragte Frodewin mit vollem Mund. Sein gelangweilter Blick streifte einen großen, mit Tüchern verhangenen Gegenstand.

SUSI.

Nach den Ereignissen im Juli war die Benutzung der Transportmaschine strengstens verboten und ein großes Schloss angebracht worden. Doch das schien überflüssig. Es hätte sich kein Zwerg gefunden, der sich freiwillig diesem Risiko ausgesetzt hätte. Nicht nachdem alle mitansehen konnten, was SUSI aus Ken gemacht hatte.

»Hmm«, murmelte Lauritz und sah gebannt in das Fernrohr. »Alle beide.«

Letzteres bezog sich auf Herrn Wunderlich und Emily, denen in letzter Zeit ganz besonderes Interesse galt.

Anfangs war es auch noch recht spannend gewesen, Frau Wunderlich zu beobachten. Das Eheleben der Wunderlichs war ziemlich unterhaltsam. Doch dann zog Emily probeweise ein und stellte das beschauliche Leben ihres neuen Versuchspapas auf den Kopf.

Herr Wunderlich war eindeutig überfordert. Vater zu werden hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Vor allem nicht so abrupt. Ein werdender Vater sollte während der üblichen Schwangerschaftsmonate zunächst einmal Gelegenheit erhalten, sich grundsätzlich mit der Tatsache der baldigen Vaterschaft anzufreunden. Ein erster Schritt. Der unvermeidlichen Geburt folgte dann normalerweise eine Phase, in welcher das Kind ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der Mutter fiel und der Vater das Ganze aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Herrn Wunderlich war zwar zu Ohren gekommen, dass die Väter von heute zunehmend Anspruch auf Einbeziehung erhoben, aber er bevorzugte die jahrtausendelang bewährte altmodische Methode, nach welcher der Vater gelegentlich ein frisch gebadetes und gefüttertes – vorzugsweise schlafendes – Kind in den Arm gelegt bekam, welches beim geringsten Anzeichen von Aktivität von der fürsorglichen Mutter wieder entfernt wurde.

Später ließ es sich zwar nicht vermeiden, dass Kinder zu sprechen begannen, doch auch das war eine längerfristige Entwicklung. Zumindest sollte es so sein.

Niemals, unter gar keinen Umständen, hatte er damit gerechnet, sofort mit einem halbwüchsigen Kind konfrontiert zu werden, das nicht nur fließend sprach, sondern dabei auch noch überraschend schlüssig und überzeugend argumentierte und bei jeder Gelegenheit widersprach.

Zu alledem musste er erkennen, dass er während seines schönen früheren Lebens auf männlichen Nachwuchs programmiert gewesen war, der, wenn er sprechen und laufen konnte, mit ihm Fußball schaute und ihm als Verbündeter gegen seine Frau zur Seite stand.

Die Realität hatte ihn überrannt und zu Boden geworfen, und Herr Wunderlich fühlte sich noch immer zu schwach, sich zu erheben.

Emily hingegen hatte jene Kindheitsphasen, in welchen man seine Eltern vorbehaltlos liebte und ihnen alles fraglos abkaufte, ausgelassen und war in etwa an dem Punkt eingestiegen, an welchem einem Eltern peinlich waren. Das bedeutete selbst für jahrelang gewachsene Eltern-Kind-Beziehungen eine harte Belastungsprobe und für die heimlichen Zuschauer jede Menge Spaß und Unterhaltung.

Lauritz grinste in sich hinein, als Herr Wunderlich den Fehler beging, Emily hoffnungsvoll zu fragen: »Möchtest du nicht lieber wieder hochgehen und mit deiner Puppe spielen?«

Schon wieder. Manche lernten es echt nie.

***

Hinter einem Berg aus Büchern raschelte Papier und Manfred glaubte, ein Schniefen hören zu können. Constantins Kopf kam zum Vorschein.

»Bist du schon lange hier?« fragte der misstrauisch.

»Wieso?« erwiderte der Kobold und musterte Constantin. Es war nicht zu übersehen, dass es diesem gut ging. Die gesunde Gesichtsfarbe war vermutlich auf die frische Luft hier zurückzuführen, die dafür sorgte, dass sämtliche vorstehenden, unbehaarten Gesichtsteile die Farbe von Weihnachtsäpfeln annahmen. Doch es war nicht nur das. Constantins Ruhelosigkeit war verschwunden. Wie es aussah, hatte er mit seiner Situation Frieden geschlossen und zudem begonnen, sich mit seiner eigentlichen Bestimmung zu beschäftigen und zu lernen, der Weihnachtsmann zu sein. Er schien sogar Spaß daran zu finden. Wenngleich er das niemals zugegeben hätte.

Constantin wischte sich hastig über die Augen und hoffte, dass der Kobold die feuchten Stellen nicht bemerkte. Verwirrt fragte er sich, was in letzter Zeit mit ihm los war. So was passierte ihm neuerdings häufiger, obwohl es keinen Grund dafür gab. Vielleicht sollte er mal seine Augen untersuchen lassen.

Noch immer machte ihm das letzte Dreivierteljahr zu schaffen. Kein Wunder. Er war der Weihnachtsmann. Das konnte nicht jeder von sich behaupten.

Darüber hinaus hatte er so etwas Ähnliches wie Untertanen, auch wenn er sich niemals trauen würde, das laut zu sagen. Viele, äh, Wesen kümmerten sich um ihn und waren um sein Wohl besorgt. Etwas vollkommen Neues für ihn, und er genoss es. Fleißige Zwerge kochten und putzten, und irgendjemand legte ihm jeden Morgen frische Sachen raus.

Er hatte sogar Freunde, wenngleich diese mit seinen Knien sprachen, wenn sie vor ihm standen. Selbst in der richtigen Welt hatte er jetzt mehr Freunde als jemals zuvor. Und sie alle schrieben ihm Briefe.

Constantin hatte vorher nie Briefe bekommen. Jedenfalls keine freundlichen. Im Gegenteil. Post hatte früher immer etwas Bedrohliches an sich gehabt.

Erwin, Willi, Emily – selbst Frau Wunderlich hatte ihm einmal in der typischen Schönschreibschrift einer Grundschullehrerin eine förmliche Mitteilung übersandt und um Berücksichtigung der neuen Anschrift von Emily zum nächsten Weihnachtsfest gebeten. Außerdem enthielt der Brief ein dickes, rotes P.S.: Wenn ich herausfinde, dass ich von Zwergen beobachtet werde, ziehe ich den kleinen Rüpeln die Ohren so lang, dass keine Mütze mehr drüberpasst.

Noch etwas war neu für Constantin. Er hatte jetzt eine Aufgabe. Dazu eine, die Kinder glücklich machte. Jedenfalls die braven. Zumindest hoffte er das. Genau würde er es wohl erst nach dem nächsten Weihnachtsfest wissen.

Gerade eben hatte er den letzten Brief von Erwin zum dritten Mal gelesen und nachgedacht.

Er hegte den dringenden Verdacht, glücklich zu sein. Doch er war sich nicht sicher. Mit positiven Gefühlen kannte er sich nicht sonderlich gut aus.

Wenn er an die Dauer seiner unfreiwilligen Aufgabe dachte, befiel ihn noch immer Panik. Solange er diesen Gedanken verdrängte, fühlte er sich jedoch ganz wohl. Und gesünder, als er sich jemals zuvor gefühlt hatte.

Irgendein Zwerg hatte ihm das mal erklärt. Der Weihnachtsmann konnte nicht krank werden. Egal wieviel er aß und wie ungesund er lebte – um Dinge wie Cholesterin, Bluthochdruck oder Magengeschwüre musste er sich keine Gedanken machen. Gutes Essen und ein gewisser Körperumfang bei gleichzeitigem Wohlbefinden gehörten sozusagen zum Job.

Der Kobold hatte eine Weile lang interessiert zugeschaut, wie sich Constantin bemühte, gefasst auszusehen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Die neue Post ist da.«

Constantins Augen leuchteten auf, doch Manfred schüttelte den Kopf. »Diesmal leider nichts für dich persönlich. Nur allgemeine Wunschpost.«

Mist.

Constantin war verblüfft gewesen, wie viele Wunschzettel jetzt schon eintrafen. Welche Ausmaße würde das erst im Advent annehmen?

Normale Standard-Wunschzettel wanderten sofort in die Wunschpostsortierabteilung. Davon abweichende Briefe wurden jedoch dem Weihnachtsmann zur Durchsicht übergeben – also die mit außergewöhnlichen Schicksalen, Drohungen, Erpressungen – und die von penetranten Nörglern.

Constantin fragte sich, was aus solchen Kindern werden sollte, wenn sie erwachsen waren. Wer schon als Kind am Weihnachtsmann herummeckerte, hatte später entweder eine großartige Karriere als Politiker oder Filmkritiker vor sich, oder aber er besetzte Häuser und wurde zum Albtraum aller Therapeuten.

»Denkst du noch an die Versammlung?« erinnerte der Kobold, der gleichzeitig die Aufgaben des Postzwerges, Constantins persönlichem Assistenten und eines Kuriers für heimliche Geschäfte wahrnahm. Letzteres verdankte er seiner Fähigkeit, von jetzt auf gleich überallhin verschwinden zu können, was ihm einen dankbaren Kundenkreis bescherte.

»Welche Versammlung?« fragte Constantin zerstreut, während er argwöhnisch auf einen roten Umschlag starrte, auf dem in großen Buchstaben »AN DEN TYPEN IM ROTEN MANTEL – LETZTE WARNUNG« stand.

Offensichtlich gab es auch unter kleinen Kindern Terroristen.

Der Kobold verdrehte die Augen. »Die große Versammlung. Heute.«

»Bist du dir sicher? Gab es nicht erst eine Versammlung?«

»Sogar zwei. Und du warst jedes Mal dabei.«

»Äh, ja. Richtig. Allmählich verliere ich den Überblick«, seufzte Constantin. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nahm das mit den Versammlungen in letzter Zeit überhand.

Zuerst gab es eine nach ihrer Rückkehr aus Glücksstädt. Constantin musste zugeben, dass die notwendig war, da weder Zwerg noch Mensch wusste, was jetzt eigentlich los war und wie es weiterging. Neben der Klärung derartiger grundlegender Angelegenheiten war Svante zum Zwerg des Monats gewählt worden. Das hatte zu interessanten Reaktionen geführt, insbesondere bei Wilbert.

Dieser nahm daraufhin den Kampf auf und berief eine weitere Versammlung ein, bei welcher er den verblüfften Zwergen eröffnete, Lehrgänge für Mitarbeitermotivation und -führung für unerlässlich zu erachten. Die jüngsten Ereignisse hätten das deutlich bewiesen. Darüber hinaus verpflichtete er sich, sofort die entsprechenden Themen auszuarbeiten und kurzfristig Lehrgangstermine bekannt zu geben, was bei den anderen Zwergen für einige Unruhe sorgte.

Und damit nicht genug.

Der Himmel wusste wie, aber Wilbert hatte irgendwo eine Broschüre über eine Lachtherapie in die Finger bekommen.

Sah man einmal von rätselhaften Ausnahmen wie Lauritz ab, lachten Zwerge ausgesprochen selten. Allenfalls lächelten sie, wenn es sich nicht verhindern ließ, was bei den meisten Zwergen einer Grimasse gleichkam.

Wilbert führte die kürzlichen Probleme auf das mürrische Grundwesen der Zwerge zurück und vertrat nun die Auffassung, dass häufigeres Lachen zu positiven Änderungen des Arbeitsklimas, Stressabbau und einer Verbesserung der Grundstimmung führen würde. Zumindest las er das aus seiner Broschüre heraus, die er so fest umklammert hielt, dass man meinen könnte, sie enthielt die Antwort auf die letzten großen Rätsel der Welt.

Wilbert kündigte an, mit den lachunfähigsten Zwergen zuerst anzufangen, was zu gequält grinsenden Gesichtern überall dort führte, wo Wilbert zufällig auftauchte.

Der Kobold musterte Constantin. »Diesmal hat Humbert die Versammlung einberufen, also scheint es um etwas Wichtiges zu gehen.«

Schon meldete sich wieder ein altvertrautes, flaues Gefühl in Constantins Magen. Wenn es etwas Wichtiges war, konnte es eigentlich nichts Gutes sein. Das hatte ihn seine jahrelange Erfahrung gelehrt.

Er hätte es kommen sehen müssen. In den letzten Tagen war es ihm viel zu gut gegangen, als dass dieser Zustand von Dauer sein könnte.

Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah zu, wie sich dichter Nebel durch die tief verschneiten Häuser und Straßen wälzte. Sein Haus war aus anatomischen Gründen bedeutend größer als die der Zwerge und stand überdies auf dem höchsten Punkt der Stadt. Damit hatte er einen wunderbaren Ausblick. Außerdem war es so für die Zwerge einfacher, ihn im Auge zu behalten, argwöhnte er.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine schöne Aussicht. Wenn nur der ewige Schnee nicht wäre. Aber wenigstens war dieser hier weiß. Der traurige Schnee, den er von zu Hause aus früheren Wintern kannte, nahm zumeist in kürzester Zeit recht unappetitliche Farben an – dank wechselnden Temperaturen, Autos und der Tatsache, dass auch Hunde einen Stoffwechsel besaßen. Hier hingegen glänzte, glitzerte und knirschte der Schnee genauso, wie man es von ihm erwartete.

Constantin gab sich einen Ruck, griff nach den Briefen und begann zu lesen. Verwirrt hielt er inne und suchte den Umschlag nach einem Absender ab.

»Wie alt ist die noch mal?«

»Wieso?«

»Na…, die wünscht sich eine neue Gefriertruhe, ein Bügeleisen, das nicht pfeift, einen Haartrockner, aus dem keine Flammen schlagen, eine Matratze, die nicht piekst, und, äh…«, mit rotem Kopf zeigte Constantin auf ein kleines Bild.

Der Kobold musterte mit gerunzelter Stirn das Bild. »Was steht denn daneben?«

»Wo? Ach, hier. Warte..., etwas, das eine Frau mit Bedürfnissen braucht, wenn sich ihr Typ nur zu Weihnachten blicken lässt.« Ratlos starrte Constantin auf das Bild.

»Da unten steht noch was«, meinte Manfred und zeigte ans Ende des ungewöhnlichen Wunschzettels.

Constantin hielt den Brief näher ans Gesicht, um die winzige Schrift erkennen zu können. »Diese Dinge sind ja wohl das Mindeste, das du tun kannst. Schließlich zahlst du seit elf Jahren keinen Unterhalt und kümmerst dich nie um die Kleine (die paar Weihnachtsgeschenke gleichen das ja wohl kaum aus).«

»Oh.«

Constantin begann zu grinsen. »Nun…, damit wäre Erwins Frage wohl beantwortet. Er ist offensichtlich nicht der Einzige.«

***

Erwin schrieb schon wieder an Constantin, den ersten richtigen Freund, den er in seinem Leben gefunden hatte. Dass dieser auch noch der einzige echte Weihnachtsmann und deshalb immer weit weg war, spielte nur eine Nebenrolle.

Endlich gab es jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte. Und derzeit gab es sehr viel auszuschütten.

Erwins Briefe schwankten zwischen Euphorie und Verzweiflung, mitunter in ein und demselben Satz.

Seinen priesterlichen Beruf hatte er aufgegeben, was angesichts seiner wirren und etwas beängstigenden Begründung von seinem Arbeitgeber überraschend schnell und unbürokratisch akzeptiert wurde. Vielleicht hatte auch seine letzte Predigt zu der zügigen Entscheidung beigetragen. Erwin hatte es zum ersten Mal während seines priesterlichen Daseins geschafft, das Publikum zu fesseln. Eigentlich hatte er nur vorgehabt, über Dinge zu sprechen, die von Menschen nicht gesehen werden können und dennoch existieren. Als er etwas konkreter wurde und die Gesichter ihn gebannt anstarrten, ging es mit ihm durch. Euphorisch erzählte er, was ihm passiert war, und machte dabei auch vor Zwergen, Kobolden, dem Weihnachtsmann und seiner eigenen Herkunft nicht Halt.

Danach ging alles sehr schnell. Vermutlich war man froh, ihn so schnell und unproblematisch loszuwerden, ohne für einen teuren Therapieplatz aufkommen zu müssen.

Dafür gab es jetzt etwas Neues in seinem Leben – die Liebe. Und zwar in Person der Hippieladenverkäuferin, die den Namen Phoebe trug und drei Tage nach ihrem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen bei ihm einzog. Nicht dass er dabei etwas mitzureden gehabt hätte. Frauen ließen Männern wie Erwin in solchen Dingen nur selten eine Wahl.

Verwirrt hatte sie feststellen müssen, dass Erwin nicht allein, sondern bei seiner Mutter wohnte. Nach nicht ganz zwei Tagen hatte sie sich mit Erwins Mutter völlig überworfen – mit dem Ergebnis, dass sie Hals über Kopf nicht nur ihre, sondern auch Erwins Koffer packte und alles samt dem sprachlosen Erwin in ihre noch ungekündigte Einraumwohnung transportierte. Und dort saß er nun.

Er hatte bereits den Rat eines ausgebildeten Diplompsychologen eingeholt, dessen Telefonnummer in der Frauenzeitschrift seiner Mutter abgedruckt war, zusammen mit dem Versprechen, dass er in allen Lebenslagen kompetente und garantiert kostenlosen Hilfe anbieten konnte. Das Telefonat kostete Erwin dreiundzwanzig Euro und half ihm nicht im Geringsten weiter. Es bescherte ihm höchstens zusätzlichen Ärger, sobald Phoebe die nächste Telefonrechnung erhielt.

Er hatte es daraufhin mit der altbewährten Methode der Gegenüberstellung sämtlicher Für-und-Wider-Argumente versucht – mit dem Ergebnis, dass er auf beiden Seiten genau einunddreißig Punkte stehen hatte. Und ihm wollte einfach kein weiteres Argument einfallen.

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Sicher, das Kribbeln im Bauch war ganz aufregend, und es gab durchaus sehr schöne – und für seine unerfahrene Männlichkeit überraschende – Momente. Doch manchmal fragte er sich, ob es wirklich den ganzen Ärger drumherum wert war.

Phoebe ihrerseits hatte eine eigene Theorie entwickelt.

Die Wohnung war zu klein. In einer Einraumwohnung begegnete man sich einfach zu oft.

In letzter Zeit hatte sie deshalb die kundenfreien Zeiten ihres Ladens genutzt, um in Zeitungen und Internet nach einer neuen, großen Wohnung zu suchen. Hatte sie etwas Vielversprechendes gefunden, schloss sie kurzerhand den Laden und holte Erwin zur Wohnungsbesichtigung ab. Das war bislang schon viermal passiert und Erwin hoffte inständig, dass er dieser Tortur nicht noch einmal ausgesetzt sein würde.

Die letzte Wohnung hatte gute Chancen, sein neues Zuhause zu werden. Immerhin plante Phoebe schon die Inneneinrichtung.

Frauen bei der Nestsuche waren unberechenbar und es schien praktisch unmöglich, sie zufrieden zu stellen. Diese Steckdose war zu weit links, die Tür zu weit rechts (da passt das weiße Schränkchen nicht hin, du weißt schon, dass mit der klappernden Schublade, die du schon längst reparieren solltest). Der eine Raum war nicht sonnig genug, im nächsten blendete die Sonne und das war nicht gut für die Pflanzen. Die Fliesen im Bad waren zu bunt, die weißen in der Toilette dafür zu einfallslos, und Sprossenfenster putzen zu müssen ging schon mal überhaupt nicht.

Erwin hatte probiert, ob die Toilettenspülung funktioniert, und war anschließend bereit gewesen, den Mietvertrag zu unterschreiben.

In der dritten Wohnung war dann ein Wort gefallen, das ihn erstarren ließ und irrationale Ängste hervorrief. Phoebe fragte den potentiellen Vermieter erwartungsvoll nach dem Kinderzimmer.

Kinder! Dieses Wort ließ Erwin die Haare zu Berge stehen. Der Gedanke, selbst welche in die Welt zu setzen, war ihm bislang überhaupt noch nicht gekommen, da dieses Thema bis vor kurzem auf der großen roten Strengstens-Verboten-Liste ganz oben stand. Außerdem war er nach seinen bisherigen Begegnungen mit Kindern zu der Erkenntnis gelangt, dass er diese nicht besonders gut leiden konnte.

Die Kontakte zu Kindern beschränkten sich in seinem früheren Leben auf die Kirche, wo sich Kinder während der Gottesdienste die Seele aus dem Leib brüllten und ihre Eltern von seinen aufwendig ausgearbeiteten Predigten ablenkten. Oder kicherten, wenn sie ihn sahen.

Täuflinge waren noch schlimmer. Bestenfalls schrien sie nur, wenn sie ihn erblickten. Besonders kritisch wurde es, wenn er das zu taufende Kind in den Arm gelegt bekam. Erwin fragte sich, was Eltern ihren Kindern vor einer Taufe zu essen gaben, dass es auf seiner Kleidung regelmäßig Kotzflecken verursachte, die nie wieder rausgingen.

Waren die Täuflinge größer und konnten schon sprechen und laufen, wurde es noch unberechenbarer, da die Kinder entweder peinliche Fragen stellten (Wieso hat der komische Onkel ein Kleid an?) oder ausrissen. Nicht selten hatte er mit wehenden Röcken und rotem Kopf hinterherrennen oder Antworten finden müssen, während die entzückten Eltern aufgeregt dafür sorgten, dass die Videokamera auch alles richtig aufzeichnete.

Eine Dreijährige hatte mal zu ihm gesagt: »Mein Kleid ist ja viel schöner als deins!«, und dabei stolz auf den Alptraum in rosa gezeigt, in den sie gehüllt war. Dafür hatte er sie dann mit dem Wasser besonders großzügig bedacht, sodass der rosa Alptraum tropfend mit wütenden Eltern hinausstapfte und heulte: »Mama, der hässliche Mann hat mich nass gemacht!«

Nein. Erwin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, selbst ein Kind zu haben. Das gehörte in seiner Welt ganz klar zu den Plagen, die nur andere Leute befielen.

Zu schade, dass er nicht mehr Herr seiner eigenen Welt war.

***

Frau Wunderlich kam gerade rechtzeitig von ihrem Besuch bei der Kosmetikerin zurück, um die Eskalation des Streits um die Fernbedienung zwischen ihrem Mann und ihrer neuen Tochter zu verhindern.

Sie ging neuerdings regelmäßig zur Kosmetik und kränkte damit ihren Mann. Vor reichlich zwei Jahren hatte der ihr nämlich nach einem Tipp von jemandem, den er bis dahin für einen guten Freund gehalten hatte, einen Kosmetikgutschein geschenkt. Sein Stolz auf diese außergewöhnlich kreative Geschenkidee verflog nach Überreichen des Gutscheins recht schnell. Stattdessen musste er die folgenden drei Nächte auf dem unbequemen Sofa im Arbeitszimmer verbringen.

Herr Wunderlich rätselte noch heute, was an diesem Geschenk falsch gewesen sein sollte. Jeder hätte bei halbwegs objektiver Betrachtung zugestimmt, dass Frau Wunderlich eine solche Behandlung gut tun würde.

Jetzt kamen diese Zweifel erneut auf, zumal seine Frau nun gutes Geld dafür ausgab, den ebenfalls nicht billigen Gutschein jedoch achtlos verfallen ließ.*

Frau Wunderlich selbst wäre noch bis vor wenigen Wochen nicht im Traum darauf gekommen, sie könne eine kosmetische Behandlung benötigen. Aber zum einen musste sie erkennen, dass ihr die durch Ken verabreichte Verschönerungsaktion gut getan hatte (wenn man mal von der vielen Farbe absah), und zum anderen hatte sie jetzt eine Tochter. Das veränderte alles.

Es würde nicht lange dauern, bis diese alt genug war, dass sich junge, attraktive Männer nach ihr umdrehten. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, wollte Frau Wunderlich auf keinen Fall für Emilys Mutter, sondern allenfalls für ihre Schwester gehalten werden.

Als Frau Wunderlich das Haus betrat und durch lautes Rufen deutlich machte, dass sie jemanden zum Tragen der Einkaufstüten brauchte, warf Herr Wunderlich die bis dahin tapfer verteidigte Fernbedienung hastig auf den Tisch und eilte seiner Frau entgegen.

In letzter Zeit waren ihre Launen noch unberechenbarer geworden und er sollte sich nicht schon wieder ihren Unmut zuziehen. Außerdem hielt er es für ratsam, den Inhalt der Einkaufstüten überprüfen, um gegebenenfalls Vorsorgemaßnahmen ergreifen zu können. Denn …

Frau Wunderlich machte eine Diät. Und da sie das alleine niemals durchstehen würde, hatte sie ihren Mann ebenfalls auf Diät gesetzt. Seitdem hielt er sich häufig in der Garage auf, wo es Regale knapp unter der Decke gab, an die Frau Wunderlich nicht herankam.

Die Diät bereitete Frau Wunderlich große Schwierigkeiten, was auch ihre wechselhafte Laune erklärte. Sie kämpfte mit dem Problem der meisten Abnehmwilligen, dass Kopf und Magen an unterschiedlichen Fronten kämpften.

Knurrte der Magen und verlangte nach Eisbein und Sauerkraut oder Sahnetorte, konnte der Kopf seine appetitlich und übersichtlich angerichteten Salatblätter anpreisen wie er wollte – er kam damit nicht durch. Noch schlimmer wurde es, wenn sich auch die verschiedenen anderen Abteilungen des Kopfes auf die falsche Seite schlugen und der ohnehin nur kleine, für die Vernunft zuständige Bereich alleine dastand. So was hielt kein normaler Mensch durch.

Emily blieb von der Essensrationierung verschont, da sie noch ein Kind war und später groß und stark werden sollte. Gab es trotz sorgfältiger Planung einmal Reste, bekam Emily immer einen Nachschlag, während Herr Wunderlich in die Röhre guckte.

Trotzdem folgte Emily jetzt ihrem neuen Papa in den Flur, um zu sehen, ob Frau Wunderlichs Behandlung etwas gebracht hatte.

Als Frau Wunderlich Emily erblickte, machte ihr Herz Purzelbäume, wie häufiger in den letzten Wochen.

War das schön, ein Kind im Haus zu haben. Und dazu noch so ein hübsches und nettes. Tatsächlich überlegte sie bereits, noch ein zweites zu adoptieren, wenn endlich Emilys Adoption abgeschlossen war. Am besten einen kleinen Jungen. Damit würden sie dem Idealbild einer Familie entsprechen – Vater, Mutter, Tochter, Sohn und Einfamilienhaus. Fehlte nur noch ein Hund. Aber um das zu realisieren, musste erst die Katze sterben.

»Na mein Schatz? Wie geht es dir?«, fragte sie liebevoll an Emily gewandt, und Herr Wunderlich konnte sich nur wundern. Mit ihm hatte sie noch nie in diesem Tonfall gesprochen. Allenfalls ganz am Anfang ihrer Beziehung oder wenn sie angetrunken war und ihn für jemand anderes hielt.

»Gut. Du … du siehst toll aus«, behauptete Emily, womit sie meinte toll im Vergleich zu vorher. Und sie hatte sogar Recht, wie Herr Wunderlich plötzlich überrascht erkannte.

Die Diät zeigte erste Erfolge, da Frau Wunderlich sich zwischendurch nicht heimlich durch irgendwelche Notvorräte fraß. Außerdem schienen die preisintensive Pflege und das plötzlich erwachte Modebewusstsein Positives zu bewirken.

Natürlich konnte man keine Wunder erwarten, aber es gab deutliche Unterschiede zu vorher.

Geschmeichelt ging Frau Wunderlich in die Küche. »Hast du Lust, mit mir noch ein bisschen spazieren zu gehen?« fragte sie über die Schulter.

»Können wir machen. Gehen wir am Spielplatz vorbei?« antwortete Emily.

»Wenn du das möchtest, gerne. Dann zieh aber bitte nicht die gute Jeans an, ja?«

»Geht klar.« Eilig verschwand Emily nach oben, um sich umzuziehen.

Herr Wunderlich sah ihr konsterniert hinterher. Was war mit ihm? Fragte ihn etwa keiner? Und überhaupt. Seit wann ging seine Frau gerne spazieren?

Kleine Erinnerungsfetzen erwachten und füllten Lücken, die schon vor langer Zeit geschlagen worden waren.

Frau Wunderlich war tatsächlich einmal gerne spazieren gegangen und hatte ihn ständig dazu gedrängt, sobald kein Regen drohte. Und wenn sie ihn endlich überredet hatte, nörgelte sie unentwegt daran herum, wie er spazieren ging. Entweder ging er zu schnell. Oder er bummelte. Oder man konnte sich mit ihm nicht richtig unterhalten, oder er meckerte nur herum. Außerdem wollte er ständig umkehren oder abkürzen und war der Meinung, man sei jetzt genug spaziert.

Offensichtlich hatte sie nicht am Spazieren die Lust verloren, sondern daran, mit ihm spazieren zu gehen.

Vielleicht sollte er etwas guten Willen zeigen und mitkommen. Das konnte nicht schaden. Schließlich wohnte jetzt Konkurrenz im Haus.

***

Lautes Gemurmel erfüllte den großen Saal. Die Versammlung hätte bereits vor zehn Minuten beginnen sollen, aber bislang war noch kein redewilliger Zwerg erschienen. Niemand wusste, was heute drohte, und die Mienen waren skeptisch. Es hieß zwar, dass es um etwas Wichtiges ging, aber vielleicht tauchte auch nur Wilbert mit seinen verrückten Ideen auf.

Dieses Mal waren die Zwerge besser vorbereitet und hatten was zum Werfen mitgebracht. Jetzt mussten sie nur noch mit dem Problem fertig werden, dass sie keine guten Werfer waren.

Wieso das so war, wusste keiner. Es hatte vermutlich irgendetwas mit Anatomie zu tun. Vielleicht war auch in den Zwergenköpfen das dafür notwendige Programm vergessen worden. So was kam vor.

Als aus dem Gemurmel allmählich Gemurre wurde, betrat Humbert das Podium und fingerte nervös an einem Zettel herum. Schlagartig trat Stille ein.

Nach den kürzlichen dramatischen Ereignissen hatte sich Humbert besser erholt, als man es ihm in seinem Alter zutraute. Keine ahnte, dass die Angst vor einem angeordneten Ruhestand dabei eine wichtige Rolle spielte.

Die Zwerge wurden nun ebenfalls nervös, da ein angespannter Humbert meistens nichts Gutes bedeutete.

Dieser räusperte sich, entrollte umständlich den Zettel und warf einen kurzen hoffnungsvollen Blick darauf, da man nie wissen konnte. Vielleicht stand dort auf einmal etwas anderes. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Humbert runzelte die Stirn.

»Liebe Zwerge«, begann er, unterbrach sich jedoch und inspizierte mit prüfendem Blick das Publikum. Doch alle waren da. Sogar Constantin und Grummelbert. Soweit so gut. »Vermutlich fragt ihr euch, weshalb schon wieder eine Versammlung einberufen wurde. Ihr könnt mir glauben, dass es mir lieber wäre, wenn das nicht sein müsste. Aber wir haben schon wieder Post von der magischen Aufsichtsbehörde bekommen.«

Ein kollektives Seufzen durchquerte den Saal und ließ sich wachsam nieder – jederzeit bereit, wieder aufzuspringen und sich zu Wort zu melden.

Das mit der ständigen Behördenpost hatte nach langen, ruhigen Jahren kurz vor dem Abgang des alten Weihnachtsmannes begonnen. Humbert argwöhnte, dass es eine Neubesetzung an der für sie zuständigen Stelle gab und sie das Pech hatten, an einen übereifrigen Beamten geraten zu sein. Nicht auszudenken, was so einer alles anrichten konnte.

»Wie es aussieht, herrscht weiterhin Sparzwang. Jedenfalls wurde, wie es hier heißt, aus Einsparungsgründen beschlossen, uns mit der Abteilung der Heinzelmännchen zusammenzulegen.«

So. Nun war es heraus. Humbert musterte die Zwerge, doch die meisten sahen sich nur ratlos an. Kaum einer wusste etwas über Heinzelmännchen außer dem üblichen Kram. Dass sie nachts bei Menschen einbrachen und dort aus unerklärlichen Gründen die Hausarbeit verrichteten. Außerdem lebten sie in ständiger Angst vor getrockneten Erbsen und davor, entdeckt zu werden.

Humbert räusperte sich erneut. »Bereits in drei Tagen wird eine größere Heinzelmännchendelegation hier eintreffen und sich alles anschauen. Dann soll auch beraten werden, wie die zukünftige Zusammenarbeit abläuft. Heinzelmännchen, die sich gerade nicht im Einsatz befinden, sollen bei den Weihnachtsvorbereitungen aushelfen.«

Humbert vermutete stark, dass die Heinzelmännchen darüber hinaus ein wachsames Auge auf die letzthin etwas außer Kontrolle geratenen Aktivitäten in Zipfelbergen werfen sollten. Aber das behielt er vorerst für sich.

»Außerdem steht hier, dass Heinzelmännchen naturgemäß freundlich, nett und hilfsbereit sind und es deshalb keine größeren Schwierigkeiten geben sollte. An die Küche ergeht der freundliche Hinweis, dass Heinzelmännchen gerne Obst und Gemüse essen und wir das beim Bekochen der Delegation berücksichtigen sollen. Äh … ja. Ich glaube, das war erstmal alles. Ach so, das hier habe ich noch für den Weihnachtsmann.«

Humbert eilte vom Podium und überreichte dem überraschten Constantin einen dicken, versiegelten Brief mit der unübersehbaren Aufdruck »Persönlich/vertraulich!«.

»Los, mach auf«, sagte der Kobold aufgeregt. Auch die Zwerge in seiner Nähe sahen Constantin erwartungsvoll an. Doch dieser hütete sich, den Brief vor Zuschauern zu öffnen. Falls wieder etwas Unangenehmes drin stand, brauchte er kein Publikum, das mit ansah, wie er weinte. Nicht dass er vorhatte zu weinen. Aber in letzter Zeit war ihm das häufiger passiert und er wollte kein Risiko eingehen.

Auf dem Podium tat sich etwas und Constantin deutete den Zwergen an, dass er leider kein Zeit für den Brief hatte, da die Versammlung fortgesetzt wurde.

Humbert sah resigniert auf die Zwerge herab. »So leid mir das auch tut. Aber es hat sich noch ein weiterer Redner gemeldet.« Eilig räumte er seinen Platz. Wilbert erschien und die Zwerge erstarrten. Die vorderen Reihen setzten ein verkrampftes Grinsen auf.

Wilbert sprang fröhlich hinter das Sprecherpult. »Nun, das sind doch ganz großartige Neuigkeiten. Ich habe schon lange überlegt, wie wir die geplanten Kurse gestalten können. Und wisst ihr, was ich denke?«

Keiner wollte es wissen, aber das half nichts.

»Ich denke, dass uns die Heinzelmännchen dabei wunderbar unterstützen können. Wie ihr gehört habt, sind sie freundlich, nett und hilfsbereit. Ich bin mir sicher, dass das daran liegt, dass sie viel lächeln und sich gesund ernähren, also von Obst und Gemüse. Sie bauen es sogar selbst an. Wir können bestimmt viel von ihnen lernen.«

Das Publikum murrte. Zwerge mochten Obst und Gemüse nicht sonderlich.

Lauritz fragte aufgebracht: »Und wenn wir gar kein Gemüsezeug essen wollen?«

»Na, ihr könnt es doch wenigstens mal versuchen. Vielleicht schmeckt es ja ganz gut.«

»Aber da krabbeln Tiere drauf herum.«

»Tiere?« fragte Wilbert verblüfft.

»Na, eklige Insekten und so.«

»Ja. Aber die krabbeln auch auf größeren Tieren und Getreide herum. Und Fleisch und Brot isst du doch auch, oder?«

»Natürlich. Das wird ja auch gebraten oder gebacken«, erwiderte Lauritz hitzig.

»Also, soweit ich weiß, kann man auch Gemüse und Obst kochen.«

»Aber dann wird es matschig.«

Wilbert hob beschwichtigend die Hände. »Also ich denke, ein Versuch kann nichts schaden. Auf jeden Fall können uns die Heinzelmännchen dabei helfen, öfters mal zu lachen. Außerdem habe ich gehört, dass sie viel und gerne singen. Auch das würde uns gut tun.«

Jetzt reichte es. Obwohl Lauritz keine Lachtherapie benötigte, zudem ganz gerne mal sang und mitunter selbst der Ansicht war, dass manche Zwerge mehr Spaß vertragen könnten.

Wütend kramte er seine Stinkbombe hervor, während er bemerkte, wie andere Zwerge bereits Maß nahmen und zielten. Und das lag gewiss nicht nur an Wilberts unglücklicher Rhetorik.

Er konnte die Heinzelmännchen schon jetzt nicht leiden.

***

Constantin hatte das Pech gehabt, aus der Menge der Zwerge herauszuragen und ziemlich weit vorn zu sitzen. Deshalb war er mehreren schlecht gezielten Geschossen im Weg gewesen.

Nachdem er gründlich gebadet hatte, holte er den Brief der Behörde hervor. Unschlüssig drehte er ihn hin und her. Was erwartete ihn nun wieder? Hatte es etwas mit der bevorstehenden Fusionierung zu tun? Und wenn ja: war das jetzt gut oder schlecht für ihn?

»So kriegst du nie raus, was drin steht. Dafür muss man einen Brief aufmachen«, bemerkte der Kobold.

Constantin warf ihm einen intensiven Weihnachtsmannblick zu, musste aber einsehen, dass Manfred Recht hatte.

Besorgt öffnete er den Umschlag und faltete den Brief auseinander, ohne auf die bunten Blätter zu achten, die dabei heraus fielen. Constantin begann zu lesen und seine Augen wurden immer größer. Schließlich versagte seine Kiefermuskulatur und sein Kinn klappte herunter.

»Was? Was ist?« drängelte Manfred. Doch Constantin war zu überrascht, um sprechen zu können. Wortlos zeigte er dem Kobold den Brief.

»Wir verreisen?« fragte dieser nach einer Weile angestrengten Lesens unsicher.

Constantin grinste irre. »Jawohl. In einer Woche schon. Also – das heißt, ich.«

»Aber – du nimmst mich doch mit, oder? Ich bin dein persönlicher Assistent!« Manfreds Blick bettelte.

»Schon gut. Meinetwegen. Nur darf dich keiner sehen.«

»Mich kann keiner sehen, schon vergessen? Außer Erwin, aber der kennt mich sowieso schon.«

»Wieso Erwin?« fragte Constantin mit gerunzelter Stirn.

»Hast du’s nicht gelesen? Hier unten steht, die Reise sei für zwei Personen und die zweite Person ist Erwin, der aber noch nichts davon w… «

»Zeig. Wo?« Hastig überflog Constantin den Brief, den er nur bis zur Hälfte gelesen hatte, bevor er von seinen Gefühlen überwältigt worden war.*

»Wie kommen wir eigentlich dazu?«

»Wozu?« fragte Constantin zerstreut, während er noch immer las.

»Na, zu dieser Reise.«

»Die gehörte zum Lottogewinn.«

Als Constantin vor über einem Monat aus der Zeitung von dem Lottogewinn erfuhr, hatte er in einem Anfall von Naivität an die magischen Behörden geschrieben und um Bewilligung der Reise gebeten. Was sollten seltsame Kapuzentypen sonst damit anfangen?

Bei objektiver Betrachtung musste er zugeben, dass es für die Behörden keinen Grund gab, ausgerechnet ihm etwas zu schenken. Das einzige Argument, auf das er sich stützen konnte, bestand darin, dass er den Lottoschein erworben hatte. Und das sogar auf legalem Wege. Doch Behörden hatten erfahrungsgemäß eigene Ansichten, wenn es darum ging, wem etwas gehörte.

Constantin rätselte, weshalb er Erwin mitnehmen sollte.

»Vielleicht als Aufpasser? Oder als dein Gewissen?« spekulierte der Kobold.

»Ja. Das wird’s vermutlich sein.« Nachdenkliches Schweigen folgte.

»Aber ich habe mich doch schon gebessert, nicht?« fragte Constantin zögerlich.

»Äh … ja. Natürlich. Ohne Zweifel«, beeilte sich der Kobold zu versichern und bemühte sich, glaubwürdig zu klingen. »Also … wie – wie geht’s jetzt weiter? Mit der Reise und so?«

»Ach ja. Warte … ah. Hier steht’s. Am ersten November, also morgen in einer Woche, werden wir mit dem Schlitten nach Glücksstädt geflogen. Dort sammeln wir Erwin ein und ich habe Gelegenheit, passende Kleidung zu kaufen. Ein Scheck ist beigefügt.« Constantins suchender Blick schweifte über die herausgefallenen Zettel, bis er schließlich an dem Scheck kleben blieb und mit den klein gedruckten Zahlen kämpfte.

»Oh, das ist ja echt großzügig«, stellte er verblüfft fest, bis er weiterlas und feststellte, dass das auch sein gesamtes Taschengeld für die Reise darstellte.

»Und wohin fahren wir?«

»Das steht nicht hier.«

»Nicht? Ist ja blöd.«

»Hm. Aber egal, Hauptsache warm. Du kannst schon mal die Badehose einpacken.« Constantin war sich ganz sicher. Auf dem Plakat, das ihn zum Ausfüllen des Lottoscheins verführt hatte, war ein Strand zu sehen gewesen. Mit Palmen und so.

»Wieso?« erkundigte sich der Kobold misstrauisch.

»Na, falls du baden willst.«

»Wieso soll ich dafür eine Hose anziehen? Die wird ja nass!«

»Aber du musst dir doch was anziehen, wenn du baden willst!«

»Warum?«

»Na, damit man nicht dein … äh …«, Constantin verstummte. »Wie vermehren sich Kobolde eigentlich?« fragte er unsicher.

»Das ist aber eine sehr unhöfliche Frage«, erwiderte der Kobold entrüstet und lief dunkelgrün an.

Constantin hob eine Augenbraue, bohrte aber sicherheitshalber nicht weiter nach. Stattdessen lehnte er sich zurück.

Urlaub.

Er konnte sich nur an einen einzigen Urlaub erinnern, als er noch klein war und sein Vater die Familie noch nicht verlassen hatte. Ein entsprechend verklärtes Bild pflegte Constantin von Urlauben. Urlaubsreisen waren für ihn so etwas wie eine Wundertüte, in die er die Erfüllung aller Träume projizierte.

Constantin gab sich dieser Illusion hin und träumte. Von der harten Realität des Urlauberalltags ahnte er nichts. Da waren die Betten zu hart, der Fernseher zu klein, der Strand überfüllt und die Klimaanlage zu laut. Das Essen war so beschaffen, dass man besser gleich ein Bad mit Fenster buchte, damit man wenigstens von der Toilette aus noch etwas von der viel gepriesenen Landschaft mitbekam. Wenn man Pech hatte oder einen das Hotelpersonal nicht leiden konnte, schaute man dabei aber nicht auf die Landschaft, sondern auf eine weitere Hotelwand mit Fenstern, hinter welchen frustrierte Urlauber hockten.

Mit wachsender Aufregung musterte Constantin den schmollenden Kobold. »Warst du schon mal im Urlaub?«

»Seit ich in der Flasche steckte, nicht mehr, nein. Aber vorher schon.«

»Ach. Und wo warst du?«

»Im Schlaraffenland.«

»Quatsch. Das gibt es gar nicht.«

»Na klar. Ich war doch dort.«

»Unsinn. Du veräppelst mich doch.«

»Mann. Wann verstehst du es endlich? Sobald sich das einer ausgedacht hat und es aufgeschrieben wurde oder jemand dran glaubt, gibt’s das auch.«

In Constantins Kopf arbeitete es. »Ach. Tatsächlich. Kann … kann ich da auch hin?«

»Glaubst du dran?«

»Äh, nicht so richtig.«

»Na, dann nicht.«

»Oh.«

»Ein Kumpel von mir wollte immer dort Urlaub machen, wo er seine Ruhe hatte. Weißt du, wo der überall Urlaub gemacht hat?«

»Nee…« murmelte Constantin zerstreut und grübelte über das zuletzt Gehörte nach.

»Einmal war er in einer Spendenbüchse in der Vorstandsebene einer Bank und einmal in einer Blumenvase in einer Junggesellenwohnung. Und einmal sogar …«

»Sag mal, stimmt das? Alles, woran einer glaubt, gibt es wirklich?« unterbrach ihn Constantin unruhig.

»Ja. Wieso?«

»Wegen der, äh… Kartoffelzombies.«

»Wie bitte?«

»Na… hast du schon mal Kartoffeln gesehen, die den ganzen Winter lang im Keller lagen?«

»Nein. Warum? Was ist damit?«

»Die werden zu Kartoffelzombies«, erklärte Constantin hilflos und kam sich ziemlich dumm vor.

»Wie das?« fragte der Kobold skeptisch.

»Die… die sehen ganz gruselig und schrumpelig aus. Und überall wachsen seltsame Tentakel raus.«

»Unsinn.«

»Doch, wirklich. Ich musste als Kind immer Kartoffeln aus dem Keller holen. Und gegen Ende des Winters begann dann die unheimliche Verwandlung. Ich fürchtete mich immer, weil ich dachte, die Kartoffeln hätten im Keller Kartoffelzombies ausgebrütet, die nachts nach oben schleichen und die Leute auffressen.«

»Mann, du hast eine echt kranke Phantasie!«

»Ich war noch klein und hatte eben Angst«, rechtfertigte sich Constantin.

»Okay. Ist ja gut. Also … glaubst du heute noch an, äh, Kartoffelzombies?«

»Natürlich nicht«, versicherte Constantin und bemühte sich, überzeugender zu klingen als er tatsächlich war.

»Und hast du’s irgendwo aufgeschrieben?«

»Nein!«, erwiderte Constantin entsetzt.

»Und denkst du manchmal noch dran?«

»Nein. Also, vielleicht … ab und zu. Wenn ich Kartoffeln sehe.«

»Oh. Ich denke, dann wird die Existenz nicht auszuschließen sein.«

»Äh, sind die gefährlich?« erkundigte sich Constantin angespannt.

»Glaubst du denn, dass sie gefährlich sind?«

»Äh, nein. Nicht mehr.«

»Na also. Dann gibt’s auch keine Kartoffelzombies. Zumindest nicht immer, und auch keine gefährlichen«, stellte der Kobold fest und war froh, dass nicht er unter einer derartigen Kreativität litt.

»Gut.« Erleichtert richtete Constantin seine Aufmerksamkeit wieder auf den Brief, in dem stand, dass man es ihm überließ, in welcher Form er Erwin über das bevorstehende Reisevergnügen informierte. Da Constantin aus Erwins Briefen herausgelesen hatte, dass dieser über seine Zeit nicht mehr frei verfügen konnte, sondern beinahe vollständig von seiner neuen Freundin verplant wurde, musste Constantin Phoebe zuvorkommen und Erwin schnellstmöglich Bescheid geben. Eilig griff er zum Briefpapier.

***

Im Allgemeinen war die Unterzeichnung eines Mietvertrages zusammen mit der neuen (und in Erwins Fall ersten) Freundin ein freudiges Ereignis.

Üblicherweise fand dieses Ereignis statt, nachdem man die Person, der man sich damit rund um die Uhr auslieferte, näher kennenlernen konnte. Phoebe hatte jedoch schon mehrere dieser Kennenlernphasen durchlaufen und hinterher jedes Mal allein dagestanden. Deshalb beschloss sie kurzerhand, dieses Mal darauf zu verzichten.

Erwin fiel das nicht weiter auf, da er sich mit derartigen Dingen nicht auskannte. Er hatte vorher noch nie eine Frau näher kennengelernt und war sich jetzt nicht mehr sicher, ob er dadurch etwas verpasst hatte oder ob ihm etwas erspart geblieben war.

Die einzige Frau in seinem bisherigen Leben war seine Mutter gewesen. Die jetzt nicht mehr mit ihm sprach.

Er war einer der wenigen Menschen, die fürs Kistenschleppen Dank empfanden. Denn dabei hatte er dem Krieg im Wohnzimmer seiner Mutter entkommen können. Die zwei einzigen Frauen in Erwins Leben fochten dort anfangs aus, ob Erwin nun ausziehen durfte oder nicht. Erwin hätte das nie für möglich gehalten, aber seine Mutter verlor. Das machte nicht unbedingt Mut für eine Zukunft an der Seite der Siegerin.

Aber damit nicht genug. Vom errungenen Sieg umnebelt, kämpfte Phoebe anschließend darum, was Erwin alles mitnehmen durfte. Es gab nicht viel, worum gestritten werden konnte, aber die Kämpfe wurden dadurch nur noch erbitterter. Als Phoebe darauf bestand, eine alte Vase mitzunehmen, die Erwins Mutter in sein tristes Zimmer gestellt hatte, um diesem die Illusion von Gemütlichkeit zu verleihen, mischte sich Erwin ein. Das konnte nur mit seinem Mangel an Erfahrung erklärt werden.

Augenblicklich richtete sich die Feindseligkeit beider Frauen gegen ihn und er geriet ins Kreuzfeuer der weiblichen Aggressionen.

Ihm war schon zu Ohren gekommen, dass sich mehr oder weniger friedliche Frauen in entsetzliche Ungeheuer verwandelten, wenn sie um einen Mann kämpften. Aber zum einen fand er derartige Geschichten maßlos übertrieben. Zum anderen hätte er es niemals für möglich gehalten, dass selbst ein Mann wie er Frauen in solche Abgründe treiben konnte.

An den folgenden Tagen hatte er mehrere böse Briefe seiner Mutter erhalten, die Phoebe sofort als Beweisstücke A bis D in einen Ordner heftete. Erwin war schlicht zu feige, seiner Mutter zu antworten oder ihr gar gegenüberzutreten. Vielleicht brachte die Zeit eine Lösung. Oder Entspannung.

Erwin hatte mit seiner Mutter noch immer nicht über seine Erlebnisse im Juli und die Erkenntnis, wer sein Vater war, gesprochen. Seine Mutter wusste deshalb auch nicht, weshalb er kein Priester mehr war. Sie glaubte, dass ausschließlich Phoebe dahintersteckte.

Anfangs hatte Erwin überlegt, wie er das Thema am besten ansprechen konnte. Dann zog Phoebe und damit das Chaos ein. Zunächst hoffte Erwin noch auf eine günstige Gelegenheit, doch die Lage spitzte sich weiter zu. Irgendwann würde er jedoch mit seiner Mutter reden müssen. Bald. Aber nicht zu bald.

Jetzt saß Erwin vor dem Mietvertrag. Seine Hand zitterte. Sollte er wirklich unterschreiben? War das ein Schritt in die Freiheit oder in den Abgrund?

Und was, wenn er seinen Anteil der Miete nicht bezahlen konnte?

Dummerweise war er abhängig von Phoebe. Denn da war noch das Problem mit Erwins ungeklärter Zukunft. Phoebe hatte Erwins Entscheidung, das Dasein als Priester aufzugeben, grundsätzlich begrüßt. Nicht zuletzt wegen der zölibatären Einschränkungen.

Allerdings musste für Erwin jetzt eine andere Beschäftigung gefunden werden, und das war nicht so einfach, wenn man außer priesterlichen Fachkenntnissen nichts vorzuweisen hatte.

Darüber hinaus fürchtete Phoebe, dass sie auf ihrer göttlichen Gut-und-böse-Liste Minuspunkte gesammelt hatte, weil sie einen gottgeweihten Mann vom rechten Weg abbrachte. Daher suchte sie für ihn eine Beschäftigung, bei der er Gutes tat. Das war schwerer als erwartet, da man selbst hierfür gewisse Qualifikationen vorweisen musste.

Das beim Juwelier Lehmann erbeutete Geld und Gut war zur Hälfte an verschiedene Wohltätigkeit versprechende Organisationen gespendet worden. Die andere Hälfte hatte Erwin dem Waisenhaus übergeben, aus dem Emily stammte. Phoebe hoffte, dass ihm das dort gewisse Türen für eine Beschäftigung öffnen würde. Aber derzeit klemmten die Türen noch.

Momentan war die einzige Tätigkeit, die Erwin ohne zusätzliche Ausbildung ausüben konnte, die eines Verkäufers oder Vertreters. Also half Erwin vorerst in Phoebes Geschäft aus, doch irgendwie war er dafür spirituell falsch ausgerichtet.

Ein leiser Knall ließ Erwin hochschrecken. Verwirrt sah er um sich und konnte gerade noch beobachten, wie Manfred in einer Rauchwolke Gestalt annahm und mit einem großen Briefumschlag kämpfte.

»Post für dich«, rief der Kobold und strahlte Erwin an.

***

Die Sonne schien auf Herrn Wunderlichs sorgfältig überkämmte Halbglatze herab. Darunter wälzten sich düstere Gedanken umher. Auf seine Ankündigung hin, mit spazieren gehen zu wollen, hatte seine Frau ihn zuerst verblüfft angesehen und dann mit den Schultern gezuckt. Hätte er dieses Zeichen mal besser richtig gedeutet. Doch gutwillig war er hinterhergetrottet. Den ganzen langen Weg bis zum Spielplatz. Selbst schuld.

Seine Frau ließ sich von Emily interessante Dinge erzählen wie Dann hat der gesagt, dass die Freundin von dem jemanden getroffen hat, der beobachtet hat, wie sich die mit dem gestritten hat. Herrn Wunderlichs Beitrag beschränkte sich auf verwirrte Blicke. Und mehr wurde auch nicht erwartet. Im Gegenteil. Er war Luft.

Auf dem Spielplatz wurde es noch schlimmer. Während Emily schaukelte, traf Frau Wunderlich ihre Nachbarin, Frau Krummel. Ein weiteres Mal zeigte Herr Wunderlich guten Willen und setzte sich dazu; bereit, die verbale Schlacht aufzunehmen. Und dann sprachen die Frauen ausgerechnet über Diäten. Als ob er das nicht schon oft genug ertragen musste. Jetzt sollte er auch noch darüber reden.

Frau Krummel zeigte sich beeindruckt von Frau Wunderlichs Durchhaltevermögen. »Ach?« hatte sie gemeint und neidisch geguckt. »Ich halte so etwas nie durch.«

»Und wie bleibst du dann so schlank?« fragte Frau Wunderlich (jetzt ebenfalls neidisch).

»Oh. Nun, Viren und Infekte machen immer so im Februar und März die Runde, also genau rechtzeitig vor der neuen Bikinisaison. Ich besuche dann alle Leute, von denen ich höre, dass sie einen Magen-Darm-Virus abbekommen haben. Jeder Infekt macht mich ungefähr ein anderthalbes Kilo leichter, richtig gute sogar zwei. Etwa fünf Infekte, und ich bin im Soll.«

Herr Wunderlich war sich sicher, dass er nie wieder Frau Krummel begegnen konnte, ohne daran zu denken, wie sie auf dem Klo saß. Beziehungsweise davor kniete.

Er machte sich Sorgen. Die Diät, die ständigen Kosmetik- und Friseurbesuche, Einkäufe, nicht zu vergessen die neue Tochter – irgendetwas war mit seiner Frau geschehen, als sie vor ein paar Wochen kurz verschwunden war. Wilma schwieg hartnäckig, wenn er sie fragte, wo sie gewesen sei und was zum Teufel mit dem ganzen Geld passiert war.

Für eine Weile hatte er angenommen, ihr sei etwas zugestoßen, da ihr linker Arm eine Art Verband trug. Aber irgendwann war der Verband plötzlich verschwunden und er sah einem grimmigen Zwerg ins Auge. Das machte alles noch seltsamer – zumal Frau Wunderlich sich auch hierzu weigerte, genauere Auskunft zu erteilen. Auf seine vorsichtige Frage, ob das wieder weggeht, antwortete sie mit einem kurzen, unmissverständlichen Nein. Und als er ihr Gesicht sah, traute er sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Zum Glück schien sie selbst zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass ein Zwerg auf dem Arm nicht unbedingt vorteilhaft wirkte, und versteckte diesen unter Ärmeln, wenn sie sich der Öffentlichkeit präsentierte.

Emily schien mit den geheimnisvollen Vorgängen irgendetwas zu tun zu haben, doch auch aus ihr bekam er nichts heraus. Außerdem spukte in seinem Kopf noch immer der Gedanke herum, dass Frau Wunderlich etwas mit einem anderen Mann hatte. Gewisse Anzeichen schienen das zu bestätigen. Andererseits fragte er sich, wann sie sich auch noch um einen anderen Mann kümmern wollte, neben ihren ganzen Schönheitsterminen und der Zeit, die sie mit Emily verbrachte. Ständig gingen die zwei einkaufen oder spazieren. Und jetzt war es schon so weit gekommen, dass er mitging.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass seine Frau das Zeichen zum Aufbruch erteilte.

Herr Wunderlich seufzte tief und hingebungsvoll. Er nahm sich vor, die Vorgänge weiter aufmerksam im Auge zu behalten. Irgendwann würde er schon noch dahinterkommen.

Er ahnte nicht, dass seine Frau die ganze Zeit über Ängste durchlebte, dass er etwas herausfinden könnte. Zum Beispiel darüber, dass sie einen Tag lang ein bärtiger Zwerg gewesen war. Das wusste noch nicht mal Emily, und Frau Wunderlich beäugte daher argwöhnisch die Korrespondenz Emilys mit den Zwergen und Constantin. Aber auch über die anderen Geschehnisse der zwei Tage im Juli schwieg sie. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, da sie keine Ahnung hatte, was ihr Körper in dieser Zeit alles erlebt und angestellt hatte. Es gab einige seltsame Bemerkungen von Frau Zipfel beim wöchentlichen Chortreffen, die Frau Wunderlich vorsichtshalber ignorierte. Und sie war beim Zwei-grüne-Daumen-Gartenverein in Ungnade gefallen. Doch ansonsten schien keiner etwas bemerkt zu haben. So weit, so gut. Jetzt musste sie nur noch die Tätowierung verstecken.

Zum Glück fiel es nicht weiter auf, wenn sie ihrem Mann aus dem Weg ging, da sie das auch vorher schon praktiziert hatte. Allerdings schien Herr Wunderlich das neuerdings ändern zu wollen. Jetzt ging er sogar schon mit spazieren. Frau Wunderlich fragte sich, wo das noch hinführen sollte.

Der Rückweg war für Herrn Wunderlich beinahe noch schlimmer als der bisherige Spaziergang, weil Emily Frau Wunderlich fragte, wann diese denn Geburtstag hatte. Schlagartig fiel ihm ein, dass das schon bald war. Sehr bald. Genau genommen in knapp drei Wochen. Lieber Himmel. Auch das noch.

Herr Wunderlich beneidete seinen Nachbarn, Herrn Krummel. Am Vorabend bestimmter Anlässe, welche eine Beschenkung der Gattin erforderlich machten, erkundigte sich Herr Krummel bei dieser: »Und? Was schenke ich dir dieses Jahr?« Und dann überreichte ihm Frau Krummel diverse Päckchen, die sie für ebendiesen Zweck besorgt hatte.

Von Herrn Wunderlich hingegen wurde Eigeninitiative erwartet, was ins Auge gehen konnte. In seltenen Fällen äußerte Frau Wunderlich einen konkreten Wunsch und überließ ihrem Mann nur noch die Besorgung. Meistens jedoch erwartete sie eine Überraschung, und zwar eine freudige.

Die wenigsten Überraschungsgeschenke kamen bei Beschenkten wirklich gut an. Das lag in den meisten Fällen nicht etwa daran, dass sich die Geber keine Mühe gaben. Im Gegenteil. Aber oftmals waren die Geschmäcker von Schenkendem und Beschenktem eben einfach zu verschieden. Schenkende neigten häufig zu der Annahme, dass dem Beschenkten zweifellos das gefiel, worüber sie sich selbst freuen würden. Damit lagen sie in der Regel daneben. Je unterschiedlicher der Geschmack, desto größer die Enttäuschung und anhaltender das betretene Schweigen. Am schwierigsten waren daher Menschen zu beschenken, die einen außergewöhnlichen Geschmack hatten oder unter zu hohen Erwartungen litten.

So gewöhnlich Wilma Wunderlichs Geschmack auch war – ihre Erwartungen überstiegen jedes für normale Männer erreichbare Maß.

Doch dann sagte Emily etwas, das Herrn Wunderlich hoffen ließ. Aufgeregt drehte sie sich zu ihm um: »Da müssen wir uns aber schnell was einfallen lassen!«

Ja! Endlich wusste er, wofür eine so große Tochter gut war. Er musste nur noch die Bedienungsanleitung finden, um damit klarzukommen.

***

Es folgte die Zeit des Wartens.

Die Zwerge warteten auf die Heinzelmänner, Constantin auf seine Reise, Erwin ebenfalls auf die Reise (von der er Phoebe noch immer nichts gesagt hatte, weil er nicht wusste, wie), Phoebe auf ihren Umzug, Herr Wunderlich auf Vatergefühle und Frau Wunderlich auf Jugend und Schönheit.

Die meisten der erwarteten Dinge sollten tatsächlich eintreten – ob das nun gut war oder nicht.

***

Zeit ist eines der seltsamsten Phänomene, die es gibt. Jemand scheint das Tempo der Zeit mit einer ordentlichen Portion Niedertracht willkürlich festzulegen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass schöne Erlebnisse wie im Zeitraffer dahineilen, alle Schrecklichkeiten sich jedoch wie Kaugummi dehnen und kein Ende nehmen.

Noch nie hatte es jemand geschafft, die Zeit auszutricksen. So erklärte es sich, dass die Tage bis zur Ankunft der Heinzelmännchen und damit bis zu angeordneter Höflichkeit und Frohsinn praktisch nicht existierten.

Für Constantin hingegen, der den Besuch der Heinzelmännchen nur als Randerscheinung während der Wartezeit bis zum Beginn seiner Reise wahrnahm, zogen sich die Tage endlos dahin.

Die Zwerge bemühten sich, die Vorbereitungen hinter sich zu bringen, ohne allzu oft über das Bevorstehende nachzugrübeln.

Es war wie immer, wenn man auf fremde Veranlassung hin dazu gezwungen wurde, jemanden einzuladen, den man nicht kannte und der eine unberechenbare Größe* darstellte.

Man schwankte zwischen Neugier und Argwohn. Die negativen Gefühle überwogen, da bei Zwergen Optimismus mit Unreife gleichgesetzt und entsprechend selten praktiziert wurde.

Es herrschte allgemeine Unsicherheit und kaum einer erhoffte sich etwas von dem Besuch (wenn man einmal von Wilbert absah).

Die ernsteren Zwerge (also solche, die zum Lachen zwei Finger zur Hilfe nehmen mussten), fürchteten sich vor ansteckender Fröhlichkeit, welche zu irreparablen Schäden der Gesichtsmuskulatur führen konnte.

Auch in der Küche zerbrach man sich den Kopf. Gemüse essender Besuch stellte die Köche vor ungewohnte Herausforderungen. Am Ende beschloss man, für die Gäste Kaninchen zu grillen, welche sich immerhin mal von Gemüse ernährt hatten. Für das Dessert waren Bratäpfel geplant. Das schien ein erträglicher Kompromiss zu sein. Notfalls konnte man später noch Gummibärchen und Kaugummis mit Fruchtgeschmack verteilen.

Keiner hatte es für nötig gehalten, den Zwergen mitzuteilen, wie lange die angeordnete Belagerung durch die Heinzelmännchen dauern sollte. Sicher schien nur, dass sie nicht gleich nach dem Kaffeetrinken wieder verschwinden würden. Die Ankündigung der Fusionierung der Abteilungen ließ im Gegenteil befürchten, dass man diese Personen nie wieder loswerden würde. Es wäre also taktisch unklug, negativ aufzufallen, da man riskieren würde, zu den Heinzelmännchen strafversetzt zu werden und Menschen ihren Dreck nachräumen zu müssen.

Und wo würden die überhaupt wohnen? Es gab zwar ein Gästehaus, aber das bot allenfalls vier, fünf Zwergen Platz, die gelegentlich zur Aushilfe eintrafen.

Der Missmut unter den Zwergen nahm stetig zu, was man ihnen nicht verdenken konnte. Wer bekam schon gerne Besuch, der zwanghaft fröhlich war, unmögliche Ansprüche ans Essen stellte und nicht sagte, wann er wieder ging?

Alles in allem verbrachte man die Tage in Panik, bis der Moment gekommen war.

Die Zwerge Oben und Unten waren schon vor einigen Stunden mit dem Rentierschlitten losgeflogen. Jetzt deuteten Geräusche hinter dem Stall darauf hin, dass sie zurückgekehrt waren. Nun gut. Also würde man den unabwendbaren Tatsachen tapfer ins Auge blicken und hoffen, dass man anschließend nicht schielte.

Draußen trafen die Zwerge auf ein Grüppchen von mehr als zwanzig Heinzelmännchen, die sich neugierig umsahen. Vor einer unsichtbaren Linie kamen die Zwerge plötzlich zum Stehen und musterten die Neuankömmlinge argwöhnisch.

Die Heinzelmännchen waren kleiner als die Zwerge und hatten etwas kürzere Bärte. Die Gesichter waren faltiger, was vermutlich vom vielen Lachen kam. Doch ansonsten waren sie den Zwergen gar nicht so unähnlich. Wenn man einmal vom Gesichtsausdruck absah.

Die Last der Verantwortung zwang Humbert schließlich, das Schweigen zu brechen. »Wir heißen euch hier in Zipfelbergen herzlich willkommen und hoffen, dass ihr euch bei uns wohl fühlt.«

Die Heinzelmännchen nickten freundlich und sahen Humbert erwartungsvoll an. Der hatte den einzigen offiziellen Satz, der ihm für diese Situation eingefallen war, bereits gesagt und fragte sich, was man wohl jetzt von ihm erwartete. Keiner der Zwerge schien gewillt zu sein, ihm hilfreich zur Seite zu stehen. Und da man befürchten musste, dass Wilbert seine Drohung wahr machte, die Gäste mit einem fröhlichen Lied aufzumuntern, sprach er verzweifelt weiter.

»Vielleicht, äh, sollten wir euch erst einmal alles zeigen. Oder habt ihr einen bestimmten Wunsch, was ihr jetzt tun wollt? Also … wir könnten dann auch essen, ich müsste nur vorher noch kurz in der Küche Bescheid ge…«

Ein Heinzelmännchen schob sich nach vorn und hob die Hand. »Vielen Dank für den freundlichen Empfang. Wir…«

Das Heinzelmännchen verstummte abrupt und warf entsetzte Blicke auf eine Stelle irgendwo hinter den Zwergen. In die Gruppe kam Bewegung. Im nächsten Augenblick waren sämtliche Heinzelmännchen hinter dem Schlitten verschwunden.

Verblüfft beobachteten die Zwerge das seltsame Gebaren und drehten sich schließlich fragend um, in der Hoffnung, die Erklärung hierfür zu entdecken.

Constantin stand allein und ratlos im niedergetrampelten Schnee und betrachtete stirnrunzelnd den Schlitten. »Komme ich ungelegen? Ich … ich kann auch gerne wieder gehen«, bot er hoffnungsvoll an.

Wenn es nach ihm ginge, wäre er gar nicht erst hergekommen. Doch man hatte ihn darauf hingewiesen, dass aus Gründen der Höflichkeit sein Erscheinen notwendig war. Schließlich war er bald der Chef dieser kleinen Wichte.

Humbert räusperte sich und ging auf den Schlitten zu. »Gibt es irgendein Problem?«

»Ja. Da steht ein Mensch!« ertönte es hinter dem Schlitten.

»Äh … das ist richtig. Ich meine, das ist der Weihnachtsmann. Der wohnt hier«, erklärte Humbert und fragte sich, was die wohl erwartet hatten.

»Das mag ja sein. Aber wir dürfen uns keinem Menschen zeigen«, heulte eine verzweifelte Stimme. Die fröhliche Stimmung war vorerst zum Teufel, wie es schien.

»Ach was.«

»Nein, nein. Auf gar keinen Fall!«

»Aber – das wird so nicht funktionieren. Der Weihnachtsmann gehört nun mal hierher. Er ist … sozusagen der Grund für all das. Außerdem ist er, wie es aussieht, bald euer Vorgesetzter. Oder so was in der Art. Da sollte er euch schon sehen können, oder?«

»Warum?«

Aus Sicht eines Untergebenen eine durchaus berechtigte Frage. Wer träumte nicht von einer Arbeit, bei welcher ihn der eigene Chef niemals beobachten durfte? Da Chefs die Sache naturgemäß anders sahen, übernahm dieser jetzt das Wort.

»Um Anweisungen zu erteilen zum Beispiel. Oder Berichte anzuhören. Oder so.« Constantin hatte noch nie jemandem Anweisungen erteilt, aber vielleicht sollte er es mal versuchen.

Hinter dem Schlitten war Getuschel zu hören.

»Geht das nicht auch schriftlich? Also, tut uns leid, aber wir können wirklich nicht …«

»Schon gut.« Constantin winkte ab. »Dann geh ich eben wieder. Hab sowieso zu tun. In drei Tagen mache ich Urlaub und bin erstmal weg. Ich weiß ja nicht, wie lange ihr hier bleibt, aber vielleicht können wir uns so aus dem Weg gehen.«

Um Wilberts Frohmut war es geschehen. »Wieso kriegt der eigentlich Urlaub und ich nicht?« Aufgebrachtes Zischen brachte ihn zum Schweigen.

Hinter dem Schlitten tuschelte es erneut. »Nun, das müsste gehen. Erstmal.«

»Na bestens.« Erleichtert machte Constantin kehrt, gefolgt von neidischen Blicken verschiedener Zwerge.

Die Stille wurde von einem der Heinzelmänner unterbrochen. »Also gut. Dann würden wir jetzt gerne unsere Quartiere sehen. Und bei der Gelegenheit können wir uns gleich vorstellen. Ich heiße Gutlieb«, fügte er hinzu und lächelte liebenswürdig.

Auch die anderen Heinzelmännchen wurden vorgestellt, und sie trugen Namen wie Flinkerich, Redegut, Hummelfleiß, Hilfgut, Blumerich, Lächelviel, Laufschnell, Singgut, Putzflink, Pfiffig und Strickviel. Die Zwerge kamen aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

Es gab nur eine Ausnahme. Die Vorstellung war bei einem Heinzelmännchen angelangt, das nicht nur größer war als die anderen, sondern auch beinahe mürrisch guckte.

Die Gesichter der Zwerge hellten sich auf. Potentielle Heinzelmännchenhauswirte drängelten sich nach vorn. Endlich ein halbwegs vertrautes Wesen.

»Nagut«, stellte sich der Heinzelmann missmutig vor.

»Na gut, was?« fragte Svante verwirrt.

»So heiße ich«, erklärte Nagut und verdrehte die Augen.

»Wie bitte? Aber … wieso?« fragte Svante konsterniert.

»Weil Gehtgeradenochso und Kannmannochgeltenlassen zu lang waren.«

»Was?«

»Sein Vater war ein Zwerg«, erklärte Gutlieb. »Wir kennen ihn nicht, weil … Nun ja. Immernett, also, seine Mutter, will den Namen nicht nennen«, ergänzte er und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Aber nur kurz.

Aus der Mitte der Zwerge war ein heißeres Flüstern zu vernehmen. »Immernett?«

Die Zwerge sahen sich verwirrt um.

Humbert trat mit versteinertem Gesicht nach vor. »Wie … wie alt bist du?« fragte er erschüttert.

»Äh, einhundertzwölf. Ist … ist das irgendwie wichtig?« antwortete Nagut misstrauisch.

Humbert bewegte stumm die Lippen und rechnete. Das Ergebnis verleitete ihn zu einem tiefen Seufzen und er suchte am Schlitten Halt. Die anderen Zwerge beobachteten ihn verblüfft, doch den schnelleren Denkern war schon bei der letzten Frage klar gewesen, worauf das hinauslief.

Humbert bedachte Nagut mit einem verzweifelten Blick. »Du kommst am besten mit zu mir. Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.«

Entschlossen schnappte er sich den Rucksack des Heinzelmannes und stapfte davon, gefolgt von dem verblüfften Nagut.

»War ja klar. Der Einzige von den Typen, der halbwegs vernünftig zu sein scheint, und Humbert drängelt sich vor«, brummte Ken, der offensichtlich nichts kapiert hatte.

Svante musterte deprimiert die übrigen Heinzelmännchen. »Der Nächste heißt vermutlich Hauptgewinn oder so. Also ich weiß nicht. Als anständiger Zwerg sollte man auch heißen wie ein Zwerg. Und nicht wie ein verdammtes Glücksschwein.«

Lauritz nickte. »Richtig. Aber wenigstens ist keiner davon dein Sohn.«

***

Erwin saß schwitzend auf dem Sofa. Nicht seinem Sofa. Es handelte sich um eines von gefühlten tausend Sofas, die er in den letzten Stunden besichtigt und probeweise besetzt hatte, um dann feststellen zu müssen, dass seine Meinung dazu nicht gefragt war.

Phoebe bestellte soeben Exemplare der gewöhnungsbedürftigen Sitzgruppe, die er gerade schmückte. Danach plante sie die Invasion der Schlafzimmer- und Badmöbelabteilung. Für den nächsten Tag war der Besuch eines Küchenstudios vorgesehen. Erwin hatte jetzt schon Angst.

Er fühlte sich derart geschwächt, dass er voraussichtlich bereits bei den Schlafzimmern in die horizontale Position wechseln würde. Er wusste nicht, wie Möbelverkäufer auf komatöse Bettenbesetzer reagierten, aber vermutlich würde er es in Kürze herausfinden.

Wenigstens war das Wort Kinderzimmermöbel noch nicht gefallen, doch er gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. Der Lageplan am Eingang des Möbelhauses hatte ihm verraten, dass man auf dem Weg zu den Schlafzimmern die entsprechende Abteilung würde durchqueren müssen und er hatte nicht die Energie, ausgeklügelte Ausflüchte zu entwickeln.

Bisher war er sehr geduldig gewesen, hatte in den vergangenen Tagen Farbtafeln verglichen und seine Meinung geäußert, ob nun eher Safrangelb oder aber doch Pastellgelb besser an das Melonengelb des Wohnzimmers passte. Nur bei Gardinen hörte der Spaß auf und er hatte in einem Anfall von Rebellion die Mitarbeit verweigert.

Ein Mann brauchte keine Gardinen. Punkt.

Wenn die Gefahr bestand, dass jemand durch die Fenster starrte – und zwar nicht von drinnen nach draußen, sondern umgekehrt – genügte eine Jalousie. Oder eine Zeitung. Oder auch ein größeres Handtuch. Durchsichtigen Stoff vors Fenster zu hängen, ergab einfach keinen Sinn. Meistens noch nicht mal einen dekorativen.

Doch das war der einzige Punkt gewesen, an dem sich Erwin erfolgreich vor dem Wahnsinn des Vor- und Einrichtens drücken konnte. Zu den tausend weiteren Einrichtungsfragen musste er Stellung beziehen und eine Meinung äußern. Auch wenn er gar keine hatte. Anschließend entschied sich Phoebe in der Regel für die einzige Variante, die er spontan ausgeschlossen hatte.

Wer Frauen für das schwache Geschlecht hielt, hatte sie noch nicht erlebt, wenn sie eine Wohnung einrichteten.

Vielleicht handelte es sich dabei um einen Test. Männer, die das ohne dauernden Schaden überstanden und nicht die Flucht ergriffen, bewiesen starke Nerven und qualifizierten sich damit für die Familiengründung.

Erwin ahnte nicht, dass es sich dabei tatsächlich um einen Test handelte. Um einen Belastungstest. Und dass dieser erst das Warmlaufen für die noch viel nervenaufreibendere Planung einer Hochzeit darstellte.

Erwin rätselte schon länger, weshalb er sich das antat. Sein Leben vor Phoebe war viel einfacher und stressfreier gewesen.

Nach langer, ergebnisloser Überlegung musste er einsehen, dass er den Waffen einer Frau erlegen war. Bei objektiver Betrachtung und Vergleichen mit der Anatomie anderer Frauen musste er zwar zugeben, dass Phoebes Waffen nicht sonderlich eindrucksvoll waren. Aber angeblich kam es nicht auf die Größe an. Außerdem bestritt Erwin diesen Kampf völlig unerfahren und hatte selbst Phoebes leichter Artillerie nichts entgegenzusetzen. Und so musste er sich widerstandslos ergeben. Ihm blieb gar keine Wahl.

Erst jetzt hatte er die weiblichen Reize kosten dürfen und er war in kürzester Zeit zum Junkie geworden. Und damit zum willenlosen Spielzeug in Phoebes autoritären Händen. Mitunter fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt, als er nach Erledigung aller von Mutti erteilten Aufgaben schüchtern fragte, ob er jetzt spielen gehen dürfe.

Das Einzige, das Erwin zur Zeit bei der Stange hielt, war die Aussicht auf seine Urlaubsreise mit Constantin. In ein paar Tagen würde dieser in Glücksstädt eintreffen, und nur wenige Tage später konnte Erwin dann endlich alldem hier entfliehen.

Er hatte Phoebe noch immer nichts davon erzählt. Er wusste einfach nicht, wie. Irgendetwas sagte ihm, dass Frauen ausgesprochen verständnislos darauf reagierten, wenn ihr frisch eingefangener und an die Leine gelegter Lebensgefährte mit seinem Kumpel auf Reisen ging. Und das ausgerechnet dann, wenn die neuen Möbel eintrafen. Da war es völlig unerheblich, dass der Urlaub nichts kostete.

***

Dicke Rauchwolken aus Constantins Dachfenster gaben darüber Auskunft, wo Lauritz steckte. Nur dass dieses Mal nicht nur Lauritz bei Constantin Zuflucht gesucht hatte, sondern auch noch etliche andere Zwerge. Diese standen ratlos um den großen roten Weihnachtsmannsessel herum und husteten.

»Diese verdammte Fröhlichkeit geht mir auf die Nerven«, brummte Svante. Dabei fragte er sich besorgt, was sein Gast namens Pfiffig wohl gerade in seinem Haus so trieb. Vermutlich singend putzen und lustige Bilder an die Wand malen. Vorhin hatte er jedenfalls die freudlose Einrichtung kritisiert.

»Und dann kriege ich auch noch ausgerechnet den Anwalt ab«, fügte er mürrisch hinzu.

Constantin wurde hellhörig. »Einen Anwalt? Wozu…«

»Der soll angeblich überprüfen, ob alles ordnungsgemäß abläuft. Das sei auch zu unserer Absicherung«, wiederholte Ken Gutliebs Begründung.

»Wenn die einen Anwalt haben – sollten wir dann nicht auch einen haben?« fragte einer der Oben/Unten-Zwillinge.

»Was ist eigentlich ein Anwalt?« erkundigte sich Lauritz verwirrt.

Constantin musste sofort an seinen Bruder, den Anwalt, denken. »Oh. Das ist jemand, der die Tatsachen solange verdreht, bis du im Unrecht bist. Und der dir das dann ewig vorhält und versucht, daraus Vorteil zu schlagen.«

»Ein Anwalt ist jemand, der sich mit den Gesetzen auskennt«, erklärte Svante mit zweifelndem Seitenblick auf Constantin.

Der hielt gewisse Ergänzungen für erforderlich. »Mag sein. Aber er hilft seinem Mandanten, die Gesetze zu dessen Gunsten auszulegen.«

Fragende Blicke ruhten auf ihm.

»Also wenn zum Beispiel, äh …« Constantin überlegte fieberhaft, was Zwergen etwas bedeutete, da sie nicht dazu neigten, nutzlosen Besitz anzuhäufen. »Also stell dir vor, du borgst jemandem deine Axt. Der stellt sich damit ungeschickt an und hackt sich in den Fuß. Wer trägt die Schuld dafür?«

»Na – der natürlich.«

»Genau. Aber wenn er sich einen Anwalt nimmt, bist du’s.«

»W-wieso?« fragte Lauritz entsetzt und nahm sich vor, nie wieder etwas zu verborgen. Es sei denn, der andere versicherte ihm schriftlich, dass er keinen Anwalt kannte.

»Weil du ihn nicht belehrt hast, dass so etwas passieren kann. Oder wenigstens ein Warnschild an deine Axt angebracht hast.«

Constantin wandte sich an Ken. »Oder mal angenommen, der Heinzelmann, der bei dir wohnt, stolpert über die Schwelle und reißt deinen Spiegel herunter, der zerbricht.«

»Den großen?« fragte Ken bestürzt.

»Ja, genau. Wer ist schuld?«

»Äh … der?«, erwiderte Ken unsicher.

»Hm. Mag sein. Aber nur, bis er einen Anwalt hat. Dann bist du der Schuldige, weil du ohne entsprechende Markierungen Stolperfallen eingebaut hast. Das bedeutet, du hast nicht nur einen kaputten Spiegel, sondern musst dem Heinzelmännchen auch noch Schmerzensgeld zahlen.«

Ken war erschüttert. Bei seinem großen Spiegel hörte der Spaß auf. »Aber … aber du bist der Chef. Kannst du nicht …«

»Bist du verrückt? Chefs werden von Anwälten ganz besonders gerne verklagt. Wegen der Arbeitsbedingungen und so. Oder weil man jemanden kritisiert, wenn er nicht ordentlich arbeitet.«

Wilbert wurde hellhörig. »Geht so was?«

»Nicht hier«, erwiderte Manfred bestimmt.

»Und was mache ich jetzt?« fragte Svante niedergeschlagen.

»Rausekeln«, schlug Lauritz vor. »Aber nicht zu mir«, fügte er hastig hinzu.

»Geht doch nicht. Dann verklagt er mich.«

»Den wirst du nur los, wenn er dafür ein besseres Quartier bekommt. Am besten im schönsten Haus überhaupt«, riet Ken.

»Na großartig. Wenn ich mal irgendwohin komme, behaupte ich auch, ich sei Anwalt. Dann bekomme ich auch die schönste Unterkunft.«

Die Zwerge schwiegen nachdenklich.

»Wenn das funktioniert – wieso macht das dann nicht jeder? Behaupten, er sei Anwalt, meine ich?«

»Weil Anwälte keiner leiden kann.«

»Ach was.«

»Humbert hat das schönste Haus. Soll der doch den Anwalt nehmen«, grummelte Wilbert.

Die Köpfe drehten sich synchron ostwärts, wo Constantins Fenster den Blick auf Humberts Haus freigab.

»Ich denke, das Letzte, das der jetzt braucht, ist ein Anwalt«, gab Frodewin zu bedenken. Die anderen nickten und fragten sich, was wohl gerade im Humberts Haus vor sich gehen mochte.

»Und nun?«

»Erstmal abwarten. Vielleicht ist er ja ein schlechter Anwalt«, meinte Constantin.

»Sind die nicht noch schlimmer?«

»Schon. Aber nicht für uns, sondern für ihre Mandanten.«

»Ah.«

Frodewin kratzte sich das Kinn. »Wie geht das heute überhaupt weiter?«

Svante verzog das Gesicht. »Zuerst gibt es ein Festessen, und dann …«

»Etwa mit Gemüse?« fragte Lauritz entsetzt.

»Keine Ahnung. Der Koch wollte nichts verraten. Aber du solltest lieber genug essen. Danach findet es nämlich wieder eine …«

»Lass mich raten. Eine Versammlung statt«, beendete Lauritz unglücklich den Satz.

***

Eine Spur der Verwüstung zog sich durch Humberts Haus. Konfrontierte man Männer mit unerwarteten Problemen, ohne die Lösung mitzuliefern, neigten sie mitunter zu recht seltsamen Methoden, diese zu verarbeiten. Menschen und Zwerge waren sich insoweit ähnlich.

Nagut hatte offensichtlich die Veranlagung seines Vaters geerbt, in derartigen Situationen auf etwas einzuschlagen, das nicht zurückschlug. Humberts Türrahmen zeichneten sich jedoch durch eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit aus. Deshalb waren Humbert und sein unerwartet aufgetauchter Sohn spontan zu Phase zwei übergegangen.

Sie saßen jetzt in gegenüberliegenden Ecken des Zimmers, saugten an ihren blutenden Fingerknöcheln und vermieden es, sich anzusehen. Beide waren wütend. Und zwar aus Prinzip.

Konkrete Vorwürfe hätten sie nicht nennen können, da keiner von ihnen etwas für diese Situation konnte. Beide hatten das Gefühl, etwas, das man nicht mehr nachholen konnte, verpasst zu haben. Das trug nicht eben zur Entspannung bei.

Humbert haderte besonders schwer mit der Lage der Dinge. Was gab man seinem Sohn Nützliches mit auf den Weg, wenn sich dieser bereits in einem Alter befand, in dem er die meisten Dummheiten hinter sich hatte?

Als die Schmerzen etwas nachließen, nahmen die Gehirne ihre Tätigkeit wieder auf, auch wenn das Adrenalin noch für eine gewisse Überhitzung sorgte. Beide Köpfe arbeiteten in ähnlicher Geschwindigkeit, und als die Essensglocke ertönte, waren sie gleichermaßen zu der Erkenntnis gelangt, dass die Hauptschuld Naguts Mutter traf.

Allein der Gedanke an Immernett, Naguts Mutter, brachte Humberts altes Blut noch immer in Wallung. Längst vergessene Sehnsüchte kehrten zurück und alte Wunden brachen auf.

Er erinnerte sich, als hätte sie erst gestern vor ihm gestanden. Sie besaß den schönsten, weichsten Bart von allen. Selbst Ken konnte da nicht mithalten. Ihre Augen glänzten wie Funkelsteine, wenn sie lachte. Humbert war ihr vom ersten Moment an verfallen. Auch wenn sie ein Heinzelmännchen war.

Er fand nie Genaueres heraus. Aber ihm war schnell klar geworden, dass Heinzelmännchen nicht sonderlich glücklich waren mit dem, was sie tun mussten. Auch wenn sie unentwegt so aussahen.

Irgendwann vor langer Zeit hatten sie offensichtlich den Falschen sehr, sehr verärgert. Jemanden, der genug Einfluss besaß, um die Heinzelmännchen zu zwingen, bis ans Ende ihrer Tage unorganisierten Menschen hinterher zu räumen und zu putzen. Vielleicht war es ein Zauberer gewesen. Früher soll es davon mal ziemlich viele gegeben haben. Gelegentlich auch gute.

Aber wie auch immer es dazu gekommen war – die Heinzelmännchen mussten für Menschen deren Arbeiten erledigen und durften sich dabei nicht erwischen lassen. Gelegentlich waren Heinzelmännchen jedoch nicht vorsichtig genug und wurden von Menschen gesehen. Letztere waren mitunter unberechenbar und schlichen zu nächtlichen Zeiten durch ihre Häuser, um aus unerklärlichen Gründen Milch zu trinken oder ähnliche verrückte Dinge zu tun. Die Folgen waren schreiende Menschen und traumatisierte Heinzelmännchen.

Auch aggressive oder neugierige Haustiere konnten erschütternde Auswirkungen auf die sensible Heinzelmännchenpsyche haben.

Waren die Erlebnisse ganz besonders traumatisch, wurde das entsprechende Heinzelmännchen vorübergehend an einen ruhigen Ort zur Erholung gebracht.

Humbert vermutete, dass derartige Begegnungen auf die betroffenen Menschen nicht minder erschütternd wirkten. Erst kürzlich hatte er Frau Wunderlichs Reaktion auf eine solche Erfahrung erlebt.*

Immernett war im Rahmen einer solchen Erholungsmaßnahme in den Berg gekommen, in dem Humbert damals lebte.

Humbert küsste den Boden, auf dem sie ging. Auch wenn das bedeutete, dass er anschließend Steine kaute.

Die Gefühle schienen auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn sie wollte bei ihm bleiben. Humbert war der glücklichste Zwerg der Welt. Er ließ nichts unversucht und füllte endlose Antragsformulare aus, schrieb herzerweichende Begründungen – doch alles vergebens. Sämtliche Anträge wurden zurückgewiesen. Sie war ein Heinzelmännchen und musste zurückkehren. Es gab keine Ausnahmen.

Also entschloss sich Humbert, mit ihr zu gehen. Er wollte alles aufgeben und hätte jede erdenkliche Tätigkeit verrichtet, nur um bei ihr zu sein.

Und sie?

Wütend kaute Humbert an seinen Fingernägeln.

Sie lachte ihn aus – ob er tatsächlich geglaubt habe, sie wolle mit ihm zusammen sein. Nein. Sie wollte hier bleiben, weit weg von den Heinzelmännchen und der erniedrigenden Arbeit. Dafür hätte sie selbst ihn in Kauf genommen. Aber er habe sich als unfähig erwiesen. Ganz bestimmt nicht wollte sie ihn noch länger ertragen oder auch nur an ihn denken.

Und damit war sie weg. Humberts Verzweiflung reichte so weit, dass er sich zu den Weihnachtszwergen versetzen ließ, um nicht mehr an sie erinnert zu werden.

Angesichts der neuesten Entwicklungen war davon auszugehen, dass sie später noch des Öfteren an ihn erinnert wurde, dachte Humbert grimmig und musterte seinen Sohn. Die Ähnlichkeit mit ihm war unverkennbar.

»Na los. Gehen wir erstmal essen«, sagte er bemüht locker. »Danach können wir, äh, weiterreden. Oder aufräumen.«

***

Lindgrüne, parfümierte Briefe waren im Haus der Wunderlichs eher die Ausnahme. Man konnte es Herrn Wunderlich also nicht verdenken, dass er darauf aufmerksam wurde.

Der Brief lag auf Emilys Schreibtisch und somit auf verbotenem Terrain. Er war bereits geöffnet, aber sorgfältig wieder in den Umschlag gesteckt worden.

Herr Wunderlich konnte nicht genau sagen, was ihn dazu getrieben hatte, in Emilys Zimmer zu gehen. Vermutlich Neugier. Mädchen waren für ihn eine fremde Spezies und Emily hielt sich oft sehr lange in diesem Zimmer auf, und das, obwohl es dort weder einen Fernseher noch einen Kühlschrank gab. Das kam ihm sonderbar vor.

Zögerlich wendete er den Brief hin und her. So fand er heraus, dass dieser von Ken stammte. Ken irgendwer. Mehr stand nicht auf dem Umschlag.

Wer zum Teufel war Ken?

Herr Wunderlich focht einen langen, schweren Kampf mit sich selbst aus. Dann legte er den Brief vorsichtig zurück.

Er hätte furchtbar gern einen Blick hineingeworfen. Schließlich hatte man als Vater eine Verantwortung. Außerdem fand er das eindeutig zu früh. Emily war noch immer in der Grundschule. Da bekam man keine parfümierten Briefe von Leuten, die Ken hießen.

Aber er konnte sich nicht überwinden, den Brief zu lesen. Verwirrt fragte er sich, wieso. Und fand schließlich die Antwort.

Es war Angst.

Blanke Angst, die sich mit seinen Überlebensinstinkten verbündet hatte. Dagegen kam man nicht an. Es sei denn, man stach mit dem Messer auf sich selbst ein.

Bestimmt würden es Emily und, schlimmer noch, seine Frau herausfinden, wenn er den Brief las. Wie auch immer. Herr Wunderlich ahnte, dass sein Leben dann eine dramatische Wendung nehmen würde. Und zwar hin zum Schlechten.

Also würde er sich damit begnügen, seine bisherige – leider wenig zufrieden stellende – Taktik weiterzuverfolgen und alle Gespräche zwischen Emily und seiner Frau über seltsame Themen belauschen. Wer weiß. Vielleicht konnte er eines Tages den Code entschlüsseln und verstehen, worüber sich weibliche Wesen unterhielten. Und mit etwas Glück würde er dabei auch erfahren, wer Ken war.

Vielleicht war KEN ja auch eine Abkürzung. Für Kinder-Erziehungs-Notdienst oder etwas in der Art.

***

Zwei Tage waren vergangen und der Koch war arbeitslos. Die Heinzelmännchen schienen die Küche übernommen zu haben, und zwar zu Zeiten, in welchen sich keiner wehren konnte. Nämlich nachts.

Sie lebten einen Rhythmus, der den Zwergen entgegenkam. Nachts arbeiteten und tagsüber schliefen sie. So lief man sich außer beim Frühstück und Abendbrot nicht über den Weg.

Letzteres führte dazu, dass zu diesen beiden Mahlzeiten ungewöhnlich schnell und stumm gegessen wurde. Anschließend sprangen die Zwerge auf und taten so, als warteten großartige und wichtige Aufgaben auf sie. Was meistens nicht der Fall war. Denn jetzt wohnten hier auch Heinzelmännchen.

Trotzdem sich die Zwerge allmählich mit der Anwesenheit der Heinzelmännchen abfanden, waren sie doch dankbar, dass sie zumindest das Mittagessen ungestört einnehmen konnten. Und sie konnten sich dafür reichlich Zeit lassen, da es kaum noch etwas zu tun gab.

Die Heinzelmännchen hatten auch diese Mahlzeit voll im Griff, wenngleich sie selbst nicht daran teilnahmen. Wenn der Koch morgens in die Küche kam, wartete auf ihn bereits ein komplett vorbereitetes Menü. Er musste es zu gegebener Zeit nur noch aufwärmen und auf die Teller verteilen. Die restliche Zeit langweilte er sich und suchte verzweifelt nach einem Hobby.

Die Kochkünste der Heinzelmännchen waren ziemlich gut, was dem Koch allmählich Existenzängste bereitete. Zwar enthielten die Speisen gelegentlich größere Mengen Gemüse, doch die Heinzelmännchen schienen sich bewusst zu sein, für wen sie da kochten. Das Gemüse war immer geschickt versteckt. Meistens in Fleisch.

Die Zwerge kulinarisch zu versorgen, war bisher immer ein tagfüllendes Programm gewesen. Ratlos besuchte der Koch die Bibliothek, wo es ein sehr kleines Regal mit der Aufschrift Freizeitbeschäftigungen gab. Bis vor kurzem wäre es der Gipfel der Schande gewesen, sich vor diesem Regal sehen zu lassen und vielleicht gar noch ein Buch daraus zu lesen.

Jetzt musste der Koch feststellen, dass andere Zwerge schneller gewesen waren. Nachdem er sich durch die Zwergenmenge nach vorn gekämpft hatte, starrte ihm ein leeres Regal entgegen.

Ein fast leeres. Nur ein einziges Buch befand sich noch darin. Es trug den vielversprechenden Titel Stricken und Häkeln sommerlicher Damenmode.

Der Koch runzelte nachdenklich die Stirn. Dahinter reifte die Erkenntnis, dass er nicht so verzweifelt war. Noch nicht.

***

Verblüfft musterte Constantin seine interessant gefaltete Serviette. Vermutlich sollte sie einen Frosch darstellen. Oder etwas in der Art. Constantin wollte sich da nicht festlegen.

Das ging jetzt jeden Tag so. Das Essen war vorzüglich, wenngleich mitunter etwas fleischarm. Alles war verlockend angerichtet und liebevoll in mundgerechte Stücke geschnitten, die die Form von Häschen oder Blümchen hatten.

Letzteres fand Constantin etwas übertrieben. Außerdem verletzte es ihn in seiner Ehre. Er war immer noch selbst in der Lage, Dinge zu zerschneiden oder abzubeißen. Auch wenn er aussah wie ein alter Mann.

Aber es war nicht zu verkennen, dass sich jemand Mühe gab. Sein Haus war morgens blitzblank und aufgeräumt. Die Wäsche war weicher und liebevoller zurechtgelegt.

Selbstverständlich hatte Constantin derartige Tätigkeiten auch vorher nicht selbst ausüben müssen. Das übernahmen normalerweise die Zwerge. Doch neuerdings konnte man spüren, dass hier einer am Werk war, der das gerne machte und sich bemühte, ihm eine Freude zu bereiten. Vorher hatte man nur gesehen, dass jemand erledigte, was eben gerade erledigt werden musste. Egal wie. Vermutlich deshalb, weil auf irgendeiner Liste ein Kreuz hinter seinem Namen stand.

Vielleicht lag es daran, dass er der Chef war und die kleinen Wichte Pluspunkte sammeln wollten. Wie auch immer. So schlimm schien das mit den Heinzelmännchen gar nicht zu sein. Im Gegenteil. Wenn es nach ihm ginge, könnten die kleinen Burschen ruhig noch eine Weile bleiben.

Er war nicht der Einzige, der so dachte. In manchen Zwergenköpfen geisterten zunehmend ähnliche Gedanken herum. Es wagte nur noch keiner, sie auszusprechen.

Es gab jede Menge Arbeiten, die zwar erledigt werden mussten, um die man sich aber lieber drückte. Plötzlich wurden diese Dinge über Nacht von anderen besorgt – auf beinahe beängstigend sorgfältige Weise.

Die anfänglichen Bedenken schwanden. Kollegen, die einem alle unangenehmen Aufgaben abnahmen und von denen man ansonsten nichts spürte, waren doch immer noch die besten Kollegen. Zu dumm, dass diese neuen Kollegen nicht nur die ungeliebten, sondern auch sämtliche anderen Aufgaben übernahmen, ohne zu fragen.

Constantin kaute hingebungsvoll. Er hatte nie geglaubt, dass Blumenkohl so gut schmecken konnte.

»Und was sieht der Plan gleich noch mal vor, wenn wir in Glücksstädt angekommen sind?« fragte er mit vollem Mund. Die Reise stand unmittelbar bevor und es machte ihn nervös, dass er keine Details kannte.

Der Kobold kaute ebenfalls. Auch er war mit der neuen Küche ganz zufrieden. Nur um Dinge mit Tomaten drin machte er einen großen Bogen.

»Erwin holt dich ab und bringt dich zum Hotel. Angeblich ist dort schon ein Zimmer reserviert. Erwin hilft dir dann, vernünftige Kleidung für die zwei Wochen auszusuchen.«

»Wieso ausgerechnet Erwin? Ich meine, der hat doch keine Ahnung davon, was man so anzieht.«

»Hm. Ich schätze, weil du der Weihnachtsmann bist. Die meisten würden da dumme Fragen stellen. Außerdem fährt Erwin selbst mit.«

»Verstehe immer noch nicht, wieso.«

»Wer weiß. Hat er seiner Freundin inzwischen Bescheid gesagt?«

»Glaub nicht. Dafür hat er viel zu viel Angst vor ihr.«

Der Kobold sah verblüfft von seinem Essen auf.

»Im Ernst?«

»Hmm.«

Aber… aber warum ist er dann mit ihr zusammen?«

Constantin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vermutlich ist er verliebt. Da tun Leute die verrücktesten Sachen.«

»Ach was. Warst … warst du schon mal verliebt?«

»Äh, nicht so richtig«, log Constantin. Tatsächlich war er eine Zeitlang andauernd verliebt gewesen. Jedes Mal unsterblich. Und immer hatten die Angebeteten einen anderen bevorzugt.

Das hieß nicht, dass Constantin nie eine Freundin hatte. Das hatte er durchaus. Nur eben nie eine, in die er richtig verliebt war. Doch auch das hatte seine Vorzüge. Spätestens dann, wenn die Beziehung endete.

»Und du?« fragte Constantin.

»Einmal«, murmelte Manfred und lief dunkelgrün an.

»Ah. Und in wen?«

»Kennst du sowieso nicht.«

»Schon klar. Aber ich meine: War es eine Fee oder so was?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte der Kobold empört. »Wer will denn schon so eine blöde Fee haben?«

Constantins Augenbrauen schossen nach oben. War der Gedanke daran, eine Fee zu lieben, wirklich so abstoßend? Oder hatte er damit einen wunden Punkt berührt?

»Du bist doch auch eine Fee, oder?«

»Ich war eine. Aber eine böse. Außerdem habe ich das nur gemacht, weil ich musste. Jetzt bin ich dein Assistent und Weihnachtspostmeister. Schon vergessen?«

»Natürlich nicht«, seufzte Constantin. Die Liebe bereitete wirklich nichts als Ärger. Selbst wenn man nur darüber sprach.

Erwin war aufrichtig zu bedauern.

***

Erwin vertrat gerade einen ähnlichen Standpunkt.

Er hatte endlich allen Mut zusammengenommen und zu Phoebe den unheilvollen Satz gesagt: »Ich muss mit dir reden.«

Sie hatte diese Worte so aufgefasst, wie das die meisten Frauen im Universum taten. Nur leider wusste Erwin bis dahin noch nichts von dieser Wirkung der harmlosen fünf Wörter.

»Du willst mich verlassen«, hatte Phoebe gekreischt. »Du verdammter Mistkerl hast solange gewartet, bis ich den Mietvertrag unterschrieben und einen Berg Möbel gekauft habe. Sogar über Kinder haben wir geredet!« Erwin fragte sich verblüfft, wann das gewesen sein sollte. »Und dann machst du einfach Schluss! Hast du wenigstens soviel Arsch in der Hose und sagst mir, warum? Hast du eine Andere? Ist sie vielleicht jünger? Oder reicher? Oder - ah, jetzt weiß ich’s. Deine Mutter steckt dahinter, stimmt’s? Die alte Hexe konnte mich von Anfang an nicht leiden! Sagst du jetzt vielleicht auch endlich mal was dazu? Oder hast du vor, einfach zu verschwinden und mich hier allein sitzen zu lassen? Und das nach allem, was wir durchgemacht haben! Ich wusste es! Meine Mutter hat mich gewarnt und gesagt, ich soll es mir lieber noch einmal überlegen. Schließlich kenne ich dich gar nicht richtig! Und jetzt? Jetzt hat meine Mutter recht gehabt! Weißt du eigentlich, was du mir damit antust? Jetzt werde ich mir ständig anhören können, sie habe es gleich gewusst. Ganz großartig! Da sitze ich nun, bin pleite wegen der ganzen Möbel, und muss dazu auch noch die Genugtuung meiner Mutter ertragen!«

An dieser Stelle wurde Phoebe von ihrer Lunge gezwungen, Luft zu holen. Auch wenn die nächsten Worte schon Schlange standen, um herausgeschrien zu werden, musste sie die winzige Pause in Kauf nehmen, wenn sie nicht ersticken wollte. Obwohl Erwin damit ganz Recht geschehen würde. Dann hätte er sie mit seiner ungeheuerlichen Rücksichtslosigkeit in den Tod getrieben. Und das als ehemaliger Priester. Sollte er doch sehen, wie er damit zurechtkam.

Erwin erwachte aus seiner Schreckstarre. »N-nein, so ist das nicht. Ehrlich. Ich wollte nur sagen, dass Constantin eine Reise gewonnen hat und mich mitnimmt. Äh, nächste Woche«, fügte er vorsichtig hinzu und ging in Deckung.

Eigentlich konnte es so schlimm nicht werden. Im Vergleich zu der schaurigen Aussicht, jetzt und hier verlassen zu werden, war so eine Urlaubsfahrt mit dem besten Freund doch eine Lappalie. Noch dazu, wenn sie nichts kostete. Dachte Erwin. Aber er kannte eben die Frauen noch nicht.

***

Es war Abendbrotzeit und die verschneiten Straßen des Weihnachtslandes wie leergefegt.

Ken und Frodewin schlichen zum Schlitten, der bereits fertig gepackt bereit stand.

»So viel Gepäck wird der ja nicht haben«, mutmaßte Frodewin und beäugte kritisch das große Gepäckfach.

»Umso besser. Bleibt mehr Platz für mich«, meinte Ken. Ein langer Flug irgendwo eingequetscht zwischen Gepäckstücken wäre seinem schönen Körper sicherlich nicht zuträglich.

»Und du bist dir ganz sicher?« erkundigte sich Frodewin noch einmal. Er konnte nicht glauben, dass er sich auf so etwas eingelassen hatte. Konnte Ken nicht einen anderen Zwerg als Mitwisser aussuchen? Bestimmt würde der Weihnachtsmann etwas merken und dann waren sie geliefert.

Wäre es nach Ken gegangen, hätte er tatsächlich lieber einem anderen Zwerg gewählt. Doch Frodewin war der Herr über das Fernrohr. Als Mitverschwörer würde er ihn nicht verpetzen und darüber hinaus dafür sorgen, dass ihn kein anderer Zwerg mit dem Fernrohr entdeckte. Hoffte Ken zumindest.

Das hier war die Gelegenheit. Endlich würde er eine eigene Tätowierung bekommen. Und diesmal war er nicht allein in dieser verrückten Stadt. Emily würde ihm helfen.

Das bedeutete allerdings auch, dass er sich in die Höhle des Löwen wagen musste. Beziehungsweise in die Höhle von Frau Wunderlich, aber das lief auf dasselbe hinaus. Ken hatte Angst vor der erneuten Begegnung mit Frau Wunderlich. Zum einen fürchtete er – völlig zu Recht – ihre Rache, zum anderen überkam ihn Unbehagen bei dem Gedanken an den Körper, in dem er einen Tag und eine Nacht lang unfreiwillig gefangen war. Ken hoffte und vertraute auf Emilys Geschick, ihn sicher zu verstecken.

Das Problem mit Kens Gastheinzelmännchen hatte sich vor zwei Tagen Gott sei Dank von allein geklärt. Sonst hätte dieser Punkt Ken womöglich einiges Kopfzerbrechen bereitet. Doch wie sich herausstellte, vertraten Ken und sein Gast unterschiedliche Auffassungen darüber, wer wie lange das Bad benutzen durfte. Der Heinzelmann meinte, zu kurz zu kommen. Als ob fünf Minuten für diesen struppigen Wicht nicht genügen würden. Außerdem schien der gewisse Vorbehalte gegen ein wohnliches, hübsch dekoriertes Ambiente zu hegen, was zunächst zu Meinungsverschiedenheiten, dann einem lauten Streit und schließlich zum Auszug des Heinzelmännchens führte. Das wohnte jetzt im Gästehaus und teilte sich mit Gutlieb ein Zimmer. Und Ken war endlich wieder allein und – noch besser – sein großer Spiegel hatte keinen Schaden davongetragen.

»Natürlich. Was glaubst du, mache ich sonst hier?«, antwortete er ungehalten.

»Und Emily weiß Bescheid und ist wirklich einverstanden?«

»Jahaa«, seufzte Ken. »Hilf mir mal mit der Klappe.«

Gemeinsam stemmten sie den Deckel des Gepäckfachs nach oben und Ken kletterte hinein.

»Na dann, mach’s mal gut. Und vergiss nicht, den anderen zu sagen, dass ich mich hingelegt habe, weil mir schlecht ist.«

»Äh, klar. Mach ich. Tschüss. Und viel Glück …«

Frodewin ließ den Deckel fallen und beeilte sich, zum Abendbrot zu kommen. Das war neuerdings ein Ereignis, das man sich besser nicht entgehen ließ.

Ken versuchte, sich zu orientieren. Wohin würde bei Start und Landung der Koffer rutschen und unschöne Quetschungen verursachen?

In diesem Moment hörte er jemanden atmen.

Kens Herz setzte einen Moment lang aus. Du spinnst, versuchte er sich einzureden. Reine Aufregung, sonst nichts.

Dann nieste es.

»Gesundheit«, sagte er automatisch, während der Rest seines Körpers in Angststarre verfiel und Panik die Kontrolle übernahm.

»Danke. Und? Wo willst du hin?« fragte Lauritz’ Stimme neugierig.

***

Die Nacht brach herein und Constantins Abreise stand unmittelbar bevor. Müde Zwerge umringten den Schlitten und hofften, bald ins Bett zu kommen. Reichliches Essen wirkte einschläfernd.

»Ich will den blöden Mantel nicht anziehen. Wenn mich nun einer sieht?« beschwerte sich Constantin nun schon zum dritten Mal.

»Dich kann keiner sehen. Deshalb fliegen wir nachts. Und dann landen wir im Wald, wo du dich umziehen kannst«, erklärte der Kobold geduldig. »Was willst du hier denn sonst anziehen?«

»Ich kann doch wenigstens den Mantel hierlassen.«

»Mann, hier liegt Schnee! Und im Schlitten zieht’s. Willst du dich etwa vor deinem Urlaub erkälten?«

»Manchmal kommst du mir vor wie meine Mutter!«

»Weißt du was? Ich mir auch! Und du wie ein kleines bockiges Kind!«

»Hoffentlich funktioniert das mit dem Bart«, murmelte Constantin.

In dem Schreiben der magischen Behörden stand, dass mit Überqueren der Grenzen des Weihnachtslandes für die Dauer der Reise gewisse magische Eigenschaften des Weihnachtsmannes vorübergehend aufgehoben werden sollten, wie zum Beispiel der üppige Bartwuchs und diverse Weihnachtsgelüste.

Constantin hoffte, dass das stimmte. Noch deutlich konnte er sich an seine entsprechenden Erfahrungen im Sommer erinnern.

»Jetzt heul nicht rum. Du hast Urlaub.« Der Kobold musterte ungeduldig seinen Chef.

Er hatte ein ungutes Gefühl. Irgendwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Keine Behörde der Welt schenkte einem aus freien Stücken was. Erst recht nichts Erholsames und Angenehmes.

***

Hunde gehörten normalerweise nicht zur nachtaktiven Spezies, sondern schliefen um diese Zeit friedlich in ihrem Körbchen.

Der große Elvis hatte aus Gründen der bedingungslosen Freundschaft und Zuneigung sein Leben in dieser Hinsicht radikal umgestellt, da Hamster nun einmal sind wie sie sind. Außerdem hatte er die Vorteile einer nächtlichen, zwergenleeren Küche zu schätzen gelernt.

Nach Constantins Abreise wartete er eine Weile, bis auch der letzte Zwerg den Weg in sein Bett gefunden hatte. Schliefen Zwerge erst mal, konnte man direkt neben ihnen ein Feuerwerk zünden, ohne dass sie davon viel mitbekamen. Zum einen schliefen sie sehr fest, und zum anderen verursachten sie dabei selbst einen Höllenlärm.

Sie waren traditionell sehr laute Schnarcher, da der, der am lautesten war, den meisten Platz hatte. Elvis war immer wieder aufs Neue beeindruckt, wie man so viel Krach machen konnte, ohne davon wach zu werden.

Als keiner mehr zu sehen war und die ersten vertrauten Schlafgeräusche einsetzten, schlich er sich für ein weiteres Abendbrot (oder in seinem Fall ein zweites Frühstück) in die Küche. Der kleine Elvis saß wie immer auf seinem Kopf und hielt Ausschau.

Seit Neuestem wurde das nächtliche Vergnügen durch schwer arbeitende und exzessiv kochende Heinzelmännchen getrübt, die beim Anblick eines großen Hundes in Panik gerieten und fluchtartig die Küche verließen. Das hatte Hund und Hamster in den letzten Nächten praktisch eine gedeckte Tafel beschert. Sie mussten sich nur noch bedienen.

Doch sie legten Wert darauf, nicht entdeckt zu werden. Und so schlichen sie sich vorsichtig an und spähten um Ecken.

Die letzte Ecke hatte es in sich, denn unmittelbar dahinter schienen sich mehrere Heinzelmännchen versammelt zu haben. Der Hamster quiekte leise. Doch sie blieben unbemerkt, da unter den Heinzelmännchen eine hitzige Diskussion ausgebrochen war.

Der große Elvis stellte die Ohren auf.

»Meinst du wirklich, schon heute Nacht?«

»Natürlich! Wie lange willst du denn noch warten?« fragte Gutlieb aufgebracht. Fröhlichkeit stand heute nicht auf dem Programm, wie es schien.

Elvis knurrte leise. Hatte er es doch gewusst. Niemand konnte anhaltend so fröhlich sein, solange er über einen halbwegs intakten Verstand verfügte.

Der Anwalt schaltete sich ein. »Ich bin dafür, dass wir noch ein paar Tage warten. Bis sie mehr Vertrauen gefasst haben. Und bis der Weihnachtsmann im Urlaub angekommen ist und nicht mehr zurückkommen kann.«

Die anderen Heinzelmännchen nickten. Gutlieb musste einsehen, dass er überstimmt war. »Nun gut. Aber spätestens Ende der Woche geht’s los.«

»Und was machen wir bis dahin?« fragte Hummelfleiß.

»Na was wohl. Kochen, putzen, waschen. Wie immer.«

»Aber ich dachte …«

»Du sollst nicht denken, sondern machen, was ich sage. Wir werden weiter die freundlichen, fleißigen Heinzelmännchen sein, klar? Kriegt ihr das hin?«

Elvis wagte einen kurzen Blick um die Ecke und sah skeptisch nickende Gesichter.

Im nächsten Moment quiekte der Hamster erneut leise und Hund Elvis zog sich vorsichtig zurück.

Offensichtlich würde er jetzt und hier nicht mehr erfahren. Aber er sollte die kleinen Wichte im Auge behalten.

***

Emily kletterte an der Dachrinne nach unten. Sie war aufgeregt. Nicht deshalb, weil sie ausriss, während die Wunderlichs glaubten, sie läge in ihrem Bett und schlief.

Nein. Aber sie war in Begriff, den Weihnachtsmann zu treffen und einen Zwerg abzuholen. Einen Zwerg, von dem die Wunderlichs nichts wissen durften. Und der Weihnachtsmann selbst auch nicht.

Angestrengt überlegte sie, wie sie Constantin ihr Auftauchen nach dessen geheimer Ankunft erklären und wie sie dann auch noch einen heimlich mitgereisten Zwerg wegschmuggeln sollte.

Später musste sie auch noch das Problem lösen, wie man einen Tätowierer dazu überredete, einen Zwerg zu tätowieren. Ken hatte in seinem Brief gewisse Andeutungen gemacht, dass er wisse, an wen sie sich wenden mussten. Aber Emily war skeptisch, was das betraf.

Sollte sie ihre Pflegemutter einweihen? Schließlich hatte diese selbst ein Tattoo. Und sie hatte die Zwerge gesehen. Doch Emily war sich nicht sicher, wie Frau Wunderlich reagierte, wenn sie einen Zwerg drei Wochen lang bei sich wohnen lassen sollte.

Nein. Vorerst wollte sie versuchen, damit allein klarzukommen. Wenn das nicht funktionierte, konnte sie immer noch darauf zurückkommen.

***

Frodewin überprüfte nervös, ob Kens Haus richtig abgeschlossen war. Dann verstaute er den Schlüssel sorgsam in seiner Tasche.

Er hatte fürchterliche Angst, dass Ken auffliegen würde und herauskam, dass er ihm geholfen hatte. Wer weiß, was dann passierte.

Dummerweise waren die Wunderlichs in letzter Zeit das begehrteste Observationsziel gewesen. Vielleicht sollte er lieber auf Nummer sicher gehen und dafür sorgen, dass das Fernrohr nicht mehr funktionierte. Allerdings fürchtete er, dem Gerät dabei einen irreparablen Schaden zuzufügen, da er sich mit diesem technischen Kram so ungeschickt anstellte. Und man würde von ihm erwarten, dass er die Gerätschaften in seiner Werkstatt auch selbst wieder instand setzen konnte.

Vielleicht genügte es schon, eine kleine Schraube zu lockern. Doch wie er sich kannte, würde danach das Fernrohr zusammenbrechen und sich dabei selbst zerstören.

Nein. Vermutlich reichte es, interessierten Zwergen vorzulügen, das Gerät sei kaputt. Nicht umsonst war er der Chef des Fernrohrs und damit des Wachdienstes. In den letzten zwei Tagen war sowieso kaum noch jemand freiwillig zu ihm gekommen, um Wachdienst zu schieben.

Es erschien Frodewin wie eine glückliche Fügung, als er von Manfred erfuhr, dass Frau Wunderlich die Beobachtung ihrer Familie ausdrücklich verboten hatte. Und zwar schriftlich. Frodewin durchwühlte das Archiv, bis er das wertvolle Stück Papier in Händen hielt. Daraufhin hatte er den Brief nur noch Humbert zeigen müssen, der erwartungsgemäß die weitere Überwachung der Wunderlichs verbot.

Anfangs kamen noch Zwerge, die glaubten, ihn mit Schokolade zu einer Ausnahme überreden zu können. Doch Frodewin gab vor, zu große Angst vor der Entdeckung zu haben, was ihm auf beinahe beleidigende Weise sofort geglaubt wurde. Mitunter war es durchaus von Vorteil, für einen Hasenfuß gehalten zu werden.

Frodewin atmete tief durch. Vielleicht ging ja doch alles gut.

***

Hastig schnappte sich Erwin den Wecker und versuchte zu erkennen, wie viel Zeit ihm noch blieb.

Phoebe hatte sowohl schreiend als auch weinend ihren Unmut darüber bekundet, dass Erwin mit Constantin eine Reise unternahm. Heute war der kritische Tag, an dem Constantin eintraf, und Erwin musste bald losfahren, um ihn am Waldrand abzuholen.

Um das Gezeter zu unterbinden, war ihm nur eine einzige Möglichkeit eingefallen. Eine, die sich ihm erst kürzlich erschlossen hatte und die ihm Spaß machte. Allerdings war die Dauer dieser Ablenkung unberechenbar, da er dabei jedes Zeitgefühl verlor.

Phoebe lag keuchend neben ihm im Bett und sah ihn an.

»Und du willst wirklich mit einem anderen Urlaub machen? Zwei Wochen ohne mich?«

»Na ja«, erwiderte Erwin hilflos. »Er ist mein Freund und hat sonst niemanden, mit dem er fahren kann.«

»Du weißt schon, dass du die Verlustängste einer depressiven Frau ausnutzt?«

»Ehrlich. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich komme ja bald wieder zurück. Zu dir. Du bist doch meine Frau, und …«

»Wie bitte?«

»Ich sagte: Du brauchst wirklich … «

»N-nein! Das andere!«

»Äh, was denn?«

»Du sagtest, ich sei deine Frau?«

»J-ja. Äh …« Erwin fragte sich, was nun daran schon wieder falsch gewesen sein soll.

»Du meine Güte. Ich… ja! JA! Das ist so lieb von dir!«

»W-wieso denn?«, erkundigte sich Erwin alarmiert.

»Na, dass du mir ausgerechnet jetzt, wo ich so traurig bin, einen Heiratsantrag machst!« Phoebe warf ihm einen misstrauischen Seitenblick zu. »Das war doch ein Heiratsantrag, oder? Du hast gesagt meine Frau!«

»Äh, ja… natürlich!« Oh Gott. Was hatte er getan! Wäre er doch bloß Priester geblieben!

Der Wecker piepte und gab damit das Signal zum Aufbruch. Oder zur Flucht.

Jetzt konnte ihn nur noch der Weihnachtsmann retten.

***

Emily stand am Waldrand und gruselte sich.

Sie mochte den Wald, tagsüber. Man konnte da wunderbar herumtoben, auf Bäume klettern, Verstecken spielen und Stöcke sammeln.

Jetzt hätte sie auch gern einen Stock, und zwar zur Verteidigung. Gegen was auch immer.

Als Ken ihr Ankunftszeit und -ort mitgeteilt hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass Waldränder nachts gefährlich sein könnten. Und furchtbar dunkel.

Sie traute sich einfach nicht, den dunklen Wald zu betreten und einen Stock zu suchen. Vermutlich würde, bevor sie einen solchen fand, etwas anderes sie finden. Da half auch die Taschenlampe nichts. Außerdem schwächelten die Batterien und sie musste sich Licht für den Heimweg aufsparen.

Das Schlimmste waren die Geräusche, die aus dem Wald drangen. Bisher war ihr der Wald immer als ein Ort der Stille vorgekommen. Aber das schien nur tagsüber zu gelten.

Nachts knackte, raschelte und ächzte es hier an allen Ecken. Zwischendurch ertönten seltsame Laute, die Emily auf Tiere zurückführte. Sie hoffte inständig, dass es keine großen Tiere waren. Schließlich war es bei Hunden auch so, dass die kleinsten den größten Radau machten.

Sie war bisher davon ausgegangen, dass nachts alle schliefen. Aber nun musste sie erkennen, dass im Wald die Party jetzt erst richtig losging.

Mit einem Mal tauchten zwei Autoscheinwerfer auf und näherten sich rasch.

Emilys Gedanken rasten.

Mist. Wieso hatte sie nicht eher daran gedacht? Nachts kamen die Verbrecher raus. Das wusste jeder. Und wenn die dann auch noch in den Wald fuhren, war das vermutlich ein Zeichen dafür, dass sie zur richtig üblen Sorte gehörten.

Was würden solche Leute wohl mit einem kleinen Mädchen anstellen?

Emily wollte nicht warten und es herausfinden. Die Angst vor diesen Leuten war tausendmal schlimmer als die Angst vor dem Wald. So schrecklich konnte der gar nicht sein – schließlich lebten hier Rehe und putzige Eichhörnchen und so.

Blitzschnell verschwand sie im Dunkel der Bäume und versteckte sich hinter einem Baum.

Das Auto hielt genau an der Stelle, an welcher Emily soeben noch gestanden und gewartet hatte. Die Tür öffnete sich und Erwin stieg umständlich aus.

Emily blinzelte ungläubig, dann überschwappte sie eine warme Welle der Erleichterung. Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Natürlich! Wie hatte sie das nur vergessen können? Constantin wurde hier abgeholt.

Neben ihr knackte es verdächtig und sie rannte los.

***

Erwins überreizte Nerven fuhren Karussell. Und zwar rückwärts.

Allem Anschein nach war er jetzt verlobt. Er wusste zwar noch immer nicht genau, wie das passieren konnte, da sein Verstand nach wie vor die Arbeit verweigerte und keine Auskunft über die ursächlichen dramatischen Ereignisse lieferte. Doch Phoebe ging davon aus, dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Und offensichtlich hatte sie ihn angenommen. Damit schien er aus der Sache nicht mehr herauszukommen.

Vermutlich war sie bereits unterwegs und klingelte irgendwo eine bedauernswerte Brautkleidverkäuferin aus dem Bett.

Erinnerungsfetzen von glücklichen Paaren, die sich von ihm trauen lassen wollten, tauchten auf. Und wie die meisten heiratswilligen Menschen konnten sie es gar nicht erwarten, aller Welt zu erzählen, wie es soweit kommen konnte.

Erwin glaubte, sich zu erinnern, dass das stets in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Frage gestanden hatte. Dass ein unglücklich gewähltes Pronomen einen in derartiges Unheil stürzen konnte, war ihm noch nicht zu Ohren gekommen.

Er hatte zwar hier und da den Eindruck gewonnen, der entsprechende Bräutigam sei ein wenig überrumpelt worden. Mitunter auch davon, dass auf dem Schwangerschaftstest ein Strich zu viel erschienen war. Aber dass jemand durch grammatikalische Tücken zwangsverheiratet wurde, war ihm neu. Gegen so etwas sollte es eigentlich Gesetze geben. Und neutrale, für Frauen gesperrte Schutzzonen, in denen sich die verstörten, unfreiwilligen Heiratssklaven vor ihren rachsüchtigen Bräuten verstecken konnten.

Das Auto rumpelte den Feldweg entlang auf den Wald zu und schüttelte Erwins wirre Gedanken noch weiter durcheinander.

Vielleicht sollte er fliehen. Die Reise war die passende Gelegenheit. Irgendwo könnte er sich verstecken und nicht wieder auftauchen. Oder noch besser. Er ging allein baden, falls es da Wasser gab, und alle würden annehmen, er sei ertrunken.

Dann fiel ihm ein, dass er nicht besonders gut schwimmen konnte und wahrscheinlich wirklich ertrinken würde. Dann vielleicht doch lieber heiraten. Ins Wasser gehen konnte er allemal noch, wenn er es nicht länger ertrug.

Am Wald angekommen, stieg er aus Phoebes Auto und schaute in den Himmel, wo jeden Moment sein Freund auftauchen sollte.

Vielleicht wusste der ja einen Rat.

Früher, als Erwin noch ein unschuldiger Priester war, hatte er sich die Sache mit dem Warten auf ein Licht, das vom Himmel kam, irgendwie anders vorgestellt.

Plötzlich knackte und raschelte es im Wald. Oh Gott.

Etwas rannte auf ihn zu, und es war eindeutig größer als ein Eichhörnchen. Sogar größer als ein Fuchs. Und es rannte aufrecht, direkt in seine Richtung.

Erwins Kopf schrie Renn endlich los, du Idiot!, doch die fürs Rennen zuständigen Körperregionen sahen sich dazu außerstande. Nach und nach knickten seine Knie ein und er sank auf den Boden. Seine Augen stierten noch immer auf das dunkle Wesen, das ihn beinahe erreicht hatte.

Nun, es sollte wohl so sein. Er hatte mit seinem Leben gehadert, und jetzt zeigte ihm das Schicksal, dass es noch viel schlimmer kommen konnte. Aber er würde es hinnehmen wie ein Mann.*

»Mann, bin ich froh, dass Sie hier sind«, rief Emily schrill und hoffte, dass Erwin das Schluchzen nicht bemerkte.

In diesem Moment kippte Erwin zur Seite.

Emily hielt erschrocken inne, beugte sich dann aber über Erwins schlaffe Gestalt. Vorsichtig schüttelte sie ihn.

»Äh, geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen irgendwas…«

Schwaches Licht erhellte den Weg und ein seltsames Rauschen erklang. Einen Moment später landete der Weihnachtsschlitten neben dem Auto, rumpelte noch ein Stückchen weiter über den Acker und kam schließlich zum Stehen. Die Rentiere schnaubten leise.

Emily fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Im Fernsehen hatte sie das schon unzählige Male gesehen. Meistens in Zeichentrickfilmen. Die Rentiere sahen da aus wie Plüschtiere, sprachen und hatten rote Nasen. Wenn es ganz schlimm kam, sangen sie sogar. Und im Schlitten saß ein dicker, freundlicher Weihnachtsmann im roten Mantel und sagte Hohoho. Warum auch immer.

Diese Rentiere hier sahen aus wie – nun, Rentiere eben. Sie waren riesig und erweckten nicht den Anschein, als ob sie gerne etwas sagen oder singen würden. Oder knuddeln. Wenn man ihnen eine rote Nase verpasste, sorgten sie vermutlich auf schmerzvolle Weise dafür, dass man selbst noch an ganz anderen Stellen rot wurde.

Der dicke Weihnachtsmann steckte irgendwo unter seinem roten Mantel, fluchte und rief: »Nicht gucken! Ich zieh mich gerade um.«

Emily beschloss, dass Erwins Wiederbelebung vorerst warten konnte, und kam neugierig näher.

Manfred hopste neben dem verknäuelten Constantin auf der Bank herum. »Siehst du? Die ganze Zeit über habe ich es gesagt. Zieh dich endlich um. Wir sind gleich da. Aber nein – der Herr meinte, noch ewig Zeit zu haben.«

»Na und? Weiß gar nicht, was du dich so aufregst. Erwin wird ja wohl das bisschen noch warten können. Außerdem konnte ich nicht wissen, dass mir aus dem Gepäckfach ein Zwerg entgegenspringt.«

»Ein Zwerg?« rief Emily bestürzt. Es sollte doch keiner etwas davon wissen, dass Ken mitkam. War er etwa erwischt worden?

Das Knäuel erstarrte. »Wer hat das gerade gesagt?« fragte Constantins Stimme misstrauisch.

Lauritz spähte über den Schlittenrand. »Das Mädchen. Äh, Emily, nicht wahr?«

Constantins Kopf fuhr aus dem Knäuel nach oben. »Emily? W-was machst du denn hier?«

»Ich …, äh, ich wollte dich sehen. Die Zwerge haben geschrieben, dass du heute hier ankommst. Und…, also, ich dachte, ich komme mal her. Hab dich schon so lange nicht gesehen.«

Eigentlich sollte das überzeugender klingen. Doch Emily war unsicher, wie Constantin ihr Erscheinen aufnahm. Außerdem lag hinter ihr noch immer der bewusstlose Erwin.

Unschlüssig musterte sie den Zwerg, der auf dem Schlittenrand balancierte. Sie war sich bei dem Mangel an Licht nicht sicher, aber allem Anschein nach war das nicht Ken.

»Und du bist…?«

»Lauritz. Erinnerst du dich?«

»Er hat sich im Gepäckfach versteckt«, sagte Manfred empört.

Lauritz zwinkerte Emily zu und zeigte unauffällig zum Gepäckfach. Als Emily ihn fragend anschaute, nickte und zwinkerte er erneut.

Offensichtlich steckte noch jemand in dem Kasten.

Constantin hatte sich endlich in seine zivile, stadttaugliche Kleidung gezwängt und tauchte wieder auf.

»Sag mal, weißt du eigentlich wie spät es ist?«

»Ja. Klar. Ich bin ja nicht blöd!«

»Und weiß jemand, dass du hier bist?«

»Natürlich nicht. Sonst wäre ich nicht hier. Schließlich ist es schon spät.«

»Aber … es ist gefährlich und so!«

»Quatsch«, behauptete Emily und bemühte sich, die Erinnerung an unlängst ausgestandene Ängste zu verdrängen. »Was soll hier schon…«

»Ist das dort etwa Erwin?« rief Constantin, sprang aus dem Schlitten und rannte auf die reglose Gestalt am Boden zu. Manfred hopste schimpfend hinterher.

Das war die Gelegenheit. Schnell klappte Emily das Gepäckfach des Schlittens auf und versuchte, etwas zu erkennen.

»Hier bin ich«, flüsterte Ken erleichtert und kletterte nach oben.

Emily öffnete hastig ihren Rucksack, ließ Ken hineinspringen und schloss sowohl das Fach als auch den Rucksack.

»Was ist dem denn passiert?« fragte Constantin und sah sich nach Emily um. »Äh, was machst du da?«

»Ich habe ihr gezeigt, wo ich mich versteckt habe«, erwiderte Lauritz und sprang vom Schlitten.

Emily atmete erleichtert auf und nickte Lauritz dankbar zu. So. Das wäre schon mal geschafft. Jetzt musste sie nur noch zur Stadt zurückkommen und sich unbemerkt in ihr Zimmer schleichen.

Sie hoffte sehr, dass die zwei Männer ihr beim ersten Teil behilflich waren. Sicherlich ließen sie kein kleines Mädchen allein durch die kriminelle Dunkelheit zurücklaufen. Oder?

»Ich … ich habe hier auf dich gewartet. Als ein Auto kam, habe ich mich im Wald versteckt, weil ich nicht wusste, wer da kommt. Und als ich dann aus dem Wald rannte, ist er einfach umgekippt«, berichtete Emily ratlos.

»Einfach so? Aber… warum?« fragte Constantin stirnrunzelnd.

»Keine Ahnung. Ehrlich. Vielleicht hatte er Angst?«

»Vor dir?«

»Na und?« ertönte Erwins Stimme trotzig von unten. »Wenn mitten in der Nacht etwas aus dem Wald auf einen zurennt, kann man schon mal Angst kriegen. Was macht sie überhaupt hier?«

»Anscheinend wollte sie mich sehen«, erwiderte Constantin ratlos.

»Genau«, sagte Emily. »Nun…, und? Wie läuft’s so?«

»Hä? Was?«

Erwin richtete sich auf. »Solltest du nicht etwas sagen wie Was meinst du, mein Kind? Oder so in der Art?«

»Vermutlich ja«, erwiderte Constantin hilflos. Der Intensivkurs für weihnachtliche Kommunikation mit Kindern hatte noch nicht begonnen.

»Siehst du? Das sage ich auch immer«, meinte der Kobold.

Constantin verdrehte die Augen und half Erwin auf.

»Mann, bin ich froh, dich zu sehen. Äh, dich natürlich auch«, fügte er zu Emily gewandt hinzu. »Endlich mal wieder unter Menschen!«

Manfred blies empört die Backen auf. »Ach ja? Und was ist bitteschön so schlimm an unserer Gesellschaft?«

Constantin sah ihn verwirrt an. »Nichts, eigentlich. Aber du weißt schon. Wärst du nicht auch gerne mal wieder unter Kobolden?«

»Großer Gott, nein! Kobolde können sich gegenseitig nicht ausstehen!«

Lauritz mischte sich ein. »Ich dachte, das gilt auch für die meisten Menschen.«

»Stimmt. Da kann ich die meisten auch nicht leiden«, räumte Constantin ein. »Ist aber auch kein Wunder. So wie die sich alle benehmen…«

»Ehrlich?« fragte Erwin überrascht. »Aber wieso? Die meisten Leute sind doch ganz nett. Wenn man sie erstmal richtig kennenlernt…«

Constantin musterte ihn skeptisch. Erwin schwamm offensichtlich noch immer ein bisschen auf der Welle der allumfassenden Nächstenliebe, die selbst vor Personen wie Fräulein Müßig nicht Halt machte.

»Du musst das jetzt nicht mehr machen«, bemerkte Constantin.

»Was denn?« fragte Erwin verwirrt.

»Na, jeden lieb haben.«

»Wieso denn nicht? Ist das etwa was Schlimmes?«

»Äh, also irgendwie schon. Nicht für die anderen. Aber für dich.«

»Oh nein. Gerade für mich ist das gut.«

Constantin sah ihn fragend an.

»Na, du weißt schon. Wenn wir…, also ich meine, wenn unser Leben einmal vorbei ist und abgerechnet wird. Dann wird geprüft, was für ein Mensch man war.«

»Du meinst die Sache mit Himmel und Hölle?«

»Äh, ja.«

»Ah. Du denkst dabei langfristig. Aber meinst du nicht, dass das Leben bis dahin auch ein bisschen Spaß machen sollte?«

»Schon. Aber…« Erwin sah Constantin ratlos an. Die Furcht, ewig in der Hölle schmoren zu müssen, hatte sich in den vergangenen Jahren sehr tief eingenistet und räumte jetzt nicht kampflos das Feld.

»Überleg’ doch mal. Wie viele Leute kennst du, die ebenfalls so eine Einstellung wie du haben?« fragte Constantin.

»Also… ein paar gibt es da schon.«

»Viele?«

»Äh…, nein. Vermutlich nicht.«

»Siehst du? Wenn also wirklich nur die paar in den Himmel kommen, muss es dort leer sein wie eine Schule in den Ferien. Nur ein paar Verrückte und Streber drücken sich da herum. Meinst du wirklich, das wird schön?«

Erwin musterte verwirrt den nächtlichen Himmel.

Von dieser Seite hatte er die Sache überhaupt noch nicht betrachtet.

Eigentlich wollte er sowieso lieber dort sein, wo auch seine Freunde waren. Oder wo Phoebe und seine Mutter nicht waren. Er musste nur noch herausfinden, wohin diese einmal kommen würden. Vielleicht gab es eine spezielle Hölle für tyrannische Frauenzimmer.

Phoebe mit ihren seltsamen spirituellen Ansichten würde vermutlich sowieso eher die Reinkarnationsschiene fahren und wiedergeboren werden, als was auch immer. Ihre Theorie besagte, dass man in das hineingeboren wird, dem man in seinem bisherigen Leben am ähnlichsten war. Also standen die Chancen gut, dass sie ihr nächstes Leben als Kampfhuhn oder etwas in der Art antrat.

Die anderen Hühner taten Erwin jetzt schon leid. Und ganz besonders der Hahn.

»Wieso redet ihr eigentlich übers Sterben?« erkundigte sich Emily. Es war ihr ein Rätsel, weshalb sich erwachsene Menschen an derart gruseligen Orten wie nächtlichen Waldrändern auch noch über gruselige Dinge unterhielten.

»Du hast recht«, bemerkte Erwin betont fröhlich. »Wir sollten endlich losfahren.«

Constantin sah nachdenklich zu Lauritz. »Und was machen wir jetzt mit dir?«

»Wieso?« fragte dieser argwöhnisch.

»Na, eigentlich müsste ich dich mit dem Schlitten zurückschicken. Die anderen fragen sich bestimmt schon, wo du steckst.«

»Bist du verrückt? Da hätte ich doch gar nicht erst mitkommen müssen«, stellte Lauritz entsetzt fest. »Außerdem sind die bestimmt ganz froh, wenn sie mich mal nicht sehen.«

»Das mag ja sein. Aber trotzdem…«

Unschlüssig beobachtete Constantin, wie Lauritz hastig in seinen Taschen kramte, wobei allerlei seltsame Dinge auf den Boden fielen. Schließlich schien er gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte.

Triumphierend hielt er ein eingewickeltes Päckchen in die Höhe. »Wenn du mich mitnimmst, bekommst du die hier.«

»Was ist das?« erkundigte sich Erwin misstrauisch.

Constantin kannte derartige Päckchen bereits. Sie enthielten meistens eine Überraschung, die man rauchen konnte.

»Was Neues?«

»Ich sag mal, Verschiedenes. Je nach Laune.«

»Ah.« Constantin schwieg einen Moment lang und dachte nach. Schließlich wandte er sich an Erwin. »Meinst du, wir könnten ihn mitnehmen?«

»Und wenn ihn jemand sieht?« fragte Erwin skeptisch.

Constantin wandte sich an den Zwerg. »Hör mal. Niemand darf dich sehen, klar? Ich habe kein Ahnung, was mit dir passiert, wenn dich jemand erwischt. Und ich weiß nicht, ob ich dir dann helfen kann. Also wirst du die ganze Zeit über im Zimmer bleiben müssen.«

»Oder Koffer«, ergänzte ihn Erwin.

»Wie bitte?«

»Unterwegs. Da haben wir kein Zimmer.«

»Also, was meinst du?« fragte Constantin Erwin.

»Na gut. Was soll’s«, seufzte Erwin.

Er hatte erwartet, mit seinem Freund ganz allein zu verreisen und dabei mit diesem seine zahlreichen neufamiliären Schwierigkeiten besprechen zu können. Nun musste er erkennen, dass sich seine Reisebegleitung nicht nur auf einen Kobold, sondern auch auf einen widerspenstigen Zwerg erstreckte.

Die Probleme lauerten hinter allen Ecken. Doch zumindest würde er seine anderen, häuslichen Probleme für eine Weile hinter sich lassen können.

»Also, du hast es gehört«, wandte sich Constantin wieder an Lauritz. »Du bist vorsichtig. Und den anderen Zwergen geben wir morgen früh Bescheid.«

»Wie denn?«

»Humbert hat mir so ein komisches rosa Muscheldings gegeben und behauptet, das funktioniere wie ein Telefon. Ich schätze, wir werden in Kürze herausfinden, ob das stimmt.«

Constantin ging zum Schlitten und flüsterte einem der Rentiere etwas ins Ohr. Sofort setzten sich die Tiere in Bewegung und verschwanden mitsamt dem Schlitten.

Constantin verfolgte sie mit seinen Blicken, bis sie der Nachthimmel verschluckte.

»Stimmt es, dass sie Namen haben?« fragte Emily.

»Ich glaube schon. Lauritz?«

Lauritz kam herbeigehopst. »Klar. Das ganz vorne links heißt Linksvorn. Und das daneben…«

»Willst du mich veräppeln?«

»Nein, wirklich. So kommt es nicht zu Verwechslungen. Bevor der alte Weihnachtsmann diese Idee hatte, wurden einmal Rechtsvorn und Linksmitte vertauscht. Da war was los. Zum Glück waren die Geschenke festgebunden und der alte Weihnachtsmann dick genug und zwischen den Geschenken eingeklemmt. Seitdem gibt es das Gerücht, dass der Weihnachtsschlitten Saltos fliegt.«

Erwin, der schon vorausgegangen war, rief: »Kommt ihr endlich? Das Auto steht da drüben.«

Constantin nahm seinen Koffer, setzte den Kobold auf seine Schulter und lief los. Emily und Lauritz folgten eilig.

Kurze Zeit später leuchtete Emilys Taschenlampe auf einen alten VW Golf. Constantin vermutete, dass das Licht der Taschenlampe etwas Seltsames mit der Wirklichkeit anstellte, da er glaubte, violette Flecken zu sehen, die von Rost zusammengehalten wurden.

»Ist das dein Auto?« fragte er zweifelnd.

»Äh, nein. Das von Phoebe. Ich habe keins.«

»Echt nicht?«

»Nö. Brauchte nie eins. Zu Hause konnte ich immer das von Mama nehmen«, erwiderte Erwin zerstreut und zog mit aller Kraft an der Tür. Phoebe hatte irgendetwas gesagt, dass man da und dort gegendrücken sollte. Aber Erwin war zu aufgeregt gewesen, um zuzuhören. Und jetzt bekam er diese verdammte Tür nicht auf.

»Irgendwie muss das doch…« In diesem Moment gab die Tür endlich nach und Erwin ging beinahe zu Boden.

»Äh, Moment noch. Muss nur noch das Zeug hier wegräumen«, murmelte er und begann hastig, Dinge vom Beifahrersitz nach hinten zu werfen.

»Lass dir ruhig Zeit«, meinte Constantin und beäugte Phoebes Auto argwöhnisch. »Bist du dir sicher, dass wir damit heil ankommen?«

»Wenn es solange gehalten hat, wie es aussieht, wird es bestimmt nicht ausgerechnet jetzt auseinanderfallen«, sagte Lauritz. Ja! Endlich würde er in einem Auto mitfahren.

Das Innere des Wagens kam einer Müllhalde gleich. Erwin räumte diverse Kleidungsstücke, Tüten, leere Verpackungen, Kekse, Flaschen und Kosmetika um.

»Sollten wir das nicht lieber in den Kofferraum werfen? Dahinten müssen auch noch Emily und Lauritz Platz haben«, gab Constantin zu bedenken.

Erwin kam wieder zum Vorschein. »Hast vermutlich recht. Den Koffer müssen wir sowieso hinten reinpacken.«

Der Kofferraum ließ sich unerwartet leicht öffnen.

Anschließend starrten fünf verblüffte Augenpaare dorthin, wo sich für gewöhnlich Stauraum befinden sollte.

»Meine Güte«, brachte Constantin hervor. Ihm waren schon Gerüchte zu Ohren gekommen, dass selbst ordnungsliebende Frauen dazu neigten, ihre Autos als Kleiderschrank und Tütenendlager zu missbrauchen. Aber das hier übertraf alles, was er bis dahin für möglich gehalten hatte.

»Äh…«, begann Erwin und verstummte wieder.

»Habt ihr eigentlich Kleiderschränke zu Hause?« erkundigte sich Manfred.

»Oder einen Mülleimer?« fügte Lauritz ehrfürchtig hinzu. Er war ein Meister des Chaos. Aber das hier überstieg selbst seine Fähigkeiten.

»Kannst du das nicht irgendwie… zusammenschieben?« fragte Constantin.

»Versuchen kann man’s ja«, erwiderte Erwin hilflos und drückte zaghaft gegen eine Kiste mit Schuhen.

»So wird das nie was«, meinte Constantin. »Ihr holt mal das Zeug von vorne«, wies er die drei kleineren Anwesenden an. Dann schob er mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, gegen die Tüten- und Stoffberge.

»Was hat diese Frau nur alles gesammelt«, keuchte er. Doch das Schieben zeigte Erfolg und es entstand genug Platz für Constantins kleinen Koffer.

»Den Müll von vorne werfen wir dort in die Schuhkiste.« Constantin rieb sich zufrieden die Hände. »Na also. Geht doch.«

Erwin war sich da nicht so sicher. Für den Moment mochte das Problem gelöst sein. Zumindest für die anderen. Aber irgendwann würde Phoebe sehen, was sie getan hatten. Und dann würde er leiden müssen. Schon wieder.

Constantin saß bereits im Auto und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen die um ihn herum baumelnden Plüschtiere, Duftbäume und anderen seltsamen Dinge, die vermutlich Glück bringen sollten. Constantin bezweifelte, dass das funktionierte. Allenfalls konnten sie, nachdem sie einem die Sicht beim Fahren versperrten und so diverse Zusammenstöße verursachten, den Aufprall ein wenig mildern. Zumindest galt das für die plüschigen Dinge. Alles andere sorgte einfach nur dafür, dass man den Einsatz erhöhte und sein Glück herausforderte.

Resigniert rutschte er tiefer in seinen Sitz.

»Auf was sitze ich hier eig…« Constantin holte unter seinem Hintern einen kleinen, in Folie verpackten, weißen, länglichen Gegenstand hervor. Ein blauer Faden gab letzte Gewissheit, worum es sich dabei handelte.

Constantin hatte so etwas bisher nur in der Fernsehwerbung oder in Badezimmerschränken gesehen, die er umgehend wieder verschlossen und aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Auf keinen Fall hatte er das schon mal in der Hand gehalten.

Erwin wurde rot und nahm seinem erstarrten Freund den Gegenstand aus der Hand. »Das muss wohl irgendwie aus ihrer Tasche gefallen sein«, murmelte er.

Constantin entschied, die Augen zu schließen und erst wieder zu öffnen, wenn er aus dieser grausigen Teufelskiste aussteigen konnte.

***

Betrübt musterte Herr Wunderlich am nächsten Morgen sein Vollkorntoast mit fettarmem Frischkäse. Die Brötchen und Marmeladengläser standen am anderen Ende des Tisches vor Emilys Teller.

Der Küchentisch der Wunderlichs war nicht sonderlich groß, da ein größerer Tisch bei der bislang kalkulierten Zukunft zu zweit einfach keinen Sinn ergeben hätte.

Er konnte ohne Schwierigkeiten über den Tisch langen und sich holen, was ihm seiner Meinung nach zustand.

Soweit die Theorie.

Die Praxis besagte, dass seine Hand dabei das Blickfeld seiner Frau passieren musste.

Mit leisem Seufzen biss er in sein Brot. Er fühlte sich nicht in der Stimmung für revolutionäre Aktionen. Ganz besonders nicht mit leerem Magen.

Seine Frau nahm keine Notiz von den Sorgen ihres Mannes. Fürsorglich betrachtete sie Emily, die ungewöhnlich erschöpft aussah.

»Schatz, du siehst müde aus. Hast du nicht gut geschlafen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich mit vorwurfsvollem Blick an ihren Mann. »Das liegt bestimmt an dieser unmöglichen Liege. Ich habe schon immer gesagt, dass man darauf schlecht schläft. Am Montag fahren wir ein neues Bett kaufen.«

Sie wandte sich wieder Emily zu. »Hast du gehört, Schatz? Gleich am Montag bekommst du ein neues Bett. Versprochen. Bis dahin kannst du, wenn du möchtest, mit mir im Schlafzimmer schlafen.«

Plötzliches Entsetzen ließ Emily munter werden. »N-nein, das ist nicht nötig! Wirklich nicht. Das Bett ist in Ordnung. Ich meine…, ich habe wohl nur schlecht geträumt.«

Herr Wunderlich war empört, dass seine Frau ihn einfach so aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausquartierte, ohne ihn wenigstens zu fragen. »Siehst du? Das kann ja wohl jedem mal passieren. Da hilft auch ein anderes Bett nichts. Ich meine – in meinem Bett habe ich auch schon schlecht geträumt. Deshalb kaufe ich auch nicht gleich ein neues. Außerdem wollte ich am Montag mit Heiner angeln gehen.«

»Wie bitte? Dein nichtsnutziger Kumpel ist dir wichtiger als der gesunde Schlaf deiner Tochter?« Entrüstet stemmte Frau Wunderlich die Hände in die Hüften. Mit dieser Geste konnte sie auch mutigere Männer zur sofortigen Flucht animieren. Und das ohne ein Wort zu sagen.

Normalerweise setzte dieses Hände-in-die-Hüften-Stemmen bei ihr noch zusätzliches Aggressionspotential frei. Herr Wunderlich wusste aus Erfahrung, dass es danach erst richtig los ging.

Dieses Mal jedoch wirkte es besänftigend, weil sie feststellte, dass seit dem letzten Mal die Hüften deutlich schmaler geworden waren. Ha!

Herr Wunderlich ahnte nichts von dieser ungewöhnlichen Entwicklung und war auf Deeskalation bedacht. »Ich … ich kann das natürlich auch verschieben.«

Emily verfolgte die Geschehnisse gespannt. Das hier war noch besser als Kino.

Frau Wunderlich kam jetzt in Fahrt.

»Wir könnten am Montag auch gleich noch ein paar neue Sachen für dich kaufen. Nachher sehen wir mal in deinem Schrank nach, was alles nicht mehr passt.«

Emily erschrak. Im Kleiderschrank war Ken gerade damit beschäftigt, sich wohnlich einzurichten. »Äh, also…, besser nicht. Ich fühle mich nicht so gut und würde mich lieber ein bisschen hinlegen.«

»Du wirst doch nicht krank werden?« Besorgt fühlte Frau Wunderlich an Emilys Stirn.

Ihr Lehrerradar erkannte Simulanten normalerweise sofort, doch rosarote Glückshormone umnebelten alle entsprechend geschulten Sinne. Darüber hinaus sprach es für sich, wenn sich ein Kind an einem sonnigen Tag freiwillig hinlegte, obwohl kein Unterricht drohte.

Herr Wunderlich kaute missmutig auf seinem Vollkorntoast herum, der nach Pappe schmeckte. Wenn er sich mal unwohl fühlte, schnauzte seine Frau ihn an, er soll sich nicht so gehen lassen. Die Ungerechtigkeit der Welt gegenüber verheirateten Männern machte ihn sprachlos. Doch das fiel nicht weiter auf, da es sowieso niemanden interessierte, ob er etwas zu sagen hatte.

***

Auch andere Leute hatten Sorgen mit ihrem Frühstück. Verwirrt musterten die Zwerge ihre Teller.

Das, was sich darauf befand, sah zweifellos interessant aus. Aber jemand hatte die Wurst vergessen. Und den gebrutzelten Schinken.

Diese Dinge gehörten zur elementaren Grundausstattung eines ordentlichen Frühstücks. Ansonsten konnte man auch gleich wieder zu Bett gehen, da man den Anforderungen des Tages nicht gewachsen war.

»Was genau ist das?« fragte Humbert schließlich in Richtung der Heinzelmännchen.

»Verschiedene pflanzliche Brotaufstriche …«

»Pflanzlich?«

»Ja. Aus Gemüse und Kräutern und so.«

Verflixt und ausgesperrt!

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