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Die Erweckung

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Eva lag im Dunkeln auf ihrem Bett und stieß einen tiefen Seufzer aus. Aus irgendeinem Grund war es ein wirklich mieser Tag gewesen; alles war schiefgegangen, und jetzt war sie auch noch in ihr Zimmer verbannt worden, weil sie sich mit ihrem Bruder gerauft hatte. Wütend und frustriert schleuderte sie ihr Kissen gegen die Tür und vergrub den Kopf in der Bettdecke. Draußen auf dem Treppenabsatz hörte sie ihre Mutter mit ihrem Bruder sprechen, der sich jammernd beklagte.

Sie rollte sich auf die Seite, das durch das Schlafzimmerfenster hereinströmende helle silbrige Licht zog sie an. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und das Gemurmel von Fernseher und Familie war weit, weit weg. Eva kletterte langsam aus dem Bett und durchquerte das Zimmer, das ihr in all diesem silbrigen Licht gar nicht mehr vertraut vorkam. Am Fenster kniete sie sich auf einen alten, mit einem Haufen abgelegter Kleider belegten Stuhl, entriegelte das Fenster und lehnte sich in die Nacht hinaus, die nun warm und voller Magie war. Eine sanfte Brise spielte mit ihren Haarspitzen. Selbst die Stadt war von einer seltsamen Heiterkeit, und der Lärm des Nachtverkehrs war zu einem gedämpften Hintergrunddröhnen herabgesunken. Ihr Fenster blickte nach Süden, und Eva hatte von hier aus eine gute Aussicht über die Dächer.

Direkt vor ihr schien in einem tief dunkelblauen Himmel der Vollmond zu hängen, begleitet von einem einzigen Stern. Still sprach Eva einen Wunsch aus. Der über der pulsierenden Stadt schwebende Mond hatte etwas Seltsames an sich, und Eva fühlte, wie seine Magie sich ihrer bemächtigte und sie sanft in ihrem innersten Herzen berührte. Ihr Körper schien zu zerschmelzen und sich in einem Fluss mit dem Mondlicht und der Erde unter ihr zu vereinen, und sie wusste, dass derselbe Mond schon Millionen von Jahren über diesem Ort geschienen hatte. In diesem plötzlichen Erkennen wurde die Zeit sichtbar, ein schimmernder silberner Faden, der sich von Eva weg in das Dunkel der Vergangenheit spann. Die Füße in der Erde verwurzelt, wurde sie in ihrem Gewahrsein von der Zeit berührt, und eine Stadt aus früher Zeit entfaltete sich vor ihrem Blick, in der Feuer von den Bomben des Krieges loderten. Und wieder wurde sie von der Zeit berührt, und eine zwischen zwei Flüssen gelegene kleine Siedlung wurde von Eindringlingen angegriffen, die mit ihren Schiffen am kiesigen Ufer vor Anker gegangen waren.

In rascher Folge wechselten die Bilder; eine kleine Menschengruppe, die einen Graben mit Geweihschaufeln aushob; Wälder, die den Platz der Menschen einnahmen; Eis und Schnee, die in weißen Wellen das Land rein scheuerten. Wälder, Flüsse, Ozeane und Wüsten erstanden und vergingen, und immer schien darüber derselbe Mond. Land hob sich aus uranfänglichen Wassern, und für einen Moment erfasste dieser kleine Bewusstseinsfunke, der immer noch Eva war, das ungeheure Alter des Mondes und seine stille Begleitung all dessen, was gelebt hatte.

Aus dem Mittelpunkt der Schöpfung wirbelte die Zeit der Zukunft entgegen und nahm Evas Bewusstsein mit sich. Unter ihrem Blick tauchten im Vollmondlicht die ersten Landgeschöpfe aus ihren Geburtswassern auf. Eine Äffin saß hoch oben in den Zweigen eines Baumes und griff mit den Händen nach dem leuchtenden Gesicht des Mondes, und eine nackte und tätowierte Höhlenfrau saß kauernd und hob ihm ihr neugeborenes Kind entgegen. Eva sah, wie eine weiß gewandete Priesterin vor einem silbernen Spiegel Räucherwerk in eine golden schimmernde Schale streute, und ein kleines Mädchen mit dunklem Haar beugte sich aus dem Fenster und blickte zum Mond hinauf.

Noch immer in die Schleier des silbrigen Lichts gehüllt spürte Eva, wie sich die zarten Ranken der Zeit von ihrem Bewusstsein lösten, aber der Faden des Lebens, der sie mit den anderen Mondbetrachterinnen verband, blieb. Sie war mit all diesen Frauen verwandt, Teil einer Schwesternschaft, die vom Mond berührt worden war, und viele hatten auf diese Berührung geantwortet. Mochten sich auch überall auf der Welt Land, Sprache und Kultur voneinander unterscheiden, so blickten sie doch alle zu demselben Mond hinauf, waren sie alle durch sein Licht und seine Gezeiten miteinander verbunden.

Eva empfand sich in dieser Vision vom Mond und dem Wandel der Zeiten als klein und unbedeutend, aber auch als Teil von etwas Besonderem, das über ihr Alltagsleben hinausging. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie den Mond berühren: »Begleiter der Frauen, wache über mich!«, flüsterte sie leise. Sie war sich nicht sicher, warum sie es sagte, verspürte aber ein merkwürdiges Bedürfnis, dieser plötzlichen Verbindung mit dem Mond, die sie in sich fühlte, Ausdruck zu geben. Sie hörte ihre Eltern, gleichsam wie in einer anderen Welt, den Fernseher ausschalten und sah, wie die Lichter im Haus verlöschten. Obwohl sie den Wunsch hatte, die ganze Nacht mit dem Mond aufzubleiben, machte sich doch eine Schläfrigkeit am Rande ihres Bewusstseins bemerkbar, und widerstrebend kehrte sie in ihr Bett zurück. In die Bettdecke eingehüllt, sah sie dem Mond zu, bis ihre Augenlider so schwer wurden, dass sie die Augen nicht länger offen halten konnte.


Furcht durchdrang stoßweise ihr schlafendes Bewusstsein. Etwas Böses jagte ihr im Dunkeln nach. Eva rannte blind durch dunkle Gebilde, Entsetzen stieg in ihr hoch, ein Schrei bildete sich in ihrer Kehle, den sie nicht auszustoßen vermochte. Sie wusste nicht, wovor sie wegrannte, sie wusste nicht, ob es eine Gestalt hatte, ob es ein Gespenst oder ein Geist war, aber sie wusste, dass diese Angst aus dem Innersten ihres Wesens kam. Äste und Zweige zerkratzten ihr Gesicht und Hände, während sie sich durch ein verfilztes Walddickicht kämpfte. Es kam näher. Eva fühlte, wie ihr diese abscheuliche Präsenz nachsetzte.

Der durchdringende Ton eines Jagdhorns durchstieß die schweigende Nacht, und für einen Moment hielt Eva inne, rang keuchend nach Atem, unsicher, in welche Richtung sie rennen sollte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten rasch auf sie zukommen. »Zu spät!«, schrie sie innerlich auf, als sie sich mit einer Kehrtwendung ins Unterholz stürzte. Dornen rissen an ihren Kleidern und zerkratzten ihre Beine, als sie sich mühsam ihren Weg bahnte. In wilder Panik warf sie einen Blick zurück und glaubte zu erkennen, wie sich noch zwei weitere grässliche Schatten dem ersten zugesellten. Verzweifelt schlug sie gegen das Gebüsch; aber je stärker sie sich durchzuzwängen bemühte, desto enger hielt sie das Dornengestrüpp fest. Sie saß in der Falle, und das Entsetzen brach durch. Wimmernd kauerte sie sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Inbrünstig betete sie darum, dass sie sie nicht fänden, aber kurz durch die Finger blinzelnd sah sie, dass sie sich zielstrebig auf sie zubewegten. Sie kniff die Augen noch fester zusammen und schluchzte.

Plötzlich schien ein glänzend weißes Licht vor ihr aufzustrahlen, das sie als brennend roten Schein hinter ihren geschlossenen Augenlidern wahrnahm. Sie riss entsetzt die Augen auf und sah die geisthafte Gestalt einer Frau inmitten dieses Lichts, die sich den Schatten zuzuwenden schien. Die Frau hob die Arme und rief einen einzigen Befehl, der die schrecklichen Schatten geduckt ins Dunkel zurückschleichen ließ. Die Frau neigte den Kopf, als lausche sie auf etwas, und Eva vernahm den fernen Klang des Jagdhorns, das weit weg nun zum Rückzug blies. Schließlich wandte sich die Frau Eva zu, während ihre schimmernde Aura langsam verblasste und sie nun groß und hell unter dem silbernen Licht des Vollmonds stand. In Eva trat Verwunderung an die Stelle von Furcht. Behutsam machte sie sich von den Dornen los und streckte ihre Finger aus, um die ausgestreckte Hand der Herrin des Mondes zu berühren.

Die Herrin des Mondes lächelte: »Willkommen, Kind.« Und es schien, als hallte das Echo der Stimmen von Millionen von Frauen in Evas Seele wider. Sie glaubte, nie zuvor eine so schöne Frau gesehen zu haben, eine so geschmeidige silberweiße Haut und Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Sie trug ein langes, blassblaues Gewand und einen Überwurf um die Schultern, der von einer ziselierten Silberbrosche zusammengehalten wurde. Ihr langes Haar hing hell und lose den Rücken herab, und ein einfaches Stirnband schlang sich um ihre Stirn. Eva fühlte sich in ihrer Gegenwart sicher, und ein Gefühl überkam sie, dass sie diese Dame schon ihr Leben lang kannte. Die Herrin des Mondes führte Eva aus dem Unterholz heraus, und sie wanderten unter silberüberströmten Bäumen, als die Dame mit der sanften, musikalischen Stimme eines klaren sprudelnden Quells zu sprechen begann.


»Das ist eine ganz besondere Nacht für dich. Das Rad des Lebens dreht sich nun vom Kindsein weiter zum Frausein. Meine Schwestern und ich werden dich durch diese Nacht führen, und obgleich du vielleicht nicht alles, was du siehst und fühlst, während du zu einer Frau wirst, verstehen wirst, wirst du doch wenigstens anfangen zu verstehen.

Wenn du ein Kind bist, fließen deine Energien auf lineare Weise. Sie fließen ständig auf ein einziges Ziel zu, und dieses Ziel ist, geistig und physisch von einem kleinen Kind zur Erwachsenen heranzuwachsen. Auf diesem Weg verändern sich auch die Energien vom Linearen zum Zyklischen. Dann folgen deine Energien einem Rhythmus, der sich einmal im Monat wiederholt. Dieser Rhythmus wird für dich seine ganz persönliche Färbung annehmen. Ich bin hier, um dir zu helfen, dass du zu einem Bewusstsein darüber gelangen und diese verschiedenen Energien erspüren kannst.«

Ihr Spaziergang hatte sie zu einer kleinen Waldlichtung geführt, und als Eva zum Mond hinaufsah, nahm ihr das Entzücken über den Anblick der Myriaden diamantener, auf den Wellen der Nacht tanzender Sterne fast den Atem. Für einen Moment tat sich der Himmel in seiner Tiefe auf, und sie blickte weit in die grenzenlose Unermesslichkeit des Universums hinein.

»Als Frau bist du mit den kleinen und großen Rhythmen und Pulsschlägen des Universums verbunden.« Die Worte der Herrin des Mondes fielen als Flüstern in die ungeheure Weite des Raumes. »Seit unendlich langer Zeit, Generationen um Generationen, waren Frauen das Bindeglied zwischen Mensch und Universum. Mit der ersten Menstruation nahmen die Äffinnen eine andere Entwicklung als der Rest des Tierreiches, und jede Blutung wurde zu einer mit den Rhythmen des Kosmos übereinklingenden Uhr.«

Die Worte zupften an Evas Seele und weckten in ihr die Sehnsucht, den Begrenzungen des Körpers zu entfliehen und sich mit dem Wandel der Sterne zu vereinen. Ein Schauer durchbebte ihr Rückgrat, und wie Wellen sich in einem Teich ausbreiten, erzitterte die Szenerie vor ihren Augen und verwandelte sich.


Eva fand sich in einem riesigen dunklen runden Raum wieder, dessen Boden mit weißen und schwarzen Kacheln ausgelegt war. Im Zentrum des Raumes standen drei Dreifüße aus schwerer Bronze mit Schalen, aus denen Flammen schlugen, und ihr schummriges flackerndes Licht umgaben und erhellten eine sitzende Gestalt, das Gesicht von Eva abgewandt. Eva ging auf die Frau zu und merkte, dass die Herrin des Mondes ihr folgte.

Auf einem massiven holzgeschnitzten Thron saß eine Frau von unbeschreiblicher Schönheit. Sie war in ein Gewand von fließender Seide gehüllt, ihr feines langes Haar fiel locker bis zum Boden herab und schien dort über und zwischen den Kacheln weiterzuwachsen. Zunächst sah es so aus, als sei sie von Kopf bis Fuß in den feinsten silbrigen Schleier gehüllt, bestickt mit zahlreichen schimmernden Juwelen. Bei näherer Betrachtung konnte Eva aber erkennen, dass diese Edelsteine in Wirklichkeit winzige Spinnen waren, die geschäftig an dem Schleier woben. Das Gesicht der Dame war still und heiter, und sie blickte in eine aus Silber geschmiedete, mit kristallklarem Wasser gefüllte Schale, die sie auf ihrem Schoß hielt. Eine tiefe Stille umgab sie, so als sei sie selbst zeitlos. Ihre Hände ruhten sanft auf dem Rand der Schale, und aus einem Schnitt an einer ihrer Fingerspitzen quoll ein kleiner hellroter Blutstropfen hervor. Eva sah zu, wie dieser Blutstropfen ins Wasser fiel, das sich sofort rot verfärbte.

»Wer ist sie?«, fragte Eva.

»Sie ist die Bewahrerin des Maßes«, antwortete die Herrin des Mondes. »Jeder Tropfen Blut ist ein Neumond und jede Träne ein Vollmond.«

Unter den langen Augenwimpern der Dame sammelte sich eine einzige Träne, löste sich und rann ihre Wange hinab.

»Wie lange ist sie schon hier?«

»Seit das erste weibliche Wesen zu bluten anfing. In aller Zeit sitzt sie hier an diesem Ort, zählt die Rhythmen des Mondes und bemisst den Zyklus der Frauen. Frauen haben eine andere Zeit als Männer. Männer folgen der Sonne, während wir dem Muster des Mondes folgen. Von den Frauen kam das erste Zeitmaß.«

Die Herrin des Mondes ergriff Evas Hand und führte sie durch eine Eichentür hinaus. Draußen war der Wald durch das Licht des Vollmondes erhellt, und Eva sah, als sie sich umwandte, dass sie eine große runde Hütte mit einem kegelförmigen strohgedeckten Dach, das wie ein Hügel hoch in die Nacht hinaufragte, verlassen hatten. Die Herrin des Mondes schloss die Tür, bückte sich und pflückte eine Rose von einem Busch neben dem Türrahmen. Sie reichte sie Eva hin.

»Ein Geschenk von der Bewahrerin des Maßes.«

Die Rose erstrahlte im Mondlicht in reinem Weiß, aber als Eva sie am Stiel hielt, verfärbte sie sich in ihrer Mitte rot, und nach und nach breitete sich die Farbe über alle Blütenblätter aus. Rhythmisch wechselte die Blume immer wieder von Rot zu Weiß zu Rot. Fragend blickte Eva auf und bemerkte, dass der Mond sich inzwischen verändert hatte. Es war Vollmond gewesen, doch jetzt sah sie einen abnehmenden Mond. Und nun wurde er zum dunklen Neumond, und dann erschien die Sichel des zunehmenden Mondes. Immer schneller durchlief der Mond alle seine Phasen, und ebenso wechselte die Blume in Evas Hand zyklisch ihre Farbe. Manchmal stand die weiße Rose in Übereinklang mit dem Vollmond und manchmal die rote. Eva verfolgte dieses Muster und bemerkte, dass der Zyklus der Blume zwischen Vollmond und Neumond hin- und herpendelte.

Sie berührte mit dem Finger sanft die pulsierende Blume, und plötzlich wurden aus den weißen Blütenblättern blütenweiche Federn, die sich in die Lüfte erhoben. Überrascht lachte Eva auf, als eine weiße Taube hoch in den dunklen Himmel aufstieg.

»Solange du im gebärfähigen Alter bist, wird dein Rhythmus dein Begleiter sein. Manchmal wird er mit dem Mondzyklus übereinstimmen, manchmal wird er länger, manchmal kürzer sein. Du wirst bei Vollmond bluten und vielleicht zuweilen bei Neumond. Alles das ist natürlich. Du bist dein eigener Rhythmus und es ist dein eigener Zyklus, den du verstehen und akzeptieren musst. Alle Frauen sind durch die Geschichte hindurch über die Rhythmen des Mondes miteinander verbunden.« Wieder fühlte Eva diese Schwesternschaft mit den Frauen prähistorischer Zeiten und ihrer Verbindung zum Mond, die sie in ihrem eigenen Körper trug.

»Wozu brauchen wir Uhren«, dachte sie, »wenn wir mit den Rhythmen und Mustern der Erde und des Universums verwoben sind?«

Sie verspürte einen Schmerz in ihrem Finger. Sie hatte sich an einem Dorn gestochen, und ein kleiner hellroter Blutstropfen quoll hervor. Die Herrin des Mondes nahm ihre Hand und tupfte mit einem weißen Taschentuch das Blut sorgsam weg. Sie nahm die Rose mit dem dornigen Stängel und umwickelte ihn behutsam mit dem blutigen Taschentuch. Dann küsste sie Eva sanft auf die Wange und lächelte.

»Du wirst noch mehreren meiner Schwestern begegnen, aber erst musst du dich ausruhen.«

Eva wollte schon protestieren und erklären, dass sie gar nicht müde sei, als sie von einer Welle der Lethargie überströmt wurde und sie sich des Gähnens nicht mehr erwehren konnte. Noch immer lächelnd führte sie die Herrin des Mondes zu einem moosbewachsenen Fleck am Fuße einer riesigen Eiche. Eva rollte sich zwischen den Wurzeln zusammen, gab der plötzlichen Müdigkeit nach und ließ zu, dass sich ihre Augen langsam schlossen, wobei sie noch einen Moment innehielt, um die das Mondlicht spiegelnden Brombeerblüten zu betrachten.

Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Eva setzte sich auf und gähnte. Sie fühlte sich erfrischt und glücklich. Sie lehnte sich gegen den Fuß einer hohen Zypresse, die auf einem sandig-goldfarbenen Fels wuchs. Um sie herum erstreckte sich ein mit Pinien, Birken, Zypressen und Olivenbäumen bestandenes Gelände, und in der Ferne konnte sie ein Stückchen tiefblaues Meer erkennen. Eine Hand umfasste plötzlich die ihre, zog Eva hoch und veranlasste sie zu einem leichten Laufschritt. Die Hand gehörte einem griechischen Mädchen, nicht viel älter als sie selbst. Sein lockiges Haar hatte es mit einem Tuch hochgebunden. Seine Haut war rein und glatt, und es hatte schön geformte Gesichtszüge. Es trug eine kurze Tunika aus einem weichen Stoff, die von goldenen Zickzackbändern über der Brust zusammengehalten wurde, und weiche Ledersandalen mit kniehoch geschnürten Riemen. In der anderen Hand hielt es einen kleinen silbernen Bogen, und um seine Schultern schlang sich ein lederner Köcher.

Schließlich wach geworden, passte Eva sich der raschen Gangart des Mädchens an und genoss die Schönheit dieser freien Bewegungen. Als sie so im Sonnenschein dahinrannten, merkte Eva, dass sie nicht ohne Begleitung waren. Aus den Augenwinkeln nahm sie die rennenden Gestalten eines Rehs und eines Hirschs, eines Hasen, einer Wildziege und einer Bärin wahr. Plötzlich brach eine Löwin aus ihrem Versteck hervor, und schloss sich, sich ihrer Geschwindigkeit anpassend, ihrem Lauf durch die Wälder an. Im gesprenkelten Sonnenlicht wurde das lohfarbene Tier zu einem Strahl flüssigen Lichts und in seinen Augen brannte ein goldenes Feuer.

Eva hatte das Gefühl, ewig so dahinrennen zu können, aber schließlich tauchten sie aus den Bäumen auf und kamen an einem grasbedeckten Abhang zum Stehen, der sich in eine staubfarbene Ebene hinabsenkte. Im Hitzeschleier konnte sie eine kleine, das gleißende Sonnenlicht widerspiegelnde Bucht erkennen. Müde, aber nicht erschöpft, setzte sie sich nieder und streckte die Beine aus. Das Mädchen schloss sich ihr an, und die Löwin ließ sich anmutig zu ihren Füßen nieder.

»Ich bin Artemis, die Herrin des Schimmernden Bogens«, sagte das Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich bin eine der Jungfrauengöttinnen.«

Eva sah, dass sie an einem ledernen Halsband einen kleinen geschnitzten Phallus trug.

»Über Jungfrauengöttinnen ist viel geschrieben worden, und viele Erwartungen haben sich mit der Jungfräulichkeit verbunden.« Sie hielt inne, beugte sich herüber und berührte Evas Bauch. »Du bist eine Jungfrau im modernen Sinn des Wortes, während ich eine Jungfrau in einem älteren Sinn bin. Ich bin eine Frau, die nur sich selbst gehört. Ich bin eigenständig, unabhängig und selbstbewusst. Ich feiere das Leben in meinen Handlungen; ich bin ein in mir geeintes vollständiges Wesen. Ich repräsentiere die Zeit, bevor das Ei in den Zyklus entlassen wird. Ich bin nicht gebärfähig und der Schöpfung von Leben nicht anheimgegeben. Ich bin ich selbst, und meine Energien gehören mir.«

Artemis berührte den Phallus an ihrem Halsband und grinste. »Ich bin keine Anhängerin des Zölibats. Ich genieße die Sexualität meines Körpers und bin vollständig, ohne das Bedürfnis nach einer Ehe oder einem Kind zu haben.«

Sie standen auf und machten sich auf den Weg zurück zu den Bäumen.

»Jeden Monat wirst du eine Phase der Wiedergeburt durchlaufen. Nach deiner Blutung wirst du gleichsam wieder jungfräulich. Im alten Griechenland gab es Zeremonien, bei denen die Frauen am Ende ihrer Mondblutung ihr blutiges Leinen wuschen und ihre Wiedergeburt als vollständige und ganzheitliche Frau feierten. Das ist die Zeit, in der du deine Gedanken sammeln, klare Entscheidungen treffen und danach handeln sollst. Du bist voller Selbstvertrauen, bist dir deiner selbst gewiss, dir deines Körpers und seiner Bedürfnisse bewusst. Manche Männer empfinden diese Phase als Bedrohung und betrachten diese Eigenschaften als ›männlich‹, aber sie sind ebenso Teil des Weiblichseins wie die Fürsorglichkeit und das Umsorgen. Sie sind ein Geschenk. Nutze sie gut.«

Eva fühlte es in ihrem Bauch warm werden, während Artemis sprach. Ein Feuer durchlief ihren Körper und weckte in ihr das Bedürfnis, wieder loszurennen. Aber sie hielt inne. »Was geschieht, wenn du älter bist und keinen Zyklus mehr hast?«, fragte sie.

»Dann wirst du wieder wie eine Jungfrau. Das ist die Zeit, in der die Frau ihr Leben betrachten und, wenn sie es nicht schon getan hat, ihren inneren Weg akzeptieren und gehen soll. Ich bin nicht diejenige, die dich dies schon zu lehren hat. Es gibt noch viele Dinge, die du lernen musst, bevor du dieses Lebensstadium erreichst.«

Sie gingen noch ein Weilchen in einträchtigem Schweigen nebeneinander her, aber als Eva sich wieder an die Göttin wenden wollte, fand sie sich allein. Sie blickte sich um und stellte fest, dass nicht nur die Göttin, sondern auch die Wälder und Hügel verschwunden waren. Sie stand nun zwischen den regelmäßigen und gutgepflegten Baumreihen eines Olivenhains. Die Bäume säumten den Rand einer Klippe, und Eva sah, wie das tiefe Blau des Meeres gegen die weißen Felsen anbrandete. Unter den Bäumen kam langsam eine Frau auf sie zu. Eva fragte sich, ob sie wohl eine weitere Schwester der Herrin des Mondes war, und musterte sie sorgfältig.

Die Frau war groß gewachsen und elegant, hatte ausdrucksstarke Gesichtszüge und durchdringende, intelligente Augen. Ihr Haar war zurückgekämmt und mit goldenen Haarnadeln festgesteckt. Im Gegensatz zum weichen Stoffgewand von Artemis trug sie einen Stufenrock aus weißem Leinen und feinem goldenem Tuch, gestärkt durch verschlungene Stickereien und am Rande mit Quasten versehen. Über der Schulter trug sie ein schneeweißes Ziegenfell, das von zwei schlangenköpfigen Spangen zusammengehalten wurde. Auf dieses glatte Fell war ein rotgoldenes Antlitz mit Schlangenhaaren eingestickt, und der Rand war mit goldenen Schlangen verziert. In der rechten Hand trug sie einen langen Speer mit einer bronzenen Spitze, und ihre Füße steckten in einfachen geflochtenen Sandalen.

Die Hitze der Mittagssonne sandte Wellen durch die Luft, und die glanzvolle Dame lud Eva ein, sich zu ihr in den willkommenen Schatten eines kleinen Olivenhains zu gesellen. Unter dem Baum standen ein einfacher Altar und ein steinerner Sitz. Die Dame setzte sich und bedeutete Eva, sich auf dem Boden zu ihren Füßen niederzulassen. Einen Moment lang hielt ihr intensiver Blick Eva in seinem Bann, dann begann sie zu sprechen.

»Ich bin Athene, die ewig jungfräuliche Göttin, das Feuer, das die Weisheit der Frauen erschafft.« Athene nahm Evas Hand.


»Die schöpferischen Energien deines Zyklus sind nicht nur zum Gebären von Kindern da, sondern auch für die Geburt von geistigen Kindern.« Sie berührte Evas Stirn. »Du bringst den Funken des Lebens hervor, du trägst ihn in deinem Körper, nährst ihn und lässt ihn wachsen, bis du ihn zur Welt bringst. Kinder treten aus dem Mutterschoß in diese Welt ein, geistige Kinder gelangen durch deinen Körper, deine Hände und Füße, deine Stimme in diese Welt.« Sie küsste Evas Hände, als wollte sie ihr ihre Ehrerbietung erweisen. »Eine Frau, die keine Kinder hat, ist keine unvollständige oder unnatürliche Frau, ihre Kinder sind ihre Ideen, die sie in sich trägt, und sie gebärt sie durch die Form, die sie ihnen in der materiellen Welt verleiht.«

»Woher kommen diese geistigen Kinder?«, fragte Eva verwirrt.

»Deine Sexualität weckt die Energien, die die Samen der Inspiration säen. Der sexuelle Akt kann sowohl physische wie auch geistige Kinder erschaffen und das Feuer sein, das die Malerin, Dichterin, Musikerin, Seherin zu ihrem Schaffen drängt. Der sexuelle Akt ist etwas Heiliges, er bringt das Göttliche in die Welt.«

Eva spürte, wie ihre Finger danach verlangten, etwas zu erschaffen, wie sie warm wurden und zu pulsieren anfingen. »Wie sehen diese geistigen Kinder aus?«, fragte sie.

»Geistige Kinder können jede Form annehmen. Es spielt keine Rolle, wie du den Ideen Ausdruck verleihst oder was du oder andere Menschen von diesem fertigen Kind halten. Die Formung, der Werdensprozess des Kindes ist wichtig, nicht das Kind an sich. Das ist wie bei einem physischen Kind. Deinem Herzen, deinem Innersten wird Gestalt verliehen, und manchmal kann sich die Meinung anderer Leute wie ein Angriff auf deine Seele anfühlen, doch dem Kind muss erlaubt sein, in der materiellen Welt auf seine eigene Weise zu wachsen. Das Erschaffen kann wie eine Meditation oder ein Gebet sein. Im Schöpfungsakt, nicht im Erschaffenen spiegelt sich das Göttliche. Anders als bei den Tieren ist die Sexualität der Frauen nicht nur einfach mit dem Erschaffen der Kinder verknüpft, sondern ihre Energien werden durch ihren menstruellen Zyklus während des ganzen Monats freigesetzt. Das ist die Weisheit der Frauen. Aus dieser Weisheit entsteht die Fähigkeit, das Leben immer wieder zu verbessern, strukturierende Beziehungen und Gemeinschaften aufzubauen und die Beziehung zwischen der Menschheit und der Natur zum Ausdruck zu bringen.«

Athene beugte sich hinunter und hob eine Münze auf, die verloren im Staub vor dem Altar lag. Sie reichte sie Eva, die den Dreck abkratzte, um sie zu betrachten. Die Münze war klein, massiv und aus mattem Silber. Auf der einen Seite war das Bild einer Eule eingeprägt, auf der anderen ein Bild der Göttin im Helm, der mit einem Pferdeschwanz versehen war.

»Die Münze symbolisiert die Energien und Mächte, über die ich verfüge«, sagte Athene.

Eva sah verdutzt hoch. »Aber ich dachte, Geld sei von Übel und der Grund für alle Probleme in dieser Welt.«

Athene lachte. »Was brauchst du, damit eine Münze existieren kann?« fragte sie. »Du brauchst eine kunstfertige Person, deren Geist und Hände geschickt genug sind, um einen Gegenstand von solcher Schönheit herzustellen.«

Sie nahm die Münze und hielt sie hoch. »Die Münze braucht käufliche Dinge, also erschaffen die Menschen aus ihrem Geist heraus Gegenstände, die schön und praktisch sind. Die Münze braucht einen Wert, also erschaffen die Menschen unter sich eine Struktur dafür. Mit der Münze entstehen Verteilung und Handel, und wo sich Güter und Münze begegnen, da entwickeln sich Märkte. Aus den Märkten entstehen Gemeinden, und daraus entwickeln sich Städte und Reiche mit Strukturen, Gesetzen und Möglichkeiten des Lernens und der Zusammenarbeit. Die Münze ist ein Symbol für die Fähigkeit, in das Leben Ordnung zu bringen, Strukturen zu erschaffen und Instinkte und Energien zu kanalisieren. Sie ist ein Symbol der Zivilisation.« Die Münze blinkte im Sonnenlicht. »Die Münze ist nichts Böses, und meine Energien sind es auch nicht. Inspiration, Klarheit des Geistes und Organisation sind Energien, zu denen alle Frauen durch ihren menstruellen Zyklus Zugang haben.«

Wieder blitzte die Münze auf, und diesmal sah Eva auf die Stadt des alten Athen hinab. Sie entdeckte die Energiewellen der Göttin in den verschlungenen Mustern, die eine Töpferin einer Amphore aufmalte, in der Kunstfertigkeit eines Goldschmieds, der an einem edelsteinbesetzten Pokal arbeitete, in der Geschicklichkeit eines Webers, der an einer Straßenecke mit einem Händler verhandelte, und in der Urteilskraft und Ratgebung, die in Gerichtsräumen des Regierungssitzes zur Anwendung kamen. Als Eva aufblickte, erhob sich die Gestalt der Athene hoch in den Himmel, überragte die Stadt. In der rechten Hand hielt sie einen Speer, in der linken einen riesigen goldenen Schild, und ein glänzender goldener Helm zierte ihr Haupt. Im Licht der untergehenden Sonne verwandelte sich Athenes Haut in strahlendes Licht, und zu ihren Füßen wuchs ein dunkelgrüner Olivenbaum aus dem kahlen weißen Fels, auf dem sie stand. Die Göttin richtete ihren Blick aus eulengleichen Augen auf Eva, die wie gebannt dastand, bog sich ein wenig nach hinten, die Muskeln ihres machtvollen Armes spannten sich, und mit ungeheurer Kraft schleuderte sie ihren Speer. Ein feuriger Kometenstrahl schoss über den Himmel auf Eva zu.

Eva spürte, wie dieses Licht sie brausend erfasste, und überall um sie herum aus der Luft wirbelnde Blätter spann. In diesem Licht sah sie die ersten Siedlungen aus dem Staub erstehen, aufblühen und gedeihen und das Universum sich in den ersten Kunstformen spiegeln. Das Licht flackerte, und sie sah die Ordnung der Gesellschaft, den Webstuhl und das Gewebe der Gesetze, Lehren, Beurteilungen und Künste. Die Stadt pulsierte vor Begeisterung, in ihr loderte die Energie der Göttin. Eva spürte, wie die Gegenwart dieser Energie weiß und rein aus dem Dunkel in ihrem Innern aufstieg. Vertrauensvoll ließ sie ihre Zweifel und Ängste fahren und öffnete sich voll und ganz dieser Macht. Einen Augenblick lang fühlte sie sich aufgehoben in der Schwebe der Zeit, und dann kehrte die Welt zurück in einem Bombardement scharf umrissener Einzelheiten und leuchtender Farben. Jede Gestalt, jeder Stoff, jeder Ton und jede Form sandte Wellen von Ideen, Verbindungen und Mustern aus, die lawinengleich ihr Bewusstsein durchrauschten, bis sie in einer Kaskade von Dichtung und Weissagung ihren Lippen entströmten. So plötzlich, wie sie dahergekommen war, endete die Lawine, und Eva fühlte sich bis auf den Grund leer und erschöpft, das Feuer in ihr war erloschen, doch im Inneren spürte sie Frieden, vor ihr der noch bebende Speer, der sich in die Erde gebohrt hatte.

Nach einer kurzen Erholungspause stand Eva langsam auf. Doch als sie nach dem Speer greifen wollte, wurden sowohl sie wie auch Athenes Waffe von machtvollen Armen gepackt und samt und sonders hinten in einen dahinrasenden, weidengeflochtenen Streitwagen verfrachtet. Rötlich glänzendes hüftlanges Haar wehte vom Haupt der Wagenlenkerin, die die beiden Pferde zu noch rascherer Gangart antrieb. Angstvoll und entzückt zugleich bestaunte Eva die Geschicklichkeit und Stärke dieser Frau, die da groß und stolz im dahinstürmenden Wagen stand und mühelos ihr Gleichgewicht hielt. Sie trug eine aus vielen Farben gewebte Tunika und einen wild flatternden Schulterumhang, den eine große Spange zusammenhielt. Um ihren Hals trug sie einen riesigen Torques aus gedrehten Goldfäden, der im Sonnenlicht glänzte. Ihre Haut war bronzefarben, und in ihren Augen sprühte ein Feuer. Ihre Hände, die die Zügel mit wohl bemessener Stärke hielten, waren rau und wettergegerbt. Unter den Hufen der Pferde blitzte die Landschaft auf; den einen Augenblick flogen sie über braune Ebenen dahin, den nächsten durcheilten sie das gesprenkelte Grün eines Eichenwaldes. Die Geschwindigkeit zerrte an Evas Haar, aus ihrer Kehle löste sich ein Schrei der Begeisterung. Sie fühlte sich stärker als jemals zuvor, ihr Verstand war scharf und hell, und die Kraft, die sie durchströmte, gab ihr das Gefühl, alles erreichen zu können. Sie war frei, unabhängig, eine Löwin mit der Kraft zu kämpfen und zu beschützen.

Gerade als Eva glaubte, vor Erregung platzen zu müssen, verlangsamte die Frau die Fahrt und ließ die Pferde in sanftem Gang durch den Schatten eines Waldes trotten. Es umgab sie eine Atmosphäre kühler, grüner Stille, aber die Erregung und Begeisterung sang noch immer in Evas Blut. Lachend hob die Frau sie aus dem Wagen und setzte sie im Gras ab.

»Ich heiße Boadicea, ich bin die Königin der Iceni«, sagte sie mit tiefer und kraftvoller Stimme. »Ich kämpfe, um zu beschützen und zu dienen, nie um zu zerstören. Ich bin der wahre Sieg, die Gebieterin des Friedens. Ich setze mich für andere und deren Anliegen ein und erhalte dieses Engagement aufrecht.«

Die Königin stieg von ihrem Wagen und schritt auf eines ihrer Pferde zu. Sie überprüfte das Zaumzeug und sagte: »In keltischen Zeiten wurde die Frau respektiert. Sie hatte ihr eigenes Land und ihre eigene Macht und wurde für ihre Urteilskraft und das, was sie in die Gemeinschaft einbringen konnte, geachtet. Es waren die Frauen, die ihre Krieger in Aktion treten ließen, und es waren auch die Frauen, die den Frieden aushandelten. Sie waren die Macht hinter ihrem Stamm und ihren Männern.« Liebevoll tätschelte sie den Hals des Pferdes.

»Du erfährst nun die Stärke des Frauseins, die ausstrahlende Dynamik der lichten Phasen, aber später wirst du den Verlust dieser Energie erfahren, wenn sie in Dunkelheit verwandelt wird. Blick nicht zurück, und sehne dich nicht nach dem Licht, denn sonst verpasst du die Geschenke der Dunkelheit. Schau in die Dunkelheit hinein, akzeptiere ihre Kräfte, und sieh das Licht, das aus ihr erwächst.«

Die Königin wandte sich um und sprang mit der Anmut eines Rehs auf ihren Wagen. Sie hob die Arme zu einem Lebewohl, ließ die Zügel gegen die Rücken der Pferde klatschen und hieß sie sich in Bewegung setzen. Der Wagen zischte in einem Aufblitzen des Sonnenlichts über den Wald dahin, bis er zu einem Lichtpunkt in der Ferne wurde. Eva winkte stürmisch, sah wie die kleine silhouettenhafte Gestalt der Königin sich umwandte und noch einmal winkte, bevor sie verschwand und das Tageslicht mit sich nahm. Eva blieb zurück, die Arme noch erhoben, ein Ruf auf ihren Lippen. Langsam ließ sie die Arme sinken und eine leichte Traurigkeit überkam sie; sie hatte Boadicea sehr gemocht.

Wieder einmal stand Eva im mondbeschienenen Wald, und neben ihr stand ruhig die Herrin des Mondes. Gemeinsam gingen die beiden nun schweigend weiter durch den Wald, bis sich in Eva die Energie der Fahrt mit Boadicea in ein intensives Gefühl der ruhigen Zuversicht, des Selbstvertrauens und der Harmonie verwandelt hatte.

Die Herrin des Mondes führte sie hinaus zu einer Lichtung, in deren Mitte ein wunderschöner Baum mit einem rosasilbrigen Stamm stand. Der Stamm teilte sich in zwei ausladende Äste mit Zweigen, an denen eine Fülle roter Früchte hing. Der Vollmond schien in seinen oberen Zweigen zu ruhen, und sein Licht spiegelte sich in einem Teich mit dunkelblauem Wasser, das die kleine Insel umgab, auf der der Baum wuchs. Verschlungene Wurzeln rankten sich aus dem Erdreich hinab ins Wasser des Teiches.

»Dies ist dein Baum des Schoßes«, sagte die Herrin des Mondes und berührte Evas Bauch knapp unter dem Nabel. Eva spürte, wie in Reaktion auf diese Berührung der Bereich um ihre Gebärmutter zunehmend warm wurde. Und ebenso reagierte auch der Baum des Schoßes darauf und glühte vor Energie. »Der Wasserteich ist dein Unterbewusstsein, und die Wurzeln des Baumes des Schoßes reichen weit hinunter in seine Tiefe. Dein Bewusstsein und dein Leib sind miteinander verbunden, und was sich in deinem Bewusstsein abspielt, spiegelt sich in deinem körperlichen Innern wider.«

Eva fühlte sich in Frieden und Harmonie mit dem Baum und zu ihm hingezogen. Sie ging zum Rand des Wassers, sah in die Zweige, wollte sie berühren. Die Blätter des Baumes, dessen Zweige über den Teich hinüberreichten, raschelten und flüsterten ihren Namen.

»Eva, Eva«, sagten sie, »pflück eine Frucht von deinem Baum.«

Sie langte zu einem Zweig hinauf, der tief über dem Wasser hing, doch dann stockte ihr der Atem, und sie zog rasch die Hand zurück. Zwischen den Blättern und Früchten lag zusammengerollt eine kleine goldgrüne Schlange. Sie hob ihren dreieckförmigen Kopf und zischte.


»Ich bin die Hüterin des Baumes.« Ihre kleinen Augen blinkten im Mondlicht wie Edelsteine. »Wenn du dir diese Frucht nimmst, wirst du zur Frau werden und alle Kräfte erben, die das Frausein mit sich bringt. Du wirst mit dem Zyklus des Mondes bluten; du wirst zyklisch werden, nie unveränderlich sein, dich immer mit den Phasen des Mondes wandeln. In deinem Körper werden die Kräfte der Schöpfung und der Zerstörung erwachsen, und intuitiv wirst du in dir ein Wissen über die inneren Mysterien bewahren. Dein Leben wird zu einem Weg zwischen zwei Welten, der inneren und der äußeren Welt, und jede wird Forderungen an dich stellen. Alle Gaben des Frauseins müssen akzeptiert und geachtet werden; wenn nicht, können sie dich zerstören.« Die Schlange entrollte sich. »Es ist nicht leicht, dieses Geschenk anzunehmen; es wäre sehr viel leichter, ein Kind zu bleiben.«

Eva hielt inne, reichte dann spontan hinauf und pflückte eine Frucht. Da schoss die Schlange, noch bevor Eva reagieren konnte, auf sie zu und glitt in ihren Körper hinein bis hinunter zu ihrem Bauch. Sie fühlte eine Wärme zwischen ihren Beinen, und ein Regenbogen an pulsierenden Energien quoll wie Wasser aus ihrer Vagina hervor. Diese Energien strömten aus ihrem Körper, berührten ihren Kopf, ihre Kehle, ihre Hände und Füße. In ihrem Innern hörte sie einen einzigen Ton widerhallen, der von ihren Füßen aufstieg und ihren ganzen Körper mit Klang erfüllte. Sie spürte, wie diese Energie sich außerhalb ihres Körpers ausdehnte, alles berührte und sie eins mit der Schöpfung werden ließ. Gleichsam in einem Schwebezustand wurde sie zum Angelpunkt zwischen dieser Energie und der sie umgebenden Welt. Sie hob die Arme hoch über den Kopf und schrie in reinem Entzücken, entließ die Energie in die Welt, schickte sie in Form von Tönen spiralförmig nach oben. Und sie spürte mit ungeheurer Gelassenheit, wie diese Energie in ihr schlafend ruhte, und merkte, dass sie die Fähigkeit besaß, sie willentlich wieder zu erwecken. Sie blickte an sich hinab und sah die Schlange in ihrem Körper unterhalb des Bauches zusammengerollt liegen. Sie wandte sich um und fand die Herrin des Mondes neben ihr stehen.

»Du hast dich nun der Kräfte des Frauseins bemächtigt. Wenn du mehr Erfahrungen mit deinem Zyklus gemacht hast, wirst du herausfinden müssen, wie du diese Energien am besten in deinem Leben nutzen kannst. Aber bei dieser Suche bist du nicht allein. Da sind jene im Innern, die dich während deines ganzen menstruellen Lebens führen und unterstützen werden. Es gibt noch viele weitere Dinge, die meine Schwestern und ich dir in dieser Nacht zeigen werden und die dir helfen werden, dieses Geschenk zu nutzen. Berühre noch einmal deinen Baum.«

Eva reichte zum Baum hinauf und berührte sanft einen Zweig. Als ob diese Berührung eine Tür geöffnet hätte, tat sich im Baumstamm ein großer blutrot ausgekleideter Spalt auf. Darin stand eine nackte Frau mit geschlossenen Augen, und ihr lockiges kastanienbraunes Haar bildete Kapillaren in der Auskleidung des Baumes. Eva spürte, wie sich der Baum in ihr bewegte, um sich mit ihrem Schoß zu vereinen. In ihrem Innern fühlte sie, dass die Baumwurzeln sie mit ihrem Schoß verbanden und dass der Mond sowohl in ihrem Geist wie auch in den Zweigen ihres Schoßes ruhte. Die Frucht in ihrer Hand löste sich langsam in nichts auf, und sie stand allein auf der dunklen Lichtung.

Ihre Blicke wurden von etwas, das weiß aufblitzte, angezogen, und Eva nahm einen großen weißen Hasen vor sich wahr. Der von seinem Fell ausgehende Glanz erhellte die Lichtung mit einem sanften silbrigen Licht. Dunkle Augen voller Sterne und Wissen blickten zu ihr auf, und Eva bemerkte, dass er ein schmales, mit roten Edelsteinen besetztes Halsband trug. Und ebenso bemerkte sie im vom Fell des Hasen ausgehenden Licht, dass die Lichtung nicht mehr leer, sondern mit allen möglichen Tieren erfüllt war, die sie schweigend beobachteten. Ihre Schönheit und Kraft nahmen ihr den Atem; jedes Tier strahlte Anmut und Intelligenz aus, und alle waren sie von diesem weichen Licht in Weiß getaucht. Dunkle Augen funkelten voller Humor, und Eva fühlte sich ohne Angst von ihnen angezogen, so, als ob sie sie schon seit sehr langer Zeit kenne. Unter ihnen sah sie einen riesigen und machtvollen Stier, ein wildes Pferd mit rauem Fell, ein silbern schimmerndes Einhorn, eine weiße Taube, eine kleine grüne Schlange und einen wunderschönen Schmetterling. Die meisten Tiere schienen in irgendeiner Form Schmuck zu tragen oder hatten ein Geschenk oder einen Gegenstand bei sich. Eva wusste, dass sie ihr antworten würden, wenn sie sie ansprach. Der Hase sprang hinüber und ließ sich furchtlos zwischen zwei Löwinnen nieder. Ein Gefühl der Liebe und des Verstehens verband alle Tiere mit diesem Hasen, der nun Eva ebenfalls in seinen Bann zog.

»Das sind die Mondtiere«, sagte der Hase, und seine Stimme war so weich und silbrig wie sein Fell. »Sie bergen die Mysterien des Mondes in sich und bringen Botschaften aus deiner inneren Welt. Sie leben in deinen Träumen und in den Reichen der Feen und Elfen, in denen sprechende Tiere zu magischen Wundern und Quellen uralter Weisheit führen.«

Eine schneeweiße Eule flog herbei und landete mit einem Rauschen dicht neben Eva. Sie wandte ihr ihr Gesicht zu und in ihren Augen fand sie alles Wissen der Zeit.

»Sie bieten Führung und Rat an, denn sie bewahren das instinktive Wissen deines Zyklus. Sie bringen Anmut und Harmonie mit sich, die daraus entstehen, dass du in Einklang mit deiner wahren Natur lebst. Ein Mondtier kann in deinen Träumen deinen Eisprung oder deine Blutung ankündigen oder dir Träume bringen, deren Bilder dich zu deinem Zyklus führen und dir helfen, eine bewusste Verbindung mit deinen eigenen Rhythmen aufrechtzuerhalten. Erinnere dich an diese Träume, bringe sie in dein Leben im Wachzustand ein. Erinnere dich vor allem in dieser Nacht an deine Träume, denn ein Tier, von dem du zum Zeitpunkt deiner ersten Blutung träumst, kann dein ganzes Leben lang eine besondere Beziehung zu dir haben.«

Eva schien es, dass der Hase lächelte, während er sprach. Das Tier wandte sich um und hoppelte dann sehr langsam auf Eva zu, wobei es sorgsam etwas im Mund trug. Es ließ das Geschenk vor Evas Füßen fallen und setzte sich dann auf seine Hinterläufe. Eva sah ein kleines weißes Ei, das in ein hellrotes Band eingewickelt war. Als sie es aufhob, spürte sie eine große Liebe in ihrem Innern, die in ihr das Verlangen weckte, sich um alle ihre Mitmenschen zu kümmern. Ein Seufzer durchlief alle Tiere.

»Dies ist dein erstes Ei, deine Zeit des Eisprungs«, sagte der Hase. »Die Kräfte und Energien, die du als Jungfrau verspürtest, sind nun zu denen der Mutter herangereift. Vergeude diese Energien nicht. In der Vergangenheit wurden Frauen als starke und dynamische Wesen anerkannt, wie sie auch für ihre Kraft, Sorge zu tragen und zu nähren, geachtet wurden. Die Energien zum Zeitpunkt des Eisprungs sind anders. Sie vertiefen sich zu einem Ausdruck, der über deine eigene Person hinausgeht. Du wirst dich der tieferen Ebene deiner selbst bewusst und deiner Fähigkeit, selbstlos zu lieben und Fürsorge zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt spiegelt dein schöpferisches Verlangen deine Umwelt wider.

Eva fühlte, wie die Ruhe der Lichtung sie überströmte, und wurde sich des Vollmondes bewusst, der in ihrem Geist wie auch in ihrem Schoß schien, aber auch am Nachthimmel. Sie fühlte sich in Harmonie mit dem Mond und allem, was sie umgab, und erfuhr ein Gefühl von Stärke, die sie dazu befähigte, anderen zu geben im Wissen, dass sie sie nähren und erhalten konnte. Ihre ganze Seele schien durch ihr Herz, ihre Augen und Hände zu scheinen.

»Zu dieser Zeit des Lichts wirst du vielleicht von Eiern oder Mondtieren träumen. Erinnere dich an diese Träume, und erkenne, dass sie deinen Eisprung ankündigen.«

Der Hase drehte sich um und entfernte sich hoppelnd ein wenig von ihr, um dann innezuhalten, als wollte er Eva einladen, ihm zu folgen. Nach einem Moment des Zögerns schloss sie sich ihm an, und die Mondtiere entschwanden ihrem Blick. Dunkelheit senkte sich wieder über die Lichtung.

Der Hase führte Eva durch den Wald zu einer sonnenbeschienenen Wiese. Der Duft von Wiesenblumen hing in der Luft, und alles pulsierte mit der Energie des Lebens. Eva wanderte durch das kniehohe Gras und merkte, dass es nur so vor Bienen und anderen Insekten wimmelte, die die Blumen aufsuchten. Riesige Margeriten wandten ihre Köpfe der Sonne zu, und Mohnblumen sprenkelten die Wiese mit leuchtendem Rot. Eva blieb stehen und atmete das sie umgebende Elixier des Lebens ein, sie wollte bleiben und die Schönheit genießen.

Doch der Hase drängte Eva ungeduldig weiter und führte sie zu einem grasbedeckten Hügel in der Mitte der Wiese. Am Fuße des Hügels führte eine Reihe von weißen Steinen ins Innere der Erde. Der Hase blieb stehen, seine Vorderläufe ruhten auf der obersten Stufe. Aus irgendeinem Grund war Eva unbehaglich zumute, trotzdem stieg sie etwas nervös die Treppe hinunter.

Nach dreizehn Stufen unten angekommen, fand sich Eva in einem Bogengang wieder, der von einer einzigen, in einer Halterung an der Wand steckenden Fackel erleuchtet wurde. Am anderen Ende des Bogengangs hing ein schöner grüner Vorhang, auf den alle möglichen Tiere, Vögel und Pflanzen aufgestickt waren. Im Scheitelpunkt des steinernen Bogengangs inmitten aller möglichen verschlungenen, die Motive des Vorhangs wiederholenden, eingemeißelten Figuren befand sich eine schalenförmige Höhlung. Behutsam schob Eva den Vorhang beiseite und betrat einen dämmrigen, kuppelförmigen und völlig runden Raum. Ein roter Teppich zog sich vor Eva über den Steinboden bis zu einem Podest auf der anderen Seite des Raumes. In seiner Mitte stand ein steinerner Thron mit einem dunkelroten Kissen, und zu beiden Seiten des Podestes befand sich je ein weiterer Bogengang, der mit einfachen roten und schwarzen Vorhängen verhängt war. Einer dieser Vorhänge wurde nun beiseitegeschoben, und eine Dame betrat den Raum.

Sie war groß, dunkelhaarig, hatte dunkle Augen, ein eher kantiges Gesicht und einen üppigen, sinnlichen Mund. Sie trug ein leuchtend rotes und tief ausgeschnittenes Gewand, das sich eng über ihre Brüste und Hüften spannte und dann in weiten Falten bis zum Boden fiel. Um ihre Hüften schlang sich ein goldbestickter Gürtel, und beim Gehen schwang sie ihren Körper rhythmisch hin und her. Eine Aura von Macht, von Sexualität, Hunger und Dunkelheit umgab sie. In ihren Augen glomm ein Versprechen. Eva war unbehaglich zumute, diese Frau ängstigte und faszinierte sie zugleich.


»Komm!«, sagte die Rote Herrin mit scharfer und herrischer Stimme. Sie ging durch den Bogengang, durch den sie gerade gekommen war, hielt den Vorhang auf und bedeutete Eva, hindurchzugehen. Drinnen war alles dunkel. Eva trat ein, wandte sich dann rasch um und konnte kein Licht von draußen hereindringen sehen. Ihre anfängliche Furcht wurde rasch von Müdigkeit und Lethargie abgelöst; die Dunkelheit war warm und tröstlich, und Eva hatte nicht den Wunsch, sich zu bewegen oder irgendetwas zu tun. Es irritierte sie allmählich, dass die Rote Herrin sie in der Dunkelheit allein gelassen hatte, und aus dieser Irritation wurde rasch Verärgerung und Frustration. Eva fühlte ihr Gesicht heiß werden und ihre Körpermuskeln verspannten sich.

Ganz allmählich wurde der Raum um Eva heller, bis er schließlich in ein hartes glänzendes Licht getaucht war. Die Rote Herrin stand vor Eva und hielt ihr einen großen hohen Spiegel vor.

»Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet!«, fuhr Eva sie an und bedauerte sogleich, so unhöflich und aggressiv gewesen zu sein.

»Schau«, sagte die Rote Herrin und deutete auf den Spiegel. Eva trat vor, um besser zu sehen, und sah ein nacktes Spiegelbild von sich selbst. Verwirrt betrachtete sie diese Gestalt sehr sorgsam, denn obwohl es sich zweifellos um ihr Spiegelbild handelte, stimmte daran etwas nicht. Ihr Haar war glatt und fettig, ihr Gesicht fleckig und ihre Brüste und ihr Bauch waren schmerzhaft geschwollen. Eva wurde bei dieser Betrachtung allmählich schwindlig; sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich so mies, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen und sie ihr Gesicht in den Händen verbarg.

»Was ist mit mir passiert?«, rief sie. »Ich sehe schrecklich aus. Ich hasse dich.«

Die Stimme der Roten Herrin drang durch ihr Selbstmitleid. »Schau noch einmal hin«, sagte sie scharf, »diesmal mit deinem inneren Selbst.«

Das Licht war nun weicher geworden, und Eva blickte zaghaft auf. Im schummrigen Licht sah sie ihre Brüste glänzend und rund wie Vollmonde. Ihr Bauch wölbte sich wie die Hügel der Erde, und diese weiblichen Körperrundungen gaben ihr ein Gefühl von Sinnlichkeit. Sie betastete ihren Körper, lehnte ihn nun nicht mehr ab, sondern öffnete sich der Veränderung, die in ihm vorgegangen war. Sie entsann sich der Bilder, die sie von uralten Göttinnen gesehen hatte, mit vollen Brüsten und runden Bäuchen, und fühlte, wie ein Annehmen dieser Gestalt sie überströmte. Ihr Haar war von strahlendem gesundem Glanz, ihre Haut leuchtete schimmernd, wie sie im Spiegel sah.


»Betrachte deinen Schoß«, sagte die Rote Herrin mit sanfter Stimme.

Im Spiegel sah Eva ihren Baum des Schoßes. Der Baum war prall und rot und pulsierte vor Energie inmitten einer mit Wasser gefüllten Kugel. Eva spürte, wie die Energie sie ins Innere zog, und wurde plötzlich hineingesogen. Dunkelheit umfloss sie wie Wasser, und sie hatte das Gefühl, hinunterzugießen durch düstere Tiefen eines Sees. Von oben sickerte grünes Licht ein, und unter ihr war das Rotschwarz des Urschlamms. Langsam versank sie in diesem Schlamm, bis die rote Dunkelheit über ihrem Kopf zusammenschlug. Ein einziger Atemzug der Dunkelheit schickte einen Kraftstrom durch ihren ganzen Körper und zwang Eva zum Tanzen, und ihre Bewegungen störten um sie herum rote und schwarze Wirbel auf. Eva spürte diese Dunkelheit in ihr, als sei sie im Chaos versunken und in der Urmaterie, aus der alles Leben geboren wird und in die alles Leben zurückkehrt.

Inmitten dieses Schlammes sah sie einen Lichtschimmer, und eine Mondsichel durchdrang die Düsternis. Eva griff danach und merkte, dass das, was sie für den Mond gehalten hatte, in Wirklichkeit die Hörner eines Stierschädels waren, vom Alter weiß gebleicht.

Eva packte diese Hörner wie einen Dolch und tanzte wirbelnd in der Dunkelheit umher, bewegte sich zu ihrem eigenen Rhythmus, steigerte sich zu ihrem eigenen Crescendo der Bewegung. Energie spann sich um sie zusammen, und im völligen Überschwang sah sie Kraftlinien sich wie rote Schlangen aus ihrem Schoß herauswinden und sich in die Dunkelheit entrollen. Sie warf den Kopf zurück, das Haar flog und sie schrie vor Entzücken. Es war eine rohe wilde Kraft, sie war die Zerstörerin, die Verschlingerin. Eine Halskette aus Totenschädeln schwang um ihre Schultern und ein Gürtel aus abgeschnittenen Armen um ihre Hüften. In ihrem Tanz schnitt sie das Alte durch und erzwang gnadenlos den Wandel und die Fortdauer der Zeit.

Plötzlich dröhnte durch den suppigen Schlamm wie ein Trommelschlag ein einziger Befehl: »Steig auf!« Mit unerwarteter und ungewohnter Anmut schob sich Eva hinauf durch die Düsternis, den grünen Schatten über ihr entgegen. Sie brach durch die Wasseroberfläche und tauchte in einer riesigen dunklen Höhle auf. In deren Mitte stand eine hoch aufragende riesige Göttinnenstatue, die grob aus einem schwarzen Granit gehauen und dann poliert worden war, bis sie glänzte. Die Göttin war bis zu den Hüften im Höhlenboden eingegraben, und ein Arm streckte sich nach unten Eva entgegen, der andere erhob sich hoch in die Dunkelheit hinauf. Eva kletterte aus dem Wasser und ging ein paar Schritte auf die Statue zu. Sie sah, dass die Augen der Göttin geschlossen waren und ein einziger schwarzer Edelstein ihre Stirn über den Brauen zierte.

»Webe!« Das Wort hallte aus dem Felsgestein wider und vibrierte in Evas Körper. Plötzlich leuchtete der schwarze Edelstein in blendendem Licht auf, und Sternenfäden schossen aus den Fingerspitzen der Göttin hervor. Alle Dinge wurden von diesen Fäden berührt, verbanden und verwoben alles um Eva herum und durch sie hindurch, banden sie in das Muster ein. Unter ihren Füßen pulsierte der Machtstrom, der sich aus dem Teich ergoss. Zwischen diesen beiden Energieströmen gefangen, hob Eva ihre Arme und ließ das Feuer aus ihren Fingern entweichen. Nun nicht länger zurückgehalten schoss die Energie nach vorn und nahm die Form eines Sternenfadens an, den Eva um sich herumwob. Eins mit der Göttin lenkte sie die Energie in Schöpfung, ihr Bewusstsein dirigierte den Fluss, nahm aber keinen Einfluss auf Form oder Gestalt.

Eva erkannte, dass die Macht, zu zerstören und zu erschaffen, die gleiche war, und sie wusste, dass sie die Fähigkeit zu beidem in sich trug. In ihrer neu gewonnenen Klarheit sah sie, wie alles im Universum miteinander verbunden war, und sie wusste, dass sie, wenn sie ihre Macht in die materielle Welt leitete, ihre Fäden zu Prophezeiung, Magie, Kunst und Liebe verweben konnte. Eva stand staunend und verwundert da, ihre Energien waren ausgewogen, sie blickte hinauf zu den Galaxien und Sternen, die in der Decke der Höhle schienen.

Eine Öffnung tat sich in der Wand der Höhle auf, und eine dunkle Gestalt hob sich als Silhouette gegen das Licht ab und winkte sie zu sich. Eva durchquerte die Höhle und ging nun mit der Anmut und Sicherheit einer Frau, die sich selbst kennt, die sich akzeptiert und in der Lage ist, die Verantwortung für ihre Macht zu übernehmen. Sie ging zuversichtlichen Schrittes, sie war sich der verborgenen Seite des Lebens der Welt, die sie umgab, bewusst.

Sie durchschritt den mit einem Vorhang verhängten Bogengang und entdeckte dahinter eine lange, aus Holz errichtete Halle, in deren Mitte ein helles Feuer brannte. Hinter diesem Feuer saß auf einem hölzernen Thron eine Frau, die von Kopf bis Fuß in einen durchscheinenden roten Schleier eingehüllt war. Eva konnte durch den Stoff nur ihre Umrisse und Konturen erkennen. Sie hatte langes, schwarzes, zu großen Zöpfen geflochtenes Haar, an denen kleine goldene Äpfel hingen, ihre Haut war porzellanweiß und ihre Lippen tiefrot. Ihre im Schoß gefalteten Hände schienen lang und zart zu sein.

»Willkommen, Wanderin zwischen den Welten«, sagte die Dame. Eva hatte das Gefühl, das Rascheln von Herbstblättern in ihrer Stimme zu hören.

»Ich bin Souveränität, die Göttin des Landes.« Die Dame hob in einem Willkommensgruß die Arme unter ihrem Schleier.

»Ich sehe, dass du den Glanz des roten Schleiers trägst. Willkommen, Tochter-Priesterin.« Eva fühlte, dass diese Herrin etwas Magisches an sich hatte und sie eher in einem Schloss mit schimmernden Türmen als in einer leeren, aus Holz erbauten Halle residieren sollte.

»Sieh um dich mein Land.« Eva dehnte sich in ihrem Bewusstsein aus und sah das Land in der Halle vor ihr liegen. Lichtbahnen strahlten von jedem Punkt aus, erstreckten sich in Zickzacklinien über das ganze Land. Eva trat einen Schritt vor und bemerkte, dass ihre Bewegungen den Stoff ihres weißen Gewandes, das nun ihre Kleidung geworden war, zum Rascheln brachten. Sie ging auf das Feuer zu, und jeder ihrer Hüftschwünge veränderte das Muster der Lichtbahnen um sie herum. Die Landschaft wechselte in ihrer Jahreszeit, und sie roch den Duft des Winters. Sie sah, wie aus dem Winterdunkel das Licht des Frühlings hervorbrach, und fühlte den Fluss der Jahreszeiten rhythmisch durch ihren Körper strömen.

Eva reichte in sich selbst hinab bis zum Kern ihrer schöpferischen Energien und brachte sie mit ihrem Willen dazu, durch ihren Körper aufzusteigen. Als die Energie in ihre Finger gelangt war, hielt sie sie dort versammelt. Sie war sich des inneren Zyklus ihres Körpers und des Landes bewusst und bereit, Muster in beide der sie umgebenden Welten zu weben. Die Göttin des Landes stand auf und ging auf Eva zu, die Kraftlinien des Landes strahlten aus ihrem Körper aus, wohin sie auch in spiraligem Muster zurückkehrten. Alle anderen Herrinnen und Göttinnen, denen Eva bisher begegnet war, waren größer als sie gewesen, aber diese Dame war ungefähr in ihrer Größe, wie Eva rasch feststellte. Sie war zart und schlank, aber sie strahlte eine Majestät aus, die Eva an eine Feenkönigin denken ließ. Sie trug einen Gürtel aus feinst gewebter grüner Seide in ihren Händen, reich bestickt mit silbernen Granatäpfeln und goldenem Korn, den sie um Evas Hüfte schlang.

»Du bist jetzt meine Repräsentantin«, sagte sie. »Du hast die Macht, beide Welten zu sehen, die innere und die äußere. Du verfügst über die Magie, Muster und Wellen im Gewebe beider Welten zu schaffen. Du kannst das Netz der Prophezeiung, der Initiation und des Lebens selbst in Schwingung versetzen. Das ist dein Geschenk der Mond-Blutung. Du weißt instinktiv um beide Welten und kennst sie, und in der Zeit der Dunkelheit kannst du zwischen diesen Welten hin- und herwandern und Mittlerin ihrer Energien sein.

Die Frau der modernen Zeit wandert in der Welt der Wissenschaft und Technologie wie auch in der Welt der Natur und Intuition. Diese Welten sind für sich genommen keine absoluten Welten, sie sind ineinander verwoben. Für die Frau sind beide Welten gleichermaßen wirklich, und sie hat die Fähigkeit, sie in einem Bewusstseins- oder Gewahrseinsfluss auszubalancieren. Aus dieser Fähigkeit heraus sind alle Frauen weise Frauen, sind alle Frauen Priesterinnen.

Eine Frau, die sich ihres Zyklus bewusst ist, muss ihm treu sein, aber sie ist auch für den Gebrauch ihrer Energien, deren Ausdrucksformen und Auswirkungen auf andere verantwortlich. Verantwortung heißt nicht, dass sie nicht ihre Fähigkeiten nutzen soll, aber sie soll sich auch nicht hinter ihrem Menstruationszyklus verstecken oder ihn als Ausrede benutzen. Die Verantwortung, die mit diesem Geschenk einhergeht, ist groß. Es ist eine Verantwortung dir selbst gegenüber, gegenüber anderen Frauen, der Gemeinschaft, dem Land und den künftigen Generationen.«

Souveränität, die Göttin des Landes, hob die Hände zu einer Segnung. »Tanze deine Muster, webe deine Zauber, schreibe deine Gedichte, singe deine Geschichten, male deine Schönheit, gebäre deine Kinder.«

Eva fühlte sich überwältigt von Liebe zu der Dame und zum Land, und Tränen flossen aus ihren Augen. Und aus jedem blinkenden Tropfen, der zu Boden fiel, formte sich eine weiße Blüte.

Das Land und die Halle verblassten allmählich und verflüchtigten sich, und Eva stand wieder einmal in der Dunkelheit. Wieder wurde der Vorhang abrupt zur Seite gezogen, und Eva sah die Rote Herrin am Eingang zu dem kuppelförmigen Raum stehen. Eva ging hindurch und fand sich nunmehr auf der anderen Seite des Podests wieder. Sie sah die Rote Herrin an und fühlte sich von ihrer Sinnlichkeit oder verborgenen Dunkelheit in ihren Augen nicht mehr bedroht. Die Rote Herrin lächelte, als sie Evas tiefes Erkennen wahrnahm.


»Du hast nun akzeptiert, was du bist, aber nun musst du deiner Natur auch treu sein, und das ist nicht immer leicht. Der abnehmende Mond ist eine Zeit, in der du mit deinen physischen Energien zurückhaltend umgehen sollst, aber er ist auch eine Zeit starker sexueller und schöpferischer Energien. Du stellst vielleicht fest, dass du sehr deutlich sagst, was du auf dem Herzen hast, und dass du dem Profanen oder der Routine nicht mehr mit der Toleranz begegnen kannst, die du sonst während des restlichen Monats aufbringst. Das ist das Geschenk der Wahrheit, aber es kann aus Wut und Frustration entstehen, aus der Verweigerung der Möglichkeit, zu diesem Zeitpunkt deiner wahren Natur treu sein zu können. Diese Wut kann deine Energien ins Zerstörerische wenden; sie können Schmerz und Leid bereiten, anstatt dass sie für den konstruktiven und kreativen Gebrauch eingesetzt werden.

Die destruktive Seite im Wesen der Frauen wurde in früheren Zeiten anerkannt, jedoch als Teil ihrer schöpferischen Natur hingenommen. Die Frau gibt, aber sie nimmt auch. Sie ist die Linie der Kontinuität, aber sie ist auch in Zyklen aufgespalten. Sie schafft das Neue, aber sie zerstört auch das Alte. Setze deine destruktiven Energien weise ein, und vergiss nie, dass Zerstörung und Schöpfung nicht voneinander getrennt sind. Sei dir deines Zyklus und der Natur deiner Energien bewusst, du trägst die Verantwortung für deine Handlungen. Es ist leichter, dem Körper die Schuld zu geben und den Geist von ihm abzuspalten, als innerhalb des Rhythmus zu arbeiten und dein Leben entsprechend zu ändern.«

Die Rote Herrin stieg die drei Stufen zum Thron hinauf. »Du bist eine Frau. Du bist stark, weil du nicht unveränderlich bist, weil die Rhythmen des Wandels die Rhythmen des Universums sind.«

Als die Rote Herrin sich auf dem steinernen Thron niederließ, verwandelte sich ihr Aussehen; die Haut wurde blasser, das Haar heller, die Gesichtszüge sanfter und das Rot des Kleides wurde zu einem mondigen Blau. Ohne allzu überrascht zu sein, erkannte Eva die vertraute Gestalt der Herrin des Mondes.

»Ja«, antwortete die Herrin des Mondes auf Evas unausgesprochene Frage, »wir sind ein und dieselbe, haben aber unsere verschiedenen Zeiten. Während des Monats bin ich teils Herrin des Mondes, teils Rote Herrin, aber nur zu den Wendezeiten der Menstruation und des Eisprungs bin ich ganz die eine oder die andere.« Sie stand auf, stieg die Stufen hinab und bedeutete Eva, sich auf den Thron zu setzen. »Hab keine Angst«, sagte sie.

Zögernd stieg Eva die Stufen hinauf und ließ sich auf dem roten Kissen nieder. Trotz ihres gewachsenen und vertieften Bewusstseins und Verstehens war sie doch noch angespannt und saß gerade und aufrecht. Ihre Augen suchten den Blick der Herrin des Mondes. Sie merkte, wie sich ihr reines weißes Gewand allmählich veränderte. Der Saum färbte sich zartrosa, wurde dann leuchtend rot, und die Farbe stieg hoch, bis sie das ganze Kleidungsstück erfasst hatte. Innerhalb von Sekunden war Eva nun in ein blutrotes Gewand gehüllt. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Losgelöstheit, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Raum und ihrer unmittelbaren Umgebung ab. Tief im Innern der sie begrüßenden Dunkelheit wurde sie sich des Spinnennetzes bewusst, dessen Fäden sie mit der großen schwarzen Göttin verbanden. In der Tiefe ihrer selbst glaubte Eva ihre Stimme zu hören:

»Ich existiere unsichtbar in allen Dingen. Ich bin das Potenzial, die Dunkelheit des Schoßes vor der Wiedergeburt.«

Als Eva sich wieder ihrer Umwelt bewusst wurde, stand die Herrin des Mondes neben ihr. Das Bedürfnis, zu bleiben, und das Verlangen, sich nicht zu regen, waren stark. Die Herrin des Mondes half Eva auf die Füße, aber es war die Rote Herrin, die sie die Stufen hinuntergeleitete und zu einem kleinen Alkoven in der Wand führte. Eva kletterte hinauf auf eine schmale Liege, die mit weichen, dicken Fellen bedeckt war, und lag still im entschwindenden Licht und spürte, wie ihr die Fähigkeit, zu sprechen oder noch weiter nachzudenken, entglitt. Die Rote Herrin deckte sie mit einem Fell zu.

»Schlaf den Rest dieser Nacht hier im geschützten Bauch der Erde. Erinnere dich an deine Träume, vergiss nicht die, denen du begegnet bist.«

Sie beugte sich hinunter, küsste Eva und sah zu, wie sich Evas Augen schlossen und sich die ganze Szene in Dunkelheit auflöste. In der Wärme des Schlafes lächelte Eva, als sie eine entschwindende Stimme rufen hörte: »Erinnere dich, erinnere dich.«

Sonnenlicht strömte durchs Fenster, fiel auf Evas Gesicht und küsste sie sanft wach. Sie fühlte sich entspannt und friedlich, lag still unter der Bettdecke und wünschte, den ganzen Tag so bleiben zu können. Von irgendwo aus dem Innern blühten die Träume der Nacht in Evas allmählich erwachendem Bewusstsein auf. Im Tageslicht waren die Menschen und Orte, die Eva besucht hatte, und die so lebendig und real erschienen, nun verschwommen und weit weg, doch in Eva blieb ein Gefühl des Friedens und Verstehens und der Ahnung von einem Versprechen, das sich bald erfüllen würde, zurück.

Die vertrauten Geräusche der restlichen Familie, die gerade aufstand, störten Eva auf. Als sie ihren Körper bewegte, fühlte sie ein unkontrollierbares warmes Tröpfeln zwischen ihren Beinen. Rasch schnappte sie sich ein paar Papiertaschentücher von ihrem Nachttisch und tupfte die Feuchtigkeit ab. Als sie die Taschentücher wieder hervorzog, entdeckte sie, dass sie voller frischer roter Blutflecken waren. In diesem Moment betrat Evas Mutter das Zimmer und sah die blutigen Taschentücher. Eva erklärte ihrer geängstigten Mutter rasch, woher das Blut gekommen war. Diese verschwand mit leicht amüsiertem Blick und kehrte nach ein paar Augenblicken mit einer Handvoll Binden zurück, die sie der fragend blickenden Eva überreichte.

»Ich wusste, dass es bald fällig war«, erklärte sie. Sie lächelte und ließ sich neben Eva auf der Bettkante nieder. Sie zog ihre Tochter zu sich heran und umarmte sie mit Tränen in den Augen liebevoll. »Mein Kind wird zu einer Frau«, flüsterte sie.

Roter Mond

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