Читать книгу Die Magie der Eulen - Miriam Darlington - Страница 5
ОглавлениеStrix nebulosa
September 2021. Morgendämmerung. Eine sanfte Brise bewegte die Wände meines Zeltes. Barfuß trat ich in das taufrische Gras, um meine erste Tasse heißen Tees zu trinken. Ich ließ meinen Blick über die Distelköpfe schweifen, über denen bereits ein Schwarm Stieglitze flatterte. Die grünen und gelbbraunen Farben des Frühherbstes wurden vom Nebel und dem tief stehenden Sonnenlicht erhellt und von den ungestümen Rufen der Finken untermalt. Zwischen den Blättern und Gräsern ertönte die schnatternde Musik über das Zeltlager. Jenseits davon schien mich jemand von einem hohen Zaunpfahl ebenfalls zu beobachten. An der Spitze zeichnete sich die vertraute Birnenform eines Steinkauzes ab, dessen gelbe Augen mich mit einem kalten Blick fixierten. In diesem Spätsommer 2021 war es mein erster Steinkauz des Jahres – und was für ein Anblick.
Eulen sitzen so still da und starren uns an, aufmerksam und wachsam, als ob sie unsere Gedanken lesen könnten. In Wirklichkeit interessieren sie sich nicht sonderlich für unser Tun, es sei denn, sie wollen herausfinden, ob und in welchem Ausmaß wir eine Bedrohung für sie darstellen. In diesem Fall konnte der Steinkauz – ein grimmiger kleiner Wasserspeier von einem Vogel – sehen, dass ich keine Gefahr darstellte, als wir beide mit einer dampfenden Tasse faul in meine Decke eingewickelt in der Morgensonne saßen. Ich hätte ihn übersehen können, wäre da nicht der stets scharfe, wachsame Blick gewesen, den ich geschult habe und den ich nie ganz ablege. Durch ihn weiß ich, dass sie da sind, überall, ob wir nun darauf achten oder nicht. Es gehört zu den besonderen Eigenschaften der Eulen, dass sie schwer auszumachen sind; sie erinnern uns daran, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Eines Abends, als ich in der Abenddämmerung fernsah, landete eine Gestalt auf dem Ast vor meinem Fenster, und es war die Silhouette eines Waldkauzes, der in mein blasses, vom Fernseher beleuchtetes Gesicht blickte. Vielleicht sehen uns die Eulen – oder ich sollte sagen, sie beobachten uns mit Argusaugen – sogar mehr, als wir sie beobachten.
In diesem Sommer schickte mir meine Freundin in Frankreich ein Urlaubsfoto von einem jungen Steinkauz, der aus seinem Nest geflogen und im runden Fenster ihrer Hütte gelandet war. Er war von einem Kreis umgeben wie in der altgriechischen Abbildung der Athene noctua, dem Symbol der Weisheit, die man auf alten Münzen findet. Der Kauz starrte in das Innere der Menschenbehausung und betrachtete das seltsame, komplizierte Nest. Mein erstes Gefühl, als ich das Foto sah, war, abgesehen von Entzücken, dass ich die junge Eule am liebsten an mich genommen hätte, um sie wie die Krankenschwester Florence Nightingale sicher in meiner Tasche zu verwahren. Natürlich können wir das heutzutage nicht mehr tun – wilde Eulen sind geschützt. Sie müssen wild bleiben. Meine Freundin Christine ging vernünftigerweise nach draußen und setzte das rufende Jungtier in einen nahe gelegenen Baum, wo es vor Raubtieren geschützt war. Seine Eltern, die in der Nähe sein mussten, würden es finden. Die Freude, etwas zu retten und in die Freiheit zu entlassen, ist viel befriedigender, als es festzuhalten. Wildtiere müssen die Möglichkeit haben, ihr Glück in der Welt zu versuchen, in guten wie in schlechten Zeiten. Alles, was wir tun können, ist, die besten Bedingungen für sie zu schaffen und sie gewähren zu lassen. Steinkäuze sind, wie alle Eulenarten, völlig angewiesen auf unseren Respekt, unsere Fürsorge und unser Verständnis. Jetzt brauchen sie mehr denn je unsere Unterstützung. Mehr denn je leben sie in unvorhersehbaren Zeiten – das haben sie mit uns gemeinsam. Klimachaos, Wetterextreme und menschliche Eingriffe sind Gefahren, die für die Eulen noch präsenter sind als zu dem Zeitpunkt, als ich für dieses Buch 2016 zum ersten Mal recherchierte. Die Botschaft ist wichtiger denn je: Es ist nicht nur eine Geschichte darüber, wie das Schicksal von Mensch und Eule miteinander verbunden ist, sondern auch darüber, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein. »Wenn die vorherrschenden Bedingungen uns im Stich lassen, sind es die Aufmerksamkeit und die Berührung durch die Natur, die uns retten werden. Eine Berührung durch die Natur macht die ganze Welt schön«, schrieb William Shakespeare. Unsere Beziehung zur wilden Natur beruht auf Gegenseitigkeit. Angetrieben von dem Wissen, dass unsere Verwandtschaft schwindet, umgeben wir uns mit physischen Repräsentationen, mit Dokumentationen und Bildern, mit Träumen und Geschichten, während die echten Lebewesen leise verschwinden. Dies ist die Geschichte darüber, wie wir alle Teil einer Gemeinschaft sind und was wir tun können, um die Stummen zu retten, und wie wir – wacher und aufmerksamer denn je – uns selbst retten können.
Miriam Darlington
2021