Читать книгу Die Magie der Eulen - Miriam Darlington - Страница 6
VORWORT DER ENGLISCHEN ORIGINALAUSGABE
ОглавлениеMein Sohn Benji sah die Eule als Erster. Sie thronte wie ein seidig schimmernder Totempfahl vor uns, die Krallen klammerten sich um den Handschuh ihres Pflegers. Ich war so beschäftigt damit, mir einen Platz in der Schlange für das frisch gebackene Brot zu ergattern, dass ich den Mann mit der Eule zuerst gar nicht bemerkte. Die beiden verschmolzen mit ihrem Hintergrund, sie fügten sich nahtlos in die Geschäftigkeit der kleinen Stadt ein. Ich lernte damals, dass der Verstand leicht Dinge übersieht, mit denen wir nicht rechnen.
Mit ihrer dunklen Farbpalette, den typischen Markierungen und der kauernden Körperhaltung gelang es der Eule, sich vor unerwünschten Blicken zu schützen. Aber irgendetwas an ihrem Gefieder flackerte am Rande meines Blickfelds auf und erregte meine Aufmerksamkeit. Vielleicht lag es an meiner tief verankerten Faszination für Eulen, dass ich mich plötzlich umdrehte – jedenfalls hatte ich jegliches Interesse an dem frischen Brot verloren, als ich die Eule erspähte.
Benji war schon hinübergelaufen, und gemeinsam starrten wir das Tier an. Der Bartkauz, Strix nebulosa. Konzentriert umklammerte die Eule den Lederhandschuh, während sie ihren Kopf hin und her schwenkte und sorgfältig ihr Umfeld studierte. Langsam näherte ich mich, um den Vogel nicht zu erschrecken. So gern hätte ich mit den Fingern ihr geschecktes Gefieder berührt. Durfte ich sie anfassen? Ja, es sei wichtig, sie an Menschen zu gewöhnen, versicherte mir der Mann. Sie war erst ein paar Monate alt.
Sie war so weich, dass es mir den Atem verschlug. Als sie ihren Kopf zu mir drehte, fiel mir sein erstaunlicher Umfang auf. Das runde Gesicht war breit, die gelben Augen leuchteten gefährlich. Der Eulenpfleger Pete erklärte mir, dass der Gesichtsschleier der Eule durch seine massive Größe einen Schalltrichter erzeuge, mit dem kein anderer im Tierreich konkurrieren könne; diese Eule hatte die empfindlichsten Ohren, die der Menschheit bekannt waren. Dem Bartkauz entging kein einziges Wort.
Pete erzählte uns, wie er vor einiger Zeit drei große cremefarbene Euleneier entdeckt und dann, als die Küken geschlüpft waren, eines davon ausgewählt und aufgezogen hatte. Das junge Tier brauchte ständige Beaufsichtigung und Pflege und war nun, wie das bei Jungvögeln normal ist, komplett auf Pete fokussiert. Die beiden waren unzertrennlich. Ich beobachtete, wie der Eulenpfleger immer wieder seine Wange an das Gefieder seines Zöglings legte, seine Augen schloss und so leise und zärtlich auf den Vogel einredete, dass ich das Gefühl hatte, in eine private Unterhaltung einzudringen.
»Kann ich auch eine Eule haben?«, fragte Benji und legte seine Hand auf meine Schulter.
Er musste geahnt haben, was ich antworten würde. Eulen sind wilde Tiere. Sollten sie da nicht auch in der Wildnis bleiben? Wir beide rangen mit uns.
Pete plante, seinen Bartkauz in der örtlichen Auffangstation für seltene Arten auszustellen, sobald er ausgewachsen war. In meinem Inneren machte sich eine seltsame Mischung von Gefühlen breit. Diese Eule ist eine Gefangene, dachte ich. Ein Haustier. Sie wird ein Ausstellungsstück sein, eine Außenseiterin, nicht in der Lage, das zu tun, wozu sie geboren wurde.
»Es besteht auch die Möglichkeit, sie als Zuchttier einzusetzen«, erklärte Pete, der meinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Ihre Küken könnten später ausgewildert werden.« Wieder legte er sein Gesicht an das Gefieder des Jungvogels und schloss die Augen.
Könnten sie einfach so freigelassen werden? Ich erinnerte mich, dass die Gesetze in diesen Dingen sehr streng waren. Die prächtige Eule drehte ihren Kopf und schaute mit ihren zitronengelben Augen an mir vorbei.
»Die gelben Augen«, sagte Pete, »zeigen an, dass der Bartkauz bei Tageslicht jagt.«
In Lappland, der Heimat der Eule, wird es während der Sommermonate niemals Nacht. Im Winter, wenn über Monate hinweg Dunkelheit herrscht, muss sich der Kauz dann auf seine Ohren verlassen. Ich war fasziniert vom Leben dieses wunderschönen Tieres.
Ursprünglich kommt der Bartkauz aus dem hohen Norden, aus den borealen Nadelwäldern. Für jemanden, der in den behaglichen Grafschaften Englands aufgewachsen ist, wo es im Winter schlimmstenfalls mal nass wird, löst allein das Wort »boreal« Träume von harzigen Fichtenwäldern aus, in denen der Geruch von Wildkatzen hängt und wo Vielfraße auf der Suche nach Essbarem im Schnee ihre Spuren hinterlassen.
Aber dieser Bartkauz flog nicht durch die Taiga – er war angeleint. Seine Flügel funktionierten zwar, aber er würde nie frei und allein durch die Wälder gleiten.
Obwohl ich mich über die Begegnung mit der Eule freute, machte sich in mir ein leises Unbehagen breit. Eulen, wie so viele andere Tierarten, sind heutzutage kaum mehr in freier Wildbahn vorzufinden. Früher waren wir von wilden Lebewesen umgeben – sie prägten uns und unsere Sicht auf die Welt. Ohne sie fehlt uns etwas, ein Stück unserer Heimat ist verloren gegangen. Brauchen wir nicht, um ganz Mensch zu sein, diese Wildnis, selbst wenn sie weit von uns entfernt ist?
Was also kann eine Schriftstellerin wie ich tun, die sich mit einer Welt konfrontiert sieht, in der uns die Wildnis mehr und mehr abhandenkommt? Zuallererst wollte ich das, was von dieser Wildnis übrig war, kennenlernen, ich wollte sie erleben, ihr meine ganze Aufmerksamkeit widmen. Indem ich mich ihr ganz unvoreingenommen öffnete, schaffte ich es vielleicht, mich der »Verniedlichung« zu entziehen, mit der wir der Tierwelt heutzutage nur allzu oft begegnen. Wir verharmlosen die Wildnis, machen sie zahm und zu einem reinen Dekorationsgegenstand. Erst wenn wir einem wilden Tier von Angesicht zu Angesicht begegnen und mitten in der Nacht von seinem durchdringenden Schrei geweckt werden, wird uns bewusst, was es mit der Wildnis wirklich auf sich hat und warum sie ein so lebenswichtiger Teil unseres Wesens ist. Mich mit dieser im Verschwinden begriffenen Welt auseinanderzusetzen, ihre ökologische Vielfalt aufs Papier zu bringen und dabei vielleicht ein Stück Wildnis in mir selbst zu entdecken – das war das Mindeste, was ich als Schriftstellerin tun konnte.
Mit diesem Buch habe ich mich auf eine Reise begeben, die mich durch die Geschichte der Eulen dieser Welt geführt hat – von ihrem Weg aus der Wildnis hin zum erzwungenen Zusammenleben mit uns Menschen. Ich tauchte in die Welt dieser majestätischen Vögel ein, sowohl in die der wilden Eulen als auch in die all jener gefangenen Tiere, die von uns Menschen in Volieren und Auffangstationen gehalten werden. Ich erkundete die Mythologie der Eulen, ging ihrem Geheimnis auf den Grund und erhielt dabei Zugang zu einer tiefer liegenden Wahrheit. Mein Ziel war es, alle wilden Eulen Europas aufzuspüren, denn ich wusste, dass es da noch so viele mehr gab als die sechs britischen Arten, die auf meinem Fleckchen Erde lebten und die, während ich das hier schreibe, gegen das Aussterben kämpfen.
Meine Suche führte mich durch die düsteren Wälder, über die Felder und in die Täler meiner Heimat, bevor sie mich weiter in die Ferne zog, immer mit dem Ziel vor Augen, mehr über das Leben dieser nachtaktiven Raubvögel zu lernen. Welchen Platz nehmen sie in unserem Ökosystem ein? Was ist ihre Geschichte? Warum sind sie dem menschlichen Aberglauben zum Opfer gefallen? Und weshalb fingen wir irgendwann an, Eulen zu domestizieren, sie als Haustiere in Volieren zu halten und in »Eulenshows« zu präsentieren?
Während meiner Recherche stand ich regelmäßig in der Morgendämmerung auf und folgte dem weißen Schatten der Schleiereule, die in der Nähe meines Hauses lebte. Ich ließ mich in der Abenddämmerung durch die laubbedeckten Straßen Devons treiben, um die Waldkäuze zu finden, die ich hatte rufen hören. Und ich machte mich auf, all die Arten aufzuspüren, die ich noch nie im echten Leben gesehen hatte: den jähzornigen Steinkauz mit seinen gelben Augen, die seltene Waldohreule und die immer in Bewegung begriffene Sumpfohreule. Wer weiß? Möglicherweise schaffte ich es am Ende sogar, einen Blick auf einen der wilden Uhus zu werfen, von denen ich gehört hatte, dass sie im Norden Englands lebten. Und mit ganz viel Glück kreuzten meine Wege sich vielleicht sogar mit denen einer vagabundierenden Schnee-Eule.
Mein Plan war, jede einzelne dieser Arten genau zu untersuchen und ihr wundersames Wesen zu enthüllen, inmitten der Wälder, Wiesen, Moore und Sümpfe, in denen sie heimisch waren. Aber kaum hatte sich dieser Plan in meinem Kopf festgesetzt, wurde mein Sohn Benji schwer krank. Ich wusste, dass ich die Wahl hatte: Ich konnte mich auf seine Krankheit einstellen und meine Eulenforschung um ihn herum betreiben, so gut es eben ging, oder ich konnte die ganze Sache auf die lange Bank schieben. Es fühlte sich falsch an, unser komplettes Leben in den Wartemodus zu versetzen, also begann ich langsam, aber sicher mit meiner Arbeit. Immer wieder ergaben sich Schwierigkeiten. Wie alle Eltern hatte auch ich riesige Angst davor, mein Kind an eine Krankheit zu verlieren.
Benjis Krankheit zog sich über ein, dann zwei und dann über ganze drei Jahre hin. Sein Gesundheitszustand wollte sich einfach nicht verbessern. Genauso zog sich auch meine Eulenforschung in die Länge. Meine Ängste und die vielen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sahen, verlangsamten meine Recherche, sie eröffneten mir aber auch Chancen. Unerwartete Gelegenheiten ergaben sich: Einladungen nach Finnland, um dort Uhus zu beobachten, sowie nach Lappland, um dort den Spuren der Sperbereulen, der Bartkäuze und der Habichtskäuze zu folgen. In Serbien suchte ich nach der Waldohreule, und in Frankreich begegnete ich dem Sperlingskauz. Am Ende schaffte ich es, den europäischen Kontinent in seiner gesamten Länge und Breite zu bereisen. Auf der Suche nach den 13 Eulenarten, die auf diesem riesigen Flecken Erde zu Hause sind, fand ich trotz aller Unterschiede zwischen den Nationen mehr Gemeinsamkeiten, als ich erwartet hatte – insbesondere wenn es um die Hingabe ging, die wir Menschen der wundersamen Tierwelt um uns herum zuteilwerden lassen. Und anstatt mich meiner Familie und meinen Wurzeln zu entreißen, vertiefte meine Reise nur die Verbundenheit, die ich für meine Heimat empfand, und verstärkte meine Fähigkeit, mein Herz dem Naheliegenden zu öffnen.
Frauen sprechen gewöhnlich nicht über ihr Privatleben, aus Angst vor den Konsequenzen. Ich kam aber nicht umhin, auf meiner Reise viele kleine Wahrheiten für mich zu entdecken, die sich gesammelt hoffentlich zu einer großen Wahrheit zusammenfügten. Das Leben hatte mir knallhart in meine Pläne hineingegrätscht. Dennoch ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich neue Hoffnung schöpfte, besonders dann wenn es so schien, als sei alle Hoffnung verloren. Dieses Buch besteht aus zwei Hälften, es verknüpft zwei Erzählungen miteinander – die Geschichte der Eulen und die Geschichte meiner persönlichen Reise.
***
Seit mehr als sechzig Millionen Jahren durchstreifen Eulen den Nachthimmel – der Homo sapiens existiert erst einen Bruchteil dieser Zeitspanne, seit weniger als zweihunderttausend Jahren. Und genau wie unsere Vorfahren tun wir uns in vielerlei Hinsicht immer noch schwer, diese Vögel zu verstehen. Mithilfe von Genetik und Taxonomie haben wir Fortschritte gemacht und die Eulen in zwei uralte Familien eingeteilt: die Tytonidae, jene großköpfigen Eulen mit einem hohen, schmalen Schädel, asymmetrischen Ohren, einem herzförmigen Gesichtsschleier und langen, gefiederten Beinen (zu dieser Gruppe gehört Tyto alba, unsere Schleiereule), und die Strigidae, jene Eulen mit kürzeren, asymmetrischen Schädeln, zu denen alle anderen europäischen Arten gehören. Beide Eulenfamilien weisen Besonderheiten auf, über die kein anderer Vogel im Tierreich verfügt, sie sind perfekt an ein Leben in der Nacht angepasst. Der flache Gesichtsschleier, die großen Augen und der nach unten gebogene Schnabel verleihen der Eule ein weises, menschenähnliches Aussehen. Das vertraute Gesicht bildet einen eklatanten Kontrast zu der unheimlichen Fähigkeit der Eule, ihren Kopf um bis zu 270 Grad zu drehen. Diese einzigartige Eigenschaft der Eule – und die Tatsache, dass sie im Dunkeln schwer zu erkennen war, da ihr Flug im Gegensatz zu dem aller anderen Vögel geräuschlos ist – verstörte und faszinierte unsere Vorfahren und löste in ihnen eine Mischung aus Furcht und Faszination gegenüber dieser besonderen Tierart aus, die bis heute nicht ganz verschwunden ist.
Eulen üben eine komplexe Anziehungskraft auf uns Menschen aus. Ihr Gefieder ist im Gegensatz zu den steifen, starren Federn anderer Vögel weich und wirkt einladend »flauschig«. Diese sanften Konturen dienen jedoch nicht der Niedlichkeit; das Raubtier hat sie einzig und allein zur Tarnung entwickelt, genauso wie seine Musterung, die einen verblüffenden Camouflage-Effekt erzeugt. Die Federn der Eule sind Schalldämpfer, sie lassen sie lautlos durch die Lüfte gleiten, sorgen aber auch dafür, dass der Raubvogel selbst die leisen Geräusche seiner Beute nicht überhört. Während unsere Vorfahren die furchteinflößenden Fähigkeiten der Eulen als Jäger der Nacht bewundert haben, laufen wir heute Gefahr, die Tiere auf ihre Flauschigkeit zu reduzieren. Der kleine, hakenförmige Schnabel ist jedoch nicht dazu da, um den Vögeln ein süßes Aussehen zu verleihen – er ist zum Zerreißen von Fleisch gedacht. Ihr scharfes Gehör und der lautlose Sturzflug machen die Eulen zu perfekten gefiederten Mördern. Die furchterregenden Krallen dienen zum Angreifen und Zupacken – es sind zygodaktyle Klauen: Statt drei Zehen vorn und einer Zehe hinten ist der Fuß so aufgebaut, dass mithilfe eines Gelenks zwei Zehen vorn und zwei hinten platziert werden können. Die ungeheure Kraft ihres Griffes ist lebenswichtig für die Eule. Der Riesen-Fischuhu hat an der Unterseite seiner Zehen sogar Stacheln, um glitschige Beutetiere aus dem Wasser zu ziehen.
Aber vielleicht fühlen wir Menschen uns zu Eulen auch so hingezogen, weil wir sie für ihre Fähigkeit bewundern, bei Nacht zu fliegen. Die Eule ist gefiederte Perfektion: Anmut und Schönheit mit Krallen. Dieser Vogel ist nur für eins gemacht: zum Überleben, und zwar durch seine atemberaubende Tarnung. Im Laufe der Zeit haben sich einige misstrauische Geister gefragt, ob die Eule als perfekt ausgerüstetes Jagdtier nicht sogar übernatürliche Fähigkeiten besitzen könnte: Verbirgt sich unter ihrem Tarnmantel der Hang zum Bösen? Denn wenn wir Homo sapiens, die »weisen« Menschen, die ihre niederen Instinkte nicht immer ganz zu beherrschen scheinen, über die gleichen Fähigkeiten verfügen würden wie die Eule – würde uns das nicht unbezwingbar machen? Und so hat dieses mysteriöse Nachtgeschöpf von uns Menschen eine Bedeutung verliehen bekommen, die es zu mehr als einem einfachen Waldbewohner macht.
In der ägyptischen, keltischen und hinduistischen Kultur galt die Eule als Wächterin der Unterwelt, sie wurde als die geflügelte Hüterin der Seelen nach ihrem Tod verehrt. In Malaysia und Indonesien nennt man sie burung hantu, den »Geistervogel«. Die alten Griechen assoziierten sie mit Weisheit und Mut, die Römer mit Vorahnung und Angst. Ob weise oder böse – die Eule dient seit jeher als Projektionsfläche für uns Menschen. Aber warum diese Mythologisierung? Vielleicht haben wir diesen Hang zum Übernatürlichen, weil wir uns dadurch unser eigenes Wesen erklären und irgendwo auch zu unseren eigenen Ursprüngen zurückkehren können. Jenes von dem Biologen Edward O. Wilson so treffend beschriebene »süße Gefühl des Grauens, die bibbernde Faszination für Monster und gruselige Gestalten« ist tief in unserem Verstand verankert. Das menschliche Gehirn ist so konfiguriert, dass es vor Raubtieren und deren Bewegungen auf der Hut ist, und da Raubtiere dazu neigen, ihre Beute lange anzustarren, triggern die großen Augen der Eule diesen Reflex in uns. Wir fühlen uns bedroht, schrecken auf. Dieser Impuls hat den Menschen seit ältester Zeit das Leben gerettet, egal ob die empfundene Bedrohung als natürlich oder übersinnlich interpretiert wurde – ein Geist, ein Bär, eine Eule.
Um ihr Überleben zu sichern, haben Menschen gelernt, Gefahren aus dem Weg zu gehen; eventuell haben sie aus genau diesem Grund auch damit begonnen, Hunde und Katzen zu domestizieren. Auch das Geschichtenerzählen könnte ein Weg gewesen sein, die eigene Art zu schützen. Wie könnte man seinem Nachwuchs besser beibringen, sich in dieser Welt zurechtzufinden, als ihn durch eine spannende Geschichte auf mögliche Gefahren vorzubereiten? Vielleicht lieben wir Eulen genau deshalb: weil sie uns mit ihrem gespenstischen Wesen daran erinnern, dass wir auf der Hut sein müssen.
In Japan hingegen lautet das Wort für Eule fukuro, was übersetzt Glück bedeutet – die Eule ist dort ein Glücksbringer. Für die australischen Ureinwohner, die Aborigines, ist Eerin, die Graueule, eine Beschützerin, die tagsüber schläft und nachts durch die Lüfte gleitet, um die Menschen vor Gefahren zu warnen. Der südaustralische Stamm der Nyungar verehrt eine Steinfigur in Form einer Eule, Boyay Gogomat, den Schöpfer, Heiler und Zerstörer. Der Stamm der Wardaman in Nordaustralien glaubt, dass nahe einer einzigartigen Felsformation, die das Outback überragt, Gordol wohnt, die Eule, die die Welt erschaffen hat.
Eulen sind Teil unserer inneren Landschaft, sie sind aus der menschlichen Psyche und Gefühlswelt seit dem Moment, in dem der Homo sapiens sich seiner selbst bewusst wurde, nicht mehr wegzudenken. Wenn der Tag zu Ende ging und der Gesang der Vögel verstummte, erreichten uns die Stimmen der Eulen aus der Dunkelheit und jagten uns einen Schauer über den Rücken. Jahrtausendelang kreierten wir Mythen um den Vogel, wir betrachteten ihn durch die von Anthropologe Franz Boas so bezeichnete »Kulturbrille« – eine Art des Schauens, die in den Gegenstand der Betrachtung auch immer das Wesen des Betrachtenden und seinen eigenen Hintergrund mit hineinlegt. Eulen wurden ein Teil unserer spirituellen Landschaft, die sich zusammen mit unserem Identitätsgefühl als Spezies entwickelte. Sie sind aus unseren Mythen, aus der Kunst, Literatur und Religion nicht mehr wegzudenken und existieren für uns in einer seltsamen Polarität. Auf der einen Seite ist da die imaginäre Eule, der vom Menschen geschaffene Geistervogel, die Eule als kulturelles Symbol. Betrachten wir die Eule in diesem Kontext, sehen wir eigentlich nur uns selbst. Auf der anderen Seite sind da die echten, lebendigen Tiere, die atmen, fliegen und jagen, die Eule als ein wilder Vogel, der sich meist komplett außerhalb unserer Reichweite befindet. Je mehr wir in der Vergangenheit versucht haben, die Eule durch das Prisma unserer eigenen Erfahrungen zu verstehen, desto mehr haben wir ihr wahres Wesen verdunkelt.
Ich wollte die wahre Natur dieser Vögel erkunden. Mir ging es um die Begegnung, ich wollte die Tiere in freier Wildbahn beobachten. Um einige der extrem schreckhaften Eulen ins Visier zu bekommen, brauchte ich die Hilfe von Spezialisten; ich machte mich also auf die Suche nach Menschen, die mir helfen konnten. Dabei entstanden unerwartete Freundschaften. Meine Helfer unterstützten mich nicht nur bei meiner Suche nach den Eulen, sie lehrten mich auch etwas anderes: Ich lernte, dass jede Begegnung zwischen einer wilden Eule und einem Menschen vorsichtig und tastend vonstattengehen muss, dass jedes Zusammentreffen in dem Bewusstsein geschehen muss, dass ich das Tier möglicherweise missverstehe. So wie ich immer nur ein kleiner Teil der Landschaft der Eulen sein würde, würde ich auch von den Eulen immer nur einzelne Facetten kennenlernen. Das zu verstehen, war eine Reise für sich.
Im 1. Jahrhundert n. Chr. schrieb Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte:
Der Uhu gilt als ein böses Omen, da er ein Totenvogel ist. Er lebt in der Wüste und an kargen, unzugänglichen Orten. Sein Ruf ist ein Schrei. Wird er in einer Stadt oder bei Tag gesehen, kündigt das Unheil an, obwohl mehrere Fälle bekannt sind, in denen sich ein Uhu auf einem Hausdach niedergelassen hat, ohne dass dies fatale Folgen für die Bewohner hatte.
Mir gefällt besonders, dass Plinius erwähnt, einige Haushalte könnten gelegentlich von den fatalen Folgen eines Uhubesuchs verschont bleiben.
Die Ironie des Ganzen besteht darin, dass die meisten der 250 Eulenarten auf unserem Planeten in Wäldern entstanden sind – indem wir Menschen diese Wälder abholzen und niederbrennen, führen wir unseren eigenen Niedergang herbei, denn wir sind auf die Bäume angewiesen, um unsere Atmosphäre aufrechtzuerhalten. Früher lebten wir viel mehr im Einklang mit unserem Ökosystem. Wir waren von der Wildnis abhängig und respektierten die Tierwelt um uns herum auf eine Art und Weise, wie es für uns heutzutage nur noch schwer vorstellbar ist.
Im Dezember 1994 folgten drei Höhlenforscher dem alten Pfad eines Maultiers entlang einer Felswand an der Ardèche in Südfrankreich, als sie auf ein erstaunliches Monument aus alten Zeiten stießen. In einem Felsen entdeckten sie einen schmalen Schlitz; als sie sich hindurchzwängten, spürten sie einen kaum wahrnehmbaren Luftstrom, der aus der Richtung einiger Gesteinstrümmer herüberwehte. Der subtile Atem aus dem Felsen konnte nur eines bedeuten: Im Inneren befand sich eine unerforschte Höhle. Die Forscher räumten das Geröll beiseite und kletterten durch die freigelegte Öffnung. Im Schein ihrer Lampen stellten sie fest, dass die Höhle, die größer war als alle anderen, die sie bisher in der Region erforscht hatten, mit den Knochen eines ausgestorbenen Tieres übersät war: dem Höhlenbären.
Als die drei Forscher sich durch die Kammern der Höhle bewegten, die später unter dem Namen Chauvet-Höhle Berühmtheit erlangen sollte – benannt nach einem ihrer Entdecker, Jean-Marie Chauvet –, entdeckten sie erstaunliche Malereien an den Wänden. Zuerst erspähten sie rote Ockerpunkte und -schlieren, die von den Händen paläolithischer Künstler geschaffen worden waren, und dann, als sie weiter in die Kammern der über 240 Meter tiefen Höhle eindrangen, fanden sie an jeder Wand neue Kunstwerke. Der rote Ocker wurde von schwarzer Farbe abgelöst – diese Markierungen stellten sich als die ältesten heraus. An einigen Stellen waren Pferde und Bisons in die weiche Oberfläche der Höhlenwände eingraviert worden, vielleicht wurden sie sogar von menschlichen Fingern dort hineingeritzt. Hier und da lagen kleine Holzkohlefragmente herum, so als wären sie gerade erst von den Fackeln der Künstler abgeschlagen worden. Zuerst tanzten ein Mammut, dann ein Leopard und schon bald ein ganzes Pantheon von Tieren über die Wände; ihre Formen waren so lebendig, als seien sie noch ganz frisch.
Bei einer Kohlenstoffdatierung stellte sich später heraus, dass die ersten Malereien in der Chauvet-Höhle um 36.000 v. Chr. entstanden waren. Sie waren weit älter als alle Höhlenzeichnungen, die bisher entdeckt worden waren. Die Bären, Bisons, Rentiere, Höhlenlöwen, Nashörner, Pferde und Mammuts waren von talentierten Künstlern kreiert worden. Die Abbildungen waren detailreich und liebevoll und zeigten, welche Aufmerksamkeit und Ehrfurcht die Künstler bei ihrer Arbeit an den Tag gelegt haben mussten. Handelte es sich bei den Malereien um Andachtsbilder? Als die Höhlenforscher aus dem tiefsten Teil der Höhle zurückkehrten, fiel ihnen eine Stelle auf, an der der Boden eingestürzt war. Darüber, an der Decke, war der einsame Umriss einer Waldohreule eingraviert.
Die Chauvet-Eule ist die älteste Darstellung einer Eule, die der Welt bekannt ist. Sie ist 45 Zentimeter groß – fast so groß wie eine echte Waldohreule, Asio otus. Sie hat deutlich herausgearbeitete Ohrbüschel und hockt auf einem Felsvorsprung. Besonders interessant ist, dass ihr Rücken in Richtung des Betrachters zeigt, die Flügel sind gefaltet, das dichte Federkleid besteht aus 15 dicken Einkerbungen. Die Eule ist so in den Stein geritzt, als drehe sie ihren Kopf um 180 Grad nach hinten, um ins Innere der Höhle zu spähen, wo sie den Blicken der Menschen begegnet, die ihr in der Dunkelheit entgegenkommen. Für eine so realistische Darstellung muss der Künstler das echte Tier ausführlich beobachtet haben. Die bewusste Positionierung des Vogelbilds deutet außerdem darauf hin, dass sein Erschaffer etwas von der doppeldeutigen Natur der Eule verstanden haben muss; es wirkt, als sei er sich ihres mysteriösen Status an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit bewusst gewesen.
Wir wissen nicht, was die Eule damals für diesen Menschen, der sie in den Stein ritzte, bedeutete. Wir können lediglich vermuten, dass sie dem Künstler als wichtig erschien – eine hilfreiche Begleiterin womöglich, oder eine Beschützerin in den tiefsten Tiefen der Dunkelheit. Der Mensch ist von allen Lebewesen auf der Erde das einsamste, er ist sich seiner eigenen Spezies schmerzhaft bewusst. Trotzdem müssen unsere Vorfahren, wenn sie jeden Tag nach Nahrung jagten, sich auch mit ihrer Beute identifiziert haben. Um ein Tier erfolgreich in die Enge zu treiben, müssen sie es in- und auswendig gekannt haben – dabei müssen sie sich bewusst gewesen sein, wie groß die Ähnlichkeit zwischen ihnen und ihrer Beute war. Äußerlich mögen wir uns von anderen Tierarten unterscheiden, aber in unserem Inneren wissen wir, dass wir alle miteinander verwandt sind – irgendwo in der Vergangenheit haben wir einen gemeinsamen Vorfahren. Wer weiß? Vielleicht haben die Menschen früher die Eingeweide und Skelette von Vögeln studiert und sich dabei selbst wiedererkannt. Die Organe, die Wirbelsäule, der Brustkorb, das Brustbein, die armähnlichen Flügel mit den fingerartigen Spitzen, die mit den Beinen verbundenen Hüften, die Zehen – im Grunde bildet ein Vogelskelett auch die Struktur des menschlichen Körpers ab.
Diese stillschweigende Verbundenheit mit den Tieren hat diese frühen Menschen, oder zumindest ein paar von ihnen, in die unbekannten Tiefen der Chauvet-Höhlen gezogen, genauso wie sie gleichzeitig die Tiefen ihrer Vorstellungskraft aktiviert hat. Wenn wir uns heute die Meisterwerke an den Höhlenwänden ansehen, wo die Tiere aus den Spalten und Ritzen im Fels zu springen scheinen, ist es leicht, sich vorzustellen, dass unsere Vorfahren an diesem Ort einst das Gefühl hatten, mit der Tierwelt kommunizieren zu können. Wir können es nicht mit Sicherheit wissen, aber vielleicht haben die Menschen hier begonnen, Tiere mit symbolischer Bedeutung zu belegen und sie als Metaphern zu verwenden. Sie machten sich die wilden Lebewesen zu eigen, um sich die Welt zu erklären. Fing an diesem Punkt auch die Ausbeutung der Tiere durch den Menschen an? Am Anfang haben unsere Vorfahren die Tiere vielleicht als ihre wilden Begleiter respektiert, sie waren auf eine Art und Weise bedeutsam, die der Mensch heute vergessen hat. Vielleicht waren sie uns Menschen damals als magisch erschienen, da sie sowohl sterblich – denn das Leben jedes einzelnen Tieres war ja begrenzt – als auch unsterblich waren, jedes Tier ein Vertreter seiner Art, eines von vielen und damit ein Symbol für das große Ganze. Später wurden sie zu Rohmaterial für uns Menschen, sie wurden benutzt, unterjocht und zum Schweigen gebracht.
Mit der Verbreitung des Christentums im Mittelalter fielen Tiere als Symbole den religiösen Lehren zum Opfer. Eulen seien schmutzig und faul, behauptete der Benediktinerabt Hrabanus Maurus in De rerum naturis, geschrieben im Jahr 847 n. Chr. Die Enzyklopädie war als Handbuch für Prediger gedacht, und darin stand, dass Eulen schrien, wenn sie spürten, dass jemand sterben würde. Die Eulenillustrationen des Geistlichen weisen außerdem antisemitische Konnotationen auf. In der damaligen Zeit wurden Eulen in religiösen Kunstwerken oft mit einem menschlichen Gesicht dargestellt, der markante, hakenförmige Schnabel sollte dabei auf die angeblich lange, hakenförmige Nase der Juden anspielen. Szenen, in denen die Eule von anderen Vögeln drangsaliert wurde, waren häufig in mittelalterlichen Manuskripten zu finden – und tatsächlich schlagen Wildvögel oft Alarm, wenn sie eine Eule erblicken, weil diese eine Bedrohung für ihren Nachwuchs darstellt. Im Mittelalter sahen viele die Außenseiterstellung der Eule als Strafe dafür an, dass sie als Nachtgeschöpf Gottes Licht mied. In mittelalterlichen Kirchen und Klöstern sind geschnitzte Eulen oft im Holz von Miserikordien, kleinen Stützbrettern im Chorgestühl, zu finden. Auch hier wurden die Eulen so dargestellt, als würden sie von anderen Vögeln angegriffen, so als seien sie Sünder, die von der Masse verdammt wurden. Wenn sich Mönche auf diese Miserikordien setzten, taten sie das Werk Christi, indem sie das Böse mit ihrem Hinterteil zerquetschten.
Auch in den düsteren Renaissancegemälden von Hieronymus Bosch (1450–1516) sind jede Menge Eulen vertreten. Tatsächlich gibt es kaum ein Werk des Künstlers, in dem sich nicht irgendwo einer der Raubvögel versteckt. Boschs Eulen sind jedoch nicht bösartig, sie sind mit viel Bedachtsamkeit dargestellt. Es scheint, als würden sie das Geschehen auf den Gemälden nur beobachten, aber nicht selbst daran teilnehmen. Als Wesen, die in der Dunkelheit sehen können, könnten Eulen für Bosch entgegen der mittelalterlichen Auffassung sogar als richtende Instanzen gegolten haben. Die winzigen Eulen in seinen Gemälden lugen oft genau da neugierig hervor, wo ein Mensch eine Sünde begeht. In Der Garten der Lüste und in vielen anderen seiner Werke sind Eulen in Kleidungsstücke eingestickt, sie verstecken sich in einer Tasche, sitzen in einem Korb, schauen von der Fensterbank hinab, aus einem Baum oder einem Brunnen heraus, ihre Augen allgegenwärtig und wachsam. Seit jeher diskutieren Kunsthistoriker über die Bedeutung von Boschs Eulen. Sie scheinen für den Künstler symbolische Beobachter gewesen zu sein, mysteriös und geheimnisvoll. Im Rahmen der esoterischen Lehren, die Bosch vertrat, stellten sie ein Sinnbild für ein universelles Bewusstsein oder Gewissen dar, das größer ist als unser eigenes.
Albrecht Dürers Gemälde Käuzchen, ein melancholisches Porträt eines jungen Waldkauzes aus dem Jahr 1508, löst im Betrachter einer Woge der Sympathie aus. Das zarte Aquarell veranschaulicht das Verhältnis des Künstlers zu dem Vogel – statt die Eule zu sezieren oder sie als Projektionsfläche für christliches Gedankengut zu benutzen, fängt er in seinem realistisch wirkenden Gemälde jedes noch so kleine Detail ihres Wesens ein. Die großen Augen mit den dunklen Pupillen, die scharfen, gekrümmten Krallen, das weiche bräunlich-graue Gefieder, all das zeigt, wie umfassend sich Dürer mit diesem jungen nachtaktiven Raubtier auseinandergesetzt haben muss. Zarte Linien zeichnen die langen Schwungfedern und die weicheren Daunenfedern auf der Brust der Eule nach. Der Künstler hat den Jungvogel in einem wachen, aber dennoch nachdenklichen Moment eingefangen, seine Krallen sind auf einer glatten Fläche ausgebreitet, die Flügel gefaltet. Beim Betrachten spürt man regelrecht, dass die junge Eule noch ihr ganzes Leben vor sich hat – ein Leben, das sie in Gefangenschaft verbringen wird. Dürers Bild fängt das Potenzial dieser Kreatur gekonnt ein, es scheint fast so, als drücke er in seinem Porträt seine Missbilligung darüber aus, dass man diesen Vogel seiner Wildheit beraubt hat. Die Eule in dem Aquarell verharrt in einer rührenden, verletzlichen Pose, sie wurde ihrer räuberischen Kräfte beraubt und wartet nur darauf, in die Freiheit zu fliegen und ihr wildes Wesen wiederzuentdecken.
Im Lauf der Jahrhunderte legten wir den Eulen immer mehr symbolische Fesseln an – heutzutage sperren wir sie oft buchstäblich ein. Seit die Harry Potter-Bücher erschienen sind, in denen die Raubvögel als glamouröse Begleiter für Hexen und Zauberer dargestellt werden, sind Eulen als Haustiere immer beliebter geworden. In Großbritannien ist ihre Zucht in Gefangenschaft reguliert, sie werden ausschließlich von Spezialisten verkauft, allerdings wird es zunehmend leichter, Eulen aus zweiter Hand im Internet zu erwerben. Der Harry Potter-Effekt hat sich über die ganze Welt ausgebreitet: Über den ganzen Globus verteilt sind in den Social Media Gruppen rund ums Thema »Eulen als Haustiere« entstanden. Auf Java und Bali, wo es viele Vogelmärkte gibt und Eulen keine geschützte Art sind, werden in der Wildnis gefangene Eulen häufig als Haustiere verkauft. Auf dem Pramuka-Markt, dem größten Markt in Jakarta, stehen oft bis zu sechzig Eulen auf einmal zum Verkauf, wobei man aus acht verschiedenen Arten wählen kann. In Indonesien ist es eine Tradition, Vögel als Haustiere zu halten, jedoch wurden Burung hantu, oder »Geistervögel«, früher gemieden, da die Menschen sich vor ihnen fürchteten. Mittlerweile wird der Geistervogel als Burung Harry Potter verkauft, und die Preise für seltene Eulenarten steigen rasant an, da immer mehr Menschen eins der possierlichen Tiere besitzen möchten. Die Verschleppung der Raubvögel aus ihren natürlichen Lebensräumen hat negative Auswirkungen auf diese empfindlichen Ökosysteme, sie gefährdet den Erhalt seltener Arten und fügt den in Gefangenschaft lebenden Eulen großes Leid zu. Eine Untersuchung der Oxford Wildlife Trade Research Group aus dem Jahr 2017 ergab, dass viele Arten im Fernen Osten mittlerweile frei verkauft werden: Der Trillerzwergkauz, der Malaienkauz, der Sunda-Fischuhu, die südwestpazifische Schleiereule und viele andere Vertreter der Gruppe der Zwergohreulen zählen dazu, außerdem noch einige anderen Arten, die aufgrund schlechter Lichtverhältnisse, Federschäden oder weil sie als Küken verkauft wurden, nicht identifizierbar waren.
Ob eingesperrt in Käfigen, in hoher Auflösung auf unseren Fernsehbildschirmen oder in Naturdokumentationen, in denen die Kamera zwischen uns und dem wilden Tier vermittelt – die Eule ist für uns heute nach wie vor ein Paradox. Die ambivalente Darstellung von Eulen als einerseits niedlich und andererseits geheimnisvoll kann sie in unseren Augen ebenso grausam wie faszinierend erscheinen lassen. Während ihr kalter Reptilienblick unsere Existenz verschwindend klein erscheinen lässt, dient sie in Hollywoodfilmen als bloßer Handlungskatalysator, der eine schaurige Wendung des Geschehens ankündigt. Gleichzeitig wurde die Eule in unserer Konsumwelt auf den Status eines Sammelobjekts reduziert – sie ist ein Modeaccessoire und ein beliebtes Motiv für Geschirr und Kleidung. Kindern wird Eulenspielzeug geschenkt. Die Eule ist zu einem »Erlebnis« geworden, sie ist ein Sammlerstück, ein Abbild.
Wo inmitten dieses ganzen Eulenfanatismus ist die echte Eule abgeblieben?
An einem Nachmittag im März wanderte ich weit weg von den Häusern der Vorstadt hinein ins wuchernde Grün des nächsten Tales. Es war windig, meine Augen tränten, aber die Neigung des Weges zog meine Füße in gleichmäßigem Rhythmus voran. Der hüglige Boden unter mir fühlte sich an wie ein großes schlafendes Tier, und es strömte eine Energie von ihm aus, die meinen Geist ins Gleichgewicht brachte. Tüpfelfarne, Efeu und Hirschzungenfarne bedeckten den Grund und raschelten in der Brise, über meinem Kopf flatterten Krähen; der Wind warf all diese Geräusche wie Treibgut zusammen. Im Schlamm zeichneten sich Dachsfährten ab, ich entdeckte einige Fuchsspuren und dann die schlanken Abdrücke eines Rehhufs. Mit einem Mal wurde mir die lange Geschichte dieses Weges bewusst, all die menschlichen und tierischen Füße, die ihn in den letzten Jahrtausenden beschritten hatten.
Meine Gedanken schweiften zu der riesigen, einsamen Eiche, die würdevoll in der Mitte des Tales stand, eingepfercht zwischen den gewaltigen Erdhügeln, die auf der Landkarte bald als neues Baugebiet ausgezeichnet werden würden. Vor langer Zeit hatte es eine kleine Eichel geschafft, auf der verwilderten Wiese, den grasenden Schnauzen der Rinder zum Trotz, zu sprießen und Schritt für Schritt zu einem prächtigen Baum heranzuwachsen. In Gedanken tastete ich mich seinen gigantischen Stamm entlang, ich stellte mir die knorrige Rinde vor, auf der sich ein ganzes Ökosystem tummelte: Pilze, Algen und Pflanzen; Farne, Käfer, Wespen und Florfliegen; Vögel, Fledermäuse, Spitzmäuse und andere kleine Säugetiere.
Jedes Mal wenn ich wieder an einem Schild vorbeiging, das die baldige Bebauung des Tales ankündigte, kam ich ins Straucheln. Während ich das hier schreibe, wird das Feld umgegraben, die Erde wird in riesigen Haufen bewegt, der Grund gesiebt und eingeebnet. Wenn du dieses Buch liest, wird in dem Tal bereits eine Siedlung entstanden sein, Hunderte Häuser für menschliche Familien. Die Stadt dehnt sich aus, die Menschen brauchen Wohnraum, und dieser Raum braucht grünen Grund, um in die Höhe zu schießen. Ähnliche Entwicklungen spielen sich an vielen Orten ab. Nachts werden dann Neonlichter und Straßenbeleuchtung ihr Licht da in den Himmel strahlen, wo früher nur Dunkelheit herrschte. Die Tierwelt wird sich an diese Entwicklung anpassen müssen – oder sie wird verschwinden.