Читать книгу Kira und der Kunsträuber - Miriam Frankovic - Страница 3
WIEDER ZU HAUSE
ОглавлениеDurch das Fenster konnte ich sehen, wie die Schneeflocken wild hin- und her stoben und dann nach einem kurzen Irrflug weich auf dem Boden landeten. Der Garten sah aus, als hätte ihn jemand in weiße Watte gehüllt, und die Apfel- und Kirschbäume, die noch im Sommer mit ihren bunten Blüten geprahlt hatten, streckten nun ihre kahlen, weißen Äste von sich.
„Bist du froh, wieder hier zu sein?“ fragte Niklas und sah mich prüfend aus den Augenwinkeln an.
„Ja, und wie!“
So schön und aufregend unsere Reise nach Australien auch gewesen war: ich glaube, insgeheim waren wir alle froh, wieder zu Hause zu sein. In unserer alten Villa am Seerosenteich, in die wir im Mai letzten Jahres mit Sack und Pack eingezogen waren.
Mit einem Mal sprang die Tür auf, und Cangoo hopste mit einem Riesensatz ins Wohnzimmer. Timbu, der Grizzly, tapste auf seinen großen Pfoten behäbig hinter ihm her. Ehe wir uns versahen, hatte sich Cangoo drei Mandelhörnchen auf einmal vom Kuchenteller geschnappt.
„Hey, lass das. Die sind für Niklas und mich“, protestierte ich.
„Verrückte Sache“, rief Cangoo und verschlang die Mandelhörnchen mit einem Haps.
Für ein normales Durchschnittskänguru hatte Cangoo wirklich außergewöhnlich großen Appetit. An einem einzigen Tag konnte er so viel in sich hineinstopfen wie andere nicht einmal in einer Woche. Trotzdem wurde er nie satt. Er fraß sogar mehr als Watahulu, unser Bilder malender Elefant, und das sollte schon was heißen.
„Das musst du dir echt abgewöhnen“, knurrte Timbu und sah Cangoo so streng an, wie er konnte. Denn Timbu war eigentlich die Gutmütigkeit in Person, und es fiel ihm sehr schwer, streng auszusehen. „Was?“ fragte Cangoo kauend.
„Sachen in dich rein zu schlingen. Erst recht, wenn sie dir nicht gehören.“
„Du nervst zum Beispiel!“ erwiderte Cangoo gelassen, weil er keine Lust hatte, sich aufzuregen. „Überhaupt, wieso rennst du dauernd hinter mir her und gibst überall deinen Senf dazu?“
„Dazu sind Freunde doch da“, meinte Timbu und kratzte sich verlegen hinterm Ohr.
„Ich brauche aber keinen Freund, der so an mir klebt wie du!“ Timbu deutete mit seiner großen Pranke auf Cangoos die Nase: „Da klebt auch was. Schokolade.“
„Ich brauche auch kein Kindermädchen“, maulte Cangoo, streckte seine Zunge raus so weit er konnte und schleckte den Rest Schokolade von seiner Nase ab.
„Sei froh, dass du einen Freund hast“, mischte Niklas sich ein. „Wahre Freunde wie Timbu sind nämlich eine echte Seltenheit.“
Unwillkürlich musste ich wieder an unsere Jagd auf die Rasomiten denken. Timbu hatte sich damals sofort bereit erklärt, uns im Kampf gegen die gefährlichen Ganoven zu unterstützen. Seit wir sie alle gemeinsam besiegt hatten, hing er wie eine Klette an Cangoo und schien einen Narren an ihm gefressen zu haben, was niemand verstand. Am wenigsten Cangoo selbst, der monatelang nichts anderes im Kopf gehabt hatte, als einen Freund für sich aufzutreiben. Jemand, den er mit niemandem teilen musste. Und nun, da er ihn hatte, passte es ihm auch nicht.
„Wie schaffst du es eigentlich, so viel in dich rein zu stopfen, ohne dass dir schlecht wird?“, fragte Niklas Cangoo.
„Ich bin erst elf und muss groß und stark werden“, antwortete dieser, grapschte gierig nach dem letzten Erdbeertörtchen, das ich mir eigentlich gerade nehmen wollte, und schob es sich ins Maul. Timbu wiegte bedächtig mit seinem Riesenschädel hin und her: „Ähm... hat hier zufällig noch jemand Honig?“
„Mein Vater hat zehn Eimer gekauft. Stehen in der Speisekammer“, antwortete ich. Timbu strahlte. Es gab nichts, was ihn so glücklich machen konnte wie ein Eimer Honig, und so tapste er hinter Cangoo her eilig aus dem Zimmer. Enttäuscht sah ich auf den leeren Kuchenteller. „Hier, nimm meins“, sagte Niklas und schob mir sein Erdbeertörtchen hin. Und wie jedes Mal, wenn er lächelte und ich die kleine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen sah, machte mein Herz einen Hüpfer. „Soll ich dir mal was sagen, Kira? Weihnachten und Neujahr ohne dich... und die anderen... Das war ganz schön öde.“
„Ehrlich?“ fragte ich und merkte, wie ich rot anlief.
Niklas nickte. „Ehrlich.“
Und wie jedes Mal, wenn er so etwas zu mir sagte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Vor lauter Verlegenheit sah ich schnell wieder aus dem Fenster. „Schön, oder?“ meinte Niklas.
„Der Schnee?“
Niklas nickte. „Ja. Sieht aus, als ob die Welt neu geboren worden ist. Als Wolke. Oder Zuckerwatte.“
Ich klaubte eine Erdbeere aus meinem Törtchen und schob sie mir langsam in den Mund. „Und alles, was unter dem Schnee liegt, ist verschwunden und kommt vielleicht nie wieder.“
Ich dachte daran, wie sehr sich alles verändert hatte, seit mein Vater mir vor ungefähr einem Jahr meinen ersten Computer geschenkt hatte. Cangoo hatte sich nach einer langen Reise durchs Internet eines Tages plötzlich aus dem Computer gequetscht und stand hungrig mitten in meinem Zimmer. Und so waren nach und nach auch die anderen in mein Leben getreten. Niklas war zum ersten Mal mit mir Eis essen gegangen. Wir waren von unserer kleinen, immer kalten Wohnung in die große alte Villa am Seerosenteich umgezogen und hatten ein gefährliches Abenteuer gegen die Rasomiten bestanden, böse, habgierige Ritter aus dem Mittelalter, die unser Gespenst Albert entführt und im Alten Leuchtturm gefangen gehalten hatten, aus dem wir ihn dann befreiten.
„Und jetzt?“ fragte Niklas, nachdem wir das letzte Krümelchen Kuchen verputzt und den heißen Kakao mit Sahne ausgetrunken hatten. „Wie wär’s mit einer Schneeballschlacht?“
„Wenn du unbedingt wieder verlieren willst“, antwortete ich grinsend. Im nächsten Augenblick hatte ich ein Sofakissen im Gesicht. „Na, warte“, rief ich, schnappte mir ein Kissen und warf es Niklas mit aller Wucht an den Kopf.
Später, als Niklas nach Hause gegangen war, fiel unsere Reise nach Australien mir wieder ein. In der ganzen Zeit hatte es keinen Augenblick gegeben, in dem ich nicht an Niklas gedacht hatte. Immerzu wünschte ich mir, dass er auch da wäre, bei mir. Am Strand beim Muscheln suchen. Wenn wir mit unserem klapprigen Mietwagen laut singend staubige Landstraßen entlang fuhren. Als Cangoo uns in Alice Springs, wo er geboren war, seine alten Freunde vorstellte, die ihn alle mit großem Trara begrüßten. Als wir staunend und schwitzend (denn wenn bei uns Winter ist, ist in Australien Sommer) vor den blühenden Eukalyptus- und Akazienbäumen standen, von denen manche bis in den Himmel hinein zu wachsen schienen. Als wir unseren ersten Koala entdeckten, der wie ein plüschiger Teddybär aussah und gerade schwerfällig einen Baum hochkletterte. Als Cangoo, tolpatschig wie er war, um ein Haar auf eine Tigerotter, eine gefährliche Giftschlange, getreten wäre und sie dann mit lautem Gebrüll verscheuchte. Und beim Tauchen im Great Barrier Reef, wo wir Fische sahen, die so bunt und schillernd waren, dass sie aussahen wie angemalt. Als wir alle gemeinsam vor einem Baobab standen, einem Affenbrotbaum, dessen dicker Stamm mich an eine bauchige Flasche erinnerte. Mein Vater hatte irgendwo gelesen, dass dieser Flaschenbaum älter als vierhundert Jahre alt war. Also ungefähr vierundzwanzig Mal so alt wie Niklas und ich zusammen. Vielleicht sogar noch älter. Immer stellte ich mir vor, Niklas wäre dabei. Ich stellte mir vor, wie ich zu ihm sagte, dass der Baobab wie ein Kamel große Mengen Wasser speichern konnte. Und dann malte ich mir aus, wie Niklas mich staunend ansehen und sagen würde: „Ehrlich?“
Und dass seine grünen Augen dabei vor lauter Staunen so dunkel werden würden wie das Moos, das am Waldrand wächst. In manchen Augenblicken wünschte ich mir Niklas so sehr herbei, dass ich das Gefühl hatte, er sei tatsächlich da, und würde diese aufregende, fremde Welt voller Kängurus, Koalas, bunter Fische, roter Felsen und Baobabs gemeinsam mit uns erforschen. Dann ertappte ich mich mit einem Mal dabei, wie ich etwas zu ihm sagte. Und wie er mir antwortete. Und wenn ich mich dann zu ihm umdrehte, war er plötzlich verschwunden. Nur mein Vater, Cangoo, Timbu und die anderen standen da und grinsten mich vergnügt an. Und Mintz, unser hellsichtiger Papagei, kreischte vor Vergnügen laut auf: „Kira ist verknallt. Kira ist verknallt.“
Als ich in dieser Nacht in Australien mitten zwischen dem Pazifischen und dem Indischen Ozean in meinem Schlafsack lag, in einem großen Campingzelt, das ich mir mit meinem Vater, Cangoo und Timbu teilte, dachte ich noch lange darüber nach, was es bedeutet, verknallt zu sein. Ich wusste es nicht. Und eigentlich war es mir auch egal, ob ich verknallt war oder nicht. Es gab zwar Mädchen in meiner Klasse, die anderen Mädchen hinter vorgehaltener Hand zutuschelten, dass sie sich in einen Jungen verknallt hatten. Dann folgte immer großes Gekicher. Und ich hatte auch schon davon gelesen, in Büchern oder Zeitschriften. Aber wie es wirklich ist, wenn man in jemanden verknallt ist: davon hatte ich keine Ahnung. Ich wusste nur, dass die Wolken schneller flogen, wenn Niklas in der Nähe war. Die Sonne schien heller zu scheinen. Das Gras schien saftiger zu sein. Der Kuchen schmeckte süßer als sonst, und der bewaldete Boden in der Nähe von unserer alten Villa am Seerosenteich kam mir viel weicher vor, seit ich zum ersten Mal mit Niklas Eis essen gegangen war. Ich war noch nie von einem Jungen geküsst worden. Und ich hatte noch nie einen Jungen geküsst. Und manchmal, wenn ich daran dachte und die anderen aus meiner Klasse darüber reden hörte, grübelte ich darüber nach, ob mit mir vielleicht etwas nicht in Ordnung war. Aber wenn Niklas wieder bei mir war, wurde mir das alles egal. Ich dachte nicht mehr darüber nach, ob es an der Zeit sei, einen Jungen zu küssen, weil ich bald elf Jahre alt werden würde. Das einzige, was zählte, war, dass Niklas in der Nähe war. Dass er, während wir in Australien waren, auf mich wartete, wie er es versprochen hatte. Dass alles mit ihm vertraut war und gleichzeitig ganz neu. Dass sein Haar so gelb war wie ein blühendes Kornfeld und nach einer Mischung aus Meer, frischen Himbeeren und Waldboden roch.
Es klopfte an der Tür, und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch.
„Ja?“
Mein Vater steckte seinen Kopf zur Tür herein und sah, dass noch Licht brannte. „Du bist noch wach?“
„Ja.“ Ich richtete mich im Bett auf. Mein Vater kam rein, zog die Tür leise hinter sich zu, um die anderen nicht zu stören und setzte sich zu mir auf den Bettrand.
„Alles in Ordnung?“ Er sah in mein nachdenkliches Gesicht.
„Ja. Ich musste nur gerade an Australien denken.“ Mein Vater nickte bedächtig. „Hat es dir dort gefallen?“
„Mmh, sehr“, murmelte ich.
Er lächelte, und wieder wurden die Grübchen in seinen Wangen sichtbar. „Mir auch“, sagte er. „Weißt du eigentlich, dass manche Baobabs mehrere tausend Jahre alt werden? Und dass ein Koala länger als zwanzig Stunden am Tag schlafen kann?“
Ich nickte. „Sogar länger als ein Faultier. Wieso eigentlich?“
„Um Energie zu sparen“, sagte mein Vater.
„Aber dann bleiben nur vier Stunden am Tag übrig, in denen der Koala wach ist.“
Wieder nickte mein Vater. „Meistens nachts. Viel kriegt er wohl nicht mit von der Welt.“
„Vielleicht doch“, entgegnete ich. „Vielleicht kommen dem Koala die vier Stunden, die er wach ist, viel länger vor als wenn wir vierzehn oder fünfzehn Stunden wach sind.“
„Wenn wir das nächste Mal nach Australien fliegen, fragen wir ihn, okay?“ meinte mein Vater und setzte sein spitzbübisches Gesicht auf.
„Okay.“
Er beugte sich zu mir und küsste mich auf die Stirn. „Schlaf schön, Kira!“
„Du auch“, murmelte ich und merkte, wie mir schon fast die Augen zufielen. Und kurz vorm Einschlafen dachte ich daran, dass Niklas‘ Augen, als er mit dem Kissen nach mir geworfen hatte, so grün gefunkelt hatten wie das Gras in unserem Garten, wenn es gerade frisch gemäht worden ist.