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Samstag, 11. August 2012

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Miriam Gier






Der Geranienmörder

Tod im Defereggental

„… Die Vögel zwitschern munter schon,

es ist gewiss kein Stückchen Hohn!

Sie rufen zu, wie schön es ist,

wenn die Sonne Dir den Tag verspricht….“

Für Stefan!

„Da ist es!“ Ella beugte sich nach vorne. 10 Stunden Autofahrt und sie hatten endlich ihr Ziel erreicht. Am Ende des kleinen asphaltierten Weges, der schmal einen kleinen Hügel hinaufführte, stand das Gästehaus Leitner.

Ella schob ihre Sonnenbrille ins Haar und musterte das Haus durch die Windschutzscheibe ihres Autos.

Üppige Geranien auf den Balkonen, überall Holz. Es schien wie ein Haus aus vergangenen Zeiten, als wäre die Zeit hier einfach stehengeblieben, nicht muffig, es erstrahlte in altem Glanz. Auf zwei Stockwerken führte ein langer Balkon fast komplett um das Haus herum. Unter dem Dachgiebel befand sich noch ein kleiner Balkon. Wohin man sah, dekorierten Blumenkästen mit großen rot blühenden Geranien die Fassade.

Tom parkte den Wagen auf einem der drei Stellplätze direkt vor dem Eingang. Ein Wagen mit Münchener Kennzeichen war auf dem Parkplatz daneben geparkt. Der dritte Platz war frei.

Ella musterte das Haus.

Ein paar Stufen führten am Eingang hinauf zu einer kleinen Terrasse, auf der eine Holzbank mit einem Tisch stand inmitten von Blumen in Töpfen und Blumenkästen. Links davon führte die Haustüre ins Innere des Hauses. Anscheinend hatte unmittelbar zuvor jemand auf der Bank gesessen. Ein Aschenbecher und ein Glas standen auf dem Holztisch, daneben lag eine aufgeschlagene Zeitschrift, auf der eine Brille lag.

Es war Viertel vor vier am Nachmittag, als Ella und Tom ausstiegen und aus dem Kofferraum und vom Rücksitz ihr Gepäck nahmen, um alles hineinzutragen. Es war heiß. Der Himmel erstrahlte in ungetrübtem Sommerblau.

Ella spürte die Hitze, die ihr entgegenschlug und Stille. Das einzige, was diese Stille durchbrach, war das Rauschen eines Baches.

Es war der 11. August. Mit diesem ersten Urlaubstag schien nun auch pünktlich der Sommer Einzug zu halten.

Die letzten Wochen waren verregnet und kalt gewesen, so dass sie zu Hause im Münsterland ihre neue Terrasse, auf die sie lange gespart hatten, noch gar nicht genießen konnten. Seit Ihrer Abfahrt zu Hause in den frühen Morgenstunden schien die Sonne und hier in Osttirol konnte man von gefühlten 45 Grad sprechen ohne auch nur den kleinsten Luftzug.

Ella schwitzte, und das, obwohl sie noch gar keine großen körperlichen Anstrengungen hatte bewältigen müssen.

Sie hatte gerade ihre Reisetasche über ihre Schulter geschwungen und das Körbchen mit einigen Lebensmitteln in die andere Hand genommen, als eine Frau mittleren Alters aus der Haustüre auf die Terrasse trat.

„Familie Köster?“ Fragend schaute sie Ella und Tom mit zurückhaltendem Blick an. Tom, der noch nach Gepäckstücken im Kofferraum gesucht hatte, schlug nun den Kofferraum zu und ging beidseitig bepackt an Ella vorbei die Stufen hoch auf sie zu.

„Ja, Köster, guten Tag!“ Er schob die schwere Reisetasche, die er über seine rechte Schulter gehängt hatte, mit einem Heraufstrecken seiner Schulter weiter nach hinten und gab ihr seine Hand zur Begrüßung. Auch Ella stellte das Körbchen auf den Boden und streckte ihr zur Begrüßung ihre Hand entgegen.

„Leitner. Herzlich Willkommen in St. Jakob. Bitte kommen Sie.“ Sie wartete nicht lange, drehte sich um und ging ins Haus. Ella und Tom folgten ihr, bemüht, den Anschluss nicht zu verlieren.

Ihr Händedruck war kräftig, wie der einer Frau, die oft zupacken musste. Ihr Blick war direkt und geradeaus, wie der Blick eines Menschen, der einen bis auf den Grund seiner Seele durchleuchten konnte, dem niemand etwas vormachte.

Ihre Haare waren zu einem lockeren Dutt gesteckt. Zu ihren ausgebeulten Jeanshosen trug sie eine Trachtenbluse. Ihre Füße steckten in festen Wanderschuhen. Eine schmucklose Frau mit einem resoluten aber doch freundlichen Gesicht.

Im kleinen dunklen Flur verschwand sie kurz nach rechts in einem Raum, anscheinend dem Frühstücksraum für die Gäste, die nicht wie Ella und Tom ein Apartment gemietet hatten, sondern ein Zimmer mit Frühstück.

Ella und Tom warteten im Gang.

Das Sonnenlicht fiel ins Innere des Hauses, bis Tom die Türe hinter sich schloss. Danach wurde es fast dunkel. Durch den langen Flur, von dem die Räume abgingen, gab es kaum Licht, das von außen das Innere erhellte, sobald die Haustüre geschlossen wurde.

Frau Leitner kam schließlich zurück mit einem Schlüssel.

„Ihr Apartment ist auf der ersten Etage. Die Treppe rauf, links und dann gerade aus. Sie laufen dann direkt drauf zu. Der Schlüssel passt auch auf die Haustüre. Bitte schließen sie die Türe abends ab.“ Sie gab Tom den Schlüssel.

„Biomüll bitte in die grüne Tonne am Ende des Balkons, dorthin gelangen Sie durch die Balkontüre vom Flur abgehend auf Ihrer Etage.“ Wies sie Ella an. „Restmüll bitte in den Container hinter dem Haus. Da können Sie auch Glas hinstellen, das wird einmal in der Woche abgeholt.“

„Danke.“ Tom nahm den Schlüssel und drehte sich zum Gehen zur Treppe. Hier schien alles fast schon übertrieben ordentlich gehalten zu sein.

„Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen.“ Rief sie Ihnen noch hinterher. „Morgen früh können Sie dann noch die Anmeldung ausfüllen.“

„Vielen Dank! Bei dem tollen Wetter bin ich da ganz zuversichtlich, dass wir uns hier wohlfühlen werden.“ Tom wuchtete die große Tasche und einen Rucksack die Treppe hinauf. Ella stieg hinterher.

Auf der ersten Etage führte der Flur an drei anderen Türen vorbei direkt auf das Apartment zu. An der Türe hing aus Salzteig gefertigt ein kleines Schild „Apartment“.

Tom stellte die Taschen ab, schloss die Türe auf und wuchtete das Gepäck hinein.

Ein kleiner Flur mit Garderobe, von dem links die Küche abging, geradeaus eine kleine Toilette.

Rechts befand sich ein weiterer kleiner Flur. Von dort lag links ein großes Bad, geradeaus das Schlaf- und Wohnzimmer.

Es gab einen Fernseher, zwei Sessel, einen kleinen Tisch und eine große Türe, die zum Balkon führte.

Ella zog die Gardinen auf und öffnete die Balkontüre. „Schau! Wie schön, der Balkon ist - richtig groß mit zwei Stühlen und einem ausklappbaren Tisch!“

„Da wirst Du nach unseren Touren noch schön in der Sonne sitzen können.“ Antwortete Tom.

Er wusste, dass Ella deswegen direkt auf den Balkon zugegangen war. Sie hatte gehofft, ein Plätzchen zu finden, an dem sie auch einfach mal ein wenig die Sonne genießen konnte. Ein bisschen faul sein und das Nichtstun genießen.

Der Urlaub in den Bergen bedeutete Tom mehr als Ella. Ella liebte das Meer. Tom war der Mann aus den Bergen, wie sie ihn immer nannte – nicht weil er von dort kam, sondern weil er die Berge so sehr liebte.

Sie hatten sich darauf geeinigt, ihre Urlaube abwechselnd in den Bergen und dann wieder am Meer zu verbringen, damit jeder sein Seelenheil fand.

Insgeheim war Ella noch auf der Suche nach dem perfekten Urlaubsziel, das entweder Berge und Meer auf wunderbare Weise vereinte oder eben für einen erfüllten Urlaub zweier Seelen gleichermaßen das hundertprozentige Reiseziel verkörperte.

Ihre Hochzeitsreise vor vier Jahren war so ein Traumziel gewesen. Ein Traumhaus mit Pool in Florida. Die Everglades, wundervolle Strände einzelner Islands, die Keys, das alles hatte sie beide sehr begeistert.

Dieses Jahr ging es eben in die Berge.

Ella freute sich, dass das Wetter gut war, so dass sie auch hier ein bisschen Sonne tanken konnte. Bei schlechtem Wetter beschlich Ella in den Bergen meist eine erdrückende Stimmung, die sie nicht mochte. Bei blauem Himmel konnte sie die Berge auch genießen.

Tom hatte zu Hause einige Touren mit Ella geplant und auch Ella freute sich nun ehrlich darauf.

Wenn sie mit Tom auf einem Gipfel stand oder inmitten einsamer Natur, war sie letztendlich auch immer begeistert gewesen. Ohne ihn hätte sie solche Touren vermutlich nie gemacht, viele schöne Orte so auch nie kennengelernt.

Mit ihm war es auch in den Bergen schön, wenn auch ab und zu ein bisschen anstrengend.

Er hatte immer Rücksicht darauf genommen, dass Ella zwar gerne, aber nie mit der gleichen Euphorie wie er, wanderte.

Er achtete stets darauf, dass ihre Touren abwechslungsreich und nie zu schwer waren, damit Ella sich auch dafür begeistern konnte. Bisher war ihm das auch immer gelungen.

Sie packten als erstes ihre Taschen aus und räumten den Kleiderschrank ein.

Ella ging in die Küche und begann, den Kühlschrank einzuräumen.

„Willst Du zuerst duschen?“ Rief Tom aus dem Schlafzimmer. Er hatte sich aufs Bett gelegt und den Fernseher eingeschaltet.

„Geh Du ruhig zuerst, dann kann ich in der Zeit gleich noch die letzten Sonnenstrahlen genießen. Ich setze mich dann noch ein bisschen auf den Balkon.“

„OK.“ Tom rollte sich träge vom Bett und schlurfte ins Bad. Er spürte alle Knochen, die Fahrt war anstrengend gewesen. Die Autobahn voll. Ella hatte zwar angeboten, dass sie sich abwechseln könnten, aber Tom war dann doch die ganze Strecke durchgefahren. Eine heiße Dusche würde jetzt gut tun und seine Lebensgeister wieder wecken.

Ella hatte zwischenzeitlich alle Lebensmittel eingeräumt, die sie mitgebracht hatten, und rückte sich nun einen Stuhl auf dem Balkon nach rechts in Richtung Sonne zurecht.

Vielleicht würde die Sonne noch eine Stunde den Balkon mit ihren Strahlen verwöhnen, dann würde sie wohl hinter dem hochgewachsenen Baum neben den Stellplätzen verschwinden.

Bevor sie sich setzte, beugte Ella sich noch über die Balkonbrüstung.

Die Geranien waren so hoch gewachsen, dass die Blüten an Ellas T-Shirt gedrückt wurden. Links am Haus plätscherte der Bach, den sie bei Ihrer Ankunft gehört hatte.

Rechts sah sie den Weg, den sie hergefahren waren. Unten rechts stand ihr Auto geparkt und bedenklich nah schlenderten in diesem Moment drei braunweiße Kühe daran vorbei. Sie schienen ihren Weg zu kennen, zumindest trieb sie niemand an. Geradeaus sah sie einen Kirchturm in einiger Entfernung. Der Ort war überschaubar. Sie konnte ganz St. Jakob von diesem Platz aus sehen, auch weil das Haus etwas erhöht am Ortsrand lag.

Es war nichts zu hören, außer dem Plätschern des Baches und einem gleichmäßigen Zirpen. Nichts. Kein Auto fuhr, keine Stimmen waren zu hören, kein Mensch war zu sehen. Nirgends. Ruhe, Einsamkeit, Hitze. Die Stille schien hier an diesem Ort die Stimme der Hitze zu sein.

Sie setzte sich und schloss die Augen. Von drinnen hörte sie entfernt die Dusche. Dann eine der Kühe unten am Haus.

Sie musste kurz eingenickt sein.

Als sie die Augen öffnete, schaute sie direkt in die Sonne. So lange konnte sie nicht geschlafen haben. Sie blinzelte und hielt die Hand über ihre Stirn.

Für einen kurzen Moment konnte sie nicht richtig sehen, weil sie zu schnell in das Sonnenlicht geschaut hatte.

Sie erkannt Umrisse. Rechts am Ende des langen Balkons war jemand. Ella kniff ihre Augen zusammen und sah die Umrisse einer Frau auf dem hüfthoch abgetrennten Nachbarbalkon. Die Sonne war noch so stark, dass es Ella schwer viel, mehr zu erkennen, doch langsam wurden die Umrisse präziser.

Weil sie zwar neugierig war, aber mit niemandem sprechen wollte, kniff sie die Augen vorsichtig weiter zusammen.

Ihre Hand ließ sie dabei langsam auf ihre Beine sinken und stellte sich schlafend.

Durch ihre Wimpern linste sie zu der Frau, die sich in Zeitlupentempo bewegte.

Sie stand vor den Blumenkästen und zupfte langsam Blüten und Blätter mit der einen Hand und legte sie langsam in ihre andere Hand. Sie starrte auf die Blumen und zupfte weiter.

Es war immer noch unglaublich heiß. Die Frau trug einen Pullover, darunter eine Bluse und eine lange Hose. Ella wurde schon beim Hinschauen heißer, als ihr ohnehin schon war.

Die Balkontüre hinter der Frau war geöffnet. Ein Männerhemd hing auf einem Bügel an einem Haken neben der Türe. Sie schien ganz versunken und zupfte mit langsamen Bewegungen. Ruhig legte sie weiter das gezupfte Grün in ihre andere Hand.

Wie alt mochte sie sein? Im Rentenalter, schätzte Ella. Die Frau drehte sich langsam zu ihr um und starrte Ella plötzlich an.

Ella bemühte sich, keine Regung zu zeigen und hielt die Luft an. In diesem Moment sah sie verschwommen durch ihre halb zugekniffenen Augen, dass ein Mann auf den Balkon trat. Er trug ebenfalls eine lange Hose, jedoch zumindest ein kurzärmeliges Hemd und legte seine Hand sanft auf die Schulter der Frau.

Sie drehte sich wieder zu den Blumen, als spürte sie seine Berührung gar nicht und kümmerte sich weiter um die Pflanzen.

Der Mann stand neben ihr und beobachtete, was sie tat. Ruhig und geduldig. Die Frau zupfte weiter, sammelte weiter. Es vergingen einige Minuten.

Die Ruhe und Hitze schienen noch extremer als vorhin, es fiel schwer, sich schlafend zu stellen. Die Hitze staute sich auf dem Balkon, wie in einem Brutkasten.

Außer diesem Paar war weit und breit niemand zu sehen. Wie die beiden so vertieft in einen Blumenkasten schauten, ergriff Ella die Gelegenheit, schnell rein zu huschen, ohne vielleicht doch noch grüßen zu müssen.

Wunderlich – so geistesabwesend und starr hatte die Frau nebenan gewirkt.

Vielleicht war sie krank. Noch einmal lukte Ella vorsichtig um die Ecke zu den beiden und versuchte, zu lauschten.

Der Mann saß nun in einem der beiden Gartenstühle. Die Frau gab ihm mit hölzerner Bewegung einen Kuss.

„Soll ich Dich nicht doch begleiten, meine Liebe?“

„Ich kenne den Weg.“ Antwortete sie, schaute zum Dorfplatz, dann zu ihrem Mann.

„Ich kenne den Weg.“ Wiederholte sie und ging hinein.

Müde und noch ein bisschen benommen, ging Ella nun ins Bad.

Tom lag in seinen Shorts frisch geduscht auf dem Bett. Der Fernseher lief. Er schnarchte leise.

Nach der Dusche würde sie ihn wecken und mit ihm ein Restaurant suchen – es war an der Zeit, sich etwas Leckeres zu gönnen. Nach der langen Fahrt hatten sie verdient, ein gutes Essen vorgesetzt zu bekommen. Selbst Kochen stand erst morgen auf Ellas Plan. Beim Essen konnten Sie dann ihren ersten richtigen Urlaubstag planen.

Ella freute sich sehr. 2 Wochen nur Tom und nur das tun, wozu sie Lust hatten. Keine Verpflichtungen. Herrlich!

Während Ella ihre Dusche genoss, sollten Geheimnisse den Beichtstuhl verlassen.

„ ... Deine Sünden sind Dir bereits vergeben.“

Michael Huber drückte sich näher an den Beichtstuhl. Ein leises Schluchzen drang heraus. Er musste vorsichtig sein, damit ihn niemand bemerkte.

„Niemand kann das je vergeben, Gott wird mich strafen, für das, was ich getan habe. Viele Leben sind unglücklich geworden durch das, was ich getan habe. Die Last wiegt so schwer auf meiner Seele, aber ich kann mich nach all den Jahren nicht offenbaren.“ Das Schluchzen der Frau wurde lauter.

Pfarrer Meisner begann zu beten.

Michael Huber schlich weiter durch das Kirchenschiff vorbei am Beichtstuhl, um das Werkzeug, das er dem Pfarrer bringen sollte, vor die Türe zur Sakristei zu legen. Ganz so, wie ihm sein Chef aufgetragen hatte.

Als er vor der Türe der Sakristei stand, wurde der Vorhang des Beichtstuhls bei Seite geschoben.

Michael Huber drehte nicht seinen Kopf in die Richtung, sah aber aus dem Augenwinkel, dass die alte Stuber, die derzeit im Gästehaus Leitner wohnte, heraustrat.

Sie wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und ging gebückt zum Portal der Kirche, nahm Weihwasser aus dem Becken, bekreuzigte sich und verließ das Gotteshaus.

Die alte Stuber war ihm noch nie geheuer gewesen. Scheinbar war seine Abneigung gegen die Alte, die jedes Jahr hierher kam, nicht ganz unbegründet.

Leider hatte er nicht gehört, um was es genau ging, aber irgendetwas schien sie auf dem Kerbholz zu haben. Wie es für seine Ohren klang, vielleicht sogar etwas Kriminelles.

Er legte das Werkzeug vor die Holztüre und verließ die Kirche. Niemand schien ihn bemerkt zu haben.

Ungern war er hier her gekommen, aber er hatte keine Wahl gehabt.

Umso schneller machte er sich jetzt auf den Heimweg.

Durch diesen Gang in die Kirche hatte er zumindest die letzte Stunde in der Schreinerei gespart, weil er wegen dieses Botendienstes früher gehen durfte.

Es war mittlerweile 19 Uhr, als Ella und Tom aus dem Gästehaus traten und den Weg entlang gingen, der hinunterführte in den Ortskern.

Sie schlenderten Hand in Hand vorbei an einem Steinbrunnen. Um den Brunnen herum schien die Luft braun. Erst als sie näher kamen, erkannte Ella, dass es eine dichte Ansammlung von kleinen Mücken war, die in der Luft tanzten. Sie zog Tom beiseite, damit er nicht in die Mückenflut hineinlief und lachte.

Beide waren wieder fit und mittlerweile sehr hungrig. Links stand freistehend ein weiteres Gästehaus, das aber recht verlassen aussah. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bergen verschwunden, so dass Ella froh war, eine Weste übergezogen zu haben. Sie fror ein wenig, weil ihr Körper aufgeheizt war von den hohen Temperaturen am Tag. St. Jakob lag im Tal umgeben von Bergen, die imposant in den Himmel ragten.

Nach etwa 200 Metern standen sie vor der Kirche, die Ella schon vom Balkon aus gesehen hatte. Nach einer kleinen Rechtskurve kamen sie an einem Tabakwarengeschäft vorbei, dahinter ein Schuhgeschäft. Zwei große Schaufenster boten Schuhe feil, die vermutlich selbst Ellas Mutter nicht hätte tragen wollen. Es gab Schuhe, die an Gesundheitsschuhe erinnerten, an Überbeine und Arthrose. Die Schaufenster waren schmutzig, an der Türe baumelte ein Schild mit dem Hinweis, dass der Laden geschlossen war.

Direkt auf der Fassade über den Schaufenstern und der Eingangstür prangte in geschnörkelten Buchstaben Schuhwaren Lercher. Der Zahn der Zeit nagte sowohl an der Auslage des Geschäfts als auch an der Bausubstanz. Einige Buchstaben auf der Fassade waren schon verblichen, das r von Lercher nur noch zu erahnen.

Auf einem kleinen Platz einige Meter weiter befand sich ein großer Supermarkt, eine Bäckerei und ein Café – scheinbar war der Ortskern auf Touristen ausgerichtet neu gestaltet worden. Hier wieder alles wieder zeitgemäß.

Gegenüberliegend begann dann schon die Ortsausgangsstraße, wo sich ein italienisches Restaurant befand und ein paar Schritte weiter eine etwas modernere Kneipe mit Restaurant, vor der eine Terrasse mit Holzbänken prall gefüllt sehr einladend wirkte. Ältere und jüngere Gäste hatten sich dort eingefunden.

Hier war alles lebendiger. Der erste Platz, der sich mit Leben und Lachen füllte. Aus Boxen klang gedämpfte Musik. Ella und Tom zögerten nicht lange und setzten sich an den letzten freien Tisch.

„Das ist ja hier eine richtige Menschenansammlung.“ bemerkte Tom. „Ich habe schon gedacht, wir sind die einzigen Menschen in St. Jakob..“ er grinste „..mit unserer Vermieterin“.

Sie bestellten zwei Bier, bekamen die Speisekarte und streckten ihre Beine unter dem Tisch aus.

„Hier unten scheint es dann wohl belebter zu sein. Wir sind eben mit unserer Unterkunft am Ortsrand im alten ursprünglichen Teil vom Ort gelandet.“ konstatierte Ella, „und eigentlich tut uns das ja auch ganz gut, wir wollten ja auch mal ein bisschen Ruhe genießen – die haben wir jetzt.“

„Das stimmt wohl, vor allem Dir tut mal Ruhe ganz gut. Vielleicht kannst Du so auch mal wieder ein bisschen zur Ruhe kommen. Und wenn wir’s gar nicht mehr aushalten, dann kommen wir hierher.“

Ella nickte. „Ja, hier ist es wirklich nett.“

Die letzten Monate waren nicht leicht gewesen. Das Unternehmen, bei dem sie als Controllerin angestellt war, war angeschlagen durch die Wirtschaftskrise. Zwar las man immer häufiger, es würde wieder bergauf gehen mit der deutschen Wirtschaft, Ella befürchtete aber, dass die große Krise gerade erst begann. Das bedeutete für sie, dass die nächste Zeit nicht weniger aufreibend werden würde, als die letzten Monate.

„Ich habe vorhin noch zwei andere Gäste gesehen, als ich auf dem Balkon saß.“ Begann Ella zu erzählen. „Es war ganz merkwürdig, fast schon ein bisschen unheimlich….“ Ella schilderte Tom die ältere Dame, die sie vorhin beobachtet hatte.

„Also entweder, die ist einfach nur ein bisschen bekloppt oder die Frau ist krank. Kein Mensch verhält sich normalerweise so. Außerdem – alleine schon die Tatsache, dass sie bei diesen Temperaturen heute Nachmittag im Pullover mit Bluse und langer Hose in Zeitlupe so um die Geranien herumgeschlichen ist, ist mir ja schon nicht geheuer. Normal ist das nicht.“

Beide bestellten das Steak und genossen das kalte Bier, das nach der anstrengenden Fahrt noch besser schmeckte als sonst. Als sie beim dritten Bier angelangt waren, hatte ihrer beider Phantasie die tollsten Geschichten um die alte Dame auf dem Balkon zutage gebracht.

Sie steigerten sich in die absurdesten Krimifantasien.

Sie malten sich aus, wie die Frau wahnsinnig wird und ihren Ehemann tötet. Sie sponnen gemeinsam die Geschichte, wie ihr Lieblingskommissar Krassnitzer mit seiner Kollegin auf der Fahrt zu einem Dienstjubiläum einen platten Reifen hat.

Wie die beiden in St. Jakob umherirren und eine Unterkunft suchen, weil die Werkstatt geschlossen ist.

Wie Kommissar Krassnitzer dann den Mordfall aufklären muss, weil der hiesige Polizist von einer Kuh zu Tode getrampelt wurde.

Die Geschichten wurden immer verrückter, inspiriert von unzähligen Krimis und beflügelt vom leckeren naturtrüben Bier.

Sie einigten sich dann schließlich darauf, dass die Frau krank war und ihr Mann ihr zuliebe nach St. Jakob gefahren war, weil sie Geranienliebhaberin war.

Es war schon dunkel, als sie sich schließlich auf den Heimweg machten. Satt und zufrieden bummelten sie zurück zu Ihrer Unterkunft durch den leergefegten Ort. Nur eine kleine Laterne säumte das letzte Stück des Weges vorbei an dem Brunnen die leichte Steigung hinauf.

Das Schloss der Haustüre bereitete Ella ein wenig Probleme, möglicherweise waren aber auch das gute Essen und der Alkohol verantwortlich dafür, dass Tom helfen musste, den Schlüssel umzudrehen. Sie würden gut schlafen, um sich früh morgens auf zu machen zum Großen Leppleskofel auf 2.811 Höhenmetern.

Ella würde morgen das Frühstück auf dem Balkon vorbereiten. Sie liebte es, draußen zu frühstücken. Endlich hatten sie Gelegenheit dazu, denn seitdem ihre Terrasse zu Hause endlich fertig war, hatte sich kein einziger Sommertag gezeigt und so konnten sie zu Hause leider nur hinaus schauen, statt draußen zu frühstücken.

Entspannt und glücklich an Tom geschmiegt, schlief erst Ella tief unter ihrer Decke vergraben ein während Tom noch durch die Sender zappte.

Eine Weile schaute er noch zu, wie Stefan Raab den Kandidaten besiegte, der erschöpft und geknickt zwei Millionen Euro an sich vorbeiziehen sah, während auf Stefan Raab ein Konfettiregen niederprasselte und er den Koffer mit dem Geld breit grinsend an sich drückte.

Er schaute sich noch die Spätnachrichten an und das Ende von „Spiel mir das Lied vom Tod“.

Eine halbe Stunde später lief nur noch der Fernseher und auch Tom schnarchte seinen gerechten Schlaf.

So war in ihrem Apartment nun auch die Ruhe eingekehrt, die schon seit Stunden über den anderen Zimmern lag.

Das Rauschen des Baches unter einem klaren Sternenhimmel war zu dieser nächtlichen Zeit als lautes Donnern und einzige Geräuschkulisse zu vernehmen, wäre einer von Ihnen wach gewesen.

Der Geranienmörder

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