Читать книгу Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel - Miriam Schäfer - Страница 6

Der Zaun

Оглавление

Es war der Zaun hinter dem Holzschuppen, der Lirian mehr als alles andere faszinierte. Er war hoch, so hoch, dass sein Ende die Wolken kitzelte und so lang, dass Lirian die Versuche aufgegeben hatte, um ihn herumzugehen. Nachts, wenn der Mond hell genug schien, warfen die engen Maschen ein Netz aus Schatten auf sein Bett, das im Licht zitterte.

Statt mit den Jungen aus seiner Klasse Fußball zu spielen, verbrachte er seine Zeit damit, auf dem angelaufenen Wellblechdach des Schuppens zu hocken und den Zaun im Auge zu behalten. Jeden Nachmittag saß er dort, beobachtete und wartete. Worauf, vermochte er nicht zu erklären, aber er war sicher, dass mit diesem Zaun etwas nicht stimmte. Sogar im Schlaf träumte er davon, seine Finger in die Maschen zu haken und das Gesicht gegen sie zu pressen, um bloß nichts von dem zu verpassen, was auf der anderen Seite geschah. Manchmal, wenn er im Traum hindurchblickte, meinte er, sich selbst als kleines Kind zu erkennen, wie er drüben auf dem Feld herumkrabbelte und bunte Blütenblätter in seinen Mund schob. Er glaubte fest daran, dass dies echte Erinnerungen waren, doch wenn er tags darauf seine Mutter danach fragte, zuckte die bloß die Achseln und erklärte gleichmütig, der Zaun sei schon immer dort und er, Lirian, niemals auf der anderen Seite gewesen. Trotzdem gab es für ihn keinen Zweifel: Der Zaun war mit den Jahren gewachsen. Lirian war sicher, damals, als er gerade in die Schule gekommen war, hatte er auf dem Schuppen sitzen und über den Zaun hinüberspähen können. Ein Jahr später hatte er sich dafür bereits recken müssen und irgendwann war das Ende nicht mehr zu erkennen gewesen. Als er seiner Mutter davon erzählte, schaute sie ihn sehr eindringlich an und verbot ihm für die nächste Woche, auch nur einen Fuß in den Garten zu setzen. Seitdem hatte er mit ihr nicht mehr über den Zaun gesprochen.

Auch sein Vater war ihm keine Stütze. Auf die Frage, warum man hinter dem Schuppen nicht weitergehen dürfe, antwortete dieser knapp: »Hinter dem Feld beginnen die Sümpfe. Du möchtest doch nicht im Sumpf steckenbleiben, oder? Der Zaun dient nur deiner Sicherheit.« Damit war das Thema für ihn erledigt.

Doch Lirian träumte weiter von dem Zaun und dem, was dahinter liegen mochte. Einmal hatte er das Warten derart satt, dass er begann, an ihm emporzuklettern. Doch er rutschte ab und stürzte zurück in den Garten. Er brach sich ein Bein und verbrachte mehrere Wochen damit, missmutig in seinem Zimmer zu sitzen und dem Zaun wütende Blicke zuzuwerfen. Als er wieder genesen war, dachte er, es sei an der Zeit, dem Zaun zu zeigen, wer der Stärkere von ihnen beiden war. Er wartete, bis seine Eltern schliefen, schlich im Mondschein in den Garten, holte den Spaten aus dem Schuppen und begann, ein Loch zu graben. Doch egal wie tief er grub, der Zaun nahm selbst unter der Erde kein Ende. Enttäuscht und hilflos griff er zum einzigen Mittel, das ihm blieb; er knipste mit der Gartenschere die Maschen entzwei. Aber sobald er den Draht an mehr als einer Stelle durchtrennt hatte, war der erste Schnitt auf wundersame Weise verheilt. Mutlos kehrte Lirian in sein Bett zurück und schwor, nie wieder auch nur einen Gedanken an den Zaun zu verschwenden.

Eine Weile gelang es ihm tatsächlich, dem Garten fernzubleiben. Doch irgendwann entschied er, der Zaun sei genug gestraft, und kehrte auf seinen üblichen Posten zurück. Es dauerte einen Moment, ehe Lirian merkte, dass sich etwas verändert hatte: Drüben, auf der anderen Seite, stand jemand. Er kniff die Augen fest zusammen und blinzelte einige Male, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte. Doch ganz eindeutig wartete drüben auf dem Feld, nicht mehr als zwei Meter vom Zaun entfernt, ein Mädchen mit lockigem, braunem Haar und sah ihm erwartungsvoll entgegen.

»Da bist du ja wieder«, sagte sie.

Lirian konnte nicht antworten. Er legte den Kopf schief und starrte zu ihr hinüber.

»Ich sitze meistens dahinten im Baum«, sie deutete mit dem Daumen zurück über ihre Schulter. »Ich hab mich nicht getraut, zu dir zu kommen. Aber nachdem du jetzt so lange weg warst, hab ich gedacht … naja, so langsam wird es blöd, wenn wir nie miteinander reden. Also: Hi!«

Lirian starrte sie unverwandt an.

»Ich bin Charlotte«, sagte das Mädchen. Und nach einer Weile: »Stört es dich, wenn ich hier bin? Ich kann auch wieder gehen, ich dachte nur …«

»Nein!«, rief Lirian rasch. »Ich bin nur … Ich bin Lirian.«

Charlotte lächelte und kam näher. Lirian stand auf und wollte vom Dach zu ihr hinunterspringen, als er mit offenem Mund stehen blieb. Charlotte schritt geradewegs durch den Zaun hindurch und begann, seine Leiter hinaufzusteigen!

»Wie … wie hast du … wie hast du das gemacht?«, stammelte er fassungslos.

Charlottes Gesicht tauchte über dem Wellblech auf. Verwirrt sah sie ihn an. »Was meinst du?«

»Der Zaun!« Lirian konnte es nicht fassen.

»Was für ein Zaun?« In Charlottes Gesicht stand echtes Erstaunen.

»Na, der Zaun, der …«, hilflos gestikulierend deutete Lirian auf die Stelle zwischen dem Garten seiner Eltern und dem Feld auf der anderen Seite, von dem Charlotte gekommen war.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie skeptisch.

Lirian schüttelte den Kopf. »Ich schwöre dir, da ist ein Zaun! Genau zwischen unserem Garten und der Wiese. Komm mit!« Er sprang vom Dach, trat an den Zaun und presste seine ausgestreckte Hand dagegen. »Hier!«

Charlotte ließ sich vom Schuppen gleiten und streckte ihrerseits die Hand aus. Doch statt wie er auf das Hindernis zu stoßen, stolperte sie vorwärts und stand genau auf der Grenze.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lirian auf den Zaun, der mitten durch sie hindurchführte, doch

Charlotte verzog die Lippen. »Sehr witzig«, sagte sie, packte sein Handgelenk und zog daran. Als er nicht einmal strauchelte, runzelte sie die Stirn. »Lehn dich dagegen«, befahl sie, und stemmte sich mit aller Kraft in seinen Rücken. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen betrachtete sie ihn kopfschüttelnd. Sie ließ ihn los und trat hinüber auf ihre Wiese, zurück zu Lirian, wieder auf die Wiese und in Lirians Garten, wobei sie die Luft eingehend untersuchte.

Lirian schauderte, während er zusah, wie sie sich durch den Zaun hin und her bewegte. »Das ist definitiv unheimlich.«

Aber Charlotte zuckte bloß mit den Schultern. »Dann besuch ich dich halt«, sagte sie leichthin und verlor kein Wort mehr über den Zaun.

Doch Lirian verfolgte er wie gewohnt bis in den Schlaf, auch wenn sich etwas verändert hatte. In seinen Träumen stand nun Charlotte auf der anderen Seite und lächelte ihm entgegen.

Sie trafen sich von da an jeden Tag. Manchmal ließ er sogar sein Mittagessen ausfallen, um vor ihr im Garten zu sein und sehen zu können, wie ihre Gestalt am Horizont auftauchte, immer näher kam und schließlich durch den Zaun zu ihm hinüberglitt. Sie unterhielten sich endlos. Lirian war es vor allem, der Fragen stellte, und Charlotte antwortete. Sie wusste immer eine Antwort, doch manchmal war er nicht sicher, ob sie nicht alles bloß erfand. Aber das war ihm egal. Als er nach dem Sumpf fragte, der hinter der Wiese lag, schaute sie ihn verdutzt an. Dann lachte sie, bis ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

»Ich wohne doch nicht im Sumpf!«, kicherte sie. »Wenn du ans Ende der Wiese gehst, kommst du an einen Abhang, über dem dichte Wolken liegen. Um hinunterzukommen, musst du die Kraniche rufen. Sie nehmen dich auf ihren Rücken und tragen dich in die Stadt der tausend Türme. Dort sind die Dächer und Zinnen aus purem Gold, und wenn die Sonne auf sie scheint, dann funkelt es, als bestünde alles aus reinem Licht!«

Spätestens da war Lirian sicher, dass Charlotte ihm ein Märchen erzählte. Trotzdem sagte er: »Ich wünschte, ich könnte es sehen!«

Sie überlegte eine Weile. »Ich werde fragen«, antwortete sie.

Am nächsten Tag erschien Charlotte erst, nachdem Lirian bereits zum zweiten Mal zum Abendessen gerufen worden war.

»Lirian!«, rief sie atemlos und er blieb stehen, obwohl er wusste, dass es Ärger geben würde, wenn er zu spät zum Essen kam.

Charlotte hielt erst dicht vor ihm an. »Ich weiß es jetzt!«, keuchte sie und strahlte. Ohne Vorwarnung streckte sie sich und küsste ihn mit weichen, warmen Lippen auf den Mund.

Lirian war so verdutzt, dass er bloß dastand und sie anstarrte, während sie schon herumwirbelte und ihm noch einmal zuwinkte, ehe sie hinter dem Schuppen verschwand.

Beim Abendessen war Lirian sehr still und auch als er später in seinem Bett lag und der Mond das Schattennetz auf seine Decke zeichnete, waren seine Gedanken bei Charlotte. In der Nacht träumte er von ihr, wie sie durch den Zaun in seine Arme flog und ihn küsste und er fühlte, wie ihm Flügel wuchsen. Gemeinsam stiegen sie in die Höhe, um den Zaun zu überwinden, doch der war längst fort. Und er folgte ihr in die sagenhafte Stadt, die genauso war, wie sie es ihm erzählt hatte.

Als er am nächsten Morgen in den Garten blickte, erkannte er sofort, dass dies kein normaler Traum gewesen war. Es hatte funktioniert! Der Zaun war verschwunden! Lirian konnte gar nicht abwarten hinauszukommen, doch seine Mutter hielt ihn zurück. »Wohin gehst du?«, wollte sie wissen.

Hastig erzählte er von Charlotte und den leuchtenden Türmen, doch statt sich mit ihm zu freuen, wurde seine Mutter zornig und verbot ihm, jemals wieder mit jemandem von der anderen Seite zu sprechen. Sie drückte ihm die Schultasche in die Hand und drohte, wenn er es wagen würde, sich an den Zaun zu schleichen, dann könne er etwas erleben. Betrübt machte Lirian sich auf den Schulweg. Als er am Mittag nach Hause zurückkehrte, eilte er so schnell er konnte in den Garten. Doch dort wartete bereits seine Mutter mit in die Hüften gestemmten Händen auf ihn. Hinter ihr ragte eine Mauer in den Himmel.

Lirian taumelte zurück. »Was hast du getan?«, fragte er entsetzt.

»Ich versuche nur, dich zu schützen!«, sagte seine Mutter und ging ins Haus. »Eines Tages, wenn du selbst Kinder hast, wirst du es verstehen!«

Wie betäubt starrte Lirian auf die steinerne Wand. Er kletterte auf den Schuppen und stellte sich auf die Zehenspitzen, doch die Mauer war zu hoch. Da wurde ihm klar, dass er Charlotte nie wieder sehen würde. Mit schwerem Herzen schlich er in sein Zimmer und verkroch sich im Bett.

In der Nacht konnte er nicht schlafen. Sein Zimmer war dunkel, die Mauer sperrte das Mondlicht aus. Lirian konnte nicht anders, als wehmütig zurück an den Zaun zu denken. Plötzlich klopfte es an sein Fenster. Er schrak hoch und riss es hastig auf. Draußen stand Charlotte auf seiner Leiter und sah ihn fragend an. »Wo bist du gewesen?«

»Ich konnte nicht kommen, sie haben eine Mauer gebaut«, antwortete er niedergeschlagen.

»Was für eine Mauer?«, lächelte Charlotte. Sie beugte sich über die Fensterbank zu ihm hinüber und küsste ihn. »Träum schön«, sagte sie. »Wir sehen uns morgen.«

Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel

Подняться наверх