Читать книгу Das Fehlen des Flüsterns im Wind … und andere phantastische Kurzgeschichten aus dem Halbdunkel - Miriam Schäfer - Страница 8
Purpurnacht
ОглавлениеDie Gestalt erschien, als der letzte Sonnenstrahl hinter den fernen Bergen verschwand. Der Horizont brannte in dunklem Magenta und verhieß eine der seltenen Purpurnächte. Ein bleicher Dreiviertelmond stand bereits über den Baumwipfeln im Südwesten und wilde Wolkenfetzen jagten über das Firmament, das sich zur Nacht in ein schieferblaues Gewand hüllte.
Die Gestalt verharrte reglos zwischen den Brombeersträuchern. Hohes Gras umwogte sie wie ein Meer. Ihr langes Haar und der weite Rock des strahlend weißen Kleides flatterten lautlos im Wind. Sie war allein und in der wachsenden Dunkelheit kaum zu erkennen, obwohl ein leiser Schimmer, ein unergründliches Leuchten, sie umgab. Sie war Licht und Luft und Nichts, und doch so wirklich wie das Blätterrauschen in der Nacht. Ihre Augen waren schwarz und blickten sehnsuchtsvoll auf eine verfallene Kapelle, die vergessen und rankenüberwuchert am Ende der weitläufigen Senke zu ihren Füßen lag.
Stunden verstrichen. Die Gestalt blieb regungslos, nur der Wind zerrte an ihrem Haar und dem Kleid. Der Mond wanderte über den nun dunklen Purpurhimmel, verschwand hinter taubengrauen Wolken und brach in Begleitung funkelnder Sterne wieder hervor. Als sein Schein das Dach der alten Kapelle berührte und die Nacht weit fortgeschritten war, erschien aus dem Nichts ein weiterer, größerer Schemen, von dem der gleiche rätselhafte Glanz ausging. Geräuschlos trat er hinter die Gestalt und umarmte sie. Seine Hände glitten um ihre Taille und griffen nach den ihren, hielten sie fest. Sie musste auf ihn gewartet haben, denn ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich zärtlich an ihn schmiegte. Sie lehnte den Kopf in den Nacken, an seine Schulter. Das Leuchten, das von ihnen ausging, wurde stärker.
Lange standen beide einfach da. Sein Gesicht ruhte in ihrem Haar, ihre Augen waren geschlossen. Der Schrei einer Krähe hallte durch die Nacht und mit einem Mal erfüllte zartes Wispern die Stille:
»Gehen wir?«, fragte er.
»Lass uns warten, bitte.«
»Aber deshalb sind wir hier.«
»Ich weiß nicht, ob die Entscheidung die richtige ist!«
»Eine andere Wahl haben wir nicht.«
»Das weiß ich doch, aber …«
»Hast du Angst?«
»Ja, ich habe Angst!« Der Wind wehte lichtbefleckte Haarsträhnen in das Gesicht der Frauengestalt, als sie sich ihrem Geliebten zuwandte und sich an seine Brust schmiegte. Dann sah sie ihn eindringlich an. »Wir werden alles verlieren, wenn wir jetzt heiraten. Vielleicht töten sie dich!«
»Es wird mich ebenso töten, wenn du ihn in zwei Tagen heiratest.«
»Du weißt, dass ich ihn nicht will! Er weiß es auch, vielleicht lässt Vater sich noch umstimmen! Aber wenn wir jetzt dort hinuntergehen, dann weiß ich nicht, was mit uns geschehen wird!«
»Wir könnten fortgehen.«
»Ich kann meine Schwester nicht im Stich lassen!«
»Sie könnte mit uns kommen.«
»Aber das wird sie nicht.«
Wolken legten sich auf den Mond.
»Dann … hast du dich dagegen entschieden?« Er schob sie ein Stück von sich weg und blickte ihr in die Augen. Wieder schrie die Krähe.
»Ich kann es nicht. Es tut mir leid! Ich werde morgen noch einmal mit Vater reden. Ich verspreche es dir! Wenn er uns seinen Segen gibt, ist alles in Ordnung.«
Er zog sie wieder an seine Brust und legte die Arme um sie.
»Das wird er niemals tun«, flüsterte er und küsste ihr Haar. »Du siehst so wunderschön aus in dem Kleid.« Seine Hände glitten ihren Rücken hinab. »Ich werde nicht mit ansehen, wie du die Frau eines anderen wirst.«
Das Messer war nicht zu erkennen, als er zustach. Nur ihre plötzlich schreckgeweiteten Augen verrieten, dass etwas geschehen war. Langsam erschlaffte sie in seinen Armen.
»Bitte verzeih mir.« Seine Finger berührten zart ihre Stirn, fuhren ihre Wangen hinab, hielten unter ihrem Kinn inne. Hoben es sacht. Als ihre Lippen sich berührten, schloss sie die Augen.
»Wir bleiben immer zusammen, ich verspreche es dir. Ich liebe dich.«
Der Wind zerriss ihr Abbild und trug es davon, als bestünde es aus Nebelschwaden.
»NEIN!« Der Ruf gellte so laut und plötzlich durch die Nacht, dass er die leisen Flüsterstimmen unwirklich erscheinen ließ, als habe es sie nie gegeben.
Die Krähe flatterte krächzend davon.
»Tu es nicht!« Die Stimme keuchte, jemand atmete schwer. »Warte!«
Über einen fast vergessenen Pfad näherten sich ungleichmäßige Schritte. Ein alter Mann erklomm die Anhöhe, auf einen schwarzen Gehstock mit reich verziertem, silbernem Griff gestützt. Er erreichte die Kuppe gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der verbliebene Schemen das Messer gegen sich selbst richtete.
»Nein!«
Die schimmernde Gestalt lächelte dem Neuankömmling entgegen. »Zu spät, alter Mann«, wisperte der Wind. Das Leuchten wurde schwächer. »Zu spät …«
»Es tut mir leid!«, brüllte der Alte. Er stolperte und stürzte in das hohe Gras.
»Mir tut es auch leid … sehr leid …«, hallte es leise nach.
Der alte Mann weinte nun. »Ich verzeihe dir! Hörst du? Ich verzeihe dir!«, schrie er.
Eine Windböe heulte über die Hügel und rauschte durch die Blätter und Ranken der Sträucher. Als sie vorüber war, war auch die zweite Gestalt verschwunden. Im Gras blieb nur das Messer zurück, ein rostiger Zeuge der Taten vergangener Zeiten unter dem Purpurhimmel.
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Weinen des alten Mannes verebbte. Als er sich beruhigt hatte, richtete er sich mühsam auf und hinkte zu der Stelle, an der die Erscheinung verschwunden war. Er sah zu der Ruine hinunter und betrachtete noch lange die Klinge zu seinen Füßen. Dann begann er den beschwerlichen Heimweg.
Ein Jahr später, auf den Tag genau, peitschten schwere Regentropfen über die verlassenen Hügel. Das hohe Gras war nass und schwer und von den Blättern der üppigen Brombeerbüsche rann das Wasser. Der Himmel war bereits schwarz, lange bevor die Sonne untergegangen war.
Wie ein flackerndes Licht kurz vor dem Verlöschen leuchtete das weiße Brautkleid zwischen den dunklen Schatten der Sträucher auf und verschwand, nur um sogleich wieder sichtbar zu werden. Trotz der unruhigen Nacht harrte die Gestalt geduldig aus, starr und unbeweglich, den traurigen Blick in die Finsternis gerichtet. Dorthin, wo die Überreste der Kapelle einsam zwischen Pappeln und Hecken auf das Brautpaar warteten, das nie gekommen war.
Der Himmel gab sein Bestes, sie zu vertreiben, doch sie rührte sich nicht.
Erst als Mitternacht vorüber war, gesellte sich der zweite Schemen zu ihr. Wie in jedem Jahr schloss er seine Liebste in den Arm. Aneinandergeschmiegt standen sie da und schauten stumm in die Nacht hinaus.
Der Schrei der Krähe verkündete, dass es Zeit wurde.
»Gehen wir?«, wisperte es kaum hörbar durch den prasselnden Regen.
»Lass uns warten, bitte.«
»WARTET!«, unterbrach sie lautes Rufen. »Wartet, oh bitte, so wartet doch!«
»Aber deshalb sind wir hier«, fuhren die Stimmen unaufhaltsam fort.
Die Gestalt der Frau flackerte.
»Lass uns warten, bitte«, wiederholte sie.
Der Alte bewegte sich schwerfälliger als beim letzten Mal. Er stützte sich angestrengt auf seinen Stock, seine Kehle pfiff bei jedem Atemzug. »Wartet!«, keuchte er, als er den Pfad verließ und auf die beiden hellen Silhouetten zustolperte. Er fiel auf die Knie, als er sie erreichte. Er rang nach Luft und seine Hände, die den Stock umklammerten, zitterten.
»Tu es nicht, bitte!«, schnaufte der Alte. Er griff nach dem weißen Stoff des Kleides, aber fasste nur nasse Halme.
»Aber deshalb sind wir hier«, wisperte es weiter.
»Ich weiß nicht, ob die Entscheidung die richtige ist!«
»Eine andere Wahl haben wir nicht.«
»Doch! Die habt ihr, die habt ihr!«, rief der Greis dazwischen.
»Das weiß ich doch, aber …«
»Hast du Angst?«
»Ja, ich habe Angst!« Das Abbild flackerte. Die beiden leuchtenden Schatten lagen sich in den Armen. »Wir werden alles verlieren, wenn wir jetzt heiraten. Vielleicht töten sie dich!«
»Nein!«, brüllte der alte Mann, doch änderten seine Worte nichts am Verlauf des Gespräches.
Abermals schrie die Krähe.
»Mach’ es nicht, bitte!«, weinte der Alte. »Was muss ich nur tun, damit es aufhört?«
»Ich kann es nicht. Es tut mir leid! Ich werde morgen noch einmal mit Vater reden. Ich verspreche es dir! Wenn er uns seinen Segen gibt, ist alles in Ordnung.«
»Das wird er niemals tun.«
»Doch!«, rief der Alte. »Ich gebe euch meinen Segen. Bitte!« Der Wind peitschte ihm das regennasse Haar ins Gesicht. »Ihr habt meinen Segen!«, brüllte er wieder, so laut er konnte.
Die beiden Gestalten flackerten. Erloschen und tauchten wieder auf. Nun lehnte sie wieder mit dem Rücken an ihm, wie nach dem ersten Schrei der Krähe.
»Gehen wir?«
Sie lächelte und drehte sich um, nahm seine Hand. »Wir gehen.«
»Du siehst so wunderschön aus in dem Kleid.« Seine Finger berührten zart ihre Stirn, fuhren ihre Wangen hinab, hielten unter ihrem Kinn inne. Hoben es sacht. Als ihre Lippen sich berührten, schloss sie die Augen.
Sie lächelte noch immer, als sie sich voneinander lösten: »Wir bleiben immer zusammen, ich verspreche es dir. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Und während sie Hand in Hand ins Tal hinunterschritten, wurde ihr Leuchten immer schwächer, bis es schließlich vollends verblasste.
»Es tut mir so leid …«, weinte der alte Mann immer wieder. »Es tut mir so leid. Das hätte nie geschehen müssen.«
Als der Ruf der Krähe erklang, griff er sich keuchend an sein Herz. Seine Hand krallte sich in sein Hemd, sein Stock glitt in der durchweichten Erde aus, so dass er der Länge nach hinfiel. Er wand sich in einem Krampf hin und her. Dann lag er still.
Als man ihn fand, hatte er noch immer die Hand auf sein Herz gepresst. Die toten Augen waren auf die Kapelle gerichtet, über der nun hunderte purpurne Blüten leuchteten. Auf seinem Gesicht stand ein Lächeln.
Ein Messer war weit und breit nicht zu entdecken.