Читать книгу Lehrberuf: Vorbereitung, Berufseinstieg, Perspektiven (E-Book) - Dilan Aksoy, Mirjam Kocher - Страница 45
5Diskussion und Fazit
ОглавлениеDie hier vorgestellte Tagebucherhebung liefert einige empirische Belege für den untersuchten theoretischen Erklärungsansatz (Dreer, 2016). Zunächst konnte festgestellt werden, dass im Praktikum im Durchschnitt eine mittlere bis hohe Bedürfniserfüllung für vier empirisch voneinander abgrenzbare Bedürfnisdimensionen vorlag. Ferner stieg die mittlere Bedürfniserfüllung in allen vier Dimensionen im zehntägigen Orientierungspraktikum in bedeutsamem Maß an. Der Vergleich der vier Dimensionen zeigte Unterschiede für das Ausmaß des Anstiegs vom ersten zum letzten Messzeitpunkt. Diese Unterschiede verweisen unter Umständen auf den spezifischen Anspruch der mit der Bedürfniserfüllung verbundenen Entwicklungsaufgaben in jeder Dimension. So erscheint die Annahme nachvollziehbar, dass es zur Erfüllung der Bedürfnisse nach Selbsterprobung und Selbstverwirklichung wesentlich tiefer greifender und aufwendigerer Lern- und Entwicklungsprozesse bedarf als für die Erfüllung der Bedürfnisse nach Einführung und Einbindung (vgl. Dreer, 2018). Zusätzlich stellt ein Orientierungspraktikum ein zeitlich und hinsichtlich der Lerngelegenheiten begrenztes Angebot dar, das Bedürfniserfüllung insbesondere in anspruchsvolleren Dimensionen nicht vollumfänglich erwarten lässt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die vorgefundenen Differenzen in den Erfüllungsraten plausibel, wenngleich die Annahmen hierzu in empirischen Untersuchungen im Kontext weiterer Praxisphasen kritisch zu prüfen wären.
Im Vergleich der vier Dimensionen fiel außerdem auf, dass zum ersten Messzeitpunkt Unterschiede in den mittleren Erfüllungsraten einiger Dimensionen vorlagen. So unterschied sich etwa die mittlere Ausprägung des Bedürfnisses nach Selbsterprobung von der mittleren Ausprägung der Bedürfnisse nach Einführung und Selbstverwirklichung, die wiederum ähnlich hoch ausgeprägt waren. Einen möglichen Erklärungsansatz hierfür lieferte die Zusatzanalyse, die zeigen konnte, dass Studierende, die eine ihnen bereits bekannte Schule für ihr Praktikum wählten, einen Vorsprung in der Bedürfniserfüllung in der Dimension «Einführung in den Schulalltag» gegenüber denen aufwiesen, die ihr Praktikum an einer ihnen unbekannten Schule umsetzten. Dies lässt die Vermutung zu, dass weitere individuelle Unterschiede vorliegen könnten, die die Bedürfniserfüllung bereits vor einer Praxisphase systematisch beeinflussen. Hierzu könnten Heterogenitätsdimensionen gehören, zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale (Krapp, 2005).
Insgesamt stehen die vorliegenden Befunde, die eher auf lineare Anstiege in der Bedürfniserfüllung verweisen, in Kontrast zur Untersuchung von Evelein und Kollegen (2008), bei der unsystematische Variationen der Erfüllung allgemeiner Lernbedürfnisse entlang von Unterrichtsversuchen der Studierenden über vierzehn Wochen beobachtet wurden. Hierfür könnten augenscheinliche Unterschiede in den Erhebungszeiträumen und in den Erhebungsinstrumenten und -zeitpunkten verantwortlich sein. Die abweichenden Befunde könnten aber auch mit der Art der theoretischen Konzeptualisierung in Verbindung stehen, was für eine gewisse zusätzliche Erklärungskraft des hier vorliegenden Ansatzes sprechen würde. Im Vergleich zu einer allgemeinen und übergreifenden Konzeptualisierung (z. B. Evelein et al., 2008) könnte die hier verfolgte differenziertere und kontextualisierte Konzeptualisierung der Bedürfnisse zu einer vollständigeren und genaueren Erfassung beigetragen haben. Dies jedenfalls legen Ansätze nahe, die in ähnlicher Weise eine Spezifizierung von psychologischen Bedürfnissen im Hinblick auf den konkreten Arbeitskontext vorschlagen (z. B. Bess, 1977). Voraussetzung für eine Erhärtung dieser Annahme wäre jedoch die Bewährung des hier verfolgten Ansatzes in weiteren empirischen Untersuchungen.
Ein anderer wesentlicher Befund der präsentierten Erhebung ist, dass die Erfüllung der beschriebenen Bedürfnisse in statistisch signifikantem Zusammenhang mit verschiedenen Indikatoren des Praktikumserfolgs steht: Je stärker die Bedürfnisse über die gesamte Dauer des Praktikums erfüllt waren, desto stärker konnten die für die Praktikumsphase intendierten Ziele erreicht werden. Dabei wurde ersichtlich, dass weniger der Zuwachs (Gewinn) während des Praktikums, sondern vielmehr hohe Raten an Bedürfniserfüllung von Anbeginn der Praxisphase an bedeutsam für den Praktikumserfolg waren. Diese Erkenntnis wurde zusätzlich gestützt von ergänzenden Korrelationsanalysen, die deutliche Zusammenhänge von Bedürfniserfüllung am ersten Praktikumstag und Erfolgsindikatoren (eingeschätzt am Ende des Praktikums) aufzeigten. Insgesamt wird damit nahegelegt, dass insbesondere die Bedürfniserfüllung am Start einer Praxisphase hochbedeutsam für deren erfolgreichen Verlauf sein könnte. Die Erfüllung psychologischer Bedürfnisse ist dabei sowohl im Hinblick auf die Förderung hochwertiger Lernmotivation (Hofmann, Martinek & Müller, 2018) als auch in Bezug auf akademische Leistung (Keller-Schneider, 2016) von Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erscheinen zum Beispiel eine Bedürfnisorientierung im Kontext praktikumsvorbereitender Aktivitäten sowie systematische Praktikumskonzepte, die eine Verzahnung aufeinanderfolgender Schulpraktika anregen, als erstrebenswerte Maßnahmen hochschulischer Qualitätsentwicklung.
Dass angehende Lehrpersonen einen Drang verspüren, bereits im Studium umfassend praktisch tätig zu werden, ist prinzipiell wünschenswert. Schließlich kann dieser Drang in erster Linie als Ausdruck eines grundsätzlichen pädagogischen Gestaltungswillens verstanden werden, von dem Schulen und Schulentwicklung in den nächsten Generationen profitieren könnten. Eine Herausforderung, die sich daraus für Hochschulen ergeben kann, besteht darin, Studierende dabei zu unterstützen, lern- und entwicklungsförderliche Motive für einen solchen «Praxishunger» zu kultivieren und ihnen mit funktionalen schulpraktischen Phasen passende lernwirksame Angebote zur individuellen Professionalisierung zu unterbreiten. Auf der Grundlage des vorliegenden Beitrags und der darin präsentierten Befunde kann dafür argumentiert werden, dass spezifische psychologische Bedürfnisse von angehenden Lehrpersonen hierfür eine bedeutsame Gestaltungsfacette darstellen, die es künftig in Forschung und Praxis stärker zu berücksichtigen gilt.
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