Читать книгу Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi - Mischa Bach - Страница 6

Januar oder der Eingang ins Labyrinth

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Der klapprige VW-Bus war am JuZ an der Friesenstraße vorbeigefahren, ohne anzuhalten. Auch am Bahnhof, wo an diesem schmuddeligen Januarabend kaum mehr was los war, hatte er seine Fahrt nicht verlangsamt. Im Industriegebiet an der Nesse, dort, wo die großen, grauen Hallen den Blick auf den Hafen verstellten, stoppte das mit dem Anarchie- und anderen szenetypischen Punkzeichen besprühte Gefährt immerhin für die Länge einer selbstgedrehten Zigarette, bevor es zögernd die beinahe großstädtische Kulisse mitten im friesischen Leer wieder verließ. Wundervoll hässliche Betonflächen nützten nichts, wenn sie niemand – außer den verbliebenen Arbeitern – ansah. Damit waren sie so unbrauchbar wie all die sauberen Eigenheime, die schmucken Backsteinbauten, eben die ganze verfluchte Friesenidylle. Also war der Bulli immer weitergefahren, bis er schließlich das Nichts hinter Tennisanlage und Schrebergärten erreichte. Leer und verlassen stand er nun da, während seine Insassen – ein dünner, junger Mann in zerfetzter Jeans, bemalter Lederjacke und ausgelatschten Docs, und eine undefinierbare Promenadenmischung, die nur auffiel, weil sie im Gegensatz zu allen anderen punkerbegleitenden Vierbeinern Leers schmutzbraun statt nachtschwarz war – ein paar Straßenecken weiter nahe der Fetenscheune auf ihre Art beschäftigt waren.

Hier gab es keine Idylle, das hätte auch nicht zum »harten« Ruf der derzeit angesagtesten Diskothek der Stadt gepasst: ein rechteckiger Kasten, der dank Farbgebung und Elchkopf im Comicdesign eher an ein schwedisches Möbellager denn eine Scheune erinnerte, drumherum Parkplätze, gesichert mit flutlichtbewehrtem, übermannshohem Stahlzaun, der einem Kriegsgefangenenlager alle Ehre gemacht hätte. Dennoch strömten jedes Wochenende die Besucher in Scharen hierher. Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Für Ratte war die leere Wand nahe der Fetenscheune eine riesige Leinwand und Lusche, sein Hund, hätte auf feinsten Kissen nicht besser geruht als auf seines Herrchens altem Rucksack am Rand der Straße. Ratte war ganz in seine Spray-Arbeit versunken. Schritt für Schritt, Farbe für Farbe, Schicht für Schicht entstand der Schriftzug der Punkband Rotzgeier, dazu das Logo eines Indie-Festivals bei Wilhelmshaven und – aber gerade, als er zur nächsten Zeile des Schriftzugs ansetzen wollte, bellte Lusche einmal leise. Ratte steckte die Spraydose in die Jacke und zog den Reißverschluss hoch. Ohne hinzusehen, nahm er Lusche den Rucksack ab, den der ihm schwanzwedelnd präsentierte. Zwei, drei Schritte zur Seite, und die beiden waren im dunlen Schatten eines Mauervorsprungs verschwunden. Die Straße lag leer, scheinbar verwaist.

Erst jetzt hätte ein menschlicher Beobachter das Auto hören und sehen können, das sich der Straße mit der großen, nun nicht mehr ganz so leeren Wand näherte. Ein paar Meter weiter bog es auf den nicht mal halb gefüllten Parkplatz der Fetenscheune ein. Das Licht ging aus, das Motorengeräusch erstarb, und alle vier Türen des etwas angejahrten Wagens flogen auf. Zwei Pärchen stiegen aus, lachend, nichts ahnend, weder das Graffiti noch sonst etwas in ihrer Umgebung weiter beachtend. Nein, die vier hatten nur Augen füreinander und für den kurzen Weg zur Diskothek.

Charlies Augen dagegen klebten am Bildschirm ihres Laptops, das im Hinterzimmer des Toutes Françaises so deplatziert wirkte wie sie selbst: Mit ihrem edlen Kaschmirpulli und der teuren Lederjacke passte sie wahrlich nicht zum abgenutzten Linoeleumboden, dem alten Holzschreibtisch, dessen Kanten durch jahrelange Abnutzung abgerundet waren, sowie den Aktenschränken aus schlecht furniertem Sperrholz unbestimmter Farbe. Angesichts all dieser Überreste aus den 50er und 60er Jahren wirkte der klobige Bürorechner, mit dem Charlies Laptop per Netzwerkkabel verbunden war, geradezu wie ein Ausbund an Modernität – und das, obwohl das Ding sicher eine ganze Weile vor der Jahrtausendwende zusammengeschraubt worden war. Charlie war froh, unter den Kabeln, die Kara ihr mitgegeben hatte, passende gefunden zu haben, mit denen sich wenigstens eine erste, sozusagen oberflächliche Verbindung zwischen den beiden Geräten herstellen ließ. Ob diese reichen würde, ob sie so an das rankäme, was sie alle so dringend suchten, konnte sie noch nicht sagen. Wirre Datenketten rauschten über den Bildschirm des Laptops, und das einzig Lesbare darunter war immer wieder nur Data String not found.

Charlie seufzte. Das konnte dauern. Musik wäre jetzt gut, eine italienische Oper oder etwas Moderneres, vielleicht französische Chansons von Patricia Kaas. Ganz automatisch griff sie nach ihrer Jacke, um ihren geliebten CD-Player hervorzuziehen. Sie mochte weder IPods noch sonstige MP3-Player, hässliche, winzige Plastikteile, die sie an den Insulin-Pen ihrer Mutter erinnerten. Musik war mehr als ein Haufen Daten, die man sich irgendwo herunterlud. Natürlich wusste Charlie, dass ihre geliebten Klangwelten auf den Silberscheiben auch nur aus den allfälligen Einsen und Nullen bestanden, aus denen heutzutage alles zu bestehen schien, das nicht reine Materie war. Dennoch – CDs konnte man anfassen, sie waren reale Objekte, man konnte sie sammeln und sehen, sie aufbewahren und archivieren. Jedenfalls theoretisch. Praktisch war das gerade unmöglich, denn in ihrer Lederjacke war nichts: Stimmt, der CD-Player hatte, wie die CDs, in ihrem weißen Golf bleiben müssen. Keine USB-Sticks, keine CD- oder DVD-Brenner, kein WLAN, darauf hatte ihr Auftraggeber Torben bestanden. Sie sollte ihm Zugang zu den Daten verschaffen, die bislang den reibungslosen Ablauf aller Geschäfte von Toutes Françaises – Französisches für Friesland, Friesisches für Frankreich garantiert hatten, ohne diese Daten zu kopieren, zu stehlen, weiterzuverkaufen oder dergleichen. Um das zu gewährleisten, hielt er sich so weit wie möglich an das Credo des verstorbenen Buchhalters und Computerexperten der Firma, der stets darauf bestanden hatte, Vernetzung sei etwas für Spinnen und Spinner, nicht aber für Export-/Import-Geschäfte, bei denen es um weit Berauschenderes als Foie gras, Champagnertrüffel und Bordeaux der Extraklasse ging.

Tja, und so saß Charlie nun hier, in dem schäbigen Büro, vor dem Uraltrechner des Drogenrings und dem Laptop, das Kara zwar nach Torbens Anforderungen abgespeckt, doch zugleich entsprechend der Ziele der dahinterliegenden LKA-Ermittlung aufgemotzt hatte. Nur an Musik für Charlie hatte sie nicht gedacht. Also konnte sie nichts tun, als ab und zu nach Programmaufforderung Enter zu drücken, dem Rattern der Laufwerke zu lauschen und wieder und wieder Data string not found zu lesen ...

Die beiden Pärchen fanden nach kurzer Diskussion mit dem Türsteher, was sie suchten, nämlich Einlass in die Fetenscheune. Einen Moment lang brandete die Tanzmucke lauthals in die Nacht, dann fiel die Tür hinter ihnen zu. Ratte atmete auf und trat aus dem schwarzen Schatten seines Verstecks an der Mauer. Er blickte zum Wagen, mit dem die vier gekommen waren – der war alt genug, deren Eltern gehört zu haben, und damit zu alt für funkgesteuerte Zentralverriegelung und anderen technischen Schnickschnack. Interessiert näherte sich der junge Mann dem Auto, das ganz am Rand des Parkplatzes stand. Ein Blick ins Innere, ein Blick auf die Umgebung, zugleich den großen Schraubenzieher aus der anderen Jackentasche gezogen und angesetzt. Ein kurzer, gezielter Schlag und das Schloss der Beifahrertür hatte es hinter sich. Ratte stand einen Augenblick still und lauschte. Nichts zu hören außer den gedämpft wummernden Bässen der Diskothek. Niemand zu sehen. Also öffnete er die Tür und stieg ein. Wieder kam der Schraubenzieher zum Einsatz, wieder dauerte es nur Sekunden, dann war auch dieses Werk getan. Noch eben die CD aus dem Schacht des Radio/ CD-Players gezogen – eine selbstgebrannte Musikscheibe – und auf den hinteren Sitz geworfen, ausgestiegen, die Tür geschlossen, das war’s. Oder war es doch fast, denn nachdem Ratte seine Beute im Rucksack verstaut hatte, fiel sein Blick wieder auf die Wand mit dem halbfertigen Graffiti. Da war noch was zu erledigen, denn ohne Datum nützte der Name des Festivals unter dem der Punkband so gut wie nichts. Als sei nichts geschehen, legte Ratte den Rucksack wieder hin und Lusche nahm seinen Platz ein, während sein Herrchen zur Spraydose griff.

Charlie streckte sich beim Fenster des Büros und unterdrückte ein Gähnen. Stundenlange Konzentration am Rechner hatte ihren Preis, dachte sie, und rieb sich den Nacken, während sie einen Blick nach draußen warf. Vom Emspark, dem Einkaufsparadies auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, blinkte es rhythmischbunt herüber, doch bei geschlossenen Fenstern blieb die Karaoke-Version des Fetenklassikers I will survive nahezu vollständig außer Hörweite. Charlie streckte sich erneut, fast schon gelangweilt, als sie plötzlich innehielt, weil sie etwas im Augenwinkel sah: Etwas hatte sich auf dem Display verändert! Sie stürzte zum Rechner und bemerkte kaum, dass im selben Augenblick die Tür zum Büro geöffnet wurde. Ein schlanker, großer Mann, gutaussehend, wenn man auf Solariumsbräune und regelmäßiges Kraft- und Ausdauertraining stand, kam mit einer bauchigen Milchkaffeetasse herein. Torben konnte durchaus charmant sein, wenn er wollte oder es für nötig befand.

»Wow«, sagte Charlie, und drehte sich nun doch zu dem Mann um, »ein Auftritt wie aufs Stichwort.« Sie deutete aufs Display: Das Suchprogramm hatte angehalten, blinkend verwies es auf seinen Fund: »sauber.*« blinkte es dort. Dahinter stand unterlegt der Pfad zu einer versteckten Datei.

»Heißt das, wir kommen der Sache näher?« Torben stellte die Tasse neben dem Laptop ab. Sie nickte und lächelte, war aber schon wieder ganz bei der Arbeit. Sie rief ein Decryptoprogramm auf und gab den Pfad ein, den das Suchprogramm ausgeworfen hatte. Mehrere Fenster öffneten sich nahezu gleichzeitig, durch die in rasendem Tempo Hexadezimalzahlen rauschten. Charlie griff nach der Kaffeetasse und lehnte sich zufrieden zurück. So übel lief es doch gar nicht. Kara hatte recht und Hagen unrecht gehabt: Sie war nicht die schlechteste Besetzung für die Rolle der Computerexpertin gewesen.

»Danke für den Kaffee, Torben«, sagte sie und bemerkte im selben Augenblick, sie war schon wieder allein in dem schäbigen, kleinen Büro. War vielleicht auch besser so.

*

Ratte war ebenfalls zufrieden mit seiner Arbeit. Er stopfte die Spraydosen in seinen Rucksack und trat ein paar Schritte von der Wand zurück. Lusche tänzelte schwanzwedelnd um ihn herum. Plötzlich schob sich ein roter Polo ausgerechnet hier an den Straßenrand und rollte fast über Rattes Füße, der einen Satz nach hinten machte.

»Idioten«, zischte er und schulterte den Rucksack. Dem Wagen entstiegen zwei Männer, jung, ungefähr in seinem Alter, aber definitiv besser gekleidet, besser genährt und auch ganz sicher besser drauf.

»Pass doch auf, Penner«, motzte ihn der Beifahrer an.

Doch dessen Begleiter zog ihn weg. »Lohnt nicht«, meinte der Fahrer nur, und schloss den Wagen ab.

Ratte ließ die beiden nicht aus den Augen, die erst provozierend beziehungsweise misstrauisch zu ihm herüberblickten, bevor sie ihm den Rücken zuwandten und überbetont lässig Richtung Fetenscheune abzogen. War wohl noch zu früh für eine der berühmt-berüchtigten Parkplatzschlägereien, die den Ruf der Discothek entschieden mitprägten.

Lusche knurrte, wurde jedoch auf Rattes Handzeichen sofort still und setzte sich, wobei er die beiden im Visier behielt. Sein Herrchen warf derweil einen Blick Richtung Polo: Pech gehabt, hier blinkte es nicht nur rot, als gäbe es eine Alarmanlage, nein, das Bedienfeld des Radios und/ oder CD-Players war abmontiert. Auch sonst lag nichts im Wagen, das irgendeinen Aufwand, irgendein Risiko wert gewesen wäre. Ratte gab Lusche ein weiteres Zeichen. Dann zogen sie gemeinsam ab, weg von der Diskothek, rüber zu den Schrebergärten, wo der Bulli im Dunkel auf sie wartete.

*

Immer noch flirrten und flackerten lange Reihen wirrer Hexadezimalzahlen über den Bildschirm des Laptops. Die große Milchkaffeetasse war längst leer. Charlie rieb sich die Augen, griff sich in den Nacken, schaute auf die Uhr. Es gab hier nichts zu tun, der Rechner kam prima ohne ihre Aufsicht klar. Sie musste mal raus aus diesem Büro, sonst würde sie noch verrückt und ihre Blase würde platzen. Das müssten selbst ihre Auftraggeber verstehen.

Das Büro lag im ersten Stock des Lagerhauses, der so etwas wie eine das ganze Gebäude umlaufende Galerie war. Zur Außenseite hin lagen verschiedene Büros; in der Mitte konnte man hinunter in die Halle selbst blicken. Dort unten im Erdgeschoss herrschte zu dieser späten Stunde höchst geschäftiges Treiben. Mehrere Lieferwagen mit der Aufschrift Toutes Françaises wurden zur Zeit beladen. Charlie nahm davon kaum Notiz, wie sie auch die Aktivitäten in den beiden hellerleuchteten Glaskästen auf der ihrem Büro gegenüberliegenden Seite der Galerie zu ignorieren versuchte. In dem einen wurde Heroin und Kokain verschnitten, um sogleich in Dosen verpackt mit den Paletten echter oder zumindest legaler französischer Spezialitäten unten im Erdgeschoss verladen zu werden. Das andere »Aquarium« war das Büro des Chefs. Torben stand dort mit einem Mann mittleren Alters, den Charlie hier noch nie gesehen hatte – und den sie auch jetzt nicht wirklich in Augenschein nehmen konnte, weil er der Glaswand und damit ihr den Rücken zuwandte. Er war wütend, wie seine Gestik zeigte. Torben sagte etwas, doch auf dem Gang war nichts zu hören, und die Kunst des Lippenlesens gehörte leider nicht zu Charlies Spezialgebieten. Die der Verstellung schon: Sie nickte Torben, der sie in diesem im Moment entdeckte, freundlich zu und ging weiter, rasch, wie man halt als Frau zur Toilette ging. Der andere Mann im Glaskasten reagierte ebenfalls sofort und machte einen Schritt zur Seite, so dass ihn ein Schrank gänzlich der Sicht vom Umgang aus entzog. Es war gar nicht nötig, dass Torben nun seinem scheuen Besucher zuliebe obendrein die Lamellenjalousie zuzog. Schade, aber man konnte nicht immer Glück haben in diesem Geschäft, dachte Charlie, und betrat die Damentoilette.

*

Ratte war gedanklich schon auf dem Heimweg, als er bei einer roten Ampel etwas so Abgefahrenes entdeckte, dass er gar nicht anders konnte, als zum Emspark zu fahren: Wer außer Mr. JJ wäre auf die Idee gekommen, die trocken-protestantischen Friesen mit einem Karaoke-Fest auf die kommende Karnevalssaison einzustimmen? Das jedenfalls stand auf dem Plakat am Straßenrand – heute Abend, mitten im hässlichsten Januarwetter, hatte der das Karaoke-Zelt auf dem Parkplatz des Emsparks aufstellen lassen und seine Leeraner Mitbürger zum »ausgelassenen Mitfeiern« aufgerufen. Ob das gut gehen würde? Seit Mr. JJ alias Jamal Janned der Liebe wegen aus Kenia nach Ostfriesland gezogen war, sprühte der selbsternannte Geschäftsmann nur so vor Ideen, doch häufig scheiterte er an der Ausführung. Mal vergaß er, sich für irgendeine Open-Air-Veranstaltung die erforderliche Genehmigung bei der Stadt zu holen, dann wieder fehlten die mobilen Toiletten, das Wetter spielte nicht mit oder aber er schätzte den friesischen Geschmack falsch ein. Letzteres schien heute Abend nicht das Problem, denn als Ratte mit dem Bulli auf die Nüttermoorer Straße einbog, war der Parkplatz des Emsparks proppenvoll. Rund ums Zelt war jeder Meter zugeparkt und der Lautstärke nach zu urteilen, grölte grad ein kompletter Damenkegelklub YMCA mit. Das klang schräg, aber auch so, als sei es die perfekte Ablenkung für Rattes abendliche Arbeiten. Also setzte er den Blinker und fuhr in das kleine, dem Emspark gegenüberliegende Industrie- und Gewerbegebiet am Nüttermoorer Sieltief, das knapp ein Dutzend Betriebe, darunter einen Steinmetz, eine Schreinerei, einen Autound einen Motorradhandel sowie einige Lagerhallen und Büros beherbergte. In der hintersten Ecke, knapp vorm namensgebenden Sieltief, stellte Ratte den Bulli in einer unbeleuchteten, erst halb fertigen Lagerhalle ab und stieg samt Hund und Rucksack aus. Während das Tier mit der Nase am Boden die Gegend erkundete, schaute sein Herrchen sich nach einer neuen »Leinwand« um. Der einstmals weiße Putz des Toutes Françaises, das sich damit von den umgebenden Backsteinbauten abhob, war durchaus verlockend, doch Ratte würdigte die Import-/ Exportfirma keines zweiten Blickes. Ein paar Schritte weiter hatte der Steinmetz sein Gelände mit einer fast mannshohen Mauer umgeben. Jungfäulich hellgrau schimmerte diese, als hätte man sie eben erst verputzt – oder wenigsten reinigen lassen. Irgendwas musste hier geplant sein, denn die Lagerhalle der Schreinerei auf der gegenüberliegenden Seite war über und über mit Graffiti unterschiedlichen Alters bedeckt. Rattes Werk dagegen hätte die Wand für sich, zumindest anfänglich. Das war der Traum jeden Sprayers.

Doch zuerst musste er sich die drei Autos anschauen, die bei der Laterne parkten: In den ersten beiden waren die Radioschächte leer, und im dritten, einem weißen Golf, gab es nur ein Billigstgerät. Ratte wollte sich schon abwenden, als er stutzte und einen zweiten Blick riskierte: Im Kassettenschacht des Radios steckte eine Kassette, aus der ein Kabel hing. Ein zweites Kabel zur Stromversorgung war in den Zigarettenanzünder eingestöpselt. Das ließ nur einen Schluss zu, was das nachlässig über die Mittelkonsole geworfene Tuch in dem ansonsten penibel aufgeräumten Wagen zu bedeuten hatte ...! Ratte setzte den Rucksack ab und griff zum Schraubenzieher. Im Handumdrehen stand die Tür offen. Er hob das Tuch – Seide, ganz zart, es roch nach einer Frau, fand er, bevor er es zur Seite legte. Darunter kam ein CD-Walkman zum Vorschein, der mittels des Kabelsalats im Radio-/ Kassettenteil als Auto-Hifi-Anlage diente. Der Walkman war mit einem Bild bedruckt; es konnte gut und gerne ein Sammlerobjekt sein. Ratte ließ es in den Rucksack gleiten und griff nach den Kabeln, um das Zubehör einzusammeln, als Lusche anschlug. Verdammt, was ... – Er schaute auf und sah, wie an der entfernteren Straßenecke ein Streifenwagen einparkte und zwei Beamte ausstiegen, die sich zu Fuß vorsichtig dem Golf näherten. Ratte schaute einen Augenblick zu den beiden Männern rüber, während seine Hände gekonnt den Rucksack schlossen, dann stieg er aus.

»Moin«, sagte er, als sei nichts. Ruhig sollten seine Bewegungen wirken, selbstverständlich. Einen Augenblick lang schien es, als gelänge der Bluff. Dann merkte er, wohin die Polizisten starrten – er hatte den Schraubenzieher noch in der Hand! Er drehte sich um, rannte los, den Rucksack halb über die linke Schulter geworfen, den Schraubenzieher noch immer in der rechten Hand.

»Hey! Halt! Stehen bleiben, sofort stehen bleiben!«, brüllte der eine Polizist, während sein Kollege zum Streifenwagen zurücklief. Ratte hielt sich nicht damit auf, einen Blick über seine Schulter zu riskieren. Dass Lusche an seiner Seite war, wie immer, wusste er auch so.

*

»Ja, weiß ich, ist aber trotzdem so. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Kann nicht mehr lang dauern, ist auf jeden Fall heut Nacht gegessen, denk ich. Also, wohin soll das Zeug – Okay: kara.croft@enigma.com ... typisch ... Moment.« Charlie stoppte ihren Redefluss und schaute auf. Was nicht viel brachte, denn die Verschläge von Damentoiletten sahen überall gleich aus. Wenn man drinnen auf dem geschlossenen Klodeckel hockte, war es höchstens die Frage, ob es irgendwelche Schmierereien auf den weiß-grauen Platten gab. Hier gab es keinen Lesestoff, aber zu hören war so manches: Die Tür zum Waschraum wurde geöffnet. Schritte näherten sich Charlies Verschlag.

Sie stand auf, betätigte die Klospülung und wartete einen kleinen Augenblick. Die Schritte im Vorraum entfernten sich. Doch das Türgeräusch blieb aus.

»Genau: Dreimal Spezial, mit Artischocken. In einer halben Stunde. Klingeln Sie durch, ich komm dann raus«, sagte sie laut und deutlich ins Handy und legte auf. Sie streckte den Rücken durch, steckte das Telefon in die Hosentasche, straffte ihre Haltung einatmend noch einmal, fast wie eine Schauspielerin vor ihrem Auftritt, atmete aus und öffnete im selben Moment die Tür, als sei nichts, rein gar nichts geschehen.

»Hallo, Lukas. Fürchtet Torben, ich fall ins Klo oder rutsch auf der Seife aus, dass er mir seinen Wachhund nachschickt?«, sagte sie, ohne den durchtrainierten, dunkelhaarigen Mann anzusehen, dessen zusammengewachsene Augenbrauen seinen zumeist misstrauischen bis schlecht gelaunten Gesichtsausdruck betonten. Er stand hemdsärmlig neben den Waschbecken, die Arme vor der Brust verschränkt, aber die Waffe im Schulterholster war dennoch sichtbar. Was garantiert Absicht war, so viel wusste Charlie nach den paar Tagen mit ihm und seinem Chef. Das Spiel konnte sie auch spielen. Sie gab sich unbeeindruckt von seinen Machoposen, tat so, als bemerkte sie nichts Ungewöhnliches an dieser menschlichen Bulldogge mitten in der Damentoilette. Sie wusch sich die Hände am Becken gleich neben ihm.

»Ich hoffe, Torben mag Artischocken. Du weißt schon, diese kleinen grünen Dinger, voller Vitamine, Spurenelemente und solchen Sachen ... dieses Zeug zum Essen, du weißt schon, du kannst dich doch nicht nur von Steaks und Anabolika ernähren«, plauderte sie vor sich hin, während sie sich das Seifenwasser von den Fingern spülte und den Raum im Spiegel über dem Waschbecken im Blick behielt. »Artischocken sind übrigens auch in Frankreich sehr beliebt ... Darf ich?« Sie griff zum Papiertücherspender hinter dem Bodyguard. Er wich eine Millisekunde zu spät aus, um höflich zu wirken, doch Charlie ignorierte das wie sein bedrohliches Schweigen. Gründlich trocknete sie ihre Hände und ordnete dann einhändig ihre Locken.

»Oder hat Torben Pizza verboten, von wegen zu unfranzösisch?«, fragte sie in die Stille hinein und warf das zerknüllte Papier in den Papierkorb neben Lukas. Mist. Daneben. Sie überlegte, ob sie ihn zum »Apportieren« auffordern sollte, bückte sich dann jedoch selbst und hob elegant das Papier vom Boden auf.

Lukas nutzte die Gunst der dafür nötigen vorgebeugten Haltung und fischte das Handy aus ihrer Hosentasche.

»Pizza nicht. Fremde Handys bei der Arbeit schon.« Er hielt das Handy hoch, rief den Wahlspeicher auf. Pizza Pronto stand im Display. Charlie sah das, streckte ihm die Hand entgegen. Lukas schüttelte den Kopf und steckte das Telefon ein, das in seiner Pranke winzig wirkte. »Später. Vielleicht. Wenn Torben sagt, es ist okay.«

»Wenn Torben sagt, es ist okay«, äffte Charlie ihn nach. »Mann, brauchst du seine Erlaubnis auch zum Scheißen?«

»Nein«, sagte Lukas, und öffnete ihr die Tür auf den Gang. Er wartete, dass sie begriff und unter seinem ausgestreckten Arm durchging. »Aber du.«

*

Die beiden Polizisten hatten sich auf eine kurze Verfolgung des Diebes samt seines Hundes eingerichtet. Schließlich war er zu Fuß und sie hatten den Wagen. Doch dann stürzten sich die Flüchtigen todesmutig auf die Nüttermoorer Straße, auf der nach dem Ende der Karaoke-Fete nun Hochverkehr herrschte. Bremsen quietschten, ein Hupkonzert erscholl, der Streifenwagen steckte eingekeilt auf der Mittellinie der Straße zwischen einem Lieferwagen und zwei, drei Personenwagen fest. Hilflos mussten die Beamten zusehen, wie der Punker mit seinem Vierbeiner in der Blechlawine beim Festzelt gegenüber verschwand.

Wütend riss der uniformierte Beifahrer seine Tür auf, und rammte sie beinahe dem Lieferwagen in die Motorhaube. »Das darf doch nicht wahr sein«, schickte er den Flüchtenden entgeistert hinterher, dann wandte er sich an seinen Kollegen: »Nun tu doch was!«

Der hatte inzwischen das Fenster heruntergefahren, um den Umstehenden Anweisungen zu erteilen und so das Verkehrshindernis, das sie alle gemeinsam bildeten, wieder aufzulösen. Anscheinend hatten die anderen Fahrer Besseres zu tun, als zu gaffen – oder mehr getrunken, als ihnen gut tat, denn es dauert nur ein paar Sekunden, bis zumindest so viel Platz um den Streifenwagen entstanden war, dass der Beifahrer die Tür öffnen und rausspringen konnte. Der Beamte überquerte die Straße im Laufschritt, lief zielstrebig den vom Parkplatz strömenden Menschen entgegen.

»Hey, mach nicht so einen Aufriss«, rief sein Kollege ihm aus dem Wagen hinterher. Immerhin hatte er es gegen den Strom der Blechlawine auf den Emsparkplatz geschafft. »Der ist längst über alle Berge.«

Doch der andere hörte nicht zu. Der lief an den Fahrzeugen vorbei, leuchtete mit seiner Maglite mal in diesen Wagen hinein, mal jenen Strauch an.

Ratte hielt den Atem an. Er hockte am Boden hinter den schweren Winterreifen eines neumodischen SUVs, dessen Besitzer anscheinend noch zu tun hatte. Das Licht tastete sich immer näher an ihn und Lusche ran, und er wollte doch nicht, dass ihn der weiße Dampf seines Atems verriet, der auch den wütenden Streifenpolizisten am Ende der Taschenlampe umtanzte wie ein frecher Geist.

»Wo steckt er, verdammt, das kann doch nicht sein!«, rief sein Verfolger und sah aus, als hätte er am liebsten mit den Fuß auf dem Boden gestampft wie ein wütendes Kind.

»Komm schon«, rief sein Kollege, dem dieser Auftritt vor so viel Publikum sichtlich peinlich war »das bringt doch eh nichts. Selbst wenn – es ist arschkalt, du frierst dir erst sonst was ab und hinterher der Papierkram ... Das lohnt doch alles nicht für so ’nen Autoknacker.«

»Ich hasse die Kerle«, antwortete der andere, kam aber zum Wagen zurück. »Weißt du, wie oft ich wegen denen meiner Tochter schon ’n neues Autoradio kaufen durfte?!« Er stieg ein und knallte die Tür zu.

»Hilfe!«

Die Arme über den Kopf in weit ausholender Geste schwenkend, lief ein Mann in Lederkluft auf das Polizeifahrzeug zu.

»Hilfe!«, rief er nochmals, dann ließ er zur Bekräftigung seine Pranken auf die Motorhaube runtersausen. »Meine Frau – das Baby ... Ich glaube, das Baby kommt! Und mein Wagen springt nicht an! Kommen Sie mit, sie ist dort drüben, ihr ist beim Toilettenwagen schlecht geworden!«

Die hintere Tür wurde von innen aufgestoßen, der werdende Vater sprang hinein, der Polizeisirene ging los und, in der Tat, die anderen Autos machten Platz, bildeten eine Gasse, so dass der Streifenwagen die paar Meter zum WC-Wagen beim Zelt vorpreschen konnte.

Ratte schaute ihnen kopfschüttelnd hinterher. Dann kam er aus der Hocke hoch, schulterte den Rucksack und ging zwischen all dem Blech zurück ins Gewerbegebiet auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, zurück ins schützende Dunkel der halbfertigen Lagerhalle, wo der schrill bemalte Bulli auf sie wartete. Lusche zog sofort wieder schwanzwedelnd seine Schnüffelkreise. Ratte verstaute den Rucksack mit der Beute im Wagen, dann fischte er seinen Tabaksbeutel raus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Beide, Hund und Herrchen, benahmen sich fast so, als seien sie nach Hause gekommen. Nach der Verfolgungsjagd hatten sie die Ruhe weg. Oder doch nötig. Zumal es plötzlich ganz still war. So still, dass das flackernde Licht hinter den Fenstern im blättrig-weißen Büro- und Lagerhaus gegenüber fast schon laut wirkte.

*

Obwohl Charlie fieberhaft arbeitete, fühlte sie sich klar und ruhig. Ihr Programm hatte den Code geknackt, so dass die Daten des Buchhalters offen im Plain Text vor ihr lagen. Lange Zahlenkolonnen, die verdächtig nach Bankleitzahlen und Kontonummern aussahen, Passwörter obendrein, dazu Überweisungen samt Daten und jede Menge Initialen, hinter denen sich das verbarg, was alle – nicht nur Torben, sondern auch Charlie und ihre Kollegen beim LKA – am meisten interessierte: Namen. Namen von Kunden und Lieferanten des Drogenrings, Namen auch von Helfern und Helfershelfern, von Komplizen, insbesondere aber, so hoffte sie, die Namen des oder der Bestechlichen in den Reihen ihrer Kollegen im Drogendezernat vor Ort.

Dass es eine undichte Stelle, ein geschmiertes Rädchen im Getriebe beider Seiten, geben musste, war klar. Leer lag nah an den Niederlanden, nah auch am Meer, an den Wasserstraßen. Leer war damit für Schmugglerringe fast aller Art interessant. Und nicht nur solche, bei denen es um illegale Drogen ging, pflegten sich einen unschuldigen Anstrich zu geben. Doch derartige Schutzschilde waren temporärer Natur. Irgendwann zerbröselten sie, erweckten Verdacht, bis schließlich die Polizei ermittelte. Manchmal brauchte es mehrere Anläufe, bis genügend Beweise für Hausdurchsuchungen und die eine oder andere Festnahme da waren, manchmal reichte das schon den Tätern, und sie gestanden oder verschwanden. Manchmal reichte es dem Richter nicht. Auch das kam vor, war nicht weiter ungewöhnlich, einfach ein Teil des Spiels, wenn man es denn so nennen wollte. Doch die Geschäfte des Toutes Françaises waren unter Torbens Vorgänger zu lange zu gut gelaufen. Sicher, auch hier hatte es Verdachtsmomente und Ermittlungen gegeben, mehr als einmal waren dabei Durchsuchungsbefehle und vorläufige Festnahmen herausgekommen. Doch weiter ging nichts, denn das Toutes Françaises und seine beiden Chefs waren sauber, zumindest beweistechnisch. Dass sie nun samt ihres Buchhalters und Computerspezialisten verschwunden waren, dass Torben jetzt an ihre Stelle getreten war, sprach Bände – war aber ohne Leichen (die man vermutlich in einem Spülfeld hatte verschwinden lassen) nur ein weiteres Indiz. Damit das so blieb, damit alles floss wie gehabt, nur eben die Sahne in seiner Tasche landete, genau dafür brauchte Torben die Daten, die seine Vorgänger so sorgfältig gehütet hatten.

Und Charlie wusste, sie war kurz davor. Die entscheidenden Beweise standen vor ihr auf dem Bildschirm. Doch jetzt war wahrlich weder Zeit noch Ort, die Daten zu sichten. Jetzt musste all das gesichert und aus Torbens Reichweite geschafft werden. Sie zog eine Diskette aus ihrer Laptop-Tasche und steckte sie ins Laufwerk des alten Bürorechners. Sie musste grinsen, als sie die einzige Datei, die bislang auf dieser Diskette war, ins Rootverzeichnis des Drogencomputers kopierte: comp.hiv – so hatte Kara ihren Virus genannt. Na ja, Hagen, ihrer beider Chef und Charlies derzeit einzige Nabelschnur in ihr reales Leben, hatte als Tarnung den Pizzaservice gewählt. Man konnte bloß hoffen, er käme nie auf die Idee, selbst Hand anzulegen. Er gehörte zu den Menschen, denen selbst kochendes Wasser anbrannte. Von daher: Wie sich wer nannte, wenn es undercover ging, das hatte manchmal was von Wunschdenken oder einem Mantra. Aber Karas Virus war womöglich in der virtuellen Realität des Rechners tatsächlich so unheilbar wie HIV in der 3-D-Welt. Allerdings hätte sich Charlie ihren Tarnnamen – Mareen Steinberg – wohl kaum selbst gegeben. Nun denn. Ob als Charlie oder als Mareen, sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich unnütze Gedanken zu machen. Sie startete einen weiteren Kopiervorgang auf dem Bürorechner, der die geknackten Dateien auf die Diskette beförderte. Laut rappelnd und ratternd arbeitete der Rechner vor sich hin. Wäre das eine gute Gelegenheit ...?

Charlie stand auf und ging zur Tür. Sie lauschte, öffnete die Tür einen Spalt breit, lauschte erneut, spähte hinaus. Alles ganz normal, jedenfalls soweit es diesen Ort und diesen Abend betraf. Die meisten waren mit ihrer Arbeit fertig. Der Glaskasten auf der gegenüberliegenden Seite des Umgangs, der als Drogenlabor benutzte wurde, war nun ein schwarzer Fleck ohne Licht und Leben. Auch unten in der Halle war es inzwischen weitgehend still und leer – die Ladehelfer hatten sich in Lieferwagenfahrer verwandelt, sofern sie nicht zum Wachpersonal gehörten. Und wo immer sich das befand, abgesehen von dem Kerl in der Pförtnerloge beim Haupttor blieben diese Leute für Charlie unsichtbar. In Torbens Glaskastenbüro waren die Lamellenjalousien immer noch geschlossen, so dass er und sein geheimnisvoller Besucher für Charlie nur als Schattenrisse zu sehen waren. Sie wäre zu gern rübergegangen, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch das war zu riskant. Aber so nützte der Ausblick nichts – Torbens Besuch trug einen Mantel und war von durchschnittlicher Größe und Statur. Keine besonderen Kennzeichen. Aber wer außer Cyrano de Bergerac wäre noch als Schattenriss unverkennbar gewesen?

»Was wird das? Schon fertig?«

Das war Lukas, der unvermutet an sie herangetreten war. Abgehackt wie immer sprach er, als wolle er damit seine seltsam hohe Tonlage kaschieren. Charlie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht immer nur in dem Ding da hocken«, sagte sie und deutete mit dem Kopf ins Büro, während sie ihm zugleich den Blick in den Raum verstellte. Hoffte sie zumindest, denn er sollte nicht sehen, was sich auf den Rechnern tat. Obwohl – das Rattern und Rappeln hatte aufgehört.

»Ich muss weitermachen«, sagte Charlie und schlug Lukas die Tür vor der Nase zu.

In der Tat, die Kopie war fertig. Und was nun? Sollte sie Karas Warnungen zum Trotz versuchen, von hier aus ins Internet zu gehen? Wer weiß, wann sie heute hier rauskäme und was Torben sie mit »nach Hause« nehmen ließe. In den letzten zwei Tagen hatte sie zwar so manches technische Gerät, Werkzeug und auch Software herbringen, jedoch nichts wieder mitnehmen dürfen. Außerdem tastete Lukas sie jeden Tag zwei Mal ab – einmal, wenn sie ankam, das zweite Mal, wenn sie ging. Wenn er dabei die Diskette fände, wär’s das gewesen.

Auf dem Bürorechner hatte sie das Icon eines Internetbrowsers gefunden – ein uralter Netscape, aber das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass das zur Modembuchse passte – beides brauchte man nur, wenn man damit die Möglichkeit schuf, ins Internet zu gehen, oder? Und im Büro gab es ein Telefon samt Dose. Einen Versuch war’s wert. Was sollte schon groß passieren ...

Gedacht, getan. Kabel hatte sie ja reichlich dabei. Ein Einwahlprogramm fand sie nicht, also klickte sie den Browser an. Offline-Modus, stand dort. Das war zu befürchten gewesen, doch dann öffnete sich ein weiteres Fenster mit einem automatischen Einwahlprogramm, das ihr verschiedene Anbieter vorschlug. Sie klickte irgendeinen an, hörte, wie das Modem wählte und wollte sich befriedigt zurücklehnen, als der Wählvorgang abbrach: No Dialtone blinkte es. Verdammt – das konnte nur eines heißen! Mit der einen Hand beförderte sie die Diskette aus dem Laufwerk, mit der anderen betätigte sie die Maus, suchte und fand das Fenster mit dem Virus wieder und startete comp.hiv. Das Rufen aus dem Glaskasten gegenüber und die eiligen Schritte, die sich auf dem Gang näherten, waren nicht zu überhören.

Charlie griff nach ihrer Jacke, zog sie über und wollte sich ihr Laptop schnappen. Mist, das Ding hing noch an den Kabeln zum Bürorechner! Doch sie hatte keine Zeit mehr, es runterzufahren oder abzustöpseln, denn in diesem Moment riss Torben die Tür auf. Er sah sie, sah die Jacke, das Laptop, begriff und zog seine Waffe.

»Nein«, schrie Charlie, und warf ohne zu zögern das Laptop in seine Richtung. Er wich überrascht aus, das gab ihr Zeit, zum Fenster zu stürzen und es zu öffnen. Das krachende Zerbersten des Notebooks übertönte, was immer Torben ihr zu- oder vielmehr hinterherrufen mochte. Wenn er das denn tat. Sie machte den Fehler, sich auf dem Fenstersims noch einmal umzudrehen, statt gleich aus dem ersten Stock ins unbekannte Dunkel zu springen.

»Halt«, brüllte Torben nun, und drückte ab.

*

Ratte hätte nicht sagen können, was er zuerst wahrgenommen hatte: Den Schrei, der eigentlich zwei Schreie kurz hintereinander war, oder den Knall. Gebannt starrte er auf das Fenster im ersten Stock des Lagerhauses gegenüber. Dort kam der Lärm her, dort stand plötzlich diese Frau im Fenster. Halb mit dem Rücken zu ihm, den Blick nach innen gewandt, wo es immer lauter wurde, stand sie da, für den Bruchteil einer Sekunde. Dann eine plötzliche Bewegung, schwer nachzuvollziehen, erst im Rückblick als Schusswirkung zu entschlüsseln. Sie griff sich an die Schulter, verlor das Gleichgewicht, und fiel. Kurz gelang es ihr, sich im Fallen außen ans Fensterbrett zu krallen, doch offenbar reichte ihre Kraft nicht. Sie stürzte nach unten, ins Dunkel. Ein Mann erschien am Fenster, er fuchtelte mit einer Waffe und schaute suchend in die Nacht.

»Sie muss da draußen sein!« rief er. »Los, raus, findet sie, verdammt!« Dann verschwand er aus dem erleuchteten Viereck des Fensters. Was immer er noch brüllte, war nicht mehr zu verstehen. Undefinierbarer Lärm und unverständliches Geschrei drangen aus dem Lagerhaus.

Die Frau rappelte sich inzwischen unten wieder hoch. Taumelnd, orientierungslos, mit letzter Kraft rettete sie sich dorthin, wo es ihr wohl instinktiv am sichersten schien: in den dunklen Toreingang der halbfertigen Halle gegenüber, genau auf Ratte lief sie zu.

»Scheiße«, murmelte der und trat seine Zigarette aus. Gerade rechtzeitig, um die Frau aufzufangen, die sonst vor seinen Füßen zusammengebrochen wäre. Ganz schön schwer, dachte er, dabei war sie nicht groß und schon gar nicht dick, nur eben bewusstlos, kein Lebendgewicht, sozusagen.

Lusche war beim ersten Lärm bereits an seine Seite geeilt. Jetzt schnüffelte der Hund neugierig an der Frau und wedelte mit dem Schwanz. Erwartungsvoll blickte er sein Herrchen an. Der schaute noch einmal rüber zum Toutes Françaises, wo jetzt hörbar das große Rolltor geöffnet wurde. Ohne weiter zu zögern, schleppte er die Frau zum Bulli und legte sie auf dem schäumstoffgepolsterten Teil der hinteren Ladefläche ab. Er schmiss die Schiebetür zu, riss die Fahrertür auf, stieß beinahe mit dem Hund zusammen, aber es ging gut. Lusche kannte ihn und den Bulli ja lang genug. Ratte startete das Ding und stieß zurück in Dunkel, nach hinten, weg vom Toutes Françaises, weg auch von den bewaffneten Männern, die jetzt auf ihn zustürzten. Der eine, der mit dem Vierkantschädel und der Bodybuilderstatur, zielte bereits auf den Bulli. Ratte wendete mit Vollgas, das wirbelte genug Baustellenstaub und Dreck auf, so dass der Kerl hustend verriss und in den Nachthimmel schoss.

»Lukas, verdammt, lass das, hol den Wagen«, hörte er die Stimme des Mannes, den er zuvor im Fenster des Lagerhauses gesehen hatte. Der andere wollte protestieren, so sah es jedenfalls im Rückspiegel aus, musste aber erneut husten. Ratte grinste in sich hinein, als er Gas gab und um die nächste Ecke in der Nacht verschwand. Die Verfolger der Frau waren fürs Erste zu harmlosen Comicfiguren im Rückspiegel geschrumpft.

An Comicfiguren mochten auch die Gestalten erinnern, die sich wenig später um den Bulli versammelt hatten. Der stand nun im Niemandsland zwischen Leer und Westoverledingen. Früher, noch bevor Otto Wiese in Breinermoor und Evert Heeren in Leer das Geschäft mit den Second-Hand-Rohstoffen vollständig unter sich aufgeteilt hatten, war das Gelände ein gutgehender Schrottplatz gewesen. Stadt und Gemeinde hatten sich sogar gestritten, wer die Gewerbesteuern kassieren dürfte. Doch bevor die »Stadt«- »Land«-Steuerfrage endgültig geklärt werden konnte, erkrankte der einstige Schrotthändler Sievert Grusinga. Und mit dem Verfall seiner Gesundheit verfielen auch die Geschäfte, der Schrottplatz und das Interesse der beiden Kämmerer, die plötzlich weise auf rechtliche bis gerichtliche Schritte zur Klärung der Ortszugehörigkeit verzichteten. Heute lebte hier Sieverts kleiner Bruder und Alleinerbe Heme, genannt Henry, zusammen mit seinen Freunden. Schließlich war das Haus, das mit seinem ersten Obergeschoss sogar den höchsten der es umgebenden Schrottberge überragte, allemal groß genug, um als »Autonome Zone« und »Home of the Rotzgeier« sämtliche Bandmitglieder samt allfälligen Besuchern zu beherbergen. Zumal – wer sonst hätte zwischen alten Autos und Alteisen mitten in der Kulisse eines vergessenen Filmes der Mad-Max-Reihe leben wollen?

Charlie wohl kaum. Aber Charlie fragte auch niemand, sie war vielmehr das stumme, weil bewusstlose Zentrum der eigentümlichen Szene. Sie lag noch immer auf der schaumstoffgepolsterten Ladefläche des VW-Busses, nur dass jetzt Henry neben ihr kniete und sie untersuchte. Die anderen standen gleich einem Haufen Comicfiguren oder Gestalten von einem anderen Stern, aus einer anderen Zeit, drumherum. Zoff starrte ins Unbestimmte und fuhr sich nur gelegentlich durch seinen schwarz-grünen Stachelkopf. Er hatte wohl mal wieder nicht schlafen können, unwahrscheinlich, dass er sich komplett bekleidet samt auf den Rücken geschobener E-Gitarre auf die Matratze gehauen hatte. Auch Glatze, ein Hüne, dessen Haarpracht auf ein millimeterkurzes blaues Anarchie-A mitten auf dem Hinterkopf reduziert war, sah müde aus, dennoch konnte er den besorgten Blick nicht von Henry und der bewusstlosen Frau im Bulli nehmen. Geli dagegen war nervös und überdreht wie immer. Er stapfte von einem Bein aufs andere, räusperte sich, grummelte, machte Geräusche und nervte damit vor allem Minka, seine gerade mal sechzehnjährige Freundin. Die stand schlotternd neben ihm, kein Wunder, die abgeschnittene Jeans und der übergroße Pulli waren nicht die passende Bekleidung, um an einem friesischen Wintermorgen draußen rumzustehen. Warum nahm der Blödmann sie nicht in den Arm und hielt sie warm? Wie bescheuert konnte man sein, dachte Ratte, aber das dachte er oft, wenn es um Geli ging. Bunny und Kippes, zwei Besucher der Rotzgeier, standen ein Stück abseits und spielten mit Lusche, soweit der das zuließ.

Ratte lehnte an der Schiebetür des Busses, rauchte, und versuchte, niemanden anzusehen und schon gar nicht irgendwie besorgt auszusehen. Die relative Stille kam ihm furchtbar vor, das machte ihn rattig, konnte Henry nicht langsam ... – warum waren sie gleich alle rausgestürmt und zum Wagen gekommen, als er hier ankam? Umwege war er gefahren, fast eine halbe Stunde lang, schätzte er. Er hatte sicher sein wollen, dass ihm niemand folgte. Aber ewig ausweichen, abtauchen, war nicht drin gewesen, denn die Frau, die ihm da vor die Füße gefallen war, der dunkelgelockte Engel mit dem Kugelloch irgendwo an der Schulter, das Wesen, das ihm all das eingebrockt hatte – sie hatte vermutlich nicht so viel Zeit.

»Glatter Durchschuss, denk ich«, sagte Henry endlich, und zog der Frau behutsam die Lederjacke über die rechte Schulter und das blutige Loch im Oberarm unterm Kaschmirpulli.

»Du hast echt den Arsch offen«, fuhr Geli Ratte an, »wie kannst du jemand mit ’nem Kugelloch hierher schleppen?!«

Ratte reagierte nicht. Minka zog Geli am Ärmel.

»Was?!« blaffte der.

Doch sie kam nicht zum antworten, denn Zoff war schneller: »Warum haste sie nicht gleich ins Krankenhaus gebracht? Musste immer alles hierher schleppen?!«

Ratte sah stur Henry bei seiner Untersuchung zu. Der hatte inzwischen den Oberkörper der Frau auf der Unterlage abgelegt und ihren Pulli samt T-Shirt hochgezogen. Darunter kamen dunkle Flecken, Folgen des Fenstersturzes wohl, zum Vorschein. Das sah nicht gut aus, dass so was verflucht wehtun konnte, wusste Ratte aus eigener Erfahrung. Er wandte sich ab – und fand sich praktisch in Zoffs Gesicht wieder, weil der einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte. Ratte hob die Arme, ließ sie wieder sinken, seufzte, zuckte mit den Achseln, und als das alles nichts half, ihn immer noch alle böse beziehungsweise genervt aber allemal fragend anstarrten, antwortete er: »Was hätt ich denen sagen sollen? ,Schuldigung, bin ich drüber gestolpert, als ich am Emspark ’n Auto aufgebrochen hab?’«

»Was?« Während Zoff stumm den Kopf schüttelte und einen Schritt zurückmachte, als wollte er sagen, dir ist eh nicht mehr zu helfen, war Geli kurz davor, sich mit Ratte zu prügeln.

»Nur damit ich das richtig seh: Erst gehste auf ’ne Klautour, dann rennste den Bullen in die Arme, worauf du über die Alte hier fällst, und die schleppste dann hierher? Dir hamse doch ins Hirn geschissen!«

Inzwischen hatte Henry seine Untersuchung beendet. Er stand auf und kam nach vorn zur Schiebetür. Minka trat von der anderen Seite an Geli heran und zog ihn erneut am Arm.

»Geli«, sagte sie beschwichtigend.

»Was? Kotz dich aus!«, schoss er zurück.

Minka warf ihm einen wütenden Blick zu und wandte sich dann demonstrativ an Henry: »Was ist denn nun mit ihr?«

Henry öffnete den Mund, doch diesmal war Ratte schneller: »Sag bloß nicht, sie muss in ein Krankenhaus. Sie ist ... also sie kam direkt auf mich zu, ich mein’, bevor sie umgekippt ist, also ... keine Ahnung, ob sie mich gesehen hat. Und ich mein’, Scheiße, wenn sie mich gesehen hat, nach dem Ding mit der Streife ...«

»Dann kannste auch gleich selbst zu den Bullen gehen«, beendete Zoff den Satz für ihn. »Oh Mann, du hast echt ein Händchen für Ärger!«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen, das Henry schließlich brach. »Ich glaub nicht, dass sie in ein Krankenhaus muss. Überleben wird sie’s auch so.«

Er schaute von einem zum anderen. Ratte wirkte, als sei ihm eine Zentnerlast von den Schultern genommen, Minka lächelte befreit, Glatze schaute nachdenklich und Zoff nickte langsam.

Nur Geli war nicht überzeugt: »Seid ihr jetzt alle übergeschnappt?! Das ist doch nicht euer Ernst, ihr könnt sie doch nicht hierbehalten wollen, das ist doch ...«

Henry unterbrach ihn, sachlich, bestimmt, mit der Autorität des Experten, der er als gelernter Krankenpfleger war: »Für ein paar Tage wird’s schon gehen. Was sie außer Ruhe braucht, kann ich aus dem Krankenhaus besorgen, kein Problem. Und sobald sie wieder halbwegs auf dem Damm ist, verschwindet sie. Ist das klar, Ratte?!«

Er sah seinen Freund auffordernd an, bis der schließlich nickte. Das schien das Zeichen zu sein, auf das Glatze gewartet hatte. Er schob die anderen beiseite und griff sich Charlie, hob sie auf, als sei sie ein Kind oder eine Puppe. Die anderen machten Platz, damit er sie ins Haus schaffen konnte, allein Geli passte das nicht. Er trat Glatze in den Weg. Aber der hatte sich nun mal entschlossen, also würde er sich nicht aufhalten lassen. Mit ruhiger Gewissheit, die so nur große und kräftige Menschen haben, schaute Glatze auf Geli runter: »Mach keinen Zwergenaufstand. Wenn Minka was passieren würde, würdest du dann wollen, dass sie einfach liegen bleibt?«

Geli trat zur Seite. Glatze trug die bewusstlose Frau auf seinen Armen zum Haus. Die anderen samt Kippes und Bunny, die das Ganze wie ein bizarres Schauspiel durchaus interessiert, doch leicht distanziert beobachteten, folgten ihm. Ratte kletterte noch einmal in den Bulli, um seinen Rucksack rauszuholen. Er stutzte, denn auf der Schaumstoffmatratze, da, wo die Frau gelegen hatte, lag ein kleines, viereckiges Plastikobjekt: eine 3,5-Zoll-Diskette musste das sein, seit seiner Schulzeit hatte er so etwas nicht mehr gesehen. Kopfschüttelnd steckte er das Ding in die Hosentasche, pfiff nach Lusche und lief den anderen hinterher, die bereits das Haus erreicht hatten. Er hatte es plötzlich eilig, wollte wissen, wie es weiterging, und außerdem war ihm inzwischen scheißkalt. Jedenfalls hoffte er, dass das der Grund für das Zittern war. Schnell rein ins Haus ...

... doch so schnell ging’s nicht. Vor dem Eingang hatte sich Geli postiert, immer noch sauer auf ihn, aber das war ja nichts Neues. Er packte Ratte am Arm: »Wenn’s nicht wegen Henry wär, wenn’s nicht sein Haus wär, wärst du schon lang nicht mehr hier«, zischte er.

Ratte machte sich los. »Wenn’s nicht dein Schlagzeug wär, wärst du eh nicht hier.« Sprach’s und schob sich am anderen vorbei durch die Tür ins Haus.

»Leg sie da hin. Vorsichtig.« Das war Henrys Stimme und sie kam aus Rattes Zimmer am Ende des Flurs. Rasch ging er an der Küche vorbei zu dem kleinen Raum, der ursprünglich irgendwas zwischen Vorratskammer und Kinderzimmer, vielleicht auch ein Bügelzimmer oder Hauswirtschaftsraum gewesen sein musste. Das wusste nicht mal Henry so genau, und der kannte die Bude, die irgendein Großonkel einst gebaut hatte, seit Kindertagen. Als er nach dem Tod seines Bruders das Haus mit Ratte bezogen hatte, hatte der sich ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht, obwohl es das kleinste von allen war. Erdgeschoss war gut, da konnte man im Bedarfsfall das Fenster als Tür nutzen. Und neben der Küche zu wohnen, bedeutete, nah an Wasser- und Nahrungsquellen zu sein, auch das machte Sinn.

Platz brauchte er nicht viel, er besaß ja kaum etwas, und das war nur teils der Tatsache geschuldet, dass er es erstens noch nie länger als ein paar Tage oder Wochen in irgendeinem normalen, also legalen Job ausgehalten hatte, mithin meist auf Stütze, Schnorren und Illegales angewiesen war, und er zweitens seine Einkünfte seit seinem achtzehnten Lebensjahr zwangsläufig anderweitig anzulegen pflegte. Nein, es war ihm genau recht, nur das Nötigste zu besitzen, und das sah man seinem Zimmer samt spärlicher Einrichtung an. Als Bett reichte eine Matratze auf einem Teppich, für die paar Klamotten taten es eine Reisetruhe ohne Deckel und ein Wäscheständer. Zur Aufhellung genügte der große, gesprungene Spiegel gegenüber dem Fenster. Umgedrehte Holzkisten dienten als Tischchen – unterm Spiegel für Malutensilien, neben dem verbeulten Fernsehsessel für die Comics und neben dem Bett für mehr Taschenbücher, Kerzen und Kaffeelöffel. Die Decke zwischen Bett und Sessel markierte Lusches Schlafplatz.

Jetzt konnte der Hund dort nicht hin. Glatze hatte die Frau nach Henrys Anweisungen auf der Matratze abgelegt und hockte selbst auf der Hundedecke.

»Halt mal«, sagte Henry zu Glatze, damit der ihm helfen sollte, die Bewusstlose aus der Lederjacke zu schälen, als Ratte den Raum betrat. Kippes und Bunny standen beim Uralt-TV-Gerät und bestaunten dessen Zimmerantenne, im Zeitalter von DVBT und digitalem Sat-TV höchstens noch ein antiker Schmuckgegenstand. Zoff lehnte beim Fenster an der Wand und wusste augenscheinlich nicht, ob er bleiben oder gehen sollte. Ein Zimmer weiter rauschte die Klospülung, dann flog die Klotür krachend auf. Gelis vom Ärger schwere Schritte stapften die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Minka erschien fast lautlos neben Ratte in der Zimmertür. »Wir sind oben«, sagte sie in den Raum hinein, dann wandte sie sich im Gehen an Ratte: »Der kriegt sich schon wieder ein.«

Ratte zuckte mit den Schultern. Was Geli dachte, machte oder fühlte, interessierte ihn nicht die Bohne. Er wusste ja nicht mal, was er von der Situation hier und jetzt halten sollte, und die hatte er sich selbst eingebrockt. Henry war inzwischen dabei, die Frau auf dem Bett, die noch immer keine Regung zeigte, aus ihrem Pulli zu pellen.

Zoff räusperte sich: »Sollte das nicht lieber Minka machen?«

Henry schaute kopfschüttelnd zu ihm hoch und entdeckte bei der Gelegenheit Ratte, der nach wie vor im Türrahmen stand. »Steh da nicht so rum. Besorg lieber Wasser, heißes, und Verbandszeug«, sagte er zu seinem Freund. Der reagierte ihm nicht schnell genug, also setzte er im Krankenpflegerkommandoton hinterher: »Sofort! In der Küche!«

Ratte ließ den Rucksack neben der Tür fallen und tat, wie er geheißen.

Das heißt, er tat mehr oder weniger, wie Henry ihn geheißen. Zum einen mochte die Küche dank der eingebauten Koch-/Spülzeile an Kopf- und Fensterseite noch am ehesten einem vergleichbaren Raum in einem normalen Haus ähneln, doch auch hier herrschte das Chaos, das sich überall im Haus so oder so wiederfand: gestapelte Getränkekästen, mal Leergut, mal voll, mal nicht zu erkennen, Müllsäcke und dazu ein gefährlich hoher Spülstapel. Hier etwas zu finden oder nur an den Wasserhahn zu kommen, war nicht einfach. Zum anderen entdeckte Ratte auf dem Küchentisch, um den herum lauter verschiedene Stühle standen, etwas Hochinteressantes: Hier hatten die anderen vor seiner Ankunft zusammengesessen, Bier getrunken und Risiko gespielt – und zwischen all den dazugehörigen Utensilien lag ein kleiner Haufen weißes Pulver auf einem Stück Alufolie! Jetzt nicht, dachte Ratte bedauernd, jetzt musste er erst den verdammten Wasserkessel ... Ah, da war das Ding ja, mitten auf dem Herd, verdeckt von jeder Menge Schmutzgeschirr. Also schob er das unnütze Zeug beiseite, schnappte sich den Kessel und füllte ihn mit Wasser, wobei der Geschirrstapel in der Spüle bedenklich ins Wanken geriet. Feuerzeug gesucht, Gas angezündet, Kessel aufgesetzt – Teil eins war erledigt.

»Wow, gar nicht mal übel«, hörte er Zoffs Stimme von nebenan. Was trieben die da, zogen sie die Frau etwa immer noch aus?

»Sieht schlimm aus«, kam es prompt von Glatze hinterher.

»Schlimmer, als es ist«, korrigierte Henry. »Helft mir mal mit dem T-Shirt.«

Ausziehen oder nicht, es schien noch immer um die Wundversorgung zu gehen. Verdammt, in welcher der vollgestopften Küchenschubladen war das dämliche Verbandszeug? Nach Murphy’s Law konnte es nur in dem verklemmten Teil sein, das Ratte nur mit Mühe erst einen Spalt aufbekam, bevor’s ihm im nächsten Moment mit Wucht entgegenrutschte, so dass er das Gleichgewicht verlor und krachend mit dem Zeug auf dem Fußboden landete.

»Nichts passiert«, rief er, den Lärm mussten sie auch nebenan gehört haben.

Doch dort war man mit der Frau beschäftigt: »Nein, nicht so«, sagte Henry, »du stützt sie, und du ziehst ihr das Ding über die gute Schulter, den Rest mach ... – Ja, genau, genau so.«

Ratte hatte inzwischen das Verbandszeug auf dem Fußboden gefunden, wo es direkt neben die Diskette gerollt war, die er aus dem Bulli mitgenommen hatte. Alles andere stopfte er in die Lade zurück und verfrachtete sie wieder in ihr Schubfach. Er gab dem Ganzen einen kräftigen Schubs, doch jetzt klemmte es nicht mehr, und so flog die Lade krachend zu. Ratte stand da, mit dem Verbandszeug in der einen, der Diskette in der anderen Hand: Wohin mit dem Ding? Erneut suchend schaute er sich in der Küche um, und wieder fiel sein Blick auf das weiße Pulver auf dem Tisch.

»Ratte«, rief Henry von nebenan, als könnte er so den Freund und die Physik beschleunigen. Das Wasser war noch lang nicht heiß, das hätte man ja hören müssen, dachte Ratte. Kurzentschlossen beugte er sich über den Tisch und zog sich mit der Diskette eine Line.

»Ratte!«

Er rollte einen Spielzettel zusammen und rief über die Schulter in Richtung Zimmer: »Was meinst du, wie schnell Wasser kocht?!« Dann zog er sich mit dem Zettelröhrchen die Line rein.

»Egal.« Das war wieder Henry, und er schaffte es, noch genervter, noch dringender-drängender zu klingen als zuvor. »Ich brauch das Verbandszeug. Beweg deinen Arsch!«

Mit der Hand fegte Ratte das restliche Koka notdürftig zusammen. Der zusammengeknüllte Spielzettel landete in der Spüle. Allein, wohin mit der Diskette, diese Frage hatte er noch immer nicht beantwortet.

»Ich komm ja«, rief er schon mal, um Henry zu beschwichtigen, halb auf dem Weg zur Tür. Dort entdeckte er am Boden einen Toaster, der angestaubt neben den Bierkästen herumgammelte. Er ließ die Diskette in den einen der beiden Schlitze fallen, schnappte sich das Verbandszeug und wischte sich im Rausgehen noch mal mit dem Ärmel über die Nase. Sauer waren Henry und seine Freunde ja eh schon auf ihn.

Zurück in seinem Zimmer war er es dann, der wütend wurde: Kippes hatte aus seiner Klamottenkiste sein Lieblings-T-Shirt gekramt und warf es Henry zu, der das Teil ohne Zögern auf die Schulterwunde der Frau drückte, um die Blutung zu stillen.

»Hey!«, brüllte Ratte und drängte die anderen beiseite, um mit dem Verbandszeug zu Henry zu gelangen. Entgeistert sah er, dass bereits ein weiteres von seinen T-Shirts als nun blutige Wundauflage hatte herhalten müssen.

Henry nahm ihm ungerührt das Verbandszeug aus der Hand und formte eine Kompresse für die Wunde.

»Halt die Klappe«, sagte er, ohne den Freund eines Blickes zu würdigen. »Bist selbst schuld: Wenn du nicht so lang gebraucht hättest, wär das nicht passiert. – Halt mal.«

Ratte wollte was entgegnen, aber der Nachgeschmack des Kokas und der Zustand der Frau hinderten ihn daran. Gehorsam drückte er die Kompresse auf die Wunde, während Henry anfing, einen Verband um ihren Oberarm und ihre Schulter zu legen. Dabei erwischte er wohl eine besonders empfindliche oder überaus schmerzhafte Stelle, jedenfalls stöhnte die Frau laut und vernehmlich, und riss zudem die Augen auf: »Nein!« rief sie aus.

Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi

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