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Kapitel 1

»Nein, nein, nein«, schrie Jules angsterfüllt, während er sich unruhig auf dem Sofa hin und her wälzte. Beinahe gleichzeitig durchfuhr ihn das Gefühl, zu frieren und zu schwitzen. Er versuchte, nach seiner Decke zu greifen, um sie sich schützend über sein schweißgebadetes Gesicht zuziehen. Verzweifelt griff er suchend um sich, doch er fand sie nicht. Die unruhigen Bewegungen hatten sie zu Boden gleiten lassen.

Aus der Ferne hörte er eine Stimme. Ein vertrauter Klang, der seinen Namen rief. Immer wieder und wieder. Einem Erdbeben gleich schüttelte sich sein ganzer Körper gegen seinen Willen, gänzlich durch eine fremde Macht gelenkt. Er hielt seine Arme vor seine Brust und legte angsterfüllt die faustgeballten Hände schützend vor sein Gesicht.

»Jules, wach auf. Jules! Wach auf!«

Jetzt war die Stimme ganz nah. Er fühlte einen warmen Atem auf seiner Haut. Der vertraute Geruch und die abstrahlende Wärme seines Gegenübers ließen ihn ruhiger werden. Jules Archers verkrampfte Abwehrhaltung ließ nach. Die empfundene Vertraulichkeit, die ihm Sicherheit versprach, konnte ihm die Angst vor dem Gesehenen nicht ganz vertreiben. Wie in Trance schlug er die Augen auf und sah in das Gesicht eines Fremden.

Jules wusste nicht mehr, wo er war, so gefangen hielt ihn sein Traum fest. Die Person vor sich erkannte er nicht, obwohl er schwören konnte, dass er den Mann von irgendwoher kennen würde.

Da er sich orientierungslos umherschaute, um sich zurechtzufinden, dauerte es noch eine Zeit in der Realität anzukommen. Er erkannte das Zimmer nur langsam und begriff erst nach und nach, dass er in einem Hotelzimmer war. Noch länger dauerte es, zu erkennen, dass er in das Gesicht seines Kollegen David Moreau blickte.

»Nicht nach mir schlagen Kleiner«, lächelte ihn David an. Auch wenn die Aussage als ein Scherz zu verstehen war, hätte Jules durchaus im Delirium nach ihm schlagen können. Er hielt Jules noch immer an den Armen fest, nachdem er ihn wachrüttelte.

»Reine Vorsichtsmaßnahme«, grinste er amüsiert.

Doch Jules starrte David einfach nur entgeistert an.

»Hattest du wieder diesen Traum«, fragte ihn David interessiert, obwohl er sich dessen schon sicher schien.

Jules nickte zustimmend, während er sich aufrichtete. Es war mitten in der Nacht und das Licht der kleinen Tischlampe blendete ihn. Um sich daran zu gewöhnen, kniff er die Augen zusammen.

Im Eildurchlauf realisierte er, was gesehen war. Beim Durcharbeiten einer Akte musste er in Moreaus Hotelzimmer eingeschlafen sein. Der Abschlussbericht des letzten Einsatzes war auch noch nicht fertig und in acht Stunden ging es bereits zurück nach Boston.

Die Zeit war eng bemessen, doch bevor es zurückging, hatte er noch etwas zu erledigen, schoss es durch seinen Kopf. Denn, immer wenn er in der Stadt war, besuchte er seine Mutter. Es ist jetzt eineinhalb Jahre her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Die neue Stelle beim Bostoner Police Department hielt ihn permanent auf Trab und ließ ihm wenig Zeit sich um seine privaten Angelegenheiten zu kümmern.

Nachdem er seine Situation begriff, driftete er ab.

Sein sonst so klar strukturiert arbeitendes Gehirn ließ ihn in letzter Zeit immer wieder im Stich. Jules glaubte immer an sein realitätsnahes Denken und verstand einfach nicht, warum er mit steigender Tendenz in seinen Träumen in die Vergangenheit katapultiert wurde. Es war nicht einfach nur ein Rückblick oder Gedanken an seine Kindheit. Nein, er fühlte sich förmlich in seinem früheren Leben angekommen. Er hatte dann zwar den Verstand von heute, aber er sah sich jedes Mal als ein kleines Kind.

Und da war er wieder sechs Jahre alt und in seinem Elternhaus. Da sah sich in der Küche stehen. Es fühlte sich so real an. Mit wachen Augen beobachtete er seine Mutter, wie sie vor der Spüle stand und das Geschirr abwusch. Wie sie Glas für Glas in das schaumige Wasser tauchte und wie er hörte, wenn das Glas beim Reinigen der Oberfläche quietschende Geräusche von sich gab. Banale Details, aber er sah jede einzelne Sequenz kristallklar und verfolgte, wie sie das Glas verkehrt herum auf die Ablage stellte. Intuitiv fühlte Jules, dass irgendetwas an der Situation nicht stimmte. Die Bewegungen seiner Mutter waren zwar ruhig, doch sie war nicht bei der Sache und dann hörte er es. Ein zartes unterdrücktes Schluchzen. Sie schien zu weinen, aber ihr Gesicht konnte er zu keinem Moment sehen. Sie musste weinen, dass schloss er auch daraus, da sie mit dem Ärmel über ihr Gesicht fuhr. In kurzen Abständen hielt sie immerzu inne, hielt ihre Hände im Spülwasser getaucht und blickte durch das Fenster in den hinteren Teil des Gartens. Sie verharrte dann minutenlang und starrte regungslos hinaus. Irgendetwas schien sie zu beobachten. Zwischendurch entfuhren ihr dann diese unterdrückten Schluchzer und ließen ihren Körper leicht erzittern.

Nach einiger Zeit öffnete sein Vater die Terrassentür. Durch das Quietschen der Angeln wurde Mrs. Archer aus ihrem lethargischen Zustand gerissen. Wortlos drehte sie ihren Kopf zu ihrem Mann, der sich wortlos neben sie stellte. Sie nahmen sich bei den Händen und blickten gemeinsam durch das Fenster. Ihre Bewegungen glichen wie aus einem Slow-Motion-Film und wirkte aus Jules völlig fremd. Er konnte genau verfolgen, wie das schaumige Wasser von ihren Händen auf den Boden tropfte.

Obwohl es wahrscheinlich nur Sekunden waren, fühlte es sich für ihn ewig an. Wie ein verliebtes Paar standen seine Eltern nebeneinander, hielten sich an den Händen und blickten in den Garten. Dieses Bild brannte sich in Jules Kopf ein. Ohne nachzudenken, konnte er das Bild mehrfach abspulen. Selbst im Rücklaufmodus gelang ihm das und sah dabei die minimalsten Bewegungen.

Bei wiederholter Betrachtung wirkte die Szenerie aus der Vergangenheit auf ihn wie ein Bild voller Liebe und Zweisamkeit. Doch mit zunehmenden Jahren interpretierte er sie immer wieder anders. Das Gefühl der Liebe zwischen seinen Eltern blieb und machte die Trennung seiner Eltern nur noch unverständlicher, als sie ohnehin schon war.

Die Terrassentür fiel in das Schloss. Es klickte und die Tür quietschte, als sie zufiel. Die Geräusche rissen ihn aus der Situation heraus und beförderten in rückwärts durch die Zeit. Wie im Zeitraffer sah er viele Momente seines damals noch jungen Lebens an sich vorüber ziehen. Dann stoppte die Zeitreise genau an diesem Punkt, als er seine Eltern gemeinsam in der Küche sah. Jules konnte sich nicht daran erinnern, wann er nach dieser merkwürdigen Situation seine Eltern noch einmal zusammen gesehen hatte.

Traurig stellte er fest, dass es zudem einer der unlängst gezählten Tage in seinem einstigen Zuhause war. Relativ schnell zogen sie danach aus der Stadt.

Gedankenverloren hatte er nicht mitbekommen, wie David mit ihm sprach.

»... Hey Kleiner, hörst du mir überhaupt zu«, hörte Jules nur noch wie durch einen dicken Wattebausch.

»Ja, ja. Sicher hör ich dir zu. Und du brauchst dich nicht mit meinem Kram zu belasten. Es ist doch nur ein dummer Traum. Ich komm schon klar.«

Diese Aussage war rein vorsorglich, da er mit David gefühlte einhundert Mal über seinen Traum gesprochen hatte. Der beschäftigte Jules heute mehr denn je und er war gerade nicht in der Stimmung, mit ihm ausgerechnet jetzt über den Inhalt zu sprechen.

Das Einzige, was er wirklich musste, war nachdenken. Angestrengt grübelte er über sein nächtlich wiederkehrendes Traumgebilde. Die Abstände verkürzten sich rasant und seit einigen Tagen wiederholte sich der Traum jede Nacht. Mit jedem Mal enthüllte er ein kleines Detail mehr. Trotzdem konnte Jules den Inhalt nicht deuten. War es nur ein Streich seines Gehirns oder wandelte sich sein Traum zum Alptraum. Zeigte er ihm ein Stück aus seinem Leben und sollte das Geschehene als ein fester Bestandteil zu seiner Welt gehören. Diese Vorstellung gefiel ihm nicht und der Magen zog sich dabei zusammen und im Mund schmeckte er die bitter aufsteigende Magensäure.

Da Jules sich sicher war, dass dieser Traum von großer Bedeutung war, rang er mit sich über den nächsten Schritt, den er unternehmen sollte. Was auch immer der Traum ihm zeigte, irgendetwas Wahres musste darin stecken. Dafür war er zu realistisch und viel zu intensiv. Doch so sehr er sich anstrengte, er konnte es sich nicht erklären. Welche Gewichtung sollte er auf den Traum legen? Ganz besonders nach der heutigen Nacht. Es musste enorm wichtig sein, das stand für ihn fest.

Wie er dem auf dem Grund gehen wollte, stand für ihn nicht fest und einen Plan hatte er nicht. Doch, wenn er heute das Flugzeug nach Boston nehmen würde, hätte er keine Change etwas herauszufinden. Die Antworten, die er suchte, lagen hier. Hier in New York, hier wo er einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Er brauchte eine Auszeit von seinem Job und wenn es nur ein paar Tage sind.

»David, ich habe nachgedacht. Ich muss heraus finden, was es mit meinem Traum auf sich hat. Er verändert sich ständig und ich kann ihn nicht deuten. Ich denke, ich werde länger hier bleiben und ein paar Recherchen anstellen. Vielleicht kann mir meine Mutter oder auch ein paar alte Freunde helfen.«

Mit keinem Wort erwähnte er seine neuste Vision. Er tat sich eh schon schwer mit David über die Details des Traums zu sprechen, weil er so grotesk war. Doch dieses Mal nahmen ihm die letzten und neuen Bilder fast die Luft. Wie sollte er das nur jemanden erklären. Jules war sich nicht sicher, was er David eigentlich sagen sollte. Da ließ er gern mal was aus oder verneinte einfach die Frage, ob er wieder schlecht geträumt hatte. So oder so war es für seine Kollegen offensichtlich, wenn er völlig durch den Wind mit dicken Rändern unter den Augen im Büro eintrudelte. Er wurde respektiert, trotzdem baten ihm seine Kollegen immer wieder an, mit ihnen reden zu können.

Doch dieses Mal war es markdurchtreibend und er war geschockt. Wenn er in New York bleiben wollte, müsste er sich sicher begründen. Wenn nicht würde David ihm Liv auf den Leib hetzen. Und die ließ ihn ganz bestimmt nicht in Ruhe, bis sie jede noch so kleine Winzigkeit aus ihm herausgequetscht hätte. Das tat sie aber nicht der Neugierde wegen, sondern einfach weil sie Jules wie einen kleinen Bruder liebte. Also es musste raus. Am besten ganz schnell, dann ist es nicht so grausam.

Kaum hatte Jules zu Ende gedacht, hackte David auch schon nach.

»Was war heute anders? Was bewegt dich so. Miller brauchst du nur zu sagen, dass du frei brauchst. Die macht bestimmt kein großes Fass auf. Aber mich interessiert es, Jules.«

Neugierig beäugte er Jules. Der wiederum gestikulierte mit seinen Händen unverständlich in der Luft herum und suchte nach der richtigen Erklärung.

»Heute Nacht sah ich in meinem Traum wieder etwas mehr. Nicht nur die Beine eines Jungen, die halb versteckt hinter einer Waschmaschine im Keller zu sehen waren.«

Jules stockte. Ihm fiel es sichtlich sehr schwer, überhaupt Worte zu finden, und formte immer wieder seinen Mund, doch er brachte keins zustande.

›Tief durchatmen. Wird schon. David wird mich schon nicht für verrückt halten‹, ermunterte er sich selbst.

»Heute ...«

Er stockte erneut und nahm noch einmal einen tiefen Atemzug und schloss die Augen, als er abermalig ansetzte und seine Gedanken wie aus der Pistole geschossen rausließ.

»Heute erkannte ich meinen Vater, der sich über den Körper des Jungen beugte und mir direkt ins Gesicht sah.«

Jules öffnete die Lider und blickte getrieben in den Raum. Das Schrecklichste und Unvorstellbarste, was Jules jemals gesehen hatte, war ausgesprochen. Es tat gut, in diesen schweren Moment einen Freund an der Seite zu wissen.

David hatte mit allem gerechnet, aber nicht dass er seinen Vater ins Spiel brachte. Er war so geschockt, dass er sich augenblicklich setzen musste. Mit gefalteten Händen saß er breitbeinig auf dem gegenüberliegenden Sessel und blickte Jules skeptisch an.

Die beiden mussten nicht miteinander sprechen, ihre Blicke sprachen für sich. Jules sah glasklar, dass David sich fragte, ob er sich täuschte. Doch Jules entkräftete dies mit einem Kopfschütteln.

»David, ich muss es wissen.«

Jules wollte unbedingt eine Bestätigung von David. Eine Bestätigung darüber, dass er ihm glaubte, und ihn nicht für völlig verrückt erklärte. Schlagartig war es ihm wichtig, dass er seine Motivation verstand und ihm möglicherweise Rückhalt geben konnte, wenn auch nur emotional.

Nachdenklich blickte Moreau ihn an, während er die Stirn runzelte. Es war eine entsetzliche Neuigkeit. Jules’ Traum rückte für ihn dadurch in ein ganz anderes Licht.

Jules’ Impuls fand er nur logisch. Gut hieß er den Vorschlag nicht, zumal Jules allein wäre. David kannte Jules, wenn auch nicht all zu lange, ziemlich gut und er wusste, egal was er ihm sagen würde, er könnte ihn ohnehin nicht umstimmen. Also sammelte er erst gar keine Argumente und nickte ihm nur verständnisvoll zu.

»Ich verstehe dich gut« und das meinte er vollkommen ehrlich. Die Idee, dass Jules eine Reise in seine Vergangenheit antreten würde, gefiel ihm hingegen so gar nicht. Auch wenn er hier groß geworden war, kannte er die Menschen nicht wirklich.

Jules war ein junger Mensch und wirkte auf Außenstehende oft zerbrechlich. Selbst wenn David an seine Stärken und Begabungen dachte, hatte er enorme Zweifel über Jules’ Standhaftigkeit, denn jeder trug insgeheim seine Dämonen mit sich. David hegte durchaus die Befürchtung, Jules sah in seinen Träumen kein Produkt seiner Fantasie. Seine Gedanken galten Jules, um den er Angst hatte. Angst, dass ihn die Suche nach der Wahrheit auffressen könnte und er erneut den Drogen verfallen könnte. Wie sollte er da uneingeschränkt seine Zustimmung geben können. Nach einem intensiven Abwägen seine Argumente bekräftigte er Jules’ Wunsch.

»Also finde heraus, was geschehen ist. Ich hoffe für dich, du willst die Wahrheit wissen und noch viel mehr, du kannst dann damit leben. Du musst mir versprechen, auf dich aufzupassen«, mahnte er ihn.

Beide wussten genau, was David damit meinte.

Erneut schweifte Jules für Bruchteile einer Sekunde ab und stellte seinen Traum als wahr gegeben hin.

Bis heute wusste er nicht, wie er in den Keller gelangte. Doch er war sich sicher, es war sein altes Zuhause in New York.

Seine Mutter und er verließen es fast schon fluchtartig, als sie nach Boston zogen, fiel ihm dazu noch ein und sprang gedanklich wieder in den Keller.

Nicht nur das der Junge aus seinem Traum tot war, zumindest sah es für ihn so aus, es musste etwas Schlimmes und Unsagbares mit ihm geschehen sein. Dieses Gefühl beschlich ihn schon lange und bekräftigte sich von Traum zu Traum.

Jedes Detail seines Alptraums kroch ihm durch seine Gehirnwindungen und klebte fest in seiner Erinnerung. Der Traum war so realistisch, dass er jedes Mal, nachdem er aufwachte, dachte, er sei wirklich am Ort des Geschehens gewesen. Doch erinnern konnte er sich nicht. Er musste es, wenn es wirklich geschehen war, verdrängt haben.

›Ein mörderischer Traum‹, wie er meinte.

Mehr als genau ging er die Einzelheiten, die er realisierte, durch.

Der Junge in seinem Traum war etwas älter als er, vielleicht sieben oder auch acht Jahre. Auf keinen Fall älter. Jedes Mal sah er die braunen Lederschuhe. Einer der Schnürsenkel war nicht mehr zugebunden. Zudem war er viel zu lang und schlängelte sich wie ein hässlicher Wurm über den grauen Betonboden. Der Schnürsenkel war schon stark abgenutzt und fusselige Fäden standen ab. Es wirkte auf Jules, als wären die Schnürbänder mit kurzen Haaren übersät. Die dunkle Jeans war an einem Bein unordentlich hochgeschoben und man konnte eine bunt gekringelte Socke des Jungen sehen. An der Seite hatte die Hose einen Riss, der die Haut des Jungen darunter freigab.

Und in einer endlos scheinenden Schleife starrte Jules auf den Rücken eines Mannes, der nach vorn gebeugt war. Doch erkennen konnte er ihn nicht. Immer wenn der Mann sich zu Jules umdrehte und aufstand, verschwamm das Gesicht und er wachte schweißgebadet auf. Es war zum Schreien und machte ihn mürbe. Doch in dieser Nacht veränderte sich genau das. Wieder sah er den Mann von hinten, der sich über das tote Kind beugte, und wieder drehte er sich um, als er Jules bemerkte. Erneut positionierte sich der Mann so, um ihm die Sicht auf den Leichnam zu verdecken. Dabei hockte der Gesichtslose und schaute den sechsjährigen Jules an. Erstmalig sah er nicht in ein verschwommenes Gesicht. Die nebulöse Maske verschwand. Ungetrübt blickte er seinen Vater an. Die Mimik in seinem Gesicht hatte er greifbar vor Augen und konnte jede noch so feine Linie darin messerscharf erkennen. Die weiten Augen spiegelten Entsetzten wieder. Doch die Mimik wechselte. Die Augen zogen sich wieder zusammen, und schienen herabzuhängen. Er wirkte auf ihn wie ein trauriger Clown, dem nur noch die aufgemalte Träne fehlte. Zu seiner Traurigkeit mischte sich Verzweiflung. Jules konnte die Gesichtsausdrücke genau deuten.

Betroffen deutete Mr. Archer ein Kopfschütteln an und streckte die Hand nach seinem Sohn aus. Eine Gestik, die Jules einschüchterte. Er war überhaupt nicht in der Lage zu begreifen, was sein Vater von ihm wollte. Urplötzlich empfand er unfassbare Angst. Sah sein Leben durch ihn bedroht und hatte nur noch das Bedürfnis vor ihm zu fliehen. Er brauchte einen Platz, an dem er sich sicher fühlen konnte. Wo er vor seinem Vater beschützt war und nicht mehr dieses grausame Szenario sehen musste.

Der Herzschlag wanderte in seinen Hals und pulsierte überdeutlich. Seine Kehle trocknete aus und alles in seinem Mund klebte aneinander.

Jules rannte völlig außer Atem die Treppe nach oben und verkroch sich für Stunden in den Wandschrank seines Zimmers. Niemand war in der Lage ihn dort herauszuholen. Er konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wie lange er in seinem Versteck blieb, da er Lücken in seinen neu gewonnen Erinnerungen hatte. Da er jedes Gefühl für die Zeit verloren hatte, ging er davon aus, den nächsten Tag darin verbracht zu haben und in der Abenddämmerung eingeschlafen zu sein.

Er sinnierte weiter über die Zeit in seinem Versteck. Die Situation mit seinem Vater konnte er nicht verstehen. Immer wieder versuchte er zu erklären, warum sein Vater in seinem Keller über einen toten Jungen kniete. Nach jedem Satz fragte er sich, was sein Vater getan hatte. Warum war ein Junge hier, von dem er meinte, ihn wieder zu erkennen. Warum war er tot. Mit zunehmender Zeit versuchte er, sich einzureden, dass der Junge gar nicht tot war. Vielleicht schlief er nur. Der Gedanke machte es ihm einfacher, sich zu beruhigen.

Den Ausdruck in den Augen seines Vaters konnte er nicht vergessen und grübelte darüber, was er bedeuten sollte. War es nun ein Ausdruck des Entsetzens, weil er ihn erwischt hatte, oder wollte er ihm den Anblick schlichtweg ersparen? Letztere Betrachtung empfand er wesentlich angenehmer.

Die Angst, dass sein Vater eine Bedrohung für ihn war, blieb latent haften und konnte er gänzlich nicht abschütteln. Um sich selbst besser trösten zu können, drückte er seinen Teddy noch fester an die Brust und saß mit zusammengekauerten Beinen in der Ecke zwischen seiner herabhängenden Kleidung. Sein Teddy hatte bereits einen von Tränen durchtränkten Kopf, solange weinte er vor sich hin. Doch dann war nichts mehr da, was aus seinen Augen fließen konnte und er wiegte sich selbst in den Schlaf. Doch bevor er einschlief, hatte sich völlige Leere in ihm ausgebreitet.

Am frühen Morgen wachte er allerdings in seinem Bett auf, neben sich seine Mutter liegend. Wie er dorthin kam, konnte er nur ahnen. Aber es tat gut, nicht allein zu sein. Der Duft von Rosenwasser strömte in seine Nase. Er liebte diesen Geruch an ihr. Jules kuschelte sich in ihrem Arm ein und lauschte ihrem Herzschlag. Dabei spürte er ihre Wärme und fühlte sich bei ihr bedingungslos geborgen. Für einen Moment hatte er das prägende Erlebnis vergessen und fühlte sich in ihrer Nähe sicher.

Jules seufzte bei den ihn durchflutenden Eindrücken bewegt. Etliche vergessene Erinnerungen drängten sich urplötzlich an die Oberfläche. Dazu gesellten sich unrealistische Eindrücke, die er nicht in Wahrheit oder Fiktion einordnen konnte. Ein ganzes Bild ergab es nur bedingt. Dafür musste er zu viel an der Geschichte konstruieren. Er konnte sich zwar daran erinnern, wie er im Wandschrank saß, aber mit keinem Funken daran, wieso seine Mutter in der Küche weinte, wieso er im Keller war und was er genau sah. Genauso wenig konnte er ausmachen, in welcher Reihenfolge die Ereignisse aus seinem Traum abgelaufen sein könnten.

Die Trennung seiner Eltern blieb ihm über die Jahre hinweg ein Mysterium. Unerklärbar, da sie sich nie stritten und immer ein gutes Verhältnis zueinander hatten. Noch nicht einmal ein böses Wort fiel zwischen den beiden.

Nur sehr vage erinnerte sich Jules daran, wie sein Vater an einem Abend nach Hause kam. Er könnte aber schwören, es war unmittelbar an dem Abend, nachdem er im Wandschrank übernachtete. Sicher war er sich aber nicht. Er erinnerte sich nur an die melodische Stimme seiner Mutter, die wie üblich ihm zum Einschlafen aus Convivio von Dante vorlas. Jules hatte über die Jahre eine Liebe für dieses Buch entwickelt und lauschte faszinierend ihrer Worte. Mrs. Archer war sehr belesen und verschlang förmlich alles Lesbare und beherrschte die französische Sprache perfekt. Aus ihrem Mund hörte sich Dante für ihn wie ein Lied an.

Urplötzlich stand Mr. Archer, noch in voller Montur im Türrahmen und schaute verständnislos zu seiner Frau und meinte: »Anne, es ist jetzt gut, der Junge muss jetzt schlafen.«

Versöhnlich reichte er ihr die Hand und begleitete sie aus Jules’ Zimmer, nachdem sie ihren Sohn zärtlich auf die Stirn küsste und sanft über den Kopf streichelte. Es dauerte nicht lange, da stand sein Vater wieder im Zimmer. Unschlüssig wog er ab, ob er sich zu Jules setzen oder lieber stehen bleiben sollte. Er schien Jules etwas Wichtiges mitteilen zu wollen, das konnte er unschwer an seiner Mimik feststellen. Er entschied sich dazu, auf Jules’ Bettkante Platz zu nehmen. Bevor er das Wort an ihn richtete, sammelte er sich und atmete schwerfällig ein.

»Jules du musst jetzt stark sein. Pass gut auf dich und deine Mutter auf.«

Danach strich er ihm ungewohnt fürsorglich über den Kopf und verschwand ohne eine Erklärung aus seinem Zimmer und auch aus seinem Leben.

Es waren tiefsinnige Worte, die er als sechsjähriger nicht verstand. Vergessen konnte er sie nicht. Erst einige Jahre später füllten sich die Sätze für ihn mit Sinn, denn in dieser Nacht verließ sein Vater ihn und auch seine Mutter. Jules wusste zwar, dass seine Mutter Probleme hatte, doch erst im Alter von zwölf Jahren begriff er vollends, dass sie an Alzheimer litt und was sein Vater an diesem Abend meinte. Es war für den damals pubertierenden Jungen schwer damit umzugehen, da sie sich zunehmend an Dinge nicht mehr erinnern konnte. Erschütternd fand er die Situationen, wenn sie nach seinem Vater fragte und wann er endlich von der Arbeit nach Hause kommen würde. Zudem trank seine Mutter immer wieder zu viel Wein und schlief beim Vorlesen aus den Werken seines Lieblingsschriftstellers ein. Die vielen Bücher im Haus verteilten sich unordentlich aufgestapelt in den Zimmern auf dem Boden und Jules hatte nach der Schule viel damit zutun die Ordnung wieder herzustellen.

In vielen solcher Momente hasste er seinen Vater abgrundtief. Verfluchte ihn, da er ihm eine große Verantwortung aufgebürdet hatte und allein ließ. Doch Jules wuchs an der Verpflichtung und wurde schnell erwachsen.

Die Krankheit seiner Mutter schritt voran und nahm bereits während seiner Studienzeit eine ausgeprägte Form an. So erkannte sie ihn oft nicht und wusste auch nicht mehr, wo sie war, wenn er abends nach Hause kam. Schweren Herzens ließ er sie stationär einliefern. Da Jules nach seinem Studium beruflich stark eingespannt war und wenig Zeit hatte, konnte er sich in Boston nicht gut um sie kümmern. Da auch sonst niemand mehr da war, beschloss er mit seiner Tante, dass sie ihre ältere Schwester nach New York City holen sollte. In ein Wohnheim für Alzheimerpatienten in Brooklyn wäre sie am besten untergebracht. Eine perfekte Lösung für seine Mutter. Auch wenn Jules für seine Mutter wann immer möglich da sein wollte, konnte es dennoch sein, dass sein Job es nicht zuließ. Seine Tante hingegen konnte in Notfällen immer da sein und im Zweifel Entscheidungen treffen.

Jetzt war er hier und jetzt wollte er sie besuchen. Insgeheim hoffte er, dass sie etwas Licht in die Angelegenheit bringen könnte, da sich sein Erinnerungsvermögen wie ein Pavillon aus Porzellan anfühlte. Zunehmend bekam er Risse und zerbrach langsam, als wollte sich das tiefste Innere in ihm erinnern. Erinnern an etwas, das seit fast zwei Jahrzehnten in einem runden Gefängnis ohne Öffnung eingeschlossen wurde. Doch jetzt fand es einen Weg und quetschte sich durch jeden noch so kleinen Riss. Ließ es Stück für Stück aufplatzen und bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg in sein Bewusstsein und doch brauchte es noch einen kleinen Schubs dazu um sich völlig zu entfalten.

Wieder hörte Jules die Worte seines Kollegen nicht, da er viel zu tief in sich gekehrt auf dem Sofa saß.

»... Jules bist du dir sicher, dass du deinen Vater gesehen hast? Täuscht du dich auch nicht?«

Und wieder nickte er nur gedankenverloren.

»Vielleicht spielt dir dein Kopf einen Streich. Selbst wenn du ihn gesehen hast, muss es nicht automatisch bedeuten, dass der Traum wahr ist. Immerhin ist es ein Traum. Wie viele von deinen Alpträumen waren wahr. Unser Gehirn spielt uns oft etwas vor. Es gibt viele Möglichkeiten und sicher genauso viele Erklärungen. Meist sind sie ganz einfach. Glaub mir Kleiner.«

Jules hörte nur noch die Hälfte und driftete schon wieder ab. Willkürlich reiste er in seine Welt aus Buchstaben und dachte an Publilius Syrus, einen römischen Dichter und Schauspieler. Einst sagte er sehr weise ›Iniuriarum remedium est oblivio‹.

»Der Balsam für ein Unrecht heißt vergessen«, nuschelte Jules vor sich hin und sinnierte weiter.

Er vergaß für eine Zeit, verdrängte all sein Wissen. Doch Vergessen konnte er nun gar nicht. Alle Erinnerungen drängten sich an die einst stille Oberfläche und forderten harsch und laut den Tribut der Wahrheit ein.

Das Wort Mord oder, dass Jules’ Vater ein Mörder sein könnte, sprach niemand aus. Dennoch schwelte der Gedanke in dem jungen Detective-Specialist. Er hatte Angst vor seinem eigenen Gedankengut und noch mehr Angst davor, dass es in Wirklichkeit so sein könnte.

Der Entschluss, die Wahrheit zu finden, stand und war unwiderruflich.

Die Männer sahen sich an. Forschten in den Augen des Anderen, denn letztendlich wussten beide nicht, mit welchem Ergebnis der unermessliche Wissensdurst behaftet war. Und noch weniger, ob Jules mit der Tatsache leben könnte, die gerade nur eine Vermutung war. Noch schlimmer wäre die Konsequenz für Jules.

Sein Vater, ein Kindermörder!

Oblivionis

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