Читать книгу Oblivionis - MJ Crown - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Der erste Weg des Tages führte Jules nach Queens ins 105. Revier auf der 222nd. Ein kleines Backsteingebäude mit durch Sprossen viergeteilten Fenstern. Er frischte sein Gedächtnis auf und rief die Bestandteile des Gebäudes ab. Doch an die riesige aus Beton gefertigte Plakette, die rechts neben dem Eingang an der Wand befestigt war, erinnerte er sich genau. Der abgebildete Adler, dessen Schwingen die Köpfe zwei darunter geformten Personen fast berührten. Sie waren in seiner Erinnerung übermächtig präsent und versprachen ihm Schutz und Gerechtigkeit.
Seinen Mietwagen parkte er vor dem Grünstreifen und blieb darin sitzen, da ihn Zweifel plagten. Er war sich nicht mehr so sicher, ob er die Wahrheit wissen wollte. Bei dem Gedanken wurde es ihm erneut flau im Magen und er zog sich unangenehm zusammen. Das Gefühl, er müsste sich übergeben ging damit einher. Das Gedankenkarussell startete. Die Fragen begannen immer wieder mit was und folgten mit wenn. Er scheute vor den Fragen und fühlte Beklemmungen bei den möglichen Antworten. Ob Aiden Bishop der richtige Ansprechpartner war, wusste er nun gerade auch nicht. Immerhin war er einst der beste Freund seines Vaters oder ist es immer noch. Er war einfach zu lange weg, weg von diesem Ort, um zu wissen, wie es um die beiden stand. Seine Unsicherheit, Bishop aufzusuchen und gar zu befragen, wuchs mit den Positionen, die er mit sich selbst ausmachte. Die abweichenden Geistesblitze verwirrten ihn nur noch mehr und machten ihn zunehmend mürbe.
Flatterhaft tippte er mit den Fingern auf das Lenkrad und suchte händeringend nach Argumenten wieder wegzufahren. Immerhin war er seit siebzehn Jahren bis auf die wenigen Besuche bei seiner Mutter nicht mehr in Queens und genauso lange hatte er seinen Vater nicht mehr gesehen. Wer weiß schon, was alles in dieser langen Zeit gesehen war. Welche Veränderungen es gab und ob sich Bishop überhaupt an ihn erinnern würde; geschweige denn ihm helfen würde.
Jules fühlte es um seine Brust enger werden, jede Erwägung, die er anstellte, ließen ihn kaum Luft bekommen. In seinem Gehirn wirbelten nur wilde Gedanken umher und es schwindelte ihm, als hätte jemand urplötzlich die Sauerstoffzufuhr gekappt. Taumelnd stieg er dann doch aus, da er frische Luft brauchte, um wieder Klarheit in sich zu bringen. Gegen den Wagen gelehnt atmete er dankbar tief die frische Luft ein, nahm den Geruch des Grases wahr und schloss dabei die Augen. Er brachte seinen inneren Aufruhr nur schwerlich zur Ruhe, doch die Meditation half ihm. Stück für Stück konnte er die beunruhigenden Gedanken wegschieben und schaffte Reinheit in seinem Geiste. Mit der Klarheit kam die Ruhe und auch wieder die Möglichkeit sich den Fakten zu widmen. Radikal schob er alle Zweifel beiseite und festigte seinen Entschluss den Tatsachen auf den Grund zu gehen.
Kurzentschlossen griff er sich seine hellbraune Tasche, die noch ein Überbleibsel aus seiner Collegezeit war, und klemmte sie sich unter den Arm. Mit der freien Hand strich er sich sein abgetragenes Cordsakko glatt und ging zielstrebig zum Eingang des Reviers.
Es dauerte nicht lang, bis er sich zu Aiden Bishop durchgefragt hatte. Leicht nervös beobachtete er, wie ein Officer mit Bishop sprach, und ihn bei ihm namentlich ankündigte.
Er hatte Bishop als einen netten Kerl in Erinnerung und er konnte beobachten, wie sich sein eh freundliches Wesen weiter aufhellte, als er von seinem unerwarteten Besuch erfuhr. Freudestrahlend schritt er auf Jules zu. Er schien sich wirklich zu freuen Jules zu sehen, da er über das ganze Gesicht strahlte. Während er schnellen Schrittes auf ihn zu kam, breitete er noch im Gehen seine Arme aus.
»Jules, dich hab ich ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Aus dem kleinen Zwerg ist ein ausgewachsener Mann geworden. Ein bisschen hager, aber gut siehst du aus«, musterte er ihn.
Bishop nahm Jules herzlich in den Arm. Dann griff er ihn unter und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, während er ihn in sein Büro bugsierte. Mit so viel Herzlichkeit hatte Jules nicht gerechnet. Vielleicht machte er sich einfach zu viele Gedanken. Nun ja, Bishop wusste ja nun auch nicht, wieso er hier war.
»Hallo Mr. Bishop«, entfuhr es Jules freundlich aber etwas verunsichert.
»Ach, nicht doch, bleiben wir doch beim ›du‹. Und für dich bin ich immer noch Aiden«, lächelte Bishop zurück.
Jules nickte zustimmend. Er war sich aber nicht sicher, ob diese freundschaftliche Nähe es nicht schwieriger machen würde. Letztendlich ließ er sich darauf ein. Welche Wahl hatte er auch.
»Wie ich sehe, bist du jetzt Captain.«
Er musste es sich redlich verdient haben, denn an der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen viele Belobigungen und diverse Auszeichnungen. Er hatte bereits mehr als fünfundzwanzig Jahre Dienstzeit auf dem Buckel.
Bishop war ein aufrichtiger und ehrlicher Mann, so hatte Jules ihn in Erinnerung. Er konnte zwar nicht mehr jede Eigenschaft von ihm abrufen, aber er wusste, er war fair und umgänglich mit jedermann. Das machte ihn bei den Menschen, die hier wohnten, beliebt. Die lobenden Worte seines Vaters über ihn und welch ausgesprochen gute Arbeit er leistete, hallten in ihm noch nach.
»Ja, das bin ich. Aber erzähl von dir. Wie geht es dir und deiner Mutter. Und was treibt dich überhaupt hier her?«
Das war der Punkt, an dem Jules nicht so schnell kommen wollte.
»Setz dich doch erst mal. Du hast sicher viel zu berichten. Kaffee?«
Die Aufforderung kam ihm zwar sehr recht, hatte aber keinen wirklichen Aufschub zur Folge. Den Kaffee lehnte Jules trotzdem dankend ab, da er ihn nicht mochte. Er war ein echter Teetyp. Und wenn, sollte es am liebsten englischer schwarzer Tee mit einem Schuss Milch sein.
Während er sich setzte, umklammerte er seine Tasche, die er vor sich auf die Oberschenkel stellte, und begann direkt auf Bishops Fragen einzugehen.
»Mir geht es gut und ich arbeite für das Bostoner Police Department.«
Bishop fragte ihn direkt nach seiner Einheit und Jules erklärte, dass er für eine Spezialeinheit tätig sei und einer Gruppe von Sonderermittlern angehöre.
»Ein Detective-Specialist, also. Ganz manierlich, ganz manierlich. Über die Stalking und Rape Unit -SRU- habe ich schon gehört.«
Bishop schien kurz nachzudenken und ergänzte mit seinem zusammengekratzten Wissen.
»Die Einheit war doch ganz schön umstritten und ist noch recht neu. Wenn ich mich richtig entsinne, geht es sich bei euch um die Aufklärung von Stalking und Vergewaltigungsverbrechen. Auch schon, bevor ein Verbrechen stattfindet. Landesweit. Richtig?«
Bishop fasste es mit wenigen Worten korrekt zusammen.
Jules nickte.
Er bewegte sich gedanklich zurück und lächelte, als er daran dachte, wie er zu der SRU kam. Als man ihn anwarb, hatte er keinen blassen Schimmer von der Existenz dieser Einheit und jetzt ist er schon länger als ein Jahr dabei. Damals bekam er recht schnell mit, dass es schwierig war, diese Ermittlungsgruppe ins Leben zu rufen. Es gab Kritik, da man bereits präventiv vorging. Die Gründer mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, dass bei der Vorgehensweise bereits ein Unschuldiger unter Verdacht stand, obwohl er keine Straftat vollzog. Man diskutierte über Menschenrechte, unbegründete Überwachung und über die Aufweichung der Unschuldsvermutung. Doch das Department setzte sich durch und der Erfolg gab ihm recht. Jetzt war er das jüngste Mitglied des sechsköpfigen Teams. Seine Aufgabe und die seiner Kollegen war es ein Verbrechen zu verhindern. Besonders gefährdete Personen wurden präventiv beschützt, um einen möglichen Übergriff zu verhindern.
Der letzte Einsatz hatte ihn in seine Geburtsstadt New York geführt. Quer durch das Land sollten sie die Erfolgssängerin Shenne Labeouff begleiten, die partout ihre Tournee nicht absagen wollte. Sie stand zu ihren Fans aber auch zu den vielen Millionen, die sie verdiente. Die SRU erhielt den Auftrag einen Stalker ausfindig und unschädlich zu machen, da er als extrem gefährlich eingestuft wurde und man befürchtete, dass er bei der erstbesten Gelegenheit Labeouff sogar töten würde. Sie hatten Glück, denn direkt bei Tourneeauftakt, konnten sie den Stalker stellen.
Jules war sehr stolz darauf, ein Teil einer so effektiven Einheit zu sein, da sie nur die Besten der Besten vereinte.
Bishop war sehr stolz auf Jules, als er all das hörte. Am liebsten wäre er wieder aufgestanden und hätte ihm lobend auf die Schulter geschlagen. Stattdessen nickte er und brachte seine Anerkennung mimisch zum Ausdruck.
»Ich habe ja immer gesagt, aus dir wird was ganz Großes. Und wie geht es deiner Mutter?«
Obwohl Jules sich über diese Frage wunderte, antwortete er.
»Meiner Mutter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist in einem guten Wohnheim untergebracht. Im ›the Waterford on the Bay‹ in Brooklyn. Ganz in der Nähe. Vielleicht weißt du ja davon.«
Die Aussage bestürzte den taffen Captain, denn er wusste, dass es ein Haus für Alzheimerkranke war. In den meisten Fällen war es aber auch die letzte Wohnstätte für die Betroffenen. Es brachte ihn sichtlich aus der Fassung, da es augenscheinlich für Anne keine Möglichkeit mehr an einem normalen Leben teilzuhaben. Doch er tröstete Jules und erklärte ihm, dass es ein gutes Wohnheim war. Dass Jules’ Mutter sich hier in seiner unmittelbaren Nähe befand, wusste er offensichtlich nicht. Jules konnte es unschwer in seinem Gesicht erkennen. Auch das er über diesen Umstand nicht informiert war, empfand der Captain nicht gerade erfreulich. Auch wenn nur ein Huschen seines Missfallens zu sehen war, wäre er gern unterrichtet worden. Schließlich war Anne auch seine Freundin.
»Ich werde sie besuchen gehen«, lenkte er geschickt von sich ab und lächelte in seiner freundlichen Manier.
Nach einer wohlgewählten Pause fuhr Jules fort. Er fand der Austausch von Informationen und Freundlichkeiten war ausgereizt und wollte zum wesentlichen Punkt kommen.
»Aiden, es fällt mir nicht ganz leicht über mein Anliegen zusprechen. Für mich ist es wirklich sehr wichtig. Bitte verstehe mich nicht falsch«, erklärte Jules vorweg.
Er empfand seine Einleitung selbst merkwürdig, fand aber keine Bessere. Die Unsicherheit kam zurück und seine Nervosität lies ihn nur verbal vorwärts stolpern.
»Einzelheiten kann ich dir noch nicht sagen und einfach auch nicht wirklich erklären. Für mich ist alles zu unklar, um in irgendeiner Weise eine Spekulation anzustellen oder gar eine klare Äußerung.«
Während er die Worte vor sich hin stotterte, zog er mit dem Fuß Kreise über den Boden und beobachtete ihn dabei. Erst jetzt richtete Jules seinen Blick zu Aiden. Hilfesuchend wanderten seine Augen hin und her und er wartete auf irgendeine Reaktion von Bishop. Doch der reagierte überhaupt nicht. Das verwirrte Jules ungewohnt. So fasste er sich nun mehr als knapp.
»Eigentlich bin ich hier, weil ich mich für Mordfälle aus dem Jahr 1998 interessiere.«
Diese konkrete Aussage ließ Bishops Gesicht verdunkeln. Sein sonst lächelnder Mund formte sich zu einem schmalen Strich und die Augen trübten sich. Es schien, als würde sich die Iris von braun zu schwarz verfärben und Ton in Ton mit den Pupillen verschmelzen.
In Bishops Hirn ratterte es. Jules konnte es förmlich sehen. Zudem hatte er bereits bei seiner umständlichen Erklärung das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, da Bishop keine Anstalten unternahm, ihn aus seiner unangenehmen Lage zu befreien.
»Wieso interessierst du dich dafür. Hat es etwas mit deiner Arbeit zu tun?«
»Nein«, antwortete Jules. »Mit meiner Arbeit hat es nichts zu tun. Es ist etwas Persönliches.«
Wieder entstand eine Pause. In der Luft surrte es elektrisch vor Spannung.
»Etwas Persönliches, also? Was meinst du genau damit« fragte Bishop messerscharf.
»Ja, wie soll ich es am besten erklären Aiden.«
Jules tat sich mit seinem Anliegen schwer und Bishop augenscheinlich auch. Der junge Archer fragte sich, was wohl dahinter stecken würde.
»Du kannst dich doch sicher noch an das Jahr erinnern. 1998. Es ist das Jahr, in dem sich meine Eltern trennten und meine Mutter mit mir nach Boston zog.«
»Ja ich erinnere mich nur zu gut daran. Es ging sehr schnell. Ihr habt schon fast übereilt die Stadt verlassen. Und jetzt sitzt du hier und fragst mich nach Mordfällen. Jules erkläre mir bitte dein Interesse«, bat der Captain fast väterlich.
»Ich wüsste nicht, wenn ich sonst fragen sollte. Du bist doch der beste Freund meines Vaters. Du warst unser Nachbar. Du arbeitest hier. Ich habe sonst niemanden, den ich fragen könnte.«
Jules blickte bittend, doch er konnte keine Reaktion bei Bishop ausmachen. Der junge Detective sah sich schweren Herzens gezwungen, sich genauer zu erklären.
»Damals, als wir weggingen und alles in die Brüche ging, glaube ich ist etwas Schreckliches in unserem Haus passiert. Leider bin ich mir nicht sicher, was es ist, aber ich träume immer wieder von einem Jungen, der zu jener Zeit ungefähr so alt sein musste wie ich.«
Es war raus und wieder pausierte Jules. Es war dornenreich, das Traumbild in Worte zu fassen. Denn wenn er das jetzt tat, würde er auch einen konkreten Verdacht aussprechen. Einen Verdacht, der sich gegen seinen Vater richten würde. Daran wie Bishop das aufnehmen würde, wagte er momentan nicht zudenken, denn er befürchtete, er würde ihn aus dem Revier werfen und somit würde sich eine gute und wahrscheinlich seine einzige Chance zur Klärung vertan sein.
»Spuck’s schon aus, mein Junge. So schlimm kann dein Traum nicht sein« lächelte Bishop verkrampft.
Er schien sich langsam zu fangen und seine lässige Art und Freundlichkeit zurück zugewinnen.
»Aiden, es ist irgendwie kompliziert. Es ist ein wirklich grauenvoller Traum und er verändert sich ständig. Er ist so dubios, dass ich nicht die richtigen Worte finde. Jedes Mal kommt ein Detail hinzu.«
Er kam Aidens Aufforderung nach, denn zu verlieren hatte er nun wirklich nichts. So schilderte Jules seinen Alptraum, der ihn nun seit Wochen mittlerer Weile jede Nacht verfolgte und mental plagte. Dabei versuchte er, sich nur auf die wesentlichen Details zu beschränken. Es war sowieso schon schwer genug.
»Mein Traum beginnt immer in unserem Keller. Ich stehe einfach da und dann sehe ich immer wieder einen Mann in gebückter Haltung. Er beugt sich über einen Jungen, der am Boden liegt. Bis jetzt habe ich niemals ein Gesicht gesehen. Jedes Mal, als er sich zu mir umdrehte, war das Gesicht wie verpixelt. Völlig unklar zuerkennen, wer diese Person ist. Doch letzte Nacht bekam der verschwommene Kopf ein Gesicht. Nämlich, das meines Vaters«, schloss Jules seine Ausführungen, da die nachfolgenden Geschehnisse aus seinem Traum für den Captain irrelevant sein dürften.
Jules stockte der Atem. Es war ausgesprochen, was auch immer jetzt gesehen würde. Entweder fand er in Bishop einen Freund und Helfer oder einen Feind. Innerlich spannte sich in dem jungen Mann jede Muskelfaser an, dazwischen vibrierten seine Adern, die das Blut nur noch schneller durch ihn hindurch pumpten. Peinlich über seine eigene Aussage berührt, blickte er zu Boden und entging glücklicherweise den messerscharfen Blicken seines Gegenübers, denen er wahrscheinlich nicht standhalten könnte.
Jules hörte etwas Schweres auf den Schreibtisch krachen. Dem folgte in metallenes Klicken. Erst als er das Rascheln von Papier hörte, blickte er wieder auf. Neugierig verfolgte er, wie der Captain in einem Ordner Seite für Seite umblätterte und dann stoppte. Mehrfach tippte er mit dem Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite. Obwohl er nicht zu Jules sah, konnte er erkennen, dass sich seine Miene aufs Neue verfinsterte.
Ohne, dass Bishop den Kopf hob, flüsterte er gerade so, dass Jules ihn verstehen konnte: »Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es ist, als wäre es gestern gewesen. Scott Fisher. Der arme Junge. Er wurde im Breininger Park an der Edmore Avenue gefunden. Schlimme Sache. Den Kerl, der ihm das angetan hat, hat man nie gekriegt.«
Unvermittelt sah der Captain in Jules’ Gesicht und forschte in ihm, als würde er auf Antworten vieler Fragen warten, die er ihm augenscheinlich telepathisch übermittelte, obwohl beide dieser Fähigkeit nicht mächtig waren. Bishops Augäpfel wanderten unruhig hin und her, bis sie stillstanden und auf Jules’ Haut brannten und er sich dabei unwohl fühlte. Um dem zu entrinnen, brach er das Schweigen.
»Aiden, danke. Darf ich die Akte sehen.«
Für einen Moment ließ Bishop die Hand auf der aufgeschlagenen Seite liegen und starrte in Jules’ Augen. Suchte den Blickkontakt. Jules empfand es als eine Art Kampf. Auf keinen Fall durfte er unter Bishops Blick zusammenbrechen. Er musste standhalten. Zumindest so lange, bis er ihm die Akte überließ. Jules fühlte, wie sich die ersten Schweißperlen an seinen Schläfen bildeten. Doch dann urplötzlich, ohne eine Antwort zu geben, drehte sich Bishop ab und ging zu einem Aktenschrank und schloss die obererste Schublade auf. Ohne zu suchen, zog er eine Akte heraus und schritt schweren Schrittes auf Jules zu.
»Hier.«
Bishop hielt dem Detective die Akte vor die Nase, der auch unmittelbar danach griff. Doch bevor der Captain sie los lies, blickte er Jules noch ein Mal stechend an. Es fühlte sich für Jules wie Tauziehen an. Doch hier ging es nicht um physische Stärke, sondern ausschließlich um Willenskraft. Das war der Moment, an dem Jules einen Rückzieher hätte machen und all seine Vermutungen auf sich beruhen lassen könnte.
»Mein Junge, ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte er nachdrücklich besorgt und ließ die Akte in Jules’ Hände gleiten. Er legte sie auf seine umgekippte Aktentasche ab. Loslassen konnte er sie allerdings nicht, dafür empfand er die Errungenschaft zu kostbar und musste sich von der Habhaftmachung erst überzeugen. Dabei beobachtete er, wie Bishop zum Fenster schritt und wie versteinert verharrte. Ohne, dass Jules in sein Gesicht sehen konnte, hatte er das Gefühl, sein Blick musste ausdruckslos sein und er würde jenseits der Fensterscheibe nichts wahrnehmen.
Eine gefühlte Ewigkeit hielt er die Akte fest. Sinnierte über die Gedankengänge, die Bishop anstellen würde. Ob er Ängste hatte, welcher Art auch immer. Dabei bildete sich Jules’ minimalistische Bewegungen ein, die er sofort zu analysieren versuchte.
Unentschlossen fuhr Jules währenddessen mit dem Daumen über den Pappdeckel, da er sich nicht dazu durchringen konnte, die Kladde aufzuschlagen.
Er war bis hierhin gegangen, jetzt wollte er auch wissen, was in der Akte stand. Er hatte schließlich viel riskiert.
Den Ruf seines Vaters.
Noch bevor Jules die Akte öffnen konnte, schritt Bishop zur Tür und öffnete sie. Nur für einen kurzen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Bishop dreht sich wieder in Richtung Fenster von Jules ab.
Der junge Detective erhob sich und passierte ohne eine Abschiedsfloskel die Türschwelle. Er hörte nur noch die niedergeschlagenen Worte: »Jules, ich hätte mir gewünscht, dass uns andere Umstände zusammengeführt hätten.«
Für einen Moment hielt er im Schritt inne, doch er verließ wortlos das Revier.
Emotional aufgebracht und verwirrt blieb er gegen sein Auto gelehnt stehen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Seine Hände zitterten. Bishops Verhalten hatte ihn verunsichert. Er meditierte. Jules hatte die Befürchtung einen falschen Weg eingeschlagen zuhaben. Flüsternd sprach er sich Mut zu, die Augen zu öffnen und auch die Akte, ganz besonders die Akte. Er hatte Panik davor, so sehr, dass er an all die Fragen dachte, die er Aiden stellen wollte und sie nicht stellte. Warum? Warum hat er die berennenden Fragen, die ihn so sehr quälten nicht gestellt. Der Angstzustand lähmte ihn bis zur Ohnmacht, unfähig zu sein, das zu tun, was er am besten konnte. Analytisch zu denken.
Mit dem letzten Bild seines Traumes quälte ihn nicht nur die Frage, ob es einen Mord gab, denn den gab es mit der Akte in der Hand zweifelsfrei. Aber war es auch der Junge, der in seinem alten Zuhause im Keller lag. Das Kind aus der Akte hätte genauso gut jemand anderes sein können. Das lag mit dem Fundort auch auf der Hand und möglicherweise war in seinem Haus nur ein Unfall geschehen. Was auch immer vorgefallen war und was auch immer in der Akte verborgen war, Jules hatte keine Zweifel darüber, dass der Junge aus seinem Traum tot war.
Auch wenn Jules über die Alternative eines Unfalltods nachdachte, konnte er den Verdacht, dass sein Vater ein Mörder sein könnte nicht verdrängen. Und wie aus dem nichts gesellte sich die Frage, wieso sein Vater keine Kinder mehr haben wollte, zu den vielen anderen. Zunächst eine harmlose Frage, aber Jules beschlich ein weiterer schwerwiegender Gedanke.
»Tock, tock, tock.«
Eine helle freundliche Stimme holte ihn aus seinen aufkommenden grauenvollen Gedankengängen. Glücklicherweise, noch bevor er ein Urteil über seinen Vater fällen konnte. Dankbar, wenn auch überrascht, öffnete er die Augen.
Jules blickte auf eine kleine, zierliche Frau in Officerkleidung. Unter ihrer Mütze ragten wilde braune Locken hervor. Diese Locken erkannte er sofort. Denn er kannte nur ein Mädchen, das so eine Haarpracht besaß. Er kannte auch nur eine Person, die ihn immer mit »tock, tock, tock« begrüßte. Er war ein altes Spiel, das er seit einer Ewigkeit nicht mehr gespielt hatte.
»Lucy«, fragte er zögerlich. »Lucy! Bist du das wirklich?
...
Die Zeit läuft«, beantwortete Jules das alte Spiel.
»Tock, tock, tock.«
»Die Uhr steht.«
»Tock, tock, tock.«
»Die Sonne geht.«
Tock, tock, tock.«
»Der Mond steht.«
»Tock, tock, tock.«
»Ach Lucy«, unterbrach er das Wortspiel. »Es ist so schön, dich zu sehen.«
Umständlich öffnete er die Autotür und bugsierte die Akte auf den Sitz und legte seine Tasche darüber.
Dann breitete er die Arme aus, nahm Lucy in den Arm und herzte sie innig. Die Wiedersehensfreude war riesig und die Nähe so vertraut, als wäre kein Tag verstrichen, an dem er sie nicht gesehen hatte. Er drückte sie so sehr vor Freude, dass sie fast keine Luft bekam.
»Jules, Jules, ich habe dich gar nicht so kräftig in Erinnerung.«
Seine Umarmung löste sich und er strahlte seine einstige Freundin an. Ein unerwartetes und sehr schönes Ereignis, wie er meinte.
Sie tauschten die üblichen Höflichkeiten aus und unterhielten sich über ihre Kindheit und auch über die traurige Erkenntnis, dass Jules eines Tages nicht mehr in dem Haus nebenan war und ihr ›tock, tock, tock‹ unbeantwortet blieb. Einfach so. So ganz ohne Ankündigung.
Die ihm so vertraute Freundin erzählte viel und beantwortete die unzähligen Fragen von Jules. Es war so erfrischend für ihn. Doch auch sie stellte ihm Fragen und er rückte nur ungern mit der Wahrheit heraus. Sehr behutsam umriss er sein Dilemma mehr als grob. Alle Andeutungen über seinen Vater ließ er aus und beließ es bei der Wahrheit, den Tod an einem Jungen aufklären zu wollen. Ganz geschickt erfuhr er, bei der Gelegenheit, dass sein Vater noch in der Nähe wohnte. Und genauso beiläufig berichtete Lucy, dass sein Vater nach wie vor im benachbarten Hempstaed Partner in der Kanzlei tätig sei und es sich bei seinem Aufenthalt anbieten würde ihn zu besuchen.
Jules schaute über diese Aussage verwirrt drein. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.
»Jules, mach das. Es wird euch gut tun. Immerhin habt ihr euch eine Ewigkeit nicht gesehen. Und nichts kann so schlimm sein, nicht einmal hallo zu sagen. Was auch immer zwischen euch steht oder geschehen sein mag, ich weiß es ja nun nicht, aber lass die Toten ruhen und geb dir einen Ruck. Er hat dir doch nichts getan.«
Der junge Profiler fühlte sich im innersten Kern getroffen. Ungewollt hatte seine beste Kindheitsfreundin den Nagel auf den Kopf getroffen. Irgendwie wollte das Kopfkarussell anspringen, doch er zwang sich dazu, nett und freundlich mit Lucy weiterzusprechen, obwohl ihn das verstimmte.
»Lucy, du verstehst nicht. Ich möchte nur meine Mutter besuchen. Ich habe sie einfach schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Ja Jules, das weiß ich, das machst du immer, wenn du hier bist. Deine Mutter erzählt es mir nun auch jedes Mal, wenn du sie besucht hast.«
Jetzt war Jules schon wieder verblüfft, denn er hatte keine Ahnung, dass dieses Mädchen seine Mutter, augenscheinlich, regelmäßig besuchte. Obwohl sie ihr nicht verpflichtet war, schien ihr etwas an ihr zu liegen. Darüber war er erleichtert. Seine Mutter hatte jemand, den sie kannte und der sich um sie sorgte. Ein wirklich beruhigender Gedanke, der sich warm in ihm ausbreitete. Das kommentierte er aber mit keinem Wort und nahm die Aussage einfach hin.
Aber wieso tat es Bishop nicht, wieso tat er so, als ob er nicht wusste, dass seine Mutter hier in der Nähe lebte. Hatte er ihn angelogen oder gab es andere Gründe. Welches Verhältnis hatte Lucy eigentlich zu ihrem Vater in den letzten Jahren entwickelt.
Jules’ Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ständig stellte er sich Fragen, knüpfte Verbindungen und versuchte sie zu analysieren.
Er scheute sich, seine Kinderfreundin danach zu fragen, zumindest jetzt. Dafür gab es sicher bessere Gelegenheiten, entschied er.
Es schien ihm, als gab es hier mehr zu klären, als nur seinen Traum. Er kümmerte sich gut um seine Mutter und trotzdem wusste er augenscheinlich nichts von dem, was mit ihr und um sie herum geschah.
»Wir treffen uns auf einen Kaffee oder Tee«, bestimmte Jules freundlich und Lucy erwiderte mit einem offenen Nicken.
»Du weißt ja, wo ich wohne«, zwinkerte sie ihn an und gab ihn einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie sich von ihm abdrehte und in Richtung Revier verschwand.
Jules starrte ihr noch minutenlang hinterher. Auch dann noch, als die Tür bereits in Schloss gefallen war und sie nicht mehr zu sehen war. Andere Beamte verließen bereits geschäftig das Revier oder betraten es.
Ihn beschlich nun stärker als zuvor, dass irgendetwas nicht stimmte. Lucy war sehr offen zu ihm, ihr Vater hingegen zeigte sich verärgert. Und wieso hatten sie so unterschiedliches Wissen. Oder wollte Bishop gar nichts von der Anwesenheit seiner Mutter wissen. Es musste ein großes Ganzes geben und er bekam ganz sicher noch die Gelegenheit mit Lucy zu sprechen. Es würde sich klären.
Über die unerwartete Begegnung mit Lucy war Jules heilfroh und eröffnete ihm die Möglichkeit, die Akte über den toten Jungen noch nicht aufschlagen zu müssen. Trotzdem wusste er genau, dass er das nur vor sich herschob. Er entschied, dass er sich mit den Einzelheiten des Falles noch lange genug auseinandersetzen konnte. Die Angst in den Dokumenten Hinweise, gar Beweise zu finden, die mit seinem Vater in Verbindung gebracht werden könnten, lähmten ihn zunehmend. Obwohl er immer wieder in Richtung Akte schielte, konnte er sich nicht dazu überwinden, sie unter seiner Tasche heraus zuziehen. Da nur eine Ecke der Kladde zu sehen war, wirkte sie auf Jules verboten. Er lauschte seinen Gedanken, die ihm ein Geheimnis jenseits des braunen Deckels verraten wollten. Doch welches Geheimnis er lüften sollte, gaben seine Eingebungen nicht preis, dafür rieten sie ihm, die Akte zu öffnen. Es war zu gleich Verlockung und Graus. Gepaart ein bösartiges Gefühl.
Er schob die Gedanken zu Seite. Flugs reiste er in die Zeit, als er ein kleines Kind war, zurück. Empfand den Gedanken wohlig, wie er und Lucy die Zeit gemeinsam im Garten verbrachten. Wie sie sich nebeneinander auf den Schaukeln durch die Luft schwangen und der Wind durch das Haar fuhr. Wie die Sonne das Gesicht sanft streichelte. Ganz genau erinnerte er sich, wie Lucys Lockenpracht ihr Gesicht verdeckte, wenn sie von dem Schwung mit der Schaukel nach hinten durch die Luft sauste. Um ihr helles Lachen besser wahr zunehmen, schloss er die Augen. Er hatte das Gefühl, er könne die Frühlingsluft aus diesen Tagen riechen. Diese Andenken zauberten ein Lächeln in sein Gesicht. Es gab so viele gemeinsame Erlebnisse, die ihn glücklich machten und die er gerne in sein Bewusstsein zurückrief.
Er dachte an all die unbeschwerte Zeit in seiner Kindheit und letztendlich auch an Lucys Worte. Unweigerlich glitt er in seiner Gedankenwelt an den Punkt, an dem er vor wenigen Augenblicken Lucy begegnete, welcher nur Fragen aufwarf. Er knüpfte genau dort an, an dem sie ihn aus seinem letzten Impuls riss. Es lag einfach in seinem Naturell.
›Kinder ... mein Vater wollte keine Kinder.‹
Dass es diese nicht gab, schloss er zunächst auf die Krankheit seiner Mutter, denn das wäre mehr als nur verantwortungslos gewesen.
Solange er denken konnte, hatte er sich immer einen Bruder gewünscht, warum gab es ihn einfach nicht. Viele Paare aus der Nachbarschaft hatten zwei Kinder. Sogar Lucy hatte einen kleineren Bruder. Jules war einer der wenigen, die als Einzelkind aufwuchsen. Kannte er überhaupt jemanden, der ebenso wie er ein Einzelkind war. Das konnte er nicht bestimmen, so sehr auch darüber grübelte.
Trotzdem analysierte er seine Kindheit.
Jules hatte seinen Vater für sich allein. Sie verbrachten viel Zeit zusammen und er unterstützte Jules, wo er konnte. Sei es bei schulischen Projekten oder bei seinen Hobbys. An den Wochenenden fuhren sie, so oft es möglich war, gemeinsam an den Sebago Lake in das Blockhaus der Familie. Wobei sein Vater seine Zeit meistens mit Angeln verbrachte. Es machte ihm Spaß und er fand nach einer stressigen Woche jedes Mal seine innere Ruhe zurück. Er saß einfach still am Ende des Steges und warf seine Angel ins Wasser. Dabei beobachte er die Wasserkreise, die sich um den Haken bildeten, als er in das Wasser tauchte und sie langsam verebbten und die Oberfläche wieder ruhig wurde. Indes saß Jules gemütlich in seiner Klappliege und verschlang ein Buch nach dem anderen.
Jedes Mal wenn sein Vater ein Fisch am Hacken hatte, schmunzelte er. Jules liebte es, ihn so zu sehen, da er in der Woche wenig Gelegenheit dazu hatte. Er erinnerte sich daran, wie er den Fang immer behutsam vom Hacken abnahm und den Fisch in den Eimer gleiten ließ. Es war Routine und immer die gleiche Abfolge. Und jedes Mal wenn er vier Fische gefangen hatte, packte er seine Angelausrüstung sorgfältig zusammen. Seinen Stuhl klemmte er unter den Arm, die Ausrüstung landete in die eine Hand und der Eimer in die andere. Mit einem Kopfnicken wies er Jules an mitzukommen. Das tat er auch, nur, dass er seinen Stuhl stehen ließ und er lediglich mit seinem zusammengeklappten Buch neben ihm her trottete. Vater und Sohn liefen in der gleichen Manier beieinander her. Beide summten dasselbe Lied, bis sie die Blockhütte erreichten.
Während Mr. Archer den Fisch ausnahm, reinigte und ihn zubereitete, saß Jules vor seinem Schachbrett und simulierte verschiedene Züge gegen sich selbst. Von seinem Sitzplatz aus konnte er seinen Vater unterdessen bei der Küchenarbeit beobachten. Das Anbraten des Fisches in der Pfanne roch so phantastisch, dass sich ihm sämtlich Geschmacksnerven zusammenzogen und ihm das Wasser im Mund zusammenlief. In diesen Momenten redeten sie nie viel. Die gemeinsame Zeit am See war von Eintracht und Ruhe geprägt. Dafür war es umso lebhafter beim Abendessen. Auch wenn sein Vater so gut wie alles von ihm wusste, löcherte er ihn mit unzähligen Fragen.
Die lauen Abende verbrachten sie, bis die Sonne unterging, auf der Veranda. Jeder mit einem Getränk in der Hand. Mr. Archer mit einer gekühlten Flasche Bier und Jules mit Limonade. Das waren wirklich tolle Wochenenden. Fernab des Alltages und der lärmenden Stadt fand Jules seinen inneren Frieden. Heute empfand er diese Tage und die Rituale wie aus einem Bilderbuch, aber es waren die schönsten Erinnerungen an seine Kindheit und an seinen Vater.
Sie hatten damals ein gutes Verhältnis zueinander. Vertraut, offen und ehrlich. Nicht einmal kam ihm sein Vater zu nahe oder wurde gar grob zu ihm. Nein, zwischen Ihnen war immer alles in bester Ordnung gewesen.
Jules schweifte ab und suchte unnachgiebig nach Situationen, die besser zu seinen neuen Überlegungen und zu seinem Traum passten.
Er konnte sich sehr gut daran erinnern, dass sein Vater ihn zu jedem Schachwettbewerb fuhr und da blieb. Er strahlte immer, wenn er sich mit seinen Schachfreunden unterhielt. Aus heutiger Sicht umarmte er den einen oder anderen Jungen zu oft und auch zu lang. Und immer fand er die Nähe im Nachhinein betrachtet zu nah. Er erinnerte sich ganz genau an die Worte seines alten Herrn: »Es ist schön, wenn so viele Kinder da sind.«
Er fühlte sich dann immer jung und wirkte sehr glücklich. Archer hatte Angst vor seinen eigenen Gedanken. Fand sein Vater mehr als nur Gefallen an Kindern und war die Ehe mit seiner Mutter nur eine Farce. War das der Grund, warum er ein Einzelkind geblieben war. War er gar nur ein Unfall und ungewollt. Welche Hemmschwelle hatte er ihm gegenüber, dass er ihm nie zu nahe gekommen war? Auch wenn sein Vater ein liebevoller Vater war und er sich ihm gegenüber nie etwas zu Schulden kommen lassen hatte, konnte er die gezeigte Nähe zu anderen Kindern nicht nachvollziehen. Jules wurde nie von ihm so in den Arm genommen. Oder konnte er sich einfach nicht mehr daran erinnern. So sehr er darüber sinnierte, er war unmöglich eine Situation zwischen ihnen auszumachen, die so viel Zuneigung zuließ. Was für ein Mensch war er und was für ein Vater?
Seit siebzehn Jahren hatte der junge Mann seinen Vater nicht gesehen. Seit siebzehn Jahren hatte er keinen Kontakt zu ihm, obwohl er immer wieder seine Mutter besuchte. Es gab sicher genügend Gelegenheiten, die er einfach nicht nutzte, oder nicht nutzen wollte, ihn zu treffen. Jules wusste bis gerade noch nicht einmal, ob er in der Stadt geblieben oder weggezogen war. Es wunderte ihn irgendwie nicht, dass sein Vater in der Nähe ansässig blieb und hier lebte. Und irgendwie auch nicht, dass er weiterhin in der Kanzlei arbeitete. Jules wusste aber auch nicht, was sein Vater mit dieser Gegend hier verband. Nach der Trennung seiner Eltern hätte er überall hingehen können. Doch er blieb. Aber warum?
Mit Erschrecken stellte er fest, er kannte seinen Vater nicht, noch nicht einmal ansatzweise. Die gedanklichen Ablichtungen, als er die Jungen in seinem Alter übereifrig umarmte, brannten sich in ihm ein.
Jules schüttelte sich vor Ekel über diese Bilder und über diesen letzten Gedanken, den er damit assoziierte. Er fühlte sich unfähig seine Gedanken zu formen, gar auszusprechen. Die Mundhöhle wurde trocken und im Hals fühlte er einen bitteren Geschmack aufsteigen. Er musste sich von dem Glauben befreien und zwang sich ihn weit wegzuschieben. Weit weg. Er wollte nicht daran glauben und konnte nicht daran glauben.
Getrieben setzte es sich hinter das Steuer und fuhr ziellos durch die Gegend. Es schien ihm der einzige Weg sich vor sich selbst zu entfliehen. Wie lange er so unterwegs war, wusste er nicht, doch irgendwann stand er auf dem Parkplatz seines Hotels.
Wider Erwarten traf Jules nach seiner Rückkehr in der Lobby seines Hotels auf David.
»David, was machst du hier. Wolltest du nicht schon längst nach Boston fliegen?«
David lächelte ihn an.
»Meinst du, ich lasse dich hier allein. Wir sind nicht nur ein Team, wir sind auch Freunde. Schon vergessen?«
Und genau in dem Moment tauchte auch Liv aus einem der Sessel auf. Sie lugte über die Lehne und lächelte ihn offen an.
»Du auch«, stellte Jules nur noch fest.
»Ja, Gleiches gilt auch für mich. David und ich haben beschlossen, hier zu bleiben. Wir helfen dir, wo wir können.«
Seine Kollegin sah seinen suchenden Blick. Ohne, dass das jüngste Mitglied des Teams, nur eine Frage stellen musste, erklärte sie, dass der Rest des Teams Shenne Labeouff begleiten wird. Auch Liv war eine enge Freundin geworden. Olivia, so hieß sie richtig, und David waren sich einig, einen Freund, den sie überaus schätzten, nicht im Stich zu lassen.
Jules war sichtlich erleichtert, dass er Unterstützung bekam. Dankbar nahm er Liv in den Arm und klatschte mit David ab.
Beim Abendessen erkundigten sie sich nach Jules’ aktuellem Wissensstand. Jules teilte seine Informationen mit ihnen.
So hatten sie die gleiche Ausgangsbasis als sie die überlassene Akte gemeinsam durcharbeiteten.
Doch bevor sie die Akte untereinander aufteilten, vergewisserte sich Liv noch einmal, ob Jules sich seines Traumes sicher war. Das war er. Alle Traumteile sah er als ein großes Puzzle, das man nur richtig zusammensetzen müsste. Er behaarte darauf, dass die Elemente zusammengehörten. Beweise hatte natürlich keine, aber er hörte auf sein Bauchgefühl.
So wappnete sich jeder mit einem Teil des Berichts und arbeitete ihn durch.
Nach einer intensiven Besprechung kam Liv zu dem Schluss, dass die Akte in keinem Bezug zu Jules’ Träumen stand. Etwas mitleidig sah sie zu ihrem jungen Kollegen, da er eine andere Antwort erwartet hatte.
»Du musst nicht enttäuscht sein. Sieh es positiv«, tröstete sie ihn.
Liv verstand nur nicht, wieso Bishop ausgerechnet Scott Fishers Akte ausgehändigt hatte. Sie bestätigte nach einer telefonischen Rückfrage, dass es noch zwei weitere Fälle in dem gleichen Jahr gab, die zeitlich passend gewesen wären. Zumal die Taten in der Zuständigkeit seines Reviers lagen, hätte er zumindest davon wissen müssen. Also was veranlasste Bishop, genau diese Akte auszuwählen. Er hätte doch eine Alternative gehabt oder gar alle Fälle herausgeben können. Wieso beschäftigten sie sich mit Scott Fisher, dessen Leiche in einem angrenzenden Park gefunden wurde.
Das ergab auf den ersten Blick keinen Sinn.
Liv dachte laut: »Vielleicht macht es ja doch einen Sinn und wir sehen nur den Zusammenhang nicht. Fisher wurde laut Fallbericht vergewaltigt und danach erdrosselt.«
Wieder schaute sie mitleidig zu Jules. Es schien ihm, als könne sie die Gedanken über seinen Vater auf seiner Stirn ablesen, obwohl er nicht eine Silbe darüber verloren hatte. Sie kniff die Lippen schmal zusammen und deutete ein Kopfschütteln an.
»Wir müssen nur den Zusammenhang finden, Jules«, versuchte sie ihn zu trösten.
Er war heil froh, dass sie ihre Gedanken für sich behielt. Trotzdem standen sie unausgesprochen, für alle drei Ermittler, gut lesbar im Raum. Es war gut, dass sie sich wieder der Akte widmeten, und die Fakten in einem Kontext brachten.
So stellten sie fest, dass der Täter über die Jahre unbekannt blieb. Trotz Anstrengung konnte er nicht ermittelt werden. Aus dem Bericht konnte man entnehmen, dass die Fundstelle nicht der Tatort war. Die Erkenntnisse, warum das so sein gewesen sollte, fehlten allerdings.
Jules fühlte bei jeder der aufgezählten Fakten, dass der Junge aus der Akte, der aus seinem Traum in seinem Keller sein musste. Auch wenn es keinen einzigen Beweis dafür gab. So sehr er etwas anderes glauben wollte, er fühlte sich nicht dazu im Stande. Insgeheim dachte er, seine Mitstreiter dachten dasselbe, auch wenn es keiner äußerte. Liv meinte, es wäre am besten, wenn sie sich wie immer nur an die Fakten halten würden. Das, was übrig bliebe, sei es auch noch so unwahrscheinlich, ist dann die Wahrheit.
Liv blätterte die wieder zusammengeführte Akte mehrfach in beide Richtungen zügig durch. Sie suchte etwas.
»Eine Seite des Berichtes fehlte«, stellte sie fest und tippte mit Zeige- und Mittelfinger auf das oberste Blatt. Da sie den Bericht einfach durch drei aufteilten, hatten sie das Fehlen einer Seite zunächst übersehen.
Der Gedanke, dass hier etwas vertuscht werden sollte, machte sich im Team breit. Bishop hatte etwas zu verbergen, darüber waren sich alle einig. Aber warum und was es sein könnte, darüber waren sie sich nicht einig und spekulierten wild darüber.
Auch die Situation zwischen Lucy und ihrem Vater passte nicht zu einem guten Verhältnis zueinander und irritierte sie. Dass Bishop offensichtlich nichts von dem Aufenthalt Jules’ Mutter wusste oder gar ignorierte, machte das Team stutzig. Es ergab kein schlüssiges Bild von den beiden und die Zusammenhänge waren lückenhaft.
David argumentierte, es gäbe sicher einen logischen Grund, der das Verhältnis zueinander erklären würde und nur zwischen Lucy und ihrem Vater zu suchen war.
»So etwas passiert in Familien«, meinte er und ergänzte, »Jules, das musst du nicht über bewerten.«
Liv unterstützte diese These. Jules hingegen meinte, dass Bishop seine Mutter nicht besuchen würde, weil er mit sich im Unreinen war und er ihr von Angesicht zu Angesicht nicht begegnen konnte. Da sei es ein Einfaches ihre Anwesenheit zu ignorieren.
Auch war in keiner Weise klar, in welcher Beziehung Bishop und Mr. Archer gegenwärtig standen. Bishop bestätigte weder die Freundschaft noch dementierte er sie zwischen ihnen. Und aus Lucys Aussage wurde Jules auch nicht schlau. Er interpretierte in ihre Aussage, dass sie möglicherweise mit ihm in Kontakt stand oder sein Vater bei den Bishops nach wie vor ein und ausgehen könnte.
Das das waren alles nur Spekulationen.
Insgesamt zeichnete sich ein verzerrtes Bild ab. Viele Informationen fehlten und die unterschiedlichen Aussagen von Bishop und Lucy machten das sowieso schon verfälschte Bild noch schräger und undurchsichtiger.
Keiner wusste genau, was vor siebzehn Jahren im Hause der Archers geschah. Da Jules den Traum zum gefühlten tausendsten Mal erzählte, schaffte er es auch, ihn lückenfrei noch einmal wiederzugeben.
Anhand der Schilderung versuchten sie, verschiedene Szenarien abzuleiten.
Wenn das Geträumte der Wahrheit entsprach und Jules nicht zum Opfer eines Streiches seines Gehirns wurde, kamen in allen Alternativen nur Mr. Archer und Bishop als Beteiligte darin vor. Weitere Personen schlossen sie zunächst aus. Auch wenn dieser Gedankengang nicht abwegig war, hatten sie keinerlei Hinweise auf einen Dritten. Wenn man aber den Angaben der Polizeiakte folgte, gab es damals einen Officer namens Nolan, der den Jungen mit Bishop zusammen im Park tot auffand. Wenn man ihn als Beteiligten in Betracht ziehen würde, wäre sehr viel Energie darauf verwendet worden einen Mörder zu decken.
Zwischen Nolan und Mr. Archer war aber keine Verbindung herzustellen. Genauso wenig konnte man nach intensiven Recherchen und Telefonaten eine nähere Verbindung zwischen dem jungen Nolan und Bishop knüpfen. Sie waren lediglich Partner und darüber hinaus fanden sie keine persönlichen Aktivitäten. Nur der Job und das gleiche Revier schienen der gleiche Nenner zu sein.
David stempelte den gedanklichen Vertuschungsakt als Verschwörungstheorie ab und begründete rein emotional, warum er Nolan ausschloss. Sachlich fand er keinen Grund, aber irgendwie hatte er eine Ahnung, die er nicht erklären konnte. Das hieß nicht automatisch, dass nicht mehr als Jules’ Vater und Bishop an der Verschleierungsaktion beteiligt sein könnten.
Da Jules immer wieder von seinem Bauchgefühl sprach und es mit der Aktenlage nicht vereinbar war, gingen seine Kollegen davon aus, dass Jules nur von einem Bruchteil der Nacht träumte. Sie stimmten überein, dass Jules sicher zuvor auch etwas gesehen haben musste, was sich aber seiner Erinnerungsfähigkeit offensichtlich entzog.
Einer der Möglichkeiten war, dass Jules’ Vater den Jungen getötet hatte und Bishop ihm half, den Leichnam zu beseitigen. Das würde zumindest die Übergabe genau dieser Akte, nämlich die von Scott Fisher erklären. Bishop musste so ein schlechtes Gewissen haben, dass er damit nicht mehr leben wollte. Die neue Ermittlung machte ihm den Weg zu einem Geständnis frei und um endlich Buße zu tun. Was jeder anständige Mann tun würde, der nur einen Hauch von einem Gewissen hatte. Diese mögliche Variante schien von allen diskutierten Optionen, die wahrscheinlichste. Leider brachte sie auch die schleichende Gewissheit für Jules, sein Vater könnte nicht nur ein Mörder sein.
David schaute immer wieder zu Jules. Immer wieder formte er mimisch die gleiche Frage. ›Willst du das wirklich, Kleiner?‹ Und gleichzeitig bat er ihn, die Angelegenheit fallen zu lassen. David hoffte, Jules von seinem Vorhaben abhalten zu können. Tief ihn ihm wusste er aber, dass er genau das nicht konnte. Dafür war Jules zu anständig, zu ehrlich und auch zu gradlinig. David war sich über Jules’ facettenreichen Stärken bewusst und trotzdem wusste er um seine Schwächen. Die größte Angst, die er hegte, war, dass sein junger Kollege aus der Sache als gebrochener Mann gehen würde.
Und dann brachte Liv gnadenlos die Vergewaltigung des kleinen Scotts ins Spiel. Den Aspekt konnten sie nun kaum unter den Teppich kehren und war der schmerzlichste Teil für Jules.
Sobald Liv seinen Vater in diesem Zusammenhang ansprach, verschloss Jules innerlich die Ohren. Sein Magen drehte sich um und er hätte sich am liebsten übergeben. Doch sie behaarte darauf und stellte Jules unzählige Fragen zu der Beziehung zwischen ihm und seinem Vater. Ob ihm an seinem Verhalten irgendetwas aufgefallen war. Jules fühlte sich drangsaliert und konnte kaum noch einen Gedankengang fassen. Die Befragung war qualvoll und schien endlos anzudauern.
Moreau ließ Jules während der unzähligen Varianten nicht aus den Augen und konnte verfolgen, wie sich seine Gemütsverfassung rapide verschlechterte.
Es war spät geworden. Jules hatte dunkle Ränder unter den Augen und er konnte nur noch grammatikalisch falsche und unvollständige Sätze von sich geben. Diese Ermittlung war so gar nicht nach seinem Geschmack und ging ihn an die Nieren. Auch wenn er kein Wort sagte, war es für seine Mitstreiter offensichtlich, wie übel er sich fühlen musste. Zudem waren die Anhaltspunkte einfach zu dürftig. Livs Vorschlag, die Zelte für heute abzubrechen, wurde daher dankbar angenommen, da sie sich nur noch im Kreis drehten. Sie beschlossen, am nächsten Morgen mit neuer Energie und klarem Verstand weiter zu arbeiten.
Ohnehin stand der Besuch bei Mrs. Archer an. Jules plante diesen am nächsten Vormittag und musste dafür einfach fit sein.
Der Tag war lang. Die Diskussionen und Analysen zu diesem Fall hingen Jules schwer nach und er fühlte sich ausgelaugt. Er war müde und hatte einfach nur noch das Bedürfnis zu schlafen.
Zerschlagen und übermüdet legte er sich auf sein Bett und starrte gegen die Zimmerdecke.
Obwohl Jules vor Erschöpfung die Augen nicht mehr aufhalten konnte und er das Gefühl hatte, dass seine ganze Energie aus seinem Körper floss, ließen ihn die Gedanken über seinen Vater nicht los. In seinem Dämmerzustand malte er sich ein Bild, das ihn zu einem wahrhaftigen Monster werden ließ. Der Anblick, wie sich sein Vater neben den toten Jungen kniete und sich über ihn beugte, manifestierte sich in dem jungen Archer. Und umso öfter, er diesen Teil des Traumes abspulte, umso mehr hatte er den Eindruck, er würde Jules zulächeln und Gefallen daran empfinden. Die Hand, die er nach ihm ausstreckte, empfand er als Aufforderung an den Leichnam heranzutreten. Mit ihm gemeinsame Sache zumachen. Obwohl er bei dem Gedanken würgen musste und er wieder entfliehen wollte, sinnierte er weiter. Er betrachtete den toten Körper und versuchte die Details mit der Akte abzustimmen. Die Schnürsenkel, die sich wurmartig schlängelten und sie unordentliche Hose des Jungen brachte Jules mit einer Vergewaltigung in Einklang. Und wieder sah er das Gesicht seines Vaters und aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen.
Urplötzlich bildeten sich rote Blutspuren, die Kratzer gleichkamen, durch das weiße Hemd und verfärbten es auf der Höhe der Brust. Jules bekam Schweißausbrüche und atmete schwer. Als kleine Hörner auf dem Kopf seines Vaters wuchsen, hatte er eine Panikattacke. Wild wälzend und laut schreiend erwachte Jules halb vom Bett gerutscht. Er konnte sich kaum beruhigen. Sein Herz schlug rasend schnell. Er konnte es bis in seinem Hals fühlen und laut hören. Das Hemd klebte an seiner Haut, genauso seine Haare an der Stirn. Der Angstschweiß bedeckte ihn völlig.
Nach und nach realisierte er sein Umfeld und das er geträumt haben musste. Er konnte sich zunehmend beruhigen und setzte sich auf das Bett.
Die mentale Quälerei empfand er beinahe unerträglich und wünschte sich Publilius Syrus unbeschwerten Zustand herbei. Er sollte ihm helfen zu vergessen. Immer wieder sprach er leise vor sich hin: »Der Balsam für ein Unrecht heißt vergessen«. Doch es gelang ihm einfach nicht. Zumindest hatte das mantrahafte Gebet eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er schloss kategorisch die monströsen Erscheinungen aus und wurde seinen Gedanken wieder habhaft. Wieder im Normallevel seiner Gefühle angekommen, versuchte er etwas zu schlafen. Der Schweißgeruch, der aus seinen Poren strömte, störte ihn. Aber ihm fehlte, trotz Willensstärke einfach die Kraft sich seiner Kleider zu entledigen, ganz zu schweigen die Energie sich noch aufzuraffen, um sich unter die Dusche zu stellen. In voller Montur lag er auf dem Bett und zog sich die Decke halb über die Beine. Während er rücklings mit dem Kopf auf seinen verschränkten Armen lag, sinnierte er zunächst noch logisch vor sich hin.
Die Auffassung über seinen alten Herrn als einen immer liebevollen Vater fand er zunehmend absurd. Die Traumbilder versprachen ihm emotional Wahrheit, sein Verstand hingegen konnte ihn nicht davon überzeugen. Er stand zwischen zwei Stühlen. Ein uralter Fall, den Jules zu seinem Fall erklärte. Ein Fall, den er mit seinem Vater verknüpfte. Ein widerlicher Traum, den er mit Puzzleteilen aus einer Fallakte anfüllte. Dazu gesellten sich diffuse Aussagen und Handlungen von Menschen, die er meinte, gut zu kennen. Und wenn man die Teile aus der Realität mit den Erinnerungen aus seinen Träumen in einem Becher nur so lange würfeln würde, fänden die Teile ihren Platz und würden ein ganzes Bild ergeben.
Aber im Augenblick hatte er nur ein Mord, der nur in seinem Kopf; ja nur in seinen Träumen existierte. Fakten gab es keine Wirklichen, nur Vermutungen, die er aufgrund seines Wissens anstellte.
Zunehmend drifte er weiter ab und wurde schwerer und schwerer und glitt erneut in seine Traumwelt. Selbst als er endlich den ersehnten Schlaf fand, verfolgten ihn seine Gedanken noch immer. Sie beherrschten ihn, begleitet von surrealen Bildern, die ganze Nacht hindurch.