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Kapitel 2

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»Ich bin startklar«, sagte Sasha etwa eine Stunde später am Handy. »Ich bin immer noch nicht begeistert davon, aber meine Sachen sind gepackt.«

Er knirschte mit den Zähnen, war jedoch entschlossen, den Sommer zu genießen, egal wie sehr er seinen neuen Job verabscheute.

Joanne ignorierte Sashas wenig erfreuten Tonfall. Ebenso wie seine Wortwahl. Sie konzentrierte sich auf den Teil mit dem startklar und ignorierte ganz bequem den Rest. »Fantastisch. Ich schicke dir einen Firmenwagen, um dich abzuholen« sagte sie, bevor sie hörbar ins Telefon gähnte. Die meiste Zeit über konnte Sasha ausblenden, dass sie in zwei Monaten ein Kind zur Welt bringen und sich alles verändern würde. Aber in Momenten wie diesen, wenn sie zu müde war, um Joanne Kingsley zu sein, traf es ihn am härtesten.

»Ich hätte auch den Bus nehmen können«, meinte Sasha. Nicht, dass der Gedanke, mit vier Koffern und Lancelots Transportbox mit dem Bus in die Hamptons zu fahren, besonders reizvoll war, aber er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er ihr mit seinem Widerstand nur noch stärker zugesetzt hatte. Ihm hatte er auch nichts gebracht. Den Ärger hätte er ihnen beiden ersparen können.

»Auf keinen Fall. Jordan wird dich abholen. Ich nehme an, deine Habseligkeiten werden alle ins Auto passen?«

Sasha hatte ihr immer noch nichts von der Katze erzählt und erfreute sich ein wenig an dieser kleinen Form der Rebellion. »Ja, das sollte passen.«

»Jordan wird in dreißig Minuten da sein«, sagte Joanne. »Danke, dass du eingewilligt hast, Sash. Ich weiß, dass du Harry nicht sonderlich magst. Du musst ihn nur richtig kennenlernen, versprochen.« Joannes Worten haftete ein leiser Unterton an, den Sasha nicht einordnen konnte, aber er entschied, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie war seit Monaten nicht sie selbst gewesen.

»Ich werde mein Bestes geben, das weißt du doch.« Sasha gab nie weniger als sein Bestes, auch wenn es ihn große Überwindung kostete.

»Halt mich auf dem Laufenden, Süßer«, sagte Joanne. »Ich bin zwar ab Montag zu Hause, aber nicht tot. Ich werde verrückt, wenn ich nicht wenigstens etwas Ablenkung bekomme.«

»Versuch es mal mit Sudoku«, stichelte Sasha. »Oder beschäftige dich mit Reality-Soaps wie den Kardashians.«

»Klar, ganz bestimmt. Ruf mich auf jeden Fall an, damit ich wenigstens einmal am Tag deine Stimme hören kann. Andernfalls verfrachte ich meinen fetten Hintern in ein Auto und komme dich holen, solltest du es nicht tun.«

Das klang genauso wie seine Drohung an Mateo. Vielleicht waren sie engere Freunde, als er gedacht hatte. »Ich halte dich auf dem Laufenden. So wie immer.«

Sasha verbrachte die letzten dreißig Minuten seines kurzen Sommers in der Stadt damit, mit Mateo zu quatschen und das Schokoladeneis zu vernichten – Mateos Cousine Raina mochte ohnehin keine Schokolade, oder? Dieser Dienst an der Menschheit war allemal besser, als es verderben zu lassen. So lautete jedenfalls die Version, an der er festhalten würde. Weniger Gedanken machte sich Sasha über die Tatsache, dass er den Sommer an einem Badeort, nur wenige hundert Meter vom Strand entfernt, verbringen würde, zusammen mit einem Haufen Modefreaks. Schon deshalb wäre es wohl keine gute Idee, sich dermaßen mit Schokoeis vollzustopfen. Aber egal, er würde es bei all dem Stress mit seinem neuen Job sowieso abtrainieren.

»Sag Raina, dass ich alle zwei Wochen vorbeikommen und nach der Wohnung sehen werde«, sagte er. »Keine Partys und ich möchte auch nicht, dass ihre Freunde in meinem Zimmer schlafen.«

»Ja, ja, außerdem Finger weg von der Plattensammlung. Wie konnte ich mich bloß mit solch einem Hipster anfreunden? Einem spießigen Hipster noch dazu.« Mateo lachte. »Keine Partys«, äffte er ihn mit verstellter Stimme nach.

»Ich will nur nicht, dass meine Sachen beschädigt werden, außerdem bin ich kein Hipster«, murrte Sasha. »Ich mag eben die Klangqualität von Schallplatten.«

»Und während er das sagt, trägt er abgeschnittene Jeans und eine Hornbrille.« Mateo verdrehte die Augen und schnipste. »Und damit schließe ich meine Beweisführung ab.«

Als Antwort stürzte sich Sasha auf Mateo. Sie lachten und kitzelten sich gegenseitig, bis der Nachbar unter ihnen mit dem Besenstiel an die Decke hämmerte – seine übliche Reaktion, wenn sie etwas anderes taten, als laut zu atmen.

»Es ist ja nicht so, als ob wir Sie nicht hören könnten, wenn Sie jeden Samstagabend unanständig werden, Mr. Schmidt«, rief Sasha Richtung Fußboden. »Ohhhh, Erika«, stöhnte er übertrieben.

Mateo lachte und schlug Sasha auf die Schulter. »Ich bleibe noch fünf Tage hier, weißt du? Mach mir keinen Ärger.«

»Und ich bin noch hier bis...« Sashas Handy piepste mit einer Nachricht des Fahrers, dass er angekommen war. »Jetzt, wie es scheint. Das ist mein Startsignal.«

»Ich kann nicht glauben, dass du gehst«, schmollte Mateo.

»Bald bist du noch viel weiter weg, also darfst du dich nicht beschweren. Du kommst besser im Herbst zurück«, drohte Sasha ein letztes Mal. »Ich will keinen Abschiedsanruf aus dem durchnässten Norden bekommen.«

»Gibt es so etwas wie Abschiedsanrufe überhaupt?«, fragte Mateo. »Ich dachte, der Sinn von Abschiedsbriefen wäre, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen.«

Sasha zuckte mit den Schultern. Das mochte stimmen. Er scherte sich nicht um Spitzfindigkeiten, solange Mateo zu ihm zurückkam. Er konnte den heißen kanadischen Eishockeyspieler mit dem Ahornsirupfetisch gerne mitbringen, wenn er bloß nach Hause kam. »Komm schon, Matty. Hilf mir, meine Taschen zum Auto zu bringen, dann umarmen wir uns zum Abschied und ich werde nicht mal eine Sekunde lang weinen.«

Sasha war nicht sicher, wer von ihnen das weniger glaubte – Mateo oder er selbst.

Ein paar Minuten und einige verstohlene Tränen später – zum Glück von ihnen beiden – saß Sasha auf dem Rücksitz eines Firmenwagens vom Label Harrison Kingsley. Genau genommen war es Joannes privates Auto. Sie hatte noch nie ihren Wagen Angestellten zur Verfügung gestellt. Dafür besaß das Label genügend andere Wagen, die weniger individuell ausgestattet waren und mit Sicherheit keine derartigen Annehmlichkeiten wie den Lavender Mint Kombucha von Joannes Lieblingsmarke aus Connecticut mit sich führten, an dem Sasha gerade nippte.

Ihm ihren Luxuswagen zu leihen, war vermutlich ihre Art, sich zu entschuldigen, weil sie ihn aus der Stadt verbannt hatte, um sich den ganzen Sommer lang mit ihrem Bruder herumzuschlagen. Sasha würde einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen, egal, welch schlechtem Gewissen er entstammte. Lancelot war nicht mehr in seiner Transportbox, sondern saß zufrieden schnurrend auf Sashas Schoß, während Sasha ihm mit seiner freien Hand den kleinen Bauch kraulte. Alles in allem hätte er es schlechter treffen können.

»Wir werden in einem Schloss wohnen, Lancelot. Das ist genau passend für dich, nicht wahr?« Lancelot schnurrte noch lauter, als er seinen Namen hörte. »Ich weiß noch nicht, wie ich mich dort einfügen soll, aber ich werde mein Bestes geben. Du wirst natürlich perfekt sein, wie immer.«

Sasha sann über ein Leben in den Hamptons nach. Dann dachte er an Harrison – den großen, muskulösen, hinreißenden, dunkelhaarigen Harrison. Hätte Sasha nicht gewusst, dass er der kalte, arrogante Modekönig war, von jedermann gleichzeitig geliebt und gehasst, könnte er ihn sich gut auf einer Farm vorstellen, wie er Kühe hütete, auf einem Pferd saß mit einem engen Hemd und einem Hut auf seinem ach so perfekten Kopf.

Sasha erschauerte. Gott, der Mann war so sexy. Solange Sasha verdrängte, wie schrecklich er war, entsprach Harrison genau seinem Typ. Sasha streichelte Lancelot, trank seinen Kombucha und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Er war kurz davor einzudösen, als sein Handy klingelte. Joanne. Auch wenn ihr letztes Telefonat erst eineinhalb Stunden her war, freute sich Sasha außerordentlich, ihren Namen zu sehen.

»Hallo«, grüßte er. »Vermisst du mich schon? Ich bin noch nicht einmal in den Hamptons angekommen.«

»Natürlich vermisse ich dich. Ich werde von Hormonen geplagt und muss die nächsten acht Wochen in meinem Appartement verbringen.« Sie gab ein ersticktes, gequältes Stöhnen von sich. Sasha konnte sie verstehen, denn er kannte Joanne. Sie hatte sich schon seit Jahren Kinder gewünscht, aber Harrison Kingsley war ihr Baby und der Zeitpunkt war nie passend gewesen. Sie und ihre Partnerin Jemma hatten schließlich den Schritt gewagt, aber anscheinend verspürte sie Entzugserscheinungen von der Arbeit.

»Noch kann ich zurückkommen, weißt du. So lange hat das Packen nicht gedauert.« Sasha hoffte, dass sie ja sagte, aber er bezweifelte es.

»Eigentlich habe ich angerufen, weil ich einen Auftrag für dich habe. Nur zwischen uns beiden, verstehst du?«

Sasha kannte diesen Tonfall. Für gewöhnlich setzte sie ihn ein, wenn er sich für sie um ihren Bruder kümmern sollte, und er kam nie gut dabei weg. Er wartete, bis sie die Bombe platzen ließ. »Was gibt es, Jo?« Er gab sich große Mühe, nicht Was willst du dieses Mal? zu fauchen, auch wenn er genau das dachte.

»Du weißt über den Applebaum's-Vertrag Bescheid, oder?«

»Applebaum's?« Sasha verzog das Gesicht. Es war nicht so, dass er per se etwas gegen Kaufhäuser mit Schnäppchen und fast schon ordinär billigen Angeboten hatte... okay, hatte er doch. Sie erinnerten ihn daran, wie er aufgewachsen war. Sein Leben war nicht schlecht und seine Kindheit nicht unglücklich verlaufen, sie passten nur einfach nicht zu ihm. Applebaum's und dergleichen, das war nicht er. »Die Kaufhauskette?«

»Ja. Erinnerst du dich, dass ich vor ein paar Wochen ein Treffen mit George Applebaum hatte?«

Sasha gefiel nicht, in welche Richtung dieses Gespräch lief. »Ich erinnere mich.« Er war es gewesen, der das Treffen in ihren iCalendar eingetragen und sich gewundert hatte, was um alles in der Welt der Grund dafür sein konnte.

»Applebaum möchte eine Harrison Kingsley-Abteilung in seinen Läden aus unserer Ästhetisch, aber erschwinglich-Serie. Ich bin dafür, denn es ist ein guter Einstieg in den kommerziellen Markt.«

Sasha gefiel nicht, was Joanne da sagte. »Wo ist der Haken?«, fragte er. Abgesehen davon, dass Applebaum's und Harrison Kingsley nicht zusammenpassten. Joanne hatte wahrscheinlich noch nie ein Applebaum's von innen gesehen, Sasha hingegen schon viele. Es passte einfach nicht zusammen.

»Harrison ist von dem Plan nicht gerade begeistert.«

Was wahrscheinlich bedeutete, dass jede elitäre, versnobte, arrogante Zelle in Harrisons Körper schrie: »Nie im Leben werde ich Chinohosen und Pullover mit V-Ausschnitt in der hintersten Ecke jedes Einkaufszentrums im Mittleren Westen verscherbeln.« Auch wenn Sasha nichts gegen Applebaum's generell hatte, konnte er Harrisons Ärger nachvollziehen. Und dann war da noch sein eigener Ärger darüber, in diese unangenehme Position gebracht worden zu sein.

»Was erwartest du von mir?«, fragte er, auch wenn er die Antwort bereits kannte.

»Ich will, dass du ihn überredest. Du bist unglaublich darin, andere zu überzeugen. Harrison Kingsley kann nicht expandieren, ohne den kommerziellen Markt abzudecken.«

Großartig. Nicht nur, dass er schlecht sagen konnte, dass er von Joannes Idee ebenfalls nichts hielt, er konnte auch nicht anmerken, dass er unmöglich Erfolg haben würde. Vom Aufgeben hielt sie rein gar nichts. Wenn seine Chefin also glaubte, er hätte aufgegeben, bevor er es überhaupt versucht hatte, wäre sie nicht gerade erfreut. Aber das würde ihn trotzdem nicht davon abhalten, sein Missfallen über die Lage zu äußern, in die sie ihn manövriert hatte.

»Joanne, ich kann nicht glauben, dass du mich in solch eine Situation bringst. Er wird mir nicht zuhören, sondern wütend werden, und ich sitze den ganzen Sommer bei ihm fest.«

»Ich denke, mit dem richtigen Argument wird er sich umstimmen lassen. Und ich erwarte, dass du es findest, Sasha. Du hast mich noch nie enttäuscht.«

»Und wenn ich es dieses Mal doch tue?«

»Mit diesem Deal sichern wir unsere Zukunft, das weißt du ebenso gut wie ich. Ein Nein akzeptiere ich nicht.«

»Ich lege jetzt auf«, sagte Sasha. Ihm war nach Schreien zumute, aber wenn man eines nicht tat, dann Joanne Kingsley anzuschreien. Egal wie nett sie augenscheinlich war, sie war immer noch die Königin, und niemand schrie die Königin an. »Ich glaube, meinem Kater wird schlecht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du möchtest, dass er dir ins Auto kotzt.«

»Du hast einen Kater?«, fragte sie. »Mit im Auto? Und du nimmst ihn mit zu meinem Bruder?«

»Ja. Ist das ein Problem?«, wollte Sasha wissen. Vielleicht war sein Tonfall ein wenig zu scharf, aber schließlich war er gerade dem sprichwörtlichen Wolf zum Fraß vorgeworfen worden. Es war an der Zeit zurückzuschlagen.

Joanne kicherte leise und damit war Applebaum's vergessen. Sasha wusste nicht, ob er das der Vorstellung von Harrison mit einer Katze zu verdanken hatte oder ihren Hormonen, die sie vergesslich machten, in jedem Fall war er dankbar dafür.

»Überhaupt nicht«, meinte sie.

Danach legte Sasha auf und schaltete den Klingelton aus. Für den Rest der Fahrt hatte er sich etwas Ruhe verdient – wie lange das auch andauern mochte. Was auch immer ihn am Ende der Reise erwartete, war mit Sicherheit das Gegenteil von entspannend. Ihm blieb also nicht mehr viel Zeit.

Kingsley Court sah aus, als stammte es aus einem Märchen – oder aus einer anderen Realität, die Sasha nicht erfassen konnte. Er hatte zwar die letzten beiden Jahre mit den Reichen und Berühmten bei Modenschauen und Fotoshootings verbracht, aber das war irgendwie... unwirklich. Am Ende des Tages waren all der Pomp und Glitter und die teuren Stoffe verschwunden und er war wieder in seiner kleinen Bude, die er sich mit Mateo teilte. Opulenz hatte ihm noch nie so entgegengestarrt wie aus diesem riesigen, bedrohlichen Bauwerk, das nur ein paar hundert Meter vom Strand entfernt stand und von aufwendigen, fast einschüchternden, aber nicht minder beeindruckenden Gärten umgeben war.

»Oh mein Gott«, hauchte Sasha. Er überlegte, ob es unangebracht war, wenn er ein Foto von seiner neuen Unterkunft schoss und es seiner Mom und seinem Dad schickte. Sie würden vermutlich nicht einmal wissen, was sie davon halten sollten, dass ihr kleiner Junge in einem Haus wie Kingsley Court wohnte. Um ehrlich zu sein, wusste er es selbst nicht.

Sasha stieg aus dem Auto, das ihn aus Manhattan hergebracht hatte – dem Auto, das ihn in eine andere Welt transportiert hatte. Seine Knie zitterten und er musste sich zwingen, das Dach des Wagens loszulassen. Er reckte den Hals und blickte auf.

Natürlich war das Haus riesig, denn nichts anderes wäre eines Harrison Kingsleys angemessen. Es war aus Backsteinen erbaut und umsäumt von perfekten Gärten und einer tadellos gepflegten Kiesauffahrt. Ihm war, als würde ihn das Haus verschlucken und in sich aufnehmen. Sasha konnte kaum den Himmel sehen.

Kingsley Court musste vier Stockwerke haben, stellenweise vielleicht sogar fünf. Es gab mehrere Nebengebäude und wenn Sasha genau hinsah, konnte er einen der für die Hamptons typischen Holzwege erkennen, die über die Dünen runter zu den Stränden führten. So sehr ihm auch vor der Zeit mit Harrison graute, hatte er an der Umgebung nichts auszusetzen. Unglaublich.

Er ging zur Eingangstür und wusste plötzlich nicht weiter. Sollte er einfach klingeln? Oder musste er den Hintereingang benutzen, weil er ein Angestellter war? Niemand hatte es ihm gesagt. Joanne war nicht ganz auf der Höhe und normalerweise erledigte ohnehin Sasha solche Dinge für sie. Anscheinend war er auf sich allein gestellt.

Er beschloss, dass es an der Zeit war, es einfach... hinter sich zu bringen. Er hob die Hand.

Die Tür öffnete sich, noch bevor er klingeln konnte, und eine gestresst aussehende Frau mit einem Klemmbrett in der Hand teilte ihm mit, dass Mr. Kingsley ihn in seinem Büro am Ende des Flurs erwartete und sie schnell zurück ins Atelier müsste, bevor sie noch die Aufgaben von jemand anderem untergejubelt bekam.

Okay, dann... solltest du wohl besser gleich zum Atelier zurückgehen. Er verdrehte die Augen, denn er hatte noch nie nachvollziehen können, was es an dem Wort Werkstatt auszusetzen gab, aber mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt. In der Modebranche ging es immer um den Schein, das würde sich wohl nie ändern.

Sasha war etwas vor den Kopf gestoßen, aber dann war die Frau auch schon verschwunden und er sah sie nicht mehr.

Er betrat den Flur und war platt. Alles war so... oh Gott. Der beeindruckendste Ort, den er je gesehen hatte, und das wollte etwas heißen, denn er war in den letzten beiden Jahren an einigen imposanten Orten gewesen.

Die Decke war gewaltig, die Treppe schien einen in eine andere Atmosphäre zu geleiten, alles war aus Stein, Holz und Gold und einfach Wow. Sasha fragte sich, ob er jemals durch diese Türen treten und sich nicht völlig überwältigt fühlen würde. Er ging in die Richtung, die die hektische Frau ihm gewiesen hatte und in der er Kingsleys Büro vermutete. Die Tür stand offen, also schlüpfte Sasha einfach hinein.

In einem Haus, das dazu bestimmt war, eindrucksvoll zu erscheinen, mit seinen hohen Decken und der ganzen Pracht zu beeindrucken, ging Kingsleys Büro noch einen Schritt weiter. Es war mindestens eineinhalb Stockwerke hoch, komplett mit Holz vertäfelt und mit einem Kamin ausgestattet, der höher war als Sasha. Dazu kam eine große Anzahl an Kunstwerken sowie unbezahlbaren Perserteppichen.

Sasha erstarrte. »Ähm, hallo?«

Er fühlte sich wie ein Kind, das etwas angestellt hatte und jetzt auf seine Bestrafung wartete. Er dachte an Joannes Auftrag und hätte sich am liebsten übergeben. Er sollte Harrison überreden, das Gegenteil von dem zu machen, was er eigentlich wollte. Einem Mann, der ihn für ein lästiges Insekt hielt, sollte er sagen, was er tun sollte? Sasha wollte sich am liebsten umdrehen und den ganzen Weg nach Manhattan zurückrennen.

»Ich bin hier hinten«, rief Harrison.

Sasha erkannte die Stimme. Er würde sie überall wiedererkennen, denn sie sorgte bei ihm für Gänsehaut. Jedes Mal, wenn Joanne ihn gebeten hatte, Harrison anzurufen, hatte er sich davor gefürchtet. Manchmal hatte Sasha fast den Eindruck, dass sie ihn darum bat, weil sie ihren Bruder nicht selbst anrufen wollte. Schon immer hatte der Mann ihn gleichzeitig verärgert und auf seltsame Weise erregt. Vielleicht hatte Mateo mit dem, was er angedeutet hatte, doch ein klitzekleines bisschen recht.

Sasha durchquerte das riesige Büro und fand Harrison hinter mehreren Staffeleien. Er sah genauso aus, wie Sasha ihn in Erinnerung hatte – groß, breitschultrig und wunderschön. Sein dunkles Haar war gerade lang genug, um modisch verwuschelt zu sein, und seine Kleidung saß so perfekt, als wäre sie ihm auf den Leib geschneidert worden, was vermutlich auch der Fall war. Er besaß volle Lippen, hohe Wangenknochen, dichte, scharf geschnittene Augenbrauen und Wimpern, die so lang waren, dass Sasha sie sogar von seinem Standort aus sehen konnte. Der Mann sah aus wie ein Disney-Prinz. Zu dumm, dass sein Inneres eher dem von Cruella de Vil glich.

Sasha trat um die Ecke, um zu sehen, woran Harrison arbeitete. Er sog scharf die Luft ein, als er einen Blick darauf erhaschen konnte. Es war unglaublich. Auf jeder Staffelei stand ein Entwurf – ein lebhaftes, buntes Ombré-Maxi-Kleid, das von Schwarz über Lila und Smaragdgrün in ein intensives Ozeanblau zum Saum hin überging, ein klassisches Maillot-Kleid im Pin-up-Schnitt in der gleichen Farbschattierung, eine tief dunkelblaue Palazzo-Hose mit hohem Bund, die leicht zu Boden floss und dazu eine weiße, ärmellose Bluse, die an der Hüfte geknotet war und von einem einzelnen Aufdruck einer Pfauenfeder akzentuiert wurde. Es waren klassische Formen, wie Standbilder aus alten, glanzvollen Hollywoodfilmen, die in Farbe zum Leben erweckt wurden. Exquisit. Sasha fühlte ein aufgeregtes Prickeln über seinen Rücken wandern.

»Die sind alle wunderschön«, hauchte er. »Joanne wird sie lieben.«

Harrison brummte nur als Antwort. »Auf meinem Schreibtisch liegt eine Liste für dich«, sagte er, ohne Sasha anzusehen. »Abendessen gibt es um acht Uhr, aber wenn du es schaffst, vorher noch etwas von der Liste abzuarbeiten, wäre das gut. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns. Lanslow wird dir dein Zimmer zeigen.«

Also gut, das war dann wohl der kameradschaftliche Teil des Abends.

Sasha war nicht überrascht, denn er hatte damit gerechnet, unhöflich abgefertigt zu werden, aber von Angesicht zu Angesicht war es schwerer zu ertragen als übers Telefon.

»D-das war's?« Sasha hasste, wie verschüchtert er klang. Sei kein Landei, Sobieski. Das bist du schon sehr lange Zeit nicht mehr.

»Außer, du willst noch eine Umarmung, eine Unterhaltung oder vielleicht eine Tasse Tee«, ätzte Harrison.

Und da ist er wieder, der Charme von Harrison Kingsley. Arschloch.

»Ich beginne sofort mit der Liste, Mr. Kingsley.«

»Harrison reicht. Die beiden Land Rover sind vollgetankt und können von meinen Angestellten für Erledigungen genutzt werden. Lanslow wird dir alles zeigen. Ich habe Kundenkonten in allen Geschäften, in denen du Besorgungen machen musst.«

Wenigstens muss ich nicht in einer Schrottkarre umhergurken...

»Also, Harrison. Vielen Dank. Wir sehen uns beim Abendessen.« Sasha drehte sich um und ging bedächtig durch das riesige Büro. Er blieb an Harrisons Schreibtisch stehen und nahm die Liste, auf der Sebastian stand. Damit war wohl er gemeint.

»Die Liste ist ja ellenlang«, murmelte er. Eigentlich hatte er gedacht, leise genug gesprochen zu haben, aber damit lag er offenbar falsch.

»Dann ist es wohl das Beste, wenn du gleich damit anfängst«, gab Harrison zurück.

Genau, Arschloch.

Dennoch prickelte Harrisons Stimme, so wie immer, an Sashas Wirbelsäule hinunter. Schlag dir das aus dem Kopf. Du hasst ihn.

Sasha hatte keine Zeit für so etwas. Er hatte einen Berg Erledigungen vor sich, für die er eine ganze Woche brauchen würde, aber dieses Tempo würde wohl kaum auf Gegenliebe stoßen. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Er ging zurück zum Wagen und stellte fest, dass seine Habseligkeiten, bis auf Lancelot in seiner Box, verschwunden waren. Lancelot wirkte verstört, aber Sasha wusste, dass es ihm besser gehen würde, wenn er ihn hochnahm und seinen Korb und seinen Fressnapf aufstellte, damit er etwas Vertrautes um sich hatte. Zumindest hoffte er das. Sasha hatte die Schreckensvision von einem winzigen, schwarzen Fellball, der durch die endlosen Flure von Kingsley Court geisterte. Er würde das arme Ding niemals wiederfinden.

Er nahm die Katze und die leere Transportbox, dann ging er wieder hinein. Ein ernst dreinblickender Mann, wahrscheinlich Lanslow, wartete an der großen Treppe auf ihn.

»Folgen Sie mir, Sir. Ihre Räume befinden sich oben.«

»Räume?«

Sasha bekam keine Antwort, was nicht überraschend war.

Harrison Kingsley, Harry für die wenigen Menschen, die ihn wirklich kannten, und eine geringfügig größere Gruppe von Schmeichlern und Schleimern in seinem näheren Umfeld, die so taten, als kannten sie ihn, seufzte und legte die Ölkreiden ab, mit denen er durch seinen Arbeitsbereich flaniert war. Er mochte es, seine Entwürfe mit Ölkreiden abzurunden – dem raffinierten Glanz der Farben auf dem dicken Leinenuntergrund, auf dem er seine Entwürfe anfertigte, haftete etwas Besonderes an. Ihr Strich auf dem Papier befriedigte ihn, die intensiven Farben belohnten ihn. Aber seine übliche dichte, behagliche Wolke aus Konzentration war verschwunden und würde vermutlich auch erst im Herbst zurückkehren. Joannes lästiger Assistent hatte diese Wirkung auf ihn – und zwar viel zu stark.

Er hatte keine Ahnung, was seine Schwester sich dabei gedacht hatte. Meistens war Jo logisch, berechnend, clever und hatte ein herausragendes Gespür für die neuesten Trends, sodass Harrison Kingsley der Konkurrenz stets voraus war. Aber sie hatte offenbar ihren Verstand an die Schwangerschaftshormone verloren, was Harrison und ihren Assistenten betraf.

Er hatte ihr gesagt, dass der Mann ihn wahnsinnig machte. Er hatte ihr gesagt, dass er für den Rest des Tages nichts mehr zustande brachte, wann immer ihr Assistent ihn anrief. Sashas Stimme ging ihm unter die Haut – ließ ihn Dinge fühlen, für die er verflucht noch mal keine Zeit hatte. Er war furchtbar nervenaufreibend. Und verdammt zum Anbeißen. Harrison hatte eine Schwäche für kleine, freche Typen und Joannes Assistent war mehr als das. Er war klein, zart und zerbrechlich, zumindest im Vergleich zu Harrison, aber er hatte stramme Oberschenkel, in die Harrison hineinbeißen wollte, und große, unschuldige, braune Augen. Auch wenn es zwei Jahre her war, seit er einen längeren Blick in diese Augen erhascht hatte, statt nur im Vorbeigehen und bei den wenigen Stippvisiten im Büro, konnte er sich noch gut an sie erinnern.

Der Mann war eine Ablenkung und Harrison hatte keine Zeit für Ablenkungen. Er würde Sasha erlauben zu bleiben – ja, Harrison kannte seinen Namen, wie auch alles andere an ihm nur allzu gut, doch für Spielchen war er sich nicht zu schade. Harrison würde ihn auf Trab halten, damit er ihm aus dem Weg blieb.

So war es das Beste.

Der Millionär von nebenan

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